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Lumiél

Königreich der Monde
von

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Die wa(h)re Geschichte

„Ah, willkommen, willkommen, nur herein! Wir haben uns ja mal wieder scheußliches Wetter ausgesucht…!“, empfing die brünette Heilkundige sie an der Tür des Lagerhauses. Natürlich war jenes von außen unscheinbare Gebäude im Armenviertel Samaras ganz gewiss alles andere als unwichtig. Betrat man den Bau, wurde allein durch den Geruch nach Wundmitteln und Desinfektionstinkturen rasch klar, dass es sich hier um ein Lazarett handeln musste. Zum Glück des Widerstandes war Ninafer sehr – wirklich sehr – vorsichtig damit, wen sie einließ oder auch nur in der Nähe duldete. Es hatte schon so manchen Vorfall gegeben, bei dem allzu neugierige Augen und Ohren oder zu eifrige Hände mitsamt dem daran hängenden Rest verschwanden. Ganz gewiss nicht die schönste Praktik – aber ein notwendiges Übel, wie so viele Dinge.

Sie trat wie angewiesen an der Giftmischerin vorbei, aus dem mit dicken, schweren Tropfen gegen alles und jeden prasselnden Regen hinaus, der die Straßen in kleine Sturzbäche tränkte und die Hausdächer einzuschlagen versuchte, hinein in eben diese Wolke eigenwilligen Geruchs. „Es ist Herbst, was willst du erwarten…?“, erwiderte sie lächelnd.

Ninafer stammte aus Ceryddwin – wie oft hatte es dort geregnet? Vor allem so?

Dabei war sie zusätzlich erleichtert, Ninafer in ihrem Schlafgewand vorzufinden. Der hauchdünne, seidenartige Stoff, der an mancher Stelle, so man sich Mühe gab, mehr zu sehen als zu erahnen gab, war für sie noch immer dann und wann befremdlich. Sie hätte sich ganz gewiss nicht-… nun angezogen hätte sie es vermutlich, es war ja durchaus ein Augenöffner und sicherlich bequem. Nur sich so an der Tür zeigen? Gäste empfangen? Sie hielt sich für alles andere als zugeknöpft, aber ihr war klar, dass Ninafer diesbezüglich nochmals in einer ganz anderen Liga spielte.

Das Gewand wies zumindest darauf hin, dass das Lazarett für heute geschlossen worden war und seinen Betrieb für die nächsten Stunden eingestellt hatte. Zwar hätte die Giftmischerin sie hereinbeordert und in den Salon gescheut wie sonst auch, aber es wäre nicht das erste Mal, dass sie sich dort angelangt eine ganze Weile die Zeit vertreiben musste, während Ninafer ihre verbliebenen, aufgestauten oder sich noch während ihrer Anwesenheit stetig höher türmenden Arbeiten zu bewältigen versuchte.

An manchen Tagen war eben einfach der Wurm drin.

Heute dagegen war es nur ein bisschen Regen gewesen und gegen den kam man mit einigen Handtüchern und vorsorglich bereitliegender Wechselkleidung gut an. Nachdem sie sich darum also gekümmert hatte, wanderte sie durch die Gänge des Lazaretts. Allzu viele derer gab es nicht – Lagerhäuser waren schließlich, entgegen der Darstellung in vielen Romanen, nicht als Irrgärten konzipiert.

Der Geruch nach frisch aufgebrühtem Tee lotste sie bis in den Salon hinein, wo Ishara bereits wartete. „Hey, ist noch ein Platz frei?“, erkundigte sie sich unnötig, lediglich als Ankündigung ihrer Existenz, da die junge Frau mal wieder bis über beide Ohren in ihren Büchern versunken schien. Sie zuckte auch tatsächlich ein wenig zusammen, blickte dann langsam auf und nickte errötend.

„J-Ja, natürlich! Entschuldigung, ich wollte nicht-“

„Alles gut“, fuhr sie der Halbelbe dazwischen, ehe sie sich wieder in irgendeine Panikform hineinsteigern – hineinreden vor allem – konnte. „Susann kommt heute nicht?“

„Nein. Jemand hat bei ihr einzubrechen versucht. Sie vermutet, dass es die Wache war. Und hat jetzt die Wache gerufen, damit die dem nachgehen. Sie will sie wohl an der Nase herumführen und ihnen zugleich aufzeigen, dass es nichts zu finden gibt.“ Sie nickte auf diese Erklärung hin – das passte ganz gut zu der alten Apothekerin. Obwohl sie der strengen Miene, die so selten auch nur ein Lächeln andeutete, solche Verschlagenheit eigentlich nicht zugetraut hätte. Eingangs zumindest.

Es dauerte nur wenige Minuten, ehe sich Ninafer ebenfalls zu ihnen gesellte, mit einem etwas dickeren Fell über den Schultern. Denn Kamin oder nicht, das Gewand allein war doch arg… dünn.

Und wie so oft begann ihre kleine, nachmittägliche Teerunde mit einem Austausch über die Neuigkeiten, die Tagesgeschehnisse, die kleinen und großen Sorgen und Erfolge. Sie hatte diese Gelegenheiten zu völlig normalen Gesprächen sehr zu schätzen gelernt, auch wenn sie zunächst sehr, sehr vorsichtig im Umgang mit der Heilerin war. Sie machte beständig den Eindruck einer Katze. Spielerisch, schleichend, lauernd. Bereit zum Sprung. Bereit zum Streich. Es hatte seine Zeit gedauert, bis sie begriff, dass man lediglich nicht auf diese bewusst ausgestrahlte Aura eingehen durfte. Es war Ninafers verschrobene, subtile Art, eine Lektion zu erteilen. Wer sich im Angesicht der Katze wie eine Maus verhielt, oh ja, der wurde gejagt, mit dem wurde gespielt und er wurde am Ende bei lebendigem Leib und mit Haut und Haar gefressen. Sie erinnerte sich noch unangenehm lebhaft an diese erste Einladung und das Gespräch, in dem so manches aus ihr herausgelockt worden war.

Manchmal, zu seltenen Gelegenheiten, zog die Brünette sie heute noch damit auf. Doch sie hatte begriffen, hatte gelernt, sich angepasst. Und inzwischen konnte sie in Gegenwart der lauernden Katze… völlig ruhig bleiben. Normal reden. Nicht nur, sich nichts anmerken zu lassen. Inzwischen war da nichts mehr, das man ihr hätte anmerken können. Nichts, das sie verbergen musste. Sie war hier in einer kleinen, gemütlichen Runde und konnte frei heraus sprechen. Keiner hier würde etwas verurteilen. Und als netten kleinen Bonus gab es einen wirklich guten Tee.

Wie jeden Nachmittag, an dem sie dazu kamen, in einer Runde wie dieser zusammenzufinden, entwickelten sich die Gespräche irgendwann eher in Rekapitulationen älterer Geschehnisse. Ishara wurde dabei stets ein klein wenig ausgelassen. Nicht aus Böswilligkeit heraus, gewiss nicht. Doch die großen und kleinen Geschichten der Halbelbe waren inzwischen entweder zum Großteil bereits bekannt, oder rührten an schmerzhaften Themen. Während Ninafer und sie selbst eine kunterbunte Fundkiste an allerhand merkwürdigen Erlebnissen hatten. Letztlich spielte es auch keine Rolle, wer mit seiner mal mehr, mal weniger ausgeschmückten Geschichte für die Unterhaltung des Treffens sorgte.

Es ging nicht um die Wahrheit, es ging um das Beisammensein.

An diesem Nachmittag jedoch entwickelte sich das Gespräch schließlich in eine unerwartete Richtung. Die Frage wurde gewiss nicht zum ersten Mal gestellt. Aber hier und heute war sie möglicherweise gewillt, sie zum ersten Mal zu beantworten. „Sag, Sierra, wie genau haben Thorin und du einander eigentlich kennengelernt?“

 

Viel zu viele Jahre zuvor…

Sie hinkte leicht. Ein Beobachter mochte es vielleicht nicht bemerken, sie gab sich immerhin redlich Mühe, es sich auch nicht anmerken zu lassen, aber sie konnte es spüren. Außerdem brannten die unteren Rippen auf der linken Seite wie Feuer und sie vermutete, dass sie zumindest zum Verstecken der Blutergüsse überall weit mehr brauchen würde als nur reine Willenskraft und unachtsame Augen anderer. Es… tat einfach höllisch weh. Alles. Selbst atmen.

Nichtsdestotrotz schleppte sie sich ins Dorf zurück. Oder bemühte sich zumindest, es so wirken zu lassen, als würde sie stampfen. Einmarschieren, gewissermaßen. Dabei hatte sie den Rückzug angetreten, antreten müssen. Skorina Askimasdottir war keine Kriegerin. Sie war Kupferschmiedin, verdammt nochmal! Sie hätte es besser wissen müssen.

Doch die Leute im Dorf hatten sie um Hilfe gebeten. Sie war vor ein paar wenigen Tagen überhaupt erst angekommen, spät am Abend, hatte ihr Bündel in ihrem frisch bezahlten Zimmer im einzigen Gasthaus aufs Bett geworfen – und da konnte sie schon froh sein, dass es überhaupt ein Gasthaus gab, mit Einzelzimmern obendrein, statt einem Schlafsaal – und sich eigentlich nur eine warme Mahlzeit gönnen wollen. Vielleicht ein Bad. Und ganz gewiss eine große, überbeladene Mütze voll Schlaf. Stattdessen waren ein paar Männer des Dorfes noch am ersten Abend hoffnungsvoll an sie herangetreten, während sie im Schankraum saß und ihre Mahlzeit so weit zu genießen versuchte, wie ihr Impuls, alles herunter zu schlingen, es eben zuließ.

Ein paar Räuber hatten sich in der Nähe eingenistet. Irgendwo im Wald gab es eine Höhle und dort hauste die kleine Bande wohl. Sie, als Reisende, als Abenteurerin, musste ja wohl damit fertig werden, nicht wahr? Und so sehr Skorina sich auch bemühte, sie vermochte diesen Leuten einfach nicht zu erklären, dass das nicht ging, dass es nicht so einfach war. Dass die kleine Axt an ihrem Gürtel mehr Schauspiel und Fassade war, als das sie tatsächlich damit umgehen könne. Es sollte zwielichtiges Pack, wie eben beispielsweise Räubern und Taschendieben, vor Augen führen, dass sie gefährlich sein könnte. Schlechtere Beute war als andere. Es war ein Bluff, verdammt nochmal!

Doch man ließ sie nicht ausreden. Gute Ahnen, man ließ sie ja generell überhaupt kaum zu Wort kommen. Jede nur erdenkliche Trickkarte zog man aus dem imaginären Zaubererhut. Man appellierte an ihre Güte und Gutmütigkeit. Was unangenehm gut funktionierte. Man appellierte an ihren Geschäftssinn, als man ihr einige Münzen als Entlohnung für ihre Mühen und ihr Risiko anbot – was weniger gut funktionierte. Als man obendrein jedoch anbot, der örtliche Schmied könne ihre Waffe aufbessern, ihre Rüstung bearbeiten, ihr vielleicht sogar einen Schild fertigen… das wiederum klang schon interessanter. Man versuchte natürlich auch an ihrem Stolz zu kratzen – nur für den Fall, dass das vielleicht eher funktionieren könne -, indem man ihr subtil vermittelte, dass der örtliche Schmied ja mit all seinen Produkten umzugehen wisse. Oh wie sie in diesem Moment bereute, erwähnt zu haben, dass sie Schmiedin war. Man hatte sie den Satz ja nicht einmal weit genug führen lassen, das sie wenigstens das entstandene Bild korrigieren konnte. Sie war immerhin nicht irgendeine Schmiedin.

Sie war Kupferschmiedin, verdammt. Kupfer. Die Axt bestand aus Holz und Stahl. Beides neigte dazu, sehr geringe Kupferanteile zu haben! Generell schmiedete kein Zwerg, der etwas auf sich hielt, Waffen oder Rüstungen aus Kupfer. Und sie fertigte ganz grundsätzlich weder das eine, noch das andere. Sie war Kunstschmiedin. Sie schmiedete… Briefbeschwerer, im Grunde. Hübschen Tand. Ab und an eine kleine Statue. Nicht einmal wirklich Große, wie jene, für die das Zwergenvolk berühmt war. Kleine, hübsche, zierliche Dinger, die man sich irgendwo in einer Eingangshalle in die Ecke stellen konnte, um den Raum ein wenig aufzulockern.

Und auch, wenn den Männern fast die Augen vor Unglaube ausfallen mochten – ihre dreihundertvierundvierzig Jahre waren nicht alt. Ganz im Gegenteil! Sie war jung. Sie war so verdammt jung. Im Grunde gerade erst frisch im Erwachsenendasein angelangt. Und nach allem, was ihr gelehrt worden war, war es ganz gewiss das Letzte, was sie wollte: Sich von irgendwelchen Räubern aufspießen lassen, bevor sie irgendetwas in ihrem Leben erreicht hatte.

Man hatte sie sicherlich ein, zwei, vielleicht sogar drei Stunden bearbeitet. Auf Knien flehend und bettelnd, im Grunde. Sie hatte jede Minute davon gehasst. Diese Leute waren verzweifelt, aufrichtig verzweifelt. Sie brauchten Hilfe. Der Knackpunkt, an dem sie einbrach, war schließlich das größte Geschoss, das sie hatten. Zurückgehalten bis zuletzt. Ein Dorf in Waldnähe – sie waren gute Jäger. Sie hätte vielleicht wissen, zumindest ahnen sollen, dass dem Gespräch irgendeine Form von rudimentärer Taktik zugrunde lag.

Bisher hatten die Räuber stets nur getan, was Räuber eben taten. Auflauern und bestehlen. Und handgreiflich werden, falls jemand sich wehrte. Aber sie hatten niemanden getötet. Das hatten sie noch immer nicht – doch der Umstand, dass die Müllerstochter seit ihrer Rückkehr und dem inbegriffenen Überfall kein Wort mehr sprach und sie mit ihrem an unangenehm implizierendem Stellen zerrissenen Kleid zurückgekehrt war, war eindeutig genug.

Sie hatte eingelenkt. Sich bereit erklärt, sich darum zu kümmern. Sie hatte nichts versprochen, nein – sogar deutlich betont, dass sie versuchen würde, das Problem zu lösen. Aber so, wie die Männer sich verhalten hatten, hätte sie ebenso gut einen Teufelsvertrag in Blut unterschreiben können.

Und nun sah sie, was für eine brillante Idee das gewesen war.

Oh nun, sie hatte die Räuber gefunden – so war’s ja nicht. Oder vielmehr hatten diese sie gefunden. Glücklicherweise hatte sie nichts besessen, das zu stehlen sich lohnte – das lag, hoffentlich noch unangetastet, alles im Zimmer des Gasthauses. Aber der Versuch, mit diesen Männern zu reden, ihnen Vernunft aufzuzeigen, war… auf sehr schmerzhafte Weise schiefgelaufen. Man hatte sie windelweich geprügelt und so ungern Sierra es zugab: Sie konnte wohl froh sein, so leicht davongekommen zu sein. Sie konnte noch laufen. Sie war nicht blind. Sie hatten ihr keine Finger abgeschnitten oder solch üble Scherze. Man hatte sie nur zusammengeschlagen.

Dabei war im Gespräch mit den Herren durchaus herausgekommen, das sie zu weit mehr fähig und willens waren. Dass sie sich bisher so beherrschten und zurückhielten war schlicht Taktik. Das Dorf hatte lange keine Schwierigkeiten gehabt. Räuber waren unerhört, eine Plage des Landes, ganz und gar grässlich – und man sprach nur Abenteurer an, statt einen Boten zu bezahlen, dass er die Autoritäten in der nächstgrößeren Stadt informierte. Denn jeder hatte irgendwelche Schmutzwäsche und keiner wollte, das eine kleine Abteilung Soldaten vorübergehend im Dorf stationiert wurde, das ein offizieller Beauftragter seine Nase in aller Leute Angelegenheiten steckte.

Also bat man Abenteurer. Die scheiterten. Und solange die Bande so gemäßigt blieb, konnten sie sich noch einige Tage, Wochen, vielleicht Monate länger ein ruhiges, beschauliches, ja fast schon gemütliches Leben leisten. Fett und bequem werden.

Das darin zugrundeliegende Kalkül ekelte sie gleich noch ein wenig mehr an. Zeigte ihr allem voran aber auch auf, dass diese Leute schon länger aktiv sein mussten. Erfahrung gesammelt hatten, andernorts. Was sie also brauchte, war entweder mehr Training, als sie hatte – oder Vernunft, die sie den Leuten in den Schädel hämmern könnte. Damit sie endlich einen Boten lossandten und sich eben damit abfanden, all ihre hässlichen kleinen Geheimnisse ins Tageslicht  gezerrt zu sehen.

Sie selbst sollte zu diesem Zeitpunkt bevorzugt allerdings weit, weit weg sein.

Nur wie das anstellen? Die Männer waren so verzweifelt gewesen, so erleichtert, als sie einbrach. Sie könnte vielleicht-

„Hail Vraccas, kleine Lady“, tönte es krächzend von der linken Seite.

Fürchterlich erschreckend, sprang Skorina zunächst einen guten Satz davon – für eine Zwergin, allemal – und zog die Axt. Dabei schnitt sie, hastig und durch die Schmerzen in der Schulter etwas ungelenk, den Gürtel an, blieb mit dem Klingenblatt ein Stück hängen und riss und ruckte, dass sie das verdammte Ding fast aus der Hand fallen gelassen hätte. Dummerweise mit genug Geistesgegenwart, sich nicht an der eigenen Waffe schneiden zu wollen – das brachte sehr viel Unglück -, fummelte sie einen Moment herum, ehe sie die Waffe sicher im Griff hatte und sich nach der Quelle der Störung umschauen konnte.

Bis dahin, so vermutete sie innerlich seufzend, hätte sie eine königliche Parade passieren verpasst.

Auf dem Boden saß ein Bettler. Einfach nur ein Bettler. Er saß im Schatten des Hauses, lehnte an der Wand und sah ihr mit einem schiefen Lächeln entgegen. Das konnte sie ihm schwer vorwerfen – sie hatte sich ja gerade ganz prächtig vor ihm blamiert! Dennoch nahm sie sich Zeit. Ihren Puls und Atem zu beruhigen und ihn näher zu betrachten. Er war ihr gestern nicht aufgefallen – dann wiederum, vielleicht war er gestern auch einfach nicht da gewesen.

Die Flasche, die einen Meter entfernt  von ihm lag – leer, natürlich – war Zeugnis, das sie nur ein paar Schritt näher herantreten brauchte, um in eine Wolke aus Alkoholdünsten zu treten. Seine Kleider waren von minderwertiger Qualität, gerissen und unsachgemäß geflickt. Seine kurzen Haare wirkten verklebt von… oh wirklich, sie wollte es so genau gar nicht wissen. Doch obgleich er abgemagert wirkte, leicht eingefallene Wangen hatte und sein Blick leer und irrlichternd immer wieder zu ihr zurückkehrte, aber nie konstant auf ihr zu verharren schien, war doch eine Statur erkennbar, die unter anderen Umständen beeindruckend hätte sein können. Wenn er nur mehr Acht auf sich gäbe.

Es kostete sie etwas Mühe, sich zu erinnern, mit welchen Worten genau er sie angesprochen hatte. Als sie sich entsann, runzelte Skorina die Stirn. Eine zwergische Begrüßung war in diesen Breiten selten anzutreffen. Noch dazu so… angenehm korrekt betont. Und mit was hatte er sie da gemischt? Irgendeinem… schnippischen Nachsatz? Oder-… nein, das konnte er unmöglich ernst meinen. Sie war nicht adlig. Machte er sich über ihre Größe lustig?

Während sie ihren Gedanken nachhing, rätselte, das Für und Wider abwog... blieb er dort sitzen. Still, geduldig. „Tagelöhner?“, fragte sie vorsichtig.

„Ehemals, kleine Lady“, kam verzerrt zurück, „Ist schon das fünfte Dorf, in dem keiner eine billige Hand braucht.“ Sie nickte verständig. Das war tatsächlich ein weitestgehend ruhiger Landstrich. Vielleicht hatten sich die Räuber gerade deshalb hier eingenistet. Hatten davon gehört, wie ruhig und friedlich es hier zuging. Wie wenige Probleme es gab.

„Mein Name ist Skorina Askimasdottir, nicht kleine Lady“, wies sie ihn zurecht. Je häufiger er diese Bezeichnung nannte, umso mehr störte sie sich daran. Und er hatte sie erst zweimal benutzt!

„Askimi-… Asimi-… Askta-… Skorina, richtig?“, wiederholte er. Es tat weh. Es bereitete ihr physische Schmerzen, zu hören, wie er ihren edlen und traditionsreichen Namen verunstaltete… dann wiederum mochte das der Tritt in den Bauch gewesen sein, dessen Nachwehen sie noch immer spürte. Also nickte sie zunächst nur.

„Als was hast du denn gearbeitet?“, erkundigte sie sich langsam. Seine Erscheinung gab ihr Rätsel auf, aber sie wusste nicht recht, worauf sie es schieben sollte. Vielleicht wirkte die Flasche etwas teurer, als sie hätte sein dürfen? Oder seine Statur etwas besser, breiter, als sie von einem Gossenbettler erwartete? Vielleicht suchte sie auch einfach nur verzweifelt irgendwen, der ihr bei diesem Unsinn mit der Räuberbande würde helfen können…

„So dies und das“, erklärte er schulterzuckend und ruinierte gehörig ihre diesbezüglichen Hoffnungen, „Was eben anfiel. Feldarbeit. Vieh versorgen. Dach reparieren. Botengänge erledigen. Kinder hüten. Was eben anfiel.“

Sie nickte zu jedem einzelnen Punkt, mit jedem Mal ein wenig enttäuschter, ehe sie stockte und benommen den Kopf schüttelte. „… Kinder hüten? Ihr… ihr habt euch als Amme betätigt?“ Sie wollte ihm ganz sicher nicht zu nahe treten, doch sie konnte auch nicht den Unglauben, die schiere Fassungslosigkeit, aus ihrer Stimme verbannen. Wer in aller Welt bezahlte, nun ja, so jemanden dafür, auf seine Kinder aufzupassen?!

„Münzen sind Münzen, egal woher“, meinte er ein wenig trotziger als ihr lieb war. Er hatte sie und ihre Verwirrung falsch verstanden. Dann wiederum war das wohl angesichts der Umstände auch nicht schwer gewesen, also hob sie abwehrend die Hände und versicherte rasch, ihm nicht zu nahe treten zu wollen. Was… er natürlich auch missverstand. Er schien sich bemerkenswert gut darüber im Klaren zu sein, in was für einem erbärmlichen Zustand er sich befand und wie nötig er ein Bad hätte.

Seufzend kramte sie in einer der nahezu unauffindbaren Taschen – außer, man wusste, wo man zu suchen hatte – und zog ein paar Silbermünzen hervor. „Hier. Damit solltest du es bis ins nächste Dorf schaffen. Viel Glück dort.“ Sie hatte auf Hilfe gehofft. Und vermutlich hätte sie ihn für die zwei Silber – und vielleicht noch ein paar mehr – auch rekrutieren können. Aber wenn er Tagelöhner war, gewohnt an Feldarbeit und Schindeln verlegen… dann wollte sie ihn gewiss nicht dabei haben, wenn es gegen kampferprobte Räuber ging. Ihn einfach ignorieren wollte sie jedoch auch nicht. Es war… eine kleine Sache, hier und jetzt. Aber diese zwei Münzen, die für sie keinen allzu großen Verlust bedeuteten, konnten für ihn vielleicht die Welt verändern.

„Mögen die Ahnen eure Güte sehen, kleine Lady Skorina.“

Sie hätte fluchen und ihn scharf anfahren wollen, dass er diesen verdammten Titel weglassen solle. Ein Impuls, der erst viele Minuten später lebhaft zu ihr zurückkehrte, als sie sich von der Verwirrung, ausgelöst durch seine Abschiedsworte, erholte hatte. Er war ganz offenkundig sehr gut bewandert in zwergischer Sitte und Manieren. Nur warum? Woher?

Nicht, das sie ihn zu fragen gedachte…

Stattdessen stand sie noch einen Moment still dort und starrte ihn an. Das war nämlich sooo viel besser…!

Als sie sich dessen bewusst wurde, errötete sie sogar leicht, nickte ihm nochmals knapp zu und zog weiter.

Das Gasthaus war nur ein paar wenige Dutzend Meter entfernt und einmal angekommen, schloss sie nach dem Weg die Treppen hinauf die Zimmertür hinter sich. Die Lider bis auf einen unmerklichen Spalt gesenkt, seufzte sie tief und schleifte sich mit wenigen Schritten zu ihrem Bett. Baden konnte sie später noch, erst einmal verlangte ihr Kopf nach Schlaf. Ihr Körper nach Rast und Ruhe. Vor allem die brennenden Teile…

Als Skorina tatsächlich ein paar Stunden später wieder zu sich kam, hatte sich die Szenerie doch merklich verändert. Draußen hatte die Abenddämmerung eingesetzt und pinselte ein beeindruckendes Farbspektrum auf die Leinwand des Himmels. Ihr gesamter Leib schmerzte noch immer. Oder jetzt vielleicht auch noch mehr. Weshalb sie sich entschied, die qualvollen Stufen herabzusteigen, dem Wirt ein paar Kupfermünzen auf den Tresen zu legen, die dämlichen Kommentare und Blicke der ersten Kunden im Schankraum zu ignorieren, den Schlüssel für das Bad zu erbitten und sich dort angelangt mit den letzten Resten ihrer verbliebenen körperlichen Kräfte ein Bad einzulassen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis die Flammen das Wasser im Zuber angenehm erhitzt hatten. Und mit jeder noch so kleinen Bewegung schienen die Krämpfe, das ständige Ziehen und Brennen, wieder schlimmer zu werden.

Umso wohltuender war das Bad, als sie erst einmal ihre Kleider ablegen und hineinklettern konnte. Die Hitze umfing sie mit einem initialen Schmerz, aber inzwischen, nach all den Stunden, blendete der unweigerlich mit dem Rest ein. Und was danach kam… war flüssige Glückseligkeit.

Sie gönnte sich ein ausufernd langes Bad. Zwei Mal befeuerte sie die Zunderstelle neu, was – sich über den Wannenrand beugend und nach Feuerholz und Zunder angelnd – gar nicht so leicht war, wie man vielleicht denken mochte. Denn das Wasser verlassen, nein, das kam wirklich nicht in Frage.

Doch als nach gut zwei Stunden jede Spur von Tageslicht verschwunden war, der Mond und die Sterne die Szenerie hätten beleuchten müssen - hätten sich über die Zeit hinweg nicht gehörige Sturmwolken aufgetan und ein beständiger, auf das Dach prasselnder Regenschauer sie zusätzlich einzulullen versucht -, als abermals die Wärme aus dem Badewasser wich… konnte sie sich endlich überwinden, den Zuber zu verlassen.

Sie trocknete sich sorgfältig ab, zog mit einem gewissen Widerwillen die Kleider wieder an. Bis zum Zimmer würde es gehen. Sie hatte schlicht nicht daran gedacht, Wechselkleidung mit ins Bad zu nehmen. Und nachdem sie die Fenster zum Auslüften weit aufgerissen, die Tür aufgesperrt und sich zum Umziehen kurz in ihr Zimmer geschlichen hatte, gab sie auch im Schankraum brav den Schlüssel wieder ab und setzte sich an einen der Fensterplätze, um ein reichhaltiges Mahl einzunehmen. Und, um den bohrenden, fragenden Blicken mancher Gäste auszuweichen, die wissen wollten, wie erfolgreich ihr erster Versuch wohl verlaufen sein mochte. Und da die Fenster dünn waren und dort beständig die Kälte hereinzukriechen schien, zusammen mit einem auf Dauer zweifellos unschönen Luftzug, war sie sogar recht sicher vor eventuellen Gesprächen, die man ihr aufbinden wollen würde.

Im Moment… wollte sie einfach nur ihre Ruhe. Ihre Ruhe, und etwas Essbares.

Letzteres bekam sie nach ihrer Bestellung bei der vorbeischauenden Magd kurz darauf. Aufs Haus, wie es hieß. Es entlockte ihr nach außen ein höfliches Lächeln und Nicken, nach innen ein tiefes Seufzen. Diese Leute behandelten sie, als hätte sie deren Problem bereits gelöst. Sie hasste solche Situationen.

So ruhig und langsam, wie ihr Hunger es zuließ, speiste sie. Genoss den Geruch nach Bier und Braten, die an ihren Ohren vorbeirauschende Kulisse von Geselligkeit, schlechten Scherzen, zotigen und frivolen Kommentaren, Betrugsvorwürfen und lausig erzählten Geschichten. Sie genoss das warme Licht der Kerzen und das Geräusch, welches der Regen verursachte, wenn der Wind ihn in Wellen gegen die Wand, die Tür, die Fenster warf.

Irgendwann begann es auch zu blitzen. Der Sturm wurde schlimmer. Doch Skorina empfand ihn nicht als schlimm, im Gegenteil. Es war ein Schauspiel. Kein Zorn der Götter, keine göttliche Machtdemonstration. Das Zusammenwirken von Naturgesetzen, vielmehr. Und wer jemals die farbenfrohe Gestaltung eines Schmetterlings hatte bewundern können, der musste ein Gewitter doch eigentlich ebenso zu schätzen wissen. Immer wieder versuchte sie, den Blitz zu sehen. Die ausgefallenen, verwobenen Muster, die er zog. Zählte bis zum Donner die Herzschläge und lauschte auf das tiefe Grollen.

Zumindest, bis ein weiterer Blitz etwas Seltsames enthüllte.

Dort draußen in der vom Regen gepeitschten Nacht lag jemand auf der Straße. Mögen die Ahnen eure Güte sehen, kleine Lady. Sie wusste nicht, warum ihr der Satz plötzlich in Erinnerung kam oder so unangenehm laut in der plötzlichen Stille ihres Schädels hallte. Man… hatte ihn nicht wegen zwei Silbermünzen umgebracht, oder? War er das überhaupt? Ohne groß zu zögern, erhob sie sich, ließ den spärlichen Rest ihres Essens stehen und eilte hinaus. Irgendwo hinter sich glaubte sie den Wirt irgendetwas rufen zu hören, doch da hatte sie die Tür bereits geschlossen.

Die Augen zusammengekniffen, eilte sie zu der liegenden Gestalt und als hätte das Schicksal es ihr eingeflüstert – es war der Bettler, dem sie ein paar Stunden zuvor die Münzen gegeben hatte. Sie rollte ihn auf den Rücken und er hustete zunächst Matsch und Regenwasser aus. Er schien kaum fähig, sich zu rühren. Selbst wider der Nachtschwärze, gegen den Regenschleier und von nicht mehr als spärlichen Sekundenbruchteilen im Falle eines Blitzes erleuchtet, konnte sie seinen horrenden Zustand erkennen. Er war ganz offensichtlich zusammengeschlagen worden, und das mehr als gründlich.

Sie machte sich unweigerlich Vorwürfe. Es gab natürlich keinerlei Garantie, dass es mit ihr oder den Münzen zu tun hatte. Vielleicht waren Tagelöhner hier auch schlicht nicht gesehen oder er hatte es sich mit seiner charmanten Art selbst irgendwie verdient. Kleine Lady. Nichtsdestotrotz würde sie ihn ganz gewiss nicht hier liegen und an einer Lungenentzündung sterben lassen. Falls die Verletzungen ihn nicht ohnehin dahinraffen würden.

Also schleppte sie ihn. Sie zog ihn ein kleines Stück am Arm, was gut funktionierte, dank des allgegenwärtigen Matsches und Regenwassers. Doch ihr wurde rasch klar, dass der Aufguss, der damit in seine Wunden kam, ihn nur noch schneller umbringen könnte. Also bemühte sie sich, ihn aufzurichten. Sprach ihn an. Zog. Drückte. Schrie. Bis dieser Sturkopf endlich, endlich, endlich auf die Füße kam. Zumindest weit genug, dass sie sich seinen Arm umlegen und ihn eben ein Stück schleppen konnte. Zurück ins Gasthaus.

„Bitte, helft mir!“, erklang Skorinas Stimme, als sie die Tür aufriss und mit dem Fremden über der Schulter eintrat. Alle starrten, manche düster, aber keiner rührte sich. Sie… hatte einfach keine Zeit für solchen Unsinn! „Zwei Kupfer für jeden, der mir hilft, ihn in mein Zimmer hoch zu bringen!“ Alle starrten, manche düster. Aber immerhin, nach einem Moment und der einen oder anderen krausgezogenen Stirn erhoben sich drei Mann und schleppten ihn die Stufen hinauf. Derweil schloss Skorina sorgfältig die Tür, entschuldigte sich bei der Magd zutiefst und aufrichtig für all das Wasser und den Schlamm, den sie hereinschleppte und orderte beim Wirt eine Schale heißen Wassers, Verbandstücher, Nadel und Faden und noch so manch andere Kleinigkeit, die sie gut gebrauchen könnte. Eine Flasche sehr hochprozentigen Schnapses, beispielsweise. Denn irgendwie musste sie die möglichen Wunden säubern…

Oben angelangt, zogen sich die drei Gehilfen nach Bezahlung direkt zurück. Sie hingegen hatte nun ein durchweichtes, schlammiges Bett. Prima. Ihn ein Stück weit zu entkleiden war schwierig, aber sie musste sich einen Überblick über seine Verletzungen verschaffen. Offenbar waren ein paar Rippen gebrochen. Mehrere Platzwunden am Kopf, eine an der Braue. Das Auge geschwollen, die Nase gebrochen. Ein paar Finger waren seltsam verdreht, eine Schulter ausgerenkt. Schürfwunden und Blutergüsse überall.

„Hey, kleine Lady…“, säuselte der Bettler, eine fürchterliche Schnapsfahne in ihre Richtung sendend. Ganz plötzlich hatte sie eine Ahnung, wohin die zwei Münzen  verschwunden waren… und obgleich ihr Wille, ihre Hilfsbereitschaft, mit der Erkenntnis doch merklich sank, gab es jetzt kein Zurück mehr. Sie hatte es begonnen, sie hatte sich entschieden. Sie hatte gewusst, dass diese Möglichkeit bestehen mochte.

„Lass das“, fuhr sie ihn an und meinte damit sowohl die Anrede, als auch seine kontinuierlichen Versuche, sich hinzulegen. Er war… so unglaublich keine Hilfe, dass sie kurz davor stand, ihm eine Ohrfeige verpassen zu wollen – nur damit er still hielt!

Die halbe Nacht schlug sie sich, gefühlt, damit um die Ohren, ihn versorgen zu wollen. Sie schälte ihn aus den Lumpen, versorgte die Wunden, nähte und verband ein paar davon nach der Desinfektion – und schlug ihm gefühlt hundert Mal auf die Hand, als er die verdammte Schnapsflasche einfach trinken wollte – und stopfte ihn schließlich gegen die Schulter tippend und die Decke über ihn werfend in ihr Bett. Während sie selbst sich aufmachte, seine und, wenn sei schon mal dabei war, ihre eigene Kleidung zu waschen. Im Anschluss setzte sie sich in den Stuhl, löste die lausigen Nähte und flickte sie neu.

Als der Morgen dämmerte, schnarchte der Bettler wie ein Sägewerk – was, über die Stunden hinweg, mindestens so sehr an ihren Nerven gezehrt hatte wie das Prasseln des Regens, das eingangs noch so schön und beschaulich und beruhigend gewesen war. Jetzt dagegen war der Sturm weitergezogen und draußen versuchte Mermerus ihnen einen freundlichen Tag voller Friede, Freude und Eierkuchen vorzugaukeln.

Eierkuchen. Sie hatte Hunger. Und er würde den vermutlich auch haben…

Also verließ sie das Zimmer kurz und orderte ein ordentliches Frühstück, mit dem sie zurückkehrte – nur um ihn wach vorzufinden. Mit der verdammten Schnapsflasche. „Ich schmeiß dich kopfüber aus meinem Fenster, wenn du das Ding nicht sofort zumachst und wegstellst“, knurrte sie bitterböse, als sie noch in der offenen Zimmertür stand.

Ertappt fuhr er ein wenig zusammen – immerhin das – und starrte dann erst sie an, klein und schmächtig, selbst für eine Zwergin, dann das Fenster, dann die Flasche… ehe er, sehr zu ihrer Erleichterung, eine vernünftige Entscheidung traf und sie geschlossen wegstellte. Vielleicht hatte der Anblick des Frühstücks, das unweigerlich viel zu viel für eine einzelne Person sein musste, ihn auch zu dieser Entscheidung bewogen.

„Wie heißt du?“, verlangte sie zunächst zu wissen, während sie die Tür mit dem Fuß zuschob und sich zu ihm ans Bett setzte.

„Thorin“, kam es schlicht zurück.

„Thorin wer?“, fragte Skorina unnachgiebig weiter. Er seufzte.

„Thorin Eichenschild.“ Das… das konnte nicht sein Name sein, oder? Es gab Zwergenfamilien, die sehr prägende Namen hatten. Eisenhand. Kupferschlag. Silberbart. Donnerschlag. Kesselflicker. Goldgürtel. Aber ein Mensch? Benannten die sich nicht eigentlich immer nach ihren Berufsständen? Müller, Schneider, Schnitzer und dergleichen?

„Und wo ist dann dein Schild?“, witzelte sie etwas bemüht und reichte ihm seine Portion des Frühstücks. Wie erwartet… war er schlicht ausgehungert und machte sich ohne jeden Rückhalt, das Besteck völlig missachtend, darüber her. Als ein Großteil der Portion verschwunden war, aß sie einen sehr viel kleineren Teil ihres eigenen Frühstücks und gab ihm den Rest. Nicht, weil sie Rücksicht nahm. Sie hatte letztlich doch einfach weniger Hunger, als sie erwartet hatte. Und er, er schien ganze Wagenladungen verspeisen zu können.

„Hab ich verkauft“, erwiderte er, als alles vertilgt war und er sich mit dem Rücken gegen das Kopfteil des Bettes lehnte.

„Warum?“, hakte sie neugierig nach. Er… hatte also tatsächlich einen Schild besessen?

„Brauchte ihn nicht mehr. Brauchte den Schnaps mehr.“ Diese Antwort wiederum passte schmerzlich gut ins Bild. Und entlockte ihr ein Seufzen. Nichtsdestotrotz blieb der Fakt im Raum stehen, dass er einen Schild besessen hatte.

„Du bist also eigentlich Abenteurer?“, hakte sie wieder hoffnungsvoll nach. Das würde allerdings Probleme lösen – mehr als eins sogar! Es konnte ihr mit den Räubern helfen und es konnte, ganz offensichtlich, ihm helfen. Immerhin waren ein paar Münzen für diese ganze Sache in Aussicht gestellt worden…

„Nein“, erwiderte er zunächst ihre Hoffnungen abermals einreißend, „War.“ Oh, nun… damit ließ sich arbeiten, nicht?

„Und… warum ‚war‘?“ Skeptisch blickte er zum Fenster. Ob er erwog, zu flüchten? Oder rätselte, ob sie ihn wirklich aus dem Fenster würde befördern können? Ob er überlegte, sich die Flasche zu schnappen und es zu riskieren? Als sein Blick den ihren traf, hielt sie ihm stand. Doch sie konnte nicht leugnen, dass es sich… seltsam anfühlte. So angesehen zu werden. Als würde jemand mit sehr viel mehr Wissen, als er haben sollte, direkt durch sie hindurch blicken. Auf das, was dahinter lag. Ein Gedanke, der ihr seit jeher nicht behagen wollte.

„Mein letzter Auftrag für irgendeinen Lord haste-nich-gesehen. Erstürmung einer feindlichen Befestigungsanlage. Vorkasse in Münzen, gutes Angebot, viele Freiberufler. Aufteilung von Plündergut bei Erfolg. Klang vernünftig.“ Skorina verzog das Gesicht. Kein Abenteurer, nein. Söldner. Das war… vermutlich besser, was seine Kampffertigkeiten anbelangte. Aber es hieß auch, dass sie eine Ahnung dessen besaß, mit was für einem Menschenschlag sie es hier zu tun hatte. Vielleicht hatte er sich tatsächlich verdient, was letzte Nacht geschehen war. Zunächst jedoch nickte sie nur. „Gute Planung, klare Anweisungen, professionelle Ausführung. Alles kein Problem. Geringer Widerstand. Stellt sich raus, dass diese angebliche, feindliche Befestigungsanlage der letzte Rückzugsort von Lady was-weiß-ich und ihrer Familie war, nachdem seine Lordschaft in einem Kleinkrieg schon den Rest ihrer Sippe ausgemerzt hatte, abzüglich der Lady, ihrer zwei Töchter, ihres Sohnes und einer kleinen Abteilung der Leibgarde. Er wollte keine losen Enden. Leibgarde bezwungen. Keine Gefangenen – Überlebende wurden direkt exekutiert. Zu plündern gab’s nicht viel. Was sie an Wertsachen besessen hatten, war bereits in anderen Kämpfen gefunden worden. Oder sie hatte es dafür ausgegeben, ihre Spuren zu verwischen. Gefunden hatte er sie dennoch. Also…“ Er zögerte und Skorina dämmerte allmählich, wohin das gehen würde. Und sie erwog wirklich, ihn anzuhalten. Sie wusste nicht, ob sie das hören wollte. Ob sie es wirklich hören musste. Doch sie zögerte mit ihrem Einwand länger als er mit seiner Geschichte. „Also bot er uns die Lady und ihre Kinder an. Sagte uns, dass sie bei Morgengrauen exekutiert werden würden. Bis dahin hätten wir freie Hand.“ Seine Stimme hatte sich verändert. Klang… erstickt. Obwohl seine Miene noch immer unlesbar war, steinern, nicht den kleinsten Deut an Gefühlsregung durchschimmern ließ, konnte sie es ihm anhören.

„Was hast du getan?“, hörte Skorina sich selbst in beinahe lautlosem Flüsterton fragen.

„Ich ging.“ Es waren nur zwei Worte. Aber es lag eine solch bedrückende Schwere in diesen Worten, dass keiner von ihnen eine ganze Weile irgendetwas zu sagen wusste oder vermochte. Sie kannte diesen Mann nicht. Sie wusste einen Dreck darüber, wer er war oder woher er kam. Aber hier und jetzt, nachdem sie ihn verbunden, seine zickigen Launen und Griffe nach der Schnapsflasche eine ganze Nacht lang unterdrückt, ihn in ihr eigenes Bett gestopft und mit Frühstück versorgt hatte… da glaubte sie zu begreifen.

Es gab Rechnungen zu zahlen. Und sei es nur, die paar Kupfer für das Frühstück in einem Gasthaus übrig zu haben. Aber es gab immer irgendwen, der Geld wollte für irgendwas. Und Münzen, nun, die wuchsen nicht an Büschen am Straßenrand. Was er bereute, war nicht, den Auftrag angenommen zu haben. Er bereute nicht, Söldner geworden zu sein. Er bereute nicht, diese Festung angegriffen zu haben. Selbst dann nicht, als sie sich als etwas anderes entpuppte.

Er bereute, gegangen zu sein. Wortlos zugelassen zu haben, was immer in jener Nacht in dieser Festung geschehen sein mochte.

„Die Jüngste war acht“, kam es nach einer gefühlten Ewigkeit – und auch diese Worte saßen wie ein Faustschlag in die Magengrube. Vielleicht war ja gar nichts passiert, versuchte sie sich einzureden. Vielleicht hatte man sich sogar entschieden, den Anweisungen seiner Lordschaft nicht Folge zu leisten. Vielleicht hatte man Aufstand geprobt, hatte die Familie zumindest teilweise retten, fliehen lassen, hinausschmuggeln können.

Doch der Schmerz, den seine Stimme betrog, wo seine Miene steinern blieb, sprach Bände. Keiner war entkommen. Und niemand war in dieser Nacht geschont worden. Ob er es gesehen, beobachtet oder während seines Abzugs nur gehört hatte, spielte keine Rolle.

Erst nach mehreren, langen Minuten schien er sich ein klein wenig gefangen zu haben. „Scheiße wie diese habe ich zu oft mitgemacht, zu oft erlebt. Als ich am Morgen danach in meiner eigenen Kotze und Pisse aufwachte, mein Schädel vom Schnaps schwirrte, gab es nur eine richtige Entscheidung. Mehr Schnaps.“

Sie bemerkte seinen Blick zum Nachttisch durchaus. Und sie sah auch, wie er auf ihr verständnisvolles Nicken hin danach griff – bis sie die Flasche ihm zuvorkommend entgegen nahm, damit raschen Schrittes zum Fenster trat und das Ding in hohem Bogen hinausbeförderte. „Nein“, erwiderte sie und wandte sich ihm wieder zu, das Fenster zum Auslüften des Raumes offen stehenlassend. „Das ist nicht der richtige Weg.“

„Was weißt du schon über den richtigen Weg, kleine Lady“, schoss er zurück. Er hatte seine Miene noch immer erschreckend gut im Griff, doch seine Stimme betrog ihn abermals. Das Zittern darin, während er der Flasche nachsah.

„Ich bin jung. Für meinesgleichen, allemal. Aber selbst ich weiß, selbst ich erkenne, dass das, was du da machst, Blödsinn ist. Gut, fein, es gibt also Monster da draußen. Und zufällig sehen sie aus, als wären die Menschen. Oder Zwerge. Oder Elben. Oder was auch immer! Weißt du, was der richtige Weg wäre? Ihnen die Stirn zu bieten! Sie in ihre Schranken zu weisen! Du wirfst dir vor, in dieser Nacht in der Feste nicht eingegriffen zu haben, nicht? Warum hast du das nicht getan? Warst du zu feige? Hattest du Angst, dass sie dich besiegen würden? Oder warst du einfach nur zu erschöpft davon, wie oft du solchen Leuten begegnet bist?“ Der zornige Funke in seinen Augen verriet ihr genug, sich weiter in Rage zu reden. „Ich halte dich nicht für feige. Aber für jemanden, der vielleicht das Wesentliche aus dem Blick verloren hat. Du wirst niemals alle Monster besiegen können. Es entstehen ständig Neue. Aber mit jedem, das du besiegst, verbesserst du die Welt ein kleines Stückchen mehr. Du rettest jemandem das Leben. Verbesserst es für viele. Nimmst ihnen Furcht. Und gibst ihnen stattdessen die Hoffnung, das – egal wie schlimm es wird – dort draußen Leute sind, die helfen wollen und können. Die sich dem entgegen stellen, was normale Leute nicht bewältigen können.“

Eine ganze Weile war es still zwischen ihnen. So lange, bis er amüsiert und schiefen Lächelns schnaubte. „War das einstudiert? Übst du deine Helden-Inspirationsreden vor dem Spiegel?“

Empört stemmte Skorina die Hände in die Hüften. „Nein! Das kam von Herzen!“, erwiderte sie erbost. Und hätte noch im gleichen Moment fluchen wollen. Innerlich tat sie es. Ganz gehörig. Das kam von Herzen. Sie hätte es eigentlich nicht schlimmer formulieren können. Und entsprechend konnte sie ihm schwerlich übelnehmen, als er sie dafür auslachte.

Als Thorin sich wieder ein wenig unter Kontrolle hatte, fasste er sie erneut in den Blick. „Und?“

„Und was?“, erwiderte sie noch immer etwas trotziger, als ihr lieb war.

„Und, was versuchst du mir zu verkaufen?“, hakte der Söldner nach.

„Gar nichts!“, fauchte sie zurück. Er starrte sei an. Und starrte. Und ganz langsam, fast unmerklich, kletterte eine seiner buschigen Brauen etwas höher auf die Stirn. Unter einem Seufzen gab sie nach. Sie konnte lügen, konnte gut lügen, aber irgendetwas an diesem Sturkopf reizte sie so sehr, dass sie ihre ganzen Lehren und Lektionen vergaß und sich wieder wie ein Anfänger benahm. Es war zum Haareraufen! Und sie hatte ihm ja nun einmal schlicht etwas verkaufen wollen. „Fein“, lenkte sie daher schließlich ein, „Die Leute hier haben ein Problem mit einer Räuberbande. Ich… sie baten mich, es zu lösen.“ Erneut lachte er auf – und diesmal verstand sie nicht, wieso. „Was ist daran so witzig?“

„Du bist Schmied. Und kannst nicht mit deiner Axt umgehen“, erwiderte er prompt, noch immer sichtlich amüsiert.

Wie er auf Letzteres kam, war ihr nur schmerzlich bewusst. Sie erinnerte sich noch gut an die Misere ihrer ersten Begegnung. Doch woher wusste er, welches Handwerk sie erlernt hatte…? „Ich bin Abenteurer“, hielt sie probehalber dagegen. Und wie erhofft, schüttelte er den Kopf und erläuterte es ihr.

„Schmied. Die feinen Vernarbungen an den Fingerkuppen sind eindeutig dafür. Viele sieht man nicht mal mehr, außer bei gutem Licht. Aber man spürt sie. Dazu die Verteilung der Muskulatur, die höhere Kraft in den Armen, breitere Schultern. Die Vorsicht beim Umgang mit offenem Feuer und wie du gestern die Pinzette und die Nadel gehalten hast. Und natürlich die Schmiedeschürze. Die könnte auch ein kleiner Hinweis gewesen sein.“ Sichtlich überrascht über so viel Aufmerksamkeit trotz seines völlig desaströsen Zustandes lauschte sie beeindruckt – bis er die Schürze erwähnte.

„Du warst an meinen Sachen?!“, ereiferte sie sich prompt und er besaß die Dreistigkeit, mit einem Schulterzucken zu nicken. Fassungslos über so viel Frechheit ließ sie sich zunächst nur in ihren Stuhl sinken. Sie hätte ihn vielleicht doch dort draußen liegenlassen sollen…? Was sie erinnerte. „Weshalb hat man dich zusammengeschlagen? Und wer war das?“, verlangte sie zu wissen.

„Der Dorfschmied, der Schneider und sein Gehilfe… ich glaube, auch ein paar der Bauern von den äußeren Höfen“, erwiderte er ohne den Eindruck zu machen, das er ihnen das allzu sehr nachtragen würde, „Sie behaupten, ich hätte mit der Tochter des Schmiedes geschlafen. Und mit des Schneiders Weib.“

Skorina nickte langsam. Gerüchte waren immer rasch in Umlauf und gerade ein Fremder bot sich als Sündenbock an, um die eigene Dreckwäsche auf andere abzuladen. „Und, warst du’s?“, erkundigte sie sich eigentlich nur der  Form halber. Das Grinsen, das ihr daraufhin entgegen kam, ließ sie abermals fassungslos zurück. Er hatte mit beiden geschlafen?! Sie wusste nicht einmal, was sie mehr aus der Bahn warf. Dass diese Weiber, wer immer sie sein mochten, sich mit jemand so Heruntergekommenem wie ihm einließen… das er seine  gerechte Strafe dafür empfing und einfach widerspruchslos anzunehmen schien… oder das er scheinbar auch noch stolz darauf war. „Ich hoffe, das war’s wert“, maulte sie halblaut. Dieser Kerl war doch wirklich einfach nicht mehr zu retten!

„Find’s doch raus?“

Es waren nur ein paar Worte. Simple Worte. Aber so… so… einladend gesprochen. So wohlgeformt und wohlgewichtet. Sie blickte zu ihm herüber, obwohl sie es kaum wagte. Wich diesem Blick aus, den sie dort vorfand. Sie konnte doch nicht… sie würde keinesfalls… also nicht mit ihm oder jemandem wie ihm oder… und überhaupt, was bildete der sich eigentlich ein?! „Thorin“, begann sie langsam, das Kinn mit wiederentdecktem Stolz reckend, „Mit dir teile ich das Bett an dem Tag, an dem die Hölle zufriert!“

Er antwortete nicht sofort. Stattdessen erwog er, schien ihre Worte mit der Zunge in seinem Mund hin und her zu schieben, als müsse er sie wie eine edle und rare Delikatesse verkosten. Schließlich hob er mit einem unangenehm hintergründigen Grinsen die Hände. „Schon gut – du hast mich überzeugt. Ist gekauft.“

„Ich habe dich-… was?“ Was war das denn bitte für ein Gedankensprung?!

„Die Räuberbande. Ich helfe dir. Aber unter drei Bedingungen.“ Oh…? Oh! Oh, nun das war tatsächlich eine Überraschung! Skorina begriff nicht so recht, wie und warum und warum vor allem so plötzlich ohne jeden Zusammenhang. Hatte er das ganze Gespräch über die gestrige Nacht, deren Geschehnisse und Gründe nur dazu genutzt, ein wenig besser über ihre Worte nachzudenken? Er hätte doch auch einfach sagen können, dass er noch etwas Zeit brauchte, um zu überlegen… warte – was für Bedingungen?

„Ich höre“, gab sie daher zunächst nur vorsichtig zurück.

„Erstens: Der Schmied muss meine Rüstung ausbessern. Und mir zurückgeben, ich habe sie ihm verpfändet.“ Sie seufzte. Natürlich hatte er das. Sie konnte sich sogar gut vorstellen, warum und wofür. „Zweitens: Ich brauche einen Schild. Ein hölzerner Rundschild, bevorzugt. Ich habe einen recht… eigenwilligen Kampfstil, ich bin mit einem Schild einfach besser.“ Sie nickte langsam und sah davon ab, ihn darauf hinzuweisen, dass sie eigentlich keine Kämpfe eingeplant hatte. Aber das hatte sie bei ihrem ersten Kontaktversuch auch nicht. Kämpfe hatte es so gesehen auch keine gegeben – wie ihr noch immer dann und wann etwas schmerzender Magen sie wissen ließ. „Drittens: Sobald die Räuber erledigt sind und du das Dorf verlässt… komme ich mit.“

„Huh.“ Das war unerwartet. Er… er wollte mit? Mit bis ins nächste Dorf? Oder generell mit ihr mit? Skorina überlegte lange. Sie hatte ihm helfen wollen, ja. Eingangs mit zwei Silbermünzen, damit er seinen armseligen Arsch allein ins nächste Dorf scheren könnte. Wo er vielleicht mehr Glück hätte. Aber so, wie sie Thorin inzwischen dank dieser wenigen Stunden kannte, würde er sich dort volllaufen lassen, irgendjemandes Tochter und Weib ausspannen und dann als Revanche zusammengeschlagen in einer Pfütze liegend ertrinken. Obwohl sie inzwischen fest daran glaubte, das in diesem Mann so viel mehr Potenzial steckte, so viel mehr zu tun, zu leisten, zu bewegen. Würde es so einen großen Unterschied machen, ihn ins nächste Dorf zu begleiten?

Würde es so einen großen Unterschied machen, ihn länger dabei zu haben? Ein kampferfahrener Söldner konnte vielleicht nützlich sein. Möglicherweise konnte sie von ihm ein paar Tricks lernen. Und würde ihn zugleich auch wieder auf eine bessere Bahn lenken können. Indem sie einfach da war. Demonstrierte. Vorlebte. Abfärbte.

… auf sowas zu hoffen, war nicht zu naiv, oder?

„Fein, einverstanden. Dann meine Grundregeln. Erstens: Ich bin Kupferschmiedin. Ich fertige keine Waffen oder Rüstungen, sondern Kunst. Und trotzdem will ich den Leuten hier helfen. Und das werde ich auch andernorts wollen. Wenn du mit mir reist, wirst du mir helfen. Zweitens: Ich nehme für die Hilfe keine Münzen. Wenn sie freiwillig angeboten werden, gut. Aber ich verlange sie nicht. In jedem Dorf und jeder größeren Stadt gibt es Anschlagtafeln mit genug gut bezahlten Aufträgen, um bestens über die Runden zu kommen. Drittens: Wir arbeiten moralisch vertretbar. Sowas wie dieser letzte Auftrag von dir? Auf gar keinen Fall. Egal wie gut die Bezahlung ist. Im Gegenteil – wird uns sowas angeboten, vielleicht entscheide ich, die Leute zu warnen.“

Ihr Herz schlug ihr bis zum Halse. Was um alles in der Welt tat sie hier gerade?! Das war nicht… das war schlecht geplant, schlecht vorbereitet, schlecht durchdacht, das war einfach rundheraus schlecht. Aber sie konnte die Hilfe gut gebrauchen! Sie konnte zusätzliches Training gut gebrauchen! Und sie hatte bei diesem Sturkopf eigentlich ein gutes Gefühl. Solange man ihn nur lange genug von Schnaps oder dem Unterleib von irgendwem fernhalten konnte.

Was sie sofort mahnte und nachsetzen ließ. „Viertens: Du wirst mich nicht in deine Weibergeschichten hineinziehen. Wenn du solchen Blödsinn machst, badest du das alleine aus und flickst dich in Zukunft gefälligst danach auch allein wieder zusammen!“

Und schon wieder lachte er. Sie wusste nicht, ob er über sie lachte, es… klang zumindest nicht so. „Einverstanden. Dann… darf ich die erste Frage in dieser neuen Partnerschaft stellen?“

Irritiert starrte sie ihn zunächst einfach nur einen Moment lang an. Partnerschaft? Sie hatte doch kein Wort von irgendeiner Partnerschaft gesagt! Etwas benommen nickte sie lediglich geistesabwesend.

„Gut, Skorina, junge Kunst-Kupferschmiedin aus Ceryddwin. Was bei Ceteus treibst du hier draußen?“ Obgleich er sichtlich interessiert schien, schob sie die Antwort zunächst – wenigstens für einen kleinen Moment – bei Seite. Sie hatte den Akzent offenbar gut genug imitiert, ihn hinreichend erlernt. Woher Thorin Ceryddwin kannte, war ihr schleierhaft – doch mit dieser offenbar frisch entstandenen Partnerschaft ergaben sich zukünftig vermutlich hinreichend Möglichkeiten, das zu ergründen. Das und noch ganz andere Sachen.

Also begann sie ihm zunächst von ihrer Lehrreise zu erzählen. Davon, wie sie die Welt sehen und bereisen wollte, um neue Kunstformen zu studieren, Verarbeitungstechniken zu erlernen – von anderen Schmieden ihres Volkes insbesondere, natürlich. Und sie kam nicht umhin, das Gefühl zu entwickeln, das er vieles des Gesagten und Erklärten besser wusste und verstand, als er eigentlich sollte. Aber auch das war… etwas für später.

Zunächst galt es eine Räuberbande in die Schranken zu weisen!

Noch am gleichen Abend trafen sie alle nötigen Vorbereitungen, um im Morgengrauen aufbrechen zu können. Der Schmied war begeistert, diesen lausigen, uralten Lederpanzer als Belohnung für ihre Mühen herausrücken zu können. Erst recht, weil das Ding nicht nur nahezu wertlos war, sondern geflickt werden musste. Erst recht stieg seine Laune, als sie auf Anpassungen an ihren Körper verzichtete und ihm damit weitere Stunden der Arbeit einsparte. Von jenem stahlbeschlagenen Eichenschild wollte er sich nicht recht trennen, aber nachdem er nochmals subtil von Skorina darauf hingewiesen wurde, wofür das Stück gut sein solle, gab er doch noch nach.

Thorin hatte sich derweil ein wenig herausgeputzt. Sich offenbar, aus irgendeinem Grund, die schwarzen Haare rest- und spurlos vom Kopf geschoren, sich gewaschen und sich ein Unterhemd für die Rüstung besorgt. Sie fragte nicht, wie und woher. Vermutlich war es besser, wenn sie es nicht wusste. Und kaum steckte er in dem Brustpanzer, der ihm tatsächlich wie auf den Leib gegossen wirkte und schulterte den Rundschild, sah er so viel anders aus. Er war nicht länger der heruntergekommene Bettler und ehemalige Tagelöhner. Er war… imposanter. Strahlte eine Stärke und Härte aus, mit der man sich nicht messen wollte.

Kleider machten eben doch Leute. Oder Rüstungen, ersatzweise.

An jenem Abend probten sie, ob er wirklich eine ganze Wagenladung würde essen können. Thorins Ernährung war in den letzten Wochen miserabel gewesen. Er hatte keine wirklichen Einnahmequellen und war, groß und breit gebaut, zu auffällig für Taschendiebstahl und dergleichen. Dann und wann hatte er sich an frischen Feldfrüchten satt essen können, aber auch das war weit von einer ausgewogenen Ernährung entfernt. Und zur Jagd hätte er mehr Wissen über Fallen benötigt. Oder einen Bogen samt Pfeil. Den er nicht sofort zum Trinken versetzen würde.

Dabei staunte sie tatsächlich nicht schlecht, wie viel der frisch geschorene Kahlkopf in sich hineinschlingen konnte. Wohin er das alles packte, war ihr schleierhaft – aber solange es half, würde sie sich gewiss nicht beschweren. Dabei war der frühere Söldner ganz offenkundig nach wie vor alles andere als gern gesehen. Die Leute mieden ihn – und damit neuerdings auch sie. Vermutlich würde es rasch die Runde machen, bis auch der Schmied wusste, wer nun seinen Schild und den Brustpanzer trug. Doch Skorina behielt den Fokus. Es galt die Räuber zu vertreiben und nach allem, was sie sah, wusste und abschätzen konnte, waren ihre Chancen mit Thorin einfach höher als ohne ihn. So gesehen war es bemerkenswert, dass er sich nicht selbst der Räuberbande angeschlossen hatte…

Am nächsten Tag zogen sie schon vor Morgendämmerung los und erreichten das Lauergebiet der Bande gegen Mittag. Früh genug, damit noch kein Hinterhalt aufgebaut worden war. Es erlaubte ihnen, sich umzusehen, die Gegend zu erkunden – einen eigenen Plan auszuhecken. Und als der Nachmittag kam und Skorina des Weges schritt, war ihre Überraschung das Ergebnis gründlicher Vorbereitung und guten Schauspiels, als erneut die Räuber hervortraten.

„Du schon wieder“, maulte einer zu ihrer Linken, „Hast wohl noch nicht genug gehabt, was?“

„Vielleicht steht sie ja auf Schläge“, witzelte ein Zweiter zur Linken.

„Was hast du heute dabei, hm? Wieder nur unnützen Mist? Vielleicht müssen wir wirklich langsam was in Zahlung nehmen. Du kannst dich nicht einfach immer um den Wegezoll drücken!“, amüsierte sich einer zu ihrer Rechten.

„Ich gebe euch diese eine, letzte Möglichkeit“, hob Skorina mit fester, lauter Stimme an, „Zieht friedlich ab und lasst das Dorf in Ruhe, dann wird euch nichts geschehen.“

Gelächter aus zehn verschiedenen Kehlen. Diesmal war ziemlich eindeutig, dass sie über sie lachten. „Ich glaube kaum, Püppchen“, erwiderte der scheinbare Anführer der Truppe, als er sehr viel näher an sie herantrat. Wozu sich auch Sorgen machen? Seine Männer waren mit Kurzschwertern und Bögen bewaffnet, in soliden Lederrüstungen bewehrt. Sie könnte ihnen gar nichts. „Aber ich kann dir jetzt schon sagen: Wieder hierher zu kommen war ein großer, großer Fehler.“

Sie nickte. „Eure letzte Antwort?“ Wieder Gelächter. „Thorin, jetzt!“

Alarmiert sprang der Anführer sofort einen guten Satz zurück, während seine Männer sich umblickten. Einer von ihnen tat es zu spät. Der Kahlkopf hatte sich erfolgreich an ihn angeschlichen und… brach ihm unter einem wirklich widerwärtigen Geräusch schlicht das Genick, mit einem einzigen, heftigen Ruck. Er kam beim zweiten Räuber an, als die zwei verbliebenen Bogenschützen feuerten – auf den Räuber, den der frühere Söldner als lebenden Schutzschild vor sich hielt. Ein Pfeil durchschlug die Lunge und ließ ihn langsam röchelnd am eigenen Blut ersticken, während der andere sich irgendwo in seinen Magen bohrte. Der Krieger aber, der hinter ihm stand, ihn gepackt hielt, zog ihm langsam die Waffe aus den krampfenden Fingern.

Was für ein bemerkenswerter Zufall, dass die Bande am gestrigen Tage erst einen Händler überfallen hatte, in dessen Fundus – und damit letztlich unter den gestohlenen Sachen – sich eine recht merkwürdige Kriegsaxt befand. Sie war irgendwann vor ein paar Wochen einmal verzecht worden. Seither war sie gestohlen, verloren, gefunden, verkauft, verspielt und erneut gefunden worden und damit binnen weniger Tage durch dutzende Hände geglitten, ehe sie hier gelandet war.

Zurück in Thorins Hand.

Den Angeschossenen achtlos zum Sterben zurücklassend, wehrte der Kahlkopf die nächsten zwei Schuss mit seinem Schild ab, ehe er diesen dem nahegelegenen Schützen entgegenschleuderte. Der Versuch, unter dem Wurf weg zu ducken, endete mit einem schmerzhaft klingenden Aufschlag der metallverstärkten Kante an der Stirn des Mannes – der unter einem Ächzen zu Boden ging und liegen blieb.

„Thorin?!“, fluchte der Anführer der Bande – Sekunden, bevor die unangenehm wuchtig geworfene Axt sich mit dem Klingenblatt voran tief in seinen Brustkorb grub und ihn einen guten Meter fliegen ließ, ehe er leblos am Boden aufschlug. Das ließ den Kahlkopf, theoretisch, ohne Deckung. Ein Umstand, den der verbliebene Schütze sofort auszunutzen versuchte. Er feuerte – in den Baum, hinter dem der Krieger in Deckung gegangen war. Und ehe ein weiterer Pfeil seinen Weg auf die Sehne fand, hatte Skorina sich aus ihrer verblüfften Schreckstarre lösen und den Schützen schlicht umrennen können. Während sie ihn im Nahkampf beschäftigt hielt, bekam sie nur am Rande mit, wie der Hüne sich Schild und Axt zurückholte. Ab und an versuchte sie zu ihm zu spähen, ein paar Dinge zu sehen – natürlich nicht auf Risiko ihrer eigenen Deckung.

Also manövrierte sie so, dass Thorin im Blick behalten eigentlich nur bedeutete, über die Schulter ihres eigenen Kontrahenten zu blicken. Just als der Kahlkopf einem das Knie eintrat und die damit einbrechende Deckung nutzte, um mit dem Schild ihm gegen das Gesicht zu donnern. Es war… erschreckend. Ein rundheraus grässlicher, erschreckender Anblick. Das alles hier.

Sie hatte nicht länger das Gefühl bedauerlich gescheiterter Verhandlungen, die nun im unausweichlichen Kampf endeten.

Sie hatte das Gefühl, ein Gemetzel anzurichten, indem sie Thorin Eichenschild von der Kette gelassen hatte.

Einige Männer waren klug genug, ihre Chancen abzuschätzen und Hals über Kopf zu fliehen. Für den Schützen, der sie mit seinem Breitschwert beschäftigt hielt, kam jedoch ebenfalls alle Hilfe zu spät. Thorin war fertig und näherte sich von hinten. Er schlug ihm mit einem wuchtigen Überkopfschwung die Axt in den Schädel und als der Mann auf die Knie sank, die Augen sich im Schädel zurück rollten, wuchtete der Krieger seinen Stiefel gegen die Schulter des Sterbenden und riss die Axt mit einem widerlichen Schmatzen aus dessen Schädel.

Sie hatte schon früher gekämpft. Hatte hässliche Wunden gesehen und, leider, auch verursacht. Aber das hier… diese… Gnadenlosigkeit und Brutalität, die all dem anhaftete… es drehte ihr beinahe den Magen um. „Wir hatten… wir hatten gesagt… du solltest einen gefangen nehmen…!“, krächzte sie zwischen dem Bemühen heraus, nicht zu würgen.

„Der Kerl, den du hier aufgehalten hast und deren Anführer? Ich kannte die zwei. Sie waren auf dem Auftrag dabei, von dem ich dir erzählte“, erwiderte Thorin kaum außer Atem, „Die beiden hätte ich niemals lebend davonkommen lassen. Sobald Blut fließt, verteidigt sich der Rest oder flieht. Und die, die sich hierauf eingelassen haben… Räuber, Söldner, Abenteurer – sterben ist Berufsrisiko.“

Nur langsam nickte sie. Es fiel ihr noch immer schwer, den Umfang der Situation zu erfassen, die Bedeutung.

Sie hatten sich um die Räuber gekümmert. Die würden dieses Dorf ganz sicher nie wieder belästigen. Und… und vielleicht würden die Geflohenen ja ein Einsehen haben, wie gefährlich so etwas war und sich ehrlicheren, aufrichtigeren Lebenspfaden zuwenden? Sie… sie konnte zumindest darauf hoffen, nicht?

Sorgfältig und wider ihres Impulses, von hier zu verschwinden, blickte sie sich um. Sechs von zehn waren tot. Ob sie Familien gehabt hatten? Münzen wuschen nicht an Büschen am Straßenrand… aber es gab andere Wege, nicht? Bessere. Ehrlichere.

Nur während das Blut langsam an ihrer Schuhsohle haftend auskühlte, war es irgendwie so viel schwerer, zu glauben, was sie sich zu glauben wünschte. Und Skorina begann allmählich zu begreifen, was es heißen würde, mit Thorin Eichenschild zu reisen. Sie stand am Scheideweg. Sie konnte noch versuchen, mit ihm zu reden. Ihn zu bitten, dass er sie aus dem Versprechen entließ. Sie hielt ihn für vernünftig, vermutlich würde er es zulassen. Ignorieren, dass sie sich durch ihr eigenes Wort gebunden hatte. Oder sie folgte diesem Weg weiter. Lernte von ihm, was immer sie lernen konnte.

Wie oft war sie auf ihrer Reise schon Missständen begegnet, gegen die sie machtlos war? Wie oft schon hatte sie kauern und verhandeln und Kompromisse schließen müssen, müssen, wo eine starke Hand besser gewesen wäre? Eine Waffe war das Mittel der Armen, so hatte sie einst gehört. Aber eine Waffe konnte zum Guten geführt werden! Eine Waffe war nur ein Werkzeug und wer sie führte, wozu er sie führte, entschied letztlich über das Gewicht der Taten.

Sie stand am Scheideweg… und er war blutig…

 

Ein Jahr später.

Eine gewaltige, zornig fauchende Sphäre aus Flammen schoss an der Felsspalte vorbei, in die sie sich gerade noch rechtzeitig hatte hineinflüchten können. „Brillant, Thorin, wirklich brillant!“, fluchte sie und lud hastig ihre Armbrust nach.

„Ich weiß nicht, was du meinst“, merkte der Krieger unglaubwürdig unschuldigen Tonfalls an und stürmte an ihrer Spalte vorbei, den Schild gehoben, den Hügel hinauf.

Scheiße“, fluchte sie leise, jagte aus ihrem Versteck und der Figur des Hünen hinterher. „Lass uns nach Akkara gehen, Sierra! Da gibt es hübsche Gegenden, Sierra! Da ist die Auftragslage gut, Sierra!“, imitierte sie so sarkastisch wie ihr nur möglich war den Tonfall Thorins. Der… daraufhin mitten in der Erstürmung des verdammten Hügels stehen blieb und sich zu ihr umdrehte.

„Hey, wenn’s dir nicht passt, sag es mir ins Gesicht!“, forderte der Krieger abrupt.

„Das ist der beschissenste Zeitpunkt, den du dir hättest aussuchen können, um jetzt rumzuzicken, alter Mann!“, fauchte sie ihm entgegen. Tatsächlich sah sie die Ordensmagier auf der Hügelspitze neue Geschosse feuern. „Vorsicht!“

Ihrer Anweisung folgend, packte Thorin Sierra und zog sie, seinen Schild ziehend, hinter sich in Deckung. Irgendetwas prallte mit viel Wucht gegen das Holz. Ein feiner Regen aus Kälte zerstäubte über ihren Köpfen und für eine Schrecksekunde hielten beide den Atem an, ehe sie sich wagten, die Augen wieder zu öffnen. Um sie herum war alles…

zugefroren. Das Gras konnte man abbrechen. Sein Schild war spröde und brüchig geworden. Und schmerzhaft kalt, dass er ihn abwarf. Der gesamte Hügel, die Stalagniten aus früheren Angriffen, einfach alles war plötzlich von Eis überzogen. Es schneite auch leicht. Und die sonst so warme Sonne Akkaras konnte nichts an den rapide sinkenden Temperaturen ändern.

„Ich hasse Akkara! Akkara ist scheiße! Das hier ist die reinste Hölle!“, fluchte sie einem weiteren Feuerball ausweichend, während Thorin ebenfalls wieder vorrückte.

Unter beständigem Fluchen und gegenseitigem Anschreien und Vorwürfe machen konnten sie schließlich trotz der nunmehr sehr kalten und rutschigen Steigung die Hügelspitze erstreiten und dem Kampf ein vorläufiges Ende versetzen. Sie sahen davon ab, die zwei Magier zu töten – das hätte ihnen schnell den Unbill des gesamten Ordens eingebracht. Aber es war eine Genugtuung, die feinen Herrschaften bewusstlos zu schlagen, sie mit ihren prächtigen Roben in den Dreck fallen zu lassen, wie ein Spanferkel zu verschnüren und ihre ach so kostbaren Zauberstäbe zu zerbrechen.

Sie setzten sich. Atmeten durch. Sierra trug ein wenig der Brandsalbe auf die Stellen, an denen die gelegentlichen Feuerzauber sie erwischt hatten. Thorin… Thorin konnte sich selbst drum kümmern. Verdammter Hornochse.

Sie war noch immer reichlich gereizt, als der Hüne plötzlich schallend zu lachen begann. Mehrere Minuten bekam er sich nicht mehr ein und sie rätselte aufrichtig, ob sie ihm wütend sein sollte, verschob das jedoch, bis er sich hatte erklären können. Häufig wusste er es ja tatsächlich besser. Leider.

„Was war so witzig?“, hakte sie nach, als er ein paar Tränen wegwischend sich das Zwerchfell hielt.

„Akkara ist die Hölle!“, gab er breit grinsend zurück.

„Ja… und?“ Sei verstand einfach nicht, worauf er mit diesem Unsinn jetzt hinaus wollte. Akkara hatte seine schönen Seiten, Gegenden, Landschaften, natürlich, nur… ihm musste klar sein, das ein Großteil dessen, was sie sich zugeworfen hatten, nicht ernst gemeint gewesen war, oder nicht? Das taten sie, um sich gegenseitig anzustacheln. Wie sonst auch…?

Er deutete jedoch den Hang herab. „Überall Eis.“

„Ja~…?“

„Die Hölle ist gerade zugefroren.“ Sie nickte langsam. Das ließ sich vermutlich so sagen, nur-

Und dann begriff sie. Mit einem Schlag. Es war nur so… so völlig… absurd. Doch ein Jahr mit Thorin Eichenschild war ein Jahr, das man sehr… extrem zu brachte. Sie kannte ihn inzwischen zumindest ein klein wenig. Konnte dann und wann erahnen, wie er dachte. In welchen Bahnen er dachte. Und das hier, das war einfach nur…

„Ich schlafe mit dir an dem Tag, an dem die Hölle zufriert…“, gab sie leise von sich, was sie ein Jahr zuvor bei ihrer ersten Begegnung irgendwann einmal gesagt hatte. Und der Hüne nickte. Wie selbstverständlich. Und grinste das dämlichste, breiteste Grinsen, das sie seit langem auf seinem verdammten Gesicht gesehen hatte. Sie hätte ihn dafür schlagen wollen. Eine richtige Maulschelle, das man das Echo des Klatschens noch in ein paar Meilen hören würde! Zugegeben, der Drang, über ihn herzufallen war mit einem Mal auch wieder da und rang um Aufmerksamkeit. Aber das war irgendwie ein Effekt, den Thorin ständig hatte. Auf viele Leute. Man wollte ihm wirklich, wirklich wehtun. Und ihm näher kommen. Im Idealfall beides.

„… du… du hast mich aber nicht extra nach Akkara geschleppt, nur weil du hofftest, das sich irgendein zur Eismagie fähiger Idiot  finden würde, der uns den Tag so sehr vermiest, das ich ihn als ‚die Hölle‘ bezeichne… oder…?“ Das war irrsinnig. Völlig abwegig. Thorin konnte unmöglich wissen, dass das passieren würde.

Dann wiederum – er konnte es hoffen und provozieren, nicht wahr? Er konnte darauf spekulieren und seine diesbezüglichen Chancen verbessern. Zum Beispiel, indem sie nach Akkara gingen. In die Hochburg der Ordensmagier. Die üblicherweise wenig Geduld hatten, mächtig waren, häufig versiert in den sehr offensivlastigen Zauberschulen. Und die leicht reizbar waren. Gerade und insbesondere von einem Thorin Eichenschild, der diesen Effekt zwar auf generell alles und jeden zu haben schien, insbesondere aber wohl auf Adlige und, wie sie sie inzwischen gelegentlich nannte, Adelsähnliche.

Und da war es wieder. Dieses verdammte Grinsen, das man ihm einfach nur aus dem Gesicht wischen wollte! Auf die eine oder andere Weise…

 

Zurück in der Gegenwart.

Sierra war einen langen, langen Moment weggetreten, hatte gelächelt, gegrinst, geschmunzelt, geschnaubt. Schließlich schüttelte sie den Kopf und blickte zu einer sehr neugierig dreinschauenden Ninafer und einer zwar verwirrten, aber ebenso neugierigen Ishara auf. Ein letztes Mal schnaubte sie amüsiert, ehe sie sich bequemer hinsetzte.

„Also gut, die wahre Geschichte, wie wir uns kennenlernten“, begann sie und Ishara war sofort wie gebannt, „Alles begann damals in Ceryddwin, als dieser Schattendrache die Stadt angriff…“ Mit einem wissenden, verstehenden Schmunzeln lehnte sich Ninafer in ihrem Stuhl zurück und genoss die seichte Unterhaltung, die über sie hinweg spülte. Und Sierra, Sierra genoss es, diese Unterhaltung zu bieten. Die Geschichte zu erzählen und zu schauen, ganz in Thorins Manier, wie viel Absurdität sie hineinpacken konnte, ehe selbst die Belastbarkeitsgrenzen von Isharas Fantasie erreicht waren.

Oh wie sehr hatte sie diese Nachmittage zu schätzen gelernt. Die Treffen bei Gebäck und gutem Tee, mit einem Buch einfach beisammen sitzen, dann und wann etwas erzählen oder wie heute, an denen der ganze Nachmittag und gute Teile des Abends einer einzelnen Geschichte gewidmet waren.

 

Wenn dieser Hornochse nur irgendwann aufgehört hätte, sie mit ‚kleine Lady‘ aufzuziehen…!



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