Zum Inhalt der Seite

Lumiél

Königreich der Monde
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Die Reise endet nie

Es ist schon seltsam, wie über die Jahre hinweg manche Worte an Stärke, Präsenz und Macht gewinnen, während man im Gegenzug in Gesprächen und Texten teilweise ganze Absätze überblättert und nur einzelne Fetzen aufschnappt, Schlüsselwörter, um sich den Inhalt zu erschließen, während man an diesen… diesen anderen Aneinanderreihungen von Buchstaben hängen bleibt. Wie an einem Nagel, der schief und krumm herausstehend die eigene Flucht bremst, weil man sich die Hand daran aufreißt. Für einen Kriegsversehrten mögen es Worte wie Befehl oder Vorrücken sein. Geweitete Augen, Schweiß auf der Stirn, fahle Haut und ein Zittern in den Händen, hektisches Kopfschütteln, der Blick rast umher, sucht Feinde und Ausgänge. Oder vielmehr Fluchtrouten. Thorin hatte in seinen vielen Jahren mehr als genug Kriege gesehen, aber er bewies, dass man sich dem Schrecken von Schlachtfeldern nicht beugen muss. Dann wiederum, vielleicht ist das auch einfach eine persönliche Sache?

Ihn schien nie sonderlich gestört oder beeindruckt zu haben, wenn die Worte fielen, die mir inzwischen ein Schaudern den Rücken herunter jagen. Worte wie immer, ewig oder niemals.  Vielleicht war ihm einfach nur allzeit klar gewesen, dass es sich für ihn vielleicht wie eine Ewigkeit anfühlen mochte, jedoch nie tatsächlich eine war. Keine hätte sein können. Er hatte Zeit, die ihm geliehen worden war. Er wusste zwar nicht, wieviel davon, aber sein Vorrat war endlich.

Anders als meiner.

Dies ist die Geschichte, wie ich die Ewigkeit zu fürchten lernte. Das Niemals und das Immer. Andere werden vielleicht, irgendwann einmal, diese Worte lesen und zu einem anderen Schluss kommen. Sie werden sagen, dass dies die Geschichte ist, wie Ishara Lileth Wyrmblut zu einer Legende wurde, deren Erzählung über die Grenzen des kleinen, halb vergessenen Inselreiches Lumiél hinaus schwappte. Oder sie werden sagen, dass dies die Geschichte ist, wie ich Jeva traf. Vielleicht sagen sie auch, dass dies die Geschichte vom Anfang des Endes ist, vom einsetzenden Untergang so vieler – Dinge, Leute und Nationen, Kultur und Traditionen gleichermaßen… so wie ich es befürchte.

Geschichten beginnen, so hat die Liebe meines Lebens mir einmal gesagt, immer am Anfang. Aber wer hat schon die Zeit und Muse, sich durchzulesen, wie Lumiél aus dem Meer aufstieg, wie die Drachen die Welt von hier ausgehend bevölkerten oder wie die ersten Menschen das Atoll für sich erschlossen? Das würde einfach zu weit zurückgreifen. Also nutze ich einen kleinen Trick meiner Mutter: Mit wenigen Sätzen – oder in diesem Medium wohl eher Zeilen - die Szene präsentieren.

 

Lumiél hatte in den Jahren viel mitmachen müssen. Land und Völker gleichermaßen. Unter der Regentschaft zunehmend grausamerer, selbstsüchtigerer Tyrannen hatte die Nation geblutet. Wunden, die nie die Chance bekamen, richtig zu heilen. Und Thorin, irgendwo im Ausland als Söldner unterwegs, der die Kunde vernahm, hier und da, immer mal wieder, und letztlich seine Augen nicht mehr vor dem Desaster in seiner Heimat verschließen konnte. Er kehrte heim, schloss sich der Rebellion an und führte sie zum Sieg. Und wir alle hatten glauben wollen, dass es ein Sieg war.

Aber die Kämpfe enden einfach nicht. Tun sie nie.

Wir hatten den König gestürzt. Wir hatten mit dem korrupten Adel und vielen Militärangehörigen abgerechnet. Wir hatten dem Land eine Chance erarbeitet. Auf Stabilität, Sicherheit und Erholung. Aber mit einer Schlacht geschlagen, nahten natürlich sofort die Wölfe des Krieges, bereit, sich auf uns zu stürzen und direkt den nächsten Krieg zu beginnen. Lumiéls korrupte, verdorbene Verbündete – einstmalige Verbündete, wohlbemerkt – sahen ihre Chance gekommen.

Es wurden Bündnisse geformt, Allianzen geschmiedet und ja, auch gelegentliche Schlachten geschlagen. Thorin waren die Piraten Sundergrads immer ein Dorn im Fleisch gewesen – aber als der König sie zu den Waffen rief, da folgten sie mit einem Stolz, den er in seinem Volk verloren geglaubt hatte und kämpften so leidenschaftlich, das sie ungeheuren Übermächten erfolgreich die Stirn boten.

Es war beeindruckend, es damals selbst zu sehen, wieder und wieder. Ich hatte in all den Jahren nie ganz verstanden, was er damit gemeint hatte. Mit diesem angeblich vorhandenen Stolz und der heiß lodernden Leidenschaft seines Volkes, mit seiner Stärke an Willen und Tatendrang. Bis ich es selbst in Aktion sah.

Schlachten wurden geschlagen und Projekte verfolgt. Der Ausbau des Landes lief parallel. Alles lief parallel – es gab einfach keine Baustellen, die in der Priorität zurückgestellt werden konnten. Alles war irgendwie wichtig. Das dünnte zwar die Ressourcen aus, gewährleistete aber wohl irgendwie auch einen steten, gleichmäßigen Fortschritt.

Natürlich kam der Punkt, an dem Thorin nicht länger einfach nur zweifelte, sondern Konsequenzen daraus zog. Er war ein guter König. Er liebte sein Land und sein Volk und sah sich als Diener des selbigen. Aber das Land und Volk, dem er diente, war nicht das, worüber er herrschte. Er stammte aus einer anderen Epoche. Und diese Zeit war vorbei. Er hatte dem Land maßgeblich helfen können, hatte ihm eine neue Chance erarbeitet, es gestärkt, geführt, angeleitet. Aber mit jedem Tag wuchs die Sorge, was diese Differenz letztlich anstellen würde. Er war nicht willens, zuzusehen, wie er selbst sich möglicherweise einfach nur zum nächsten Tyrannen mausern würde. Egal, wie gering diese Chance auch sein mochte. Ebenso wenig war er bereit, dem Land zu schaden – oder dieses Risiko einzugehen.

Sich einer befestigten Stellung entgegen werfen mit nicht mehr als einem ledernen Brustpanzer und einer Axt in der Hand, direkt in Speere hinein, an Turmschilden vorbei und in die Ränge von Bellatoren preschen – das war ein Risiko, das er guten Gewissens tragen konnte. Aber Lumiél schaden? Da zog er die Grenze.

Die Erbfolge war abgeschafft. Und dennoch wollte das Volk mehr Thorin. Mehr Wyrmblut. Man konnte ihn schlecht zwingen, die Krone weiter zu tragen. Mutter hatte keinen Anspruch darauf und ich ebenso wenig – ganz gleich, ob das Recht es anders vorsah. Sein Sohn dagegen, den konnte man auf den Thron setzen. Und sie taten es.

Es ist befremdlich, darüber nachzudenken, dass er ein guter Junge gewesen sei. Ich war älter als er, natürlich, nur… inzwischen dürfte er seit vielen Jahrzehnten tot sein. Jahrhunderten vermutlich. Und ich bin nur wenige Tage gealtert, falls überhaupt. Ich sah ihn aufwachsen und die Erinnerungen daran, wie Mutter einem nackten, kichernden Bengel nachjagte, um ihm etwas anzuziehen, scheinen mir nicht so fern und schwer vereinbar mit der Vorstellung, wie das Alter einen von Flecken übersäten Greis mit zittrigen Händen, schneeweißen Haaren und eingefallenen Wangen dahingerafft hat.

Es war während dieser Zeit, dass Duncan zurückkehrte.

Jeder hatte ihn vergessen. Oder vielmehr, nahezu jeder. Meister Lamerak und Herrin Tanveer hatten ihn verfolgt, regelrecht gejagt und waren erst nach Lumiél zurückgekehrt, als sie sich seines Unterganges versichert hatten. Der Chronist Duncan war vernichtet worden. Sie hatten nie herausfinden können, wie eigentlich. Er war nicht gestorben, nein. Vernichtet. Irgendeine Kraft hatte ihn in Fetzen gerissen.

Erst später sollten wir erfahren, wie wahr das war. Denn nicht nur seinen Körper hätte man stückchenweise aufsammeln können. Seine Essenz, seine Seele, seine Persönlichkeit, alles an ihm war zerrissen worden. Oder vielleicht vielmehr, gesplittert. Er kehrte nach Lumiél zurück, um Rache zu üben – so vermuteten wir zunächst.

Mit nicht mehr als einem kleinen Beiboot, ausgesetzt irgendwo vor der südlichen Küste, ließ er sich von einem Schiff aufsammeln und nach Sundergrad bringen. Er tötete dort Hunderte, zerstörte fast ein Fünftel der gesamten Stadt, versenkte ein Dutzend Schiffe, ehe die Enge Sundergrads ihn vertrieb. Zu viel Gegenwehr, die er nicht immer schnell genug sehen konnte. Verletzt zog er nordwärts und schaffte es sogar lebend durch die Wüste. Nur um in Samara einzufallen wie eine Naturgewalt. Die äußeren Mauern verwitterten am Südwall, Häuser stürzten ein und begruben die Männer, Frauen und Kinder darin. Auch in Samara fielen ihm Dutzende zum Opfer, ehe Meister Lamerak und Herrin Tanveer ihn stellen konnten. Die Kämpfe in der Stadt auszufechten war, was Thorin im Anschluss so rasend gemacht hatte. Aber was hätten sie tun sollen? Duncan nahm keine Rücksicht. Nicht auf andere und nicht einmal auf sich selbst.

Er wurde getötet. Zum zweiten Mal.

Und nach vier Monaten kehrte er zurück.

Nach seinem dritten Tod dauerte es nur sieben Wochen.

Nach seinem vierten Tod waren es drei Jahre.

Aber er kehrte wieder. Immer wieder.

Die Magier des Zirkels hätten uns vielleicht helfen können… hätten sie das denn gewollt. So hingegen waren wir auf unsere eigene Expertise angewiesen und da… waren wir schlecht aufgestellt. Angriff folgte auf Angriff. Schäden, Tote, und letztlich, was Thorin am meisten besorgte: Angst. Häuser konnte man reparieren. Oder neu bauen. Märkte konnte man aufstellen, Stoffe einführen. Und das Volk würde sich erholen. Aber es war die Angst, die alles zu zerstören drohte. Was nützte es, den Markt wiederaufzubauen? Was nützte es, wenn sich die Bevölkerungszahl erholte, wenn niemand den Markt zu besuchen wagte? Wenn jeder aus Sundergrad zu verschwinden versuchte? Wenn die großen Städte gemieden wurden – aus Furcht vor der nächsten Attacke eines wahnsinnigen Chronisten?

Angst schmälerte die Attraktivität der Märkte Sundergrads. Weniger Händler bedeutete weniger Reichtum. Weniger Reichtum zog weniger Piraten an. Sie unterhielten weniger Schiffe und das schwächte Lumiéls Verteidigungsfähigkeit zur See. Und das waren nur eine Stadt und nur eine Mechanik. Es gab so viel mehr, was ihm Sorgen bereitete.

Wir mussten herausfinden, was es mit Duncan auf sich hatte. Wie er es vollbrachte, immer wieder zurückzukehren. Und was er eigentlich wollte. Als wir Duncan also das siebte Mal getötet hatten – diesmal dank eines glücklichen Zufalls direkt auf See, noch außerhalb Sundergrads -, beschloss Thorin auch die Mittel in Betracht zu ziehen, die er bis zu diesem Punkt ausgeschlossen hatte. Er hatte immer gehofft, dass dergleichen nicht notwendig werden würde. Dass es nur eine begrenzte Anzahl an Duncans geben konnte. Dass die Angriffe irgendwann schon stoppen würden. Aber es sah einfach nicht danach aus.

Wir waren alle anwesend, als er Kaleran rief.

Ich muss zugeben, ich wollte diesem Geschöpf nicht begegnen. Nie wieder. Und ich hatte auch nicht erwartet, dass er überhaupt reagieren würde. Nach allem, was ich mir erfolgreich eingeredet hatte, hatte er mit uns erreicht, was er hatte erreichen wollen. Wir waren fertig miteinander. Aber als Thorin rief, zog der strahlend blaue Himmel sich fast augenblicklich mit tiefschwarzen Wolken zu. Es wurde finster in der Thronhalle. Dann zuckten Blitze, grell und gleißend und ich schloss meine Augen, wie alle, um nicht zu erblinden. Ich hatte Hoffnung gehabt – bis zu dem Punkt, als ich sie wieder zu öffnen wagte und dort diese vertraute, unmenschliche Gestalt stehen sah. Hoch gewachsen, schlank, die Haut jedoch verfärbt und eine harte, gefühllose Miene in einem Gesicht mit drei Augen. Ein Anblick, den ich wahrscheinlich Zeit meines Lebens nicht mehr loswerde.

Bevor irgendjemand irgendetwas sagen konnte, platzte ich mit meiner eigenen Neugier hervor. Wie viele Jahre waren es nun schon, seit Hans verschwunden war? Zugegeben, er war nicht vollständig vom Erdboden verschluckt worden. Er hatte sich sehen lassen, hier und da. Hatte mit mir geredet. Ob nun beim Tempelbesuch oder in Träumen. Selten sogar in Person. Aber Hans machte mir Sorgen. Sein Wohl, vielmehr. Die Einsamkeit bekam ihm nicht gut und mit einem Lehrmeister wie Kaleran… mit jemandem wie ihm um sich, nur ihm, da war es Einsamkeit. Dazu kam, dass ich Hans kannte. Einen Freund nannte. Und wusste, mit welchen Leiden er sich trug. Leiden, die Kaleran zwar sehen konnte. Die Ursachen in der Vergangenheit. Die Gedanken in der Gegenwart. Die resultierenden Handlungen in der Zukunft. Aber er verstand sie nicht. Und das verbot ihm, etwas dagegen zu tun.

Also fragte ich ihn, wie es Hans ginge.

Und er ignorierte mich.

Stattdessen blieb sein Blick zunächst starr auf  Thorin gerichtet, der einen Moment noch zögerte. Ich wusste genau, dass er abwog. Sollte er Kaleran bedrängen, mir zu antworten, oder sich seinem eigenen Anliegen widmen? Aber das Schicksal des Reiches war wichtiger… das war mir klar. Also nickte ich ihm zu. Er wirkte fast schon… erleichtert. Erleichtert, nicht wählen zu müssen. Es machte mir klar, wie schwer die Verantwortung auf ihm wiegen musste. Wie viele Jahre war ich der Verantwortung unterlegen gewesen, eine Herzogin zu mimen? Aber vermutlich war das nichts im Vergleich zur Bürde einer Krone.

Thorin verlangte von Kaleran ausführliche Informationen. Er bot keinen Handel an, er verlangte. Jeden anderen hätte ich für wahnsinnig erklärt. Aber ich hatte gesehen, wie er erfolgreich Götter erpresste. Ich hatte die Geschichten gehört, wie er ein Jahrhundert lang einen Magier quer über einen Kontinent jagte, aus nicht mehr als einer Laune und Sturheit heraus. Wenn irgendwer sich das herausnehmen konnte, dann er. Und die Warnung war stets mit impliziert. Wir wussten, das Kaleran viel Arbeit investiert hatte, um uns in die Positionen zu manövrieren, in denen wir waren. Und er wusste, dass wir das wussten. Während ich und vermutlich auch viele andere je nach Situation entschieden, gezögert und vielleicht auch klein bei gegeben hätten, hätten Thorin und Ninafer zweifellos auf Biegen und Brechen seine Pläne zu ruinieren versucht. Um sich einen Chronisten zu erziehen. Und ich hege keinen Zweifel, dass es früher oder später funktioniert hätte.

Vielleicht war das der Grund, warum Kaleran letztlich antwortete. Freimütig und großzügig gab er uns alles, was wir wissen wollten, ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Er bot uns sogar eine Erklärung für sein ungewöhnliches Verhalten.

Duncan war tatsächlich zersplittert worden. Teile seiner Persönlichkeit und Seele wanderten umher. In der Zeit verstreut. Im Raum verstreut. Kaleran ging nicht darauf ein, wie das geschehen war und niemand fragte nach. Wichtig war, dass wir nun wussten, dass es eine endliche Anzahl an Duncans gab. Allerdings wussten wir nun auch, dass wir bislang sieben bekämpft und bezwungen hatten und noch Hunderte dort draußen waren. Irgendwann und irgendwo. Ein Krieg, den Lumiél nicht gewinnen konnte.

Duncan hatte eine Vision empfangen. Und wie einstmals – der Legende nach – Kaleran, so entschied auch er sich dazu, dieses sehr wahrscheinliche Ereignis nicht eintreten zu lassen. Dummerweise setzte er sich damit in den Kopf, ein Ereignis zu verhindern, dass Kaleran mit allen Mitteln herbeizuführen versuchte. Und dieser Chronist zog es doch stets und allzeit vor, seine Arbeit nicht selbst erledigen zu müssen.

Offenbar hatte dieses Ereignis irgendetwas mit Arvum zu tun. Den Namen des Kontinentes hatte ich nicht einmal gehört, bevor wir ihn im Anschluss dieses Gespräches in der Bibliothek nachschlugen. Und Duncan war sich darüber im Klaren, dass wir verhindern würden, dass er dieses Ereignis verhindert. Deshalb griff er uns fortwährend an. Um sich selbst die Bahn freizuräumen. Ehe er mit seiner eigentlichen Aufgabe beginnen konnte.

Kalerans Weisung war damit simpel. Wir mussten Duncan beschäftigt halten. Ihm war völlig gleich, wie wir das anstellten. Wir hätten weiter in Lumiél hocken bleiben und ihn dort wieder und wieder und wieder abwehren können – auf Kosten des Volkes und der Nation, die Thorin gerade erst so mühselig wiederaufgebaut hatte. Oder wir zogen aus. Ihn und seine Aufmerksamkeit mit uns.

Solange er uns folgte und uns zu töten versuchte, würde er sich nicht seinem eigentlichen Ziel widmen. Thorin war Kalerans Ziel wiederum völlig einerlei. Er hatte das Nötige erfahren: Duncan würde nicht aufhören, uns zu jagen. Er würde nicht Frieden geben. Niemals.

Thorin entließ den Chronisten aus seiner Thronhalle und bevor Kaleran verschwand… wandte er sich mir zu. Da lag etwas Vertrautes in seinem Blick. Ein… emotionaler Schimmer, will ich fast meinen. Er kam mir in diesem Moment so viel bekannter vor. Wie jemand, den ich vor langer Zeit getroffen hatte. Und ehe er in seinen Blitzen verschwand und sich die schwarze Wolkenfront über dem Palast auflöste, ließ er mich wissen, dass es Hans gut gehe.

Und aus irgendeinem Grund bekam ich dabei eine Gänsehaut.

 

Es waren keine drei Wochen, ehe wir aufbrachen. Über viele Jahre hinweg hatten wir versucht, seinem Sohn zu helfen, das Land zu führen. Es durch diplomatische Fallstricke zu steuern, an militärischen Niederlagen vorbei. Wir hatten ihn gut gelehrt, befanden wir. Er war fähig, das Land zu führen. Ein guter, gerechter König. Ein König, wie Lumiél ihn verdient hatte.

Ein König ohne die Lasten der Vergangenheit, die sein Handeln beeinflussen.

Wir hatten uns alle Kräfte zu Dienste gemacht, um die Bibliotheken des Landes zu durchforsten. Aber Lumiél, der Erweckung der Drachen zum Trotz, war nicht das Zentrum der Welt. Wir hatten ein paar Hinweise hier und da, aber nicht viel. Denn für uns war unser Weg nun auch vorgezeichnet worden. Duncan würde nicht aufgeben – also mussten wir den Kampf zu ihm tragen. Ihn ausfindig machen und bezwingen. Alle von ihm.

Doch obgleich die Splitterung seine Zeitmagie maßgeblich geschwächt hatte, war sie noch immer vorhanden. Und wir brauchten Mittel und Möglichkeiten, um uns dagegen zu verteidigen. Wir brauchten mehr Artefakte. Mehr Schriftrollen. Mehr Tränke. Mehr Rüstung. Mehr Waffen. Ein bisschen mehr von allem.

Unsere eigenen Bibliotheken gaben nicht viel her. Und das Wenige erschöpfte sich binnen der ersten zwei Jahre unserer Reise. Die meiste Zeit davon brachten wir auf See zu, von einem Hafen zum nächsten fahrend. Wir bemühten uns, Arvum zu meiden, um Duncan nicht auf Ideen zu bringen. Doch letztlich mussten wir einsehen, dass es keinen besseren Weg gab. In diesen zwei Jahren waren wir neun Mal Duncan begegnet – und nur zwei Mal hatten wir einen Splitter zerstören können.

Wir fanden uns in Südwacht ein. Einer Stadt, deren Wunder und Schönheit mir selbst heute noch zu beschreiben schwer fällt. Weltweit ist sie bekannt. Man nennt sie auch die Bibliotheksstadt. Und sie verdiente sich ihren Namen redlich. Nie zuvor und nur selten seither sah ich so viele Bücher. Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit dort verbringen können. Auch wenn mehr Zeit vermutlich angesichts der Fülle der Werke niemals genug Zeit gewesen wäre.

Selbst hier, in einer Stadt des Ordus Haereticus, einer Stadt der Hexenjäger und Kriegsmagier, fanden wir keine Verweise auf Möglichkeiten, sich gegen Zeitmagie zu schützen. Wie auch. Sie existierte in dieser Welt nicht, sollte nicht, durfte nicht. Aber unsere tagelange Suche förderte zumindest einen Hinweis zutage, den wir verwerten konnten. Wir mochten uns vielleicht nicht gegen Duncans Zeitmagie wehren können – aber was, wenn das auch überhaupt nicht notwendig wäre?

Die alten Texte waren in der Sprache der Drakoiden geschrieben. Selbst Thorin mit dem Herz Lumiéls ausgestattet hatte seine Schwierigkeiten, das zu übersetzen. Diverse Schriftgelehrte verdienten gut an uns. Und das Ergebnis klang vielversprechend. Eine alte Tempelanlage wurde zu unserem neuen Ziel. Angeblich hatten die Drakoiden es nach harten, langjährigen Kämpfen einstmals geschafft, in einer Reliquie ihres Volkes einen böswilligen Geist einzusperren, der über gewaltige Mächte verfügte. Er hatte deren Reich nicht eigenständig angegriffen – dazu war er nicht fähig. Gebunden an Weisungen und Versprechen, waren andere Drakoiden seiner habhaft geworden und hatten ihn in ihrem damaligen Bürgerkrieg gegen ihresgleichen eingesetzt.

Es klang nach einer Kreatur, die fähig war, Wünsche zu erfüllen.

Die Tage und Wochen darauf reisten wir wieder, auf der Fährte dieses Tempels, und überlegten uns, wie wir einen solchen Wunsch formulieren sollten. Wir hatten genau einen Satz und solche Geister waren bekannt dafür, Wünsche bestmöglich zu verdrehen. Sollten wir Duncan wieder zu einem einzelnen Geschöpf zusammenfügen? Sollten wir ihm seine Zeitmagie nehmen? Sollten wir uns das Wissen verleihen, wie man ihn tötet und wo man ihn findet? Sollten wir ihn einfach aus der Geschichte tilgen oder alle Splitter sofort sterben lassen?

Selbst als wir nach einer langen Kette aus Hinweisen, mal mehr und mal weniger kalten und obskuren Spuren und viel Wegstrecke die Anlage fanden, hatten wir noch immer keinen fertigen Wunsch. Denn das war gewissermaßen unsere eigentliche Hürde. Die Anlage aufspüren war eine Frage von Zeit und Geduld. Die Fallen im Inneren überwinden und sich mit den Wächtern des Tempels herumschlagen, das war eine Frage von Kampfgeschick und Intelligenz. Wir hatten alles, was wir brauchten, dabei. Aber diesen Wunsch zu formulieren, wasserdicht zu formulieren… das erforderte ein Ausmaß an Kalkül und Weitsicht, bei dem selbst Mutter ihre Schwierigkeiten bekam.

Ich erinnere mich, dass sie einstmals – noch zu Rebellionszeiten - mit Lord Adamah darüber sprach, wie man einen Wunsch am besten formulieren würde, um sich selbst nicht in Teufels Küche zu bringen. Seine damalige Antwort war knapp gewesen: Gar nicht.

 

Der Hauptgang zur zentralen Kammer mochte sicherlich sieben oder acht Meter breit und um die fünf Meter hoch gewesen sein. Es war ein wenig einschüchternd, darin zu laufen. Wir waren zu viert und fühlten uns dennoch winzig und verloren. Oder… vielleicht war das nur ich. Thorin schaffte es zumindest erfolgreich, sich nichts anmerken zu lassen. Cyron wirkte nicht wirklich eingeschüchtert und Ninafer betrachtete die kunstvoll verzierten, wenn auch vom Zahn der Zeit übel zugerichteten Wandreliefs mit der Begeisterung und Bewunderung einer Schaulustigen, die nur des Spektakels hierhergekommen wäre. Ja, vielleicht war das nur ich.

Dabei trugen die gewaltigen Golems nicht unbedingt zu meiner Beruhigung bei.

Sie ragten an die dreieinhalb Meter auf. Moos überwucherte ihre stählernen Panzerplatten. Es stieg kein Rauch aus der Kanone auf, die ihren linken Arm ersetzte. Noch nicht. Wir hatten diese Dinger weiter vorne schon in Aktion erlebt. Wir wussten, dass es irgendwo einen Auslöser gab, der sie anschalten würde. Dass sie dann knackend, knarrend und rumpelnd aus ihren Alkoven treten, ihre Kanone laden und uns das Leben schwer machen würden. Den in der Eingangshalle hatten wir austricksen können. Frühere Abenteurer oder Plünderer mussten es gewesen sein, die sein linkes Bein angeschlagen hatten. Wir nutzten das aus, um ihn zu Fall zu bringen – und Thorin stieß eine der Säulen auf ihn. Das hätte ihn lediglich aufhalten und eine Weile beschäftigen sollen, aber der Tempel war alt und als ein Teil der Decke einbrach, da rührte sich der Golem gar nicht mehr.

Anderen waren wir entkommen, weil manche Räume und Gänge einfach zu klein für sie waren. Sie hatten uns hinterher schießen können, aber irgendwann waren wir außer Sichtweite und sie kehrten einfach in ihre Startstellungen zurück.

„Schmetterlinge frieren nur im Winter nicht“, meinte Mutter. Es war… anstrengend. Sie bemühte sich, nichts zu sagen, seit dieses andere, kleinere Konstrukt sie direkt in der ersten Wachkammer mit irgendeinem Zauber getroffen hatte. Es war bemerkenswert leicht zu Boden gegangen, als Thorin es erst einmal nahe herangeschafft hatte. Aber seither redete Ninafer nur noch Unsinn. Sie wusste, was sie sagen wollte. Und manchmal – weil wir sie gut kannten – verstanden wir sogar, was sie zu vermitteln versuchte. Aber die Worte selbst ergaben einfach keinen Sinn mehr.

Sie packte Thorin am Unterarm und zog. Er hielt inne und sah zu ihr, aber es folgte nur ein weiterer Strom aus Worten. Schmetterlinge, die im Winter nicht frieren. Nun, mir war nicht klar, ob Schmetterlinge überhaupt froren. Aber im Winter waren sie üblicherweise auch gar nicht da. Wer nicht da ist, kann nicht frieren. Vielleicht gab es doch Sinn? Vielleicht wollte sie uns sagen, dass wir nicht hier sein sollten? Hatte sie etwas bemerkt, dass wir nicht sahen? Cyron hatte ein feines Gespür für Gefahren und nicht angeschlagen. Es war also nichts, was auf Geruch basierte…

Thorin entschied, ihre Worte zunächst zu ignorieren. Er legte eine Hand auf ihre und nickte, ehe er sich abwandte und weiter ging. Sie seufzte tief, sagte jedoch nichts weiter. Irgendwann würde der Zauber vielleicht enden. Oder wir würden das hier hinter uns bringen und einen Magier finden können, der dem ein Ende setzte. So oder so gab es jetzt unmittelbar erstmal nichts, was wir hätten tun können.

Vielleicht hatte sie uns aber auch vor der Falle warnen wollen, deren Auslöser so gänzlich an uns vorbei ging. Er war nicht mechanischer Natur, sondern magischer. Vielleicht hatte sie ihn irgendwie wahrgenommen. Oder einfach ein mieses Bauchgefühl gehabt. Dass es überhaupt eine Falle gab, wurde uns auch erst klar, als die Golems in den Alkoven aktiviert wurden.

„In die Kammer!“, rief Thorin. Befehlsgewohnt, routiniert. Eilig, aber nicht hektisch. Die gleiche Routine, die ihm erlaubte, zu kommandieren, erlaubte mir, zu folgen. Mich in Bewegung zu setzen, noch bevor sein Befehl eigentlich überhaupt in meinem Kopf angekommen und verarbeitet worden war. Bevor ich entschieden hatte, ihn zu befolgen. Diese dadurch gewonnenen, kostbaren Sekunden können mitunter über Leben und Tod entscheiden.

Wir eilten vorwärts, mögliche Gefahren durch weitere Fallen keineswegs ignorierend, sondern dadurch auslotend, dass Thorin stets einen Schritt vor uns rannte. Nicht, was ich begrüßt hätte… aber darüber mit ihm zu diskutieren war müßig. Immer schon gewesen. Vor allem in solch einer Situation.

„Lileth, Ausgang!“, lautete die nächste Anweisung, als wir das große Tor zur Zentralkammer erreichten. Ninafer stürmte hinein und schoss zunächst um die Ecke, um sich an der Wand zu verstecken. Thorin trat etwas tiefer in den Raum und verbarg sich erstmal hinter einer Säule, während ich mich rasch mit Cyron verständigte und wir uns aufteilten, um herauszufinden, ob es weitere Zu- oder Ausgänge gab. Fluchtwege. Oder ob wir hier in der Falle saßen.

Dann kam das nächste Knacken und Knarren. Diesmal aber nicht von weiteren, sich aktivierenden Golems draußen auf dem breiten Flur. Nein. Der türlose Zugang zur Kammer war nicht so türlos, wie wir vermutet hatten. Angesichts der bisherigen Dichte an Fallen und Wächtern war das wohl nicht allzu überraschend – aber dennoch erschöpfend. Es zu hören. Zu sehen. Ein weiterer Punkt, um den wir uns würden kümmern müssen.

Ein massives Steintor sank von oben langsam herab und drohte, uns in der Kammer einzuschließen. Mit begrenzter Luft, keinem Wasser und, wie ich im Begriff war, herauszufinden, keinem weiteren Ausgang. Ein etwas spöttisch-amüsiertes Stimmchen in meinem Hinterkopf ließ mich in jenem Moment der Erkenntnis zumindest wissen, dass wir damit immerhin die Golems los wären. Wie tröstlich…

„Bär!“, fluchte Ninafer. Das ließ mich doch herumschauen. Thorin hatte sich in den Eingang gestellt und versuchte, mit bloßer Muskelkraft die Steinplatte davon abzuhalten, weiter herabzusinken. Es schien ihm nicht zu gelingen, obwohl es zumindest wirkte, als würde er das Sinken verlangsamen.

„Ishara, Ausgang!“, brüllte er und ich fuhr unweigerlich zusammen. Mir war klar, dass meine Aufgabe wichtig war. Und was daraus resultierte. Wenn es einen gab, konnten wir die Platte sinken lassen – alles war gut, irgendwo ging es weiter. Aber falls nicht… mussten wir hier raus, so schnell wir konnten. Und damit den Golems entgegen. Obendrein, bevorzugt, mit der Sache, deretwegen wir hier waren.

„Keiner!“, rief ich daher hastig zurück. Cyron hatte keinen gefunden, ich nahm auch nichts wahr. Vielleicht gab es hier irgendwo eine Illusion, aber dazu hätte ich die Wände abtasten müssen. Soviel Zeit blieb uns einfach nicht.

„Such das Ding, wir müssen hier raus!“, folgte unweigerlich.

Mein Blick streifte damit erstmals weniger fokussiert durch die Kammer. Sie war rund, besaß einen äußeren Gang, der mittels eines Säulenkreises vom Inneren abgegrenzt war. Reliefs, die Geschichten erzählten und noch bemerkenswert gut erhalten waren, säumten die äußeren Wände – und wie mir nach einem Moment bewusst wurde, sogar die Säulen, den Boden und die Decke. Im Inneren fanden sich flache, breite Stufen, die zu einem zentralen Podest heraufführten. Auf dem befand sich…

Eine Lampe? Wir hatten diese Dinger in Südwacht schon gesehen. Kleine, vergoldete Öllampen.

Ich eilte nach oben und war im Begriff, danach zu greifen, als Ninafer aufrief. „Mäuschen!“ Ich hielt abrupt inne – gerade rechtzeitig, damit der massive Eisenball vor meinem Kopf vorbei schoss, statt damit zu kollidieren. Mein Blick folgte etwas schockiert der Flugbahn bis zu ihrem Ursprung. Die Golems, Seite an Seite, traten immer weiter vor. Sonderlich eilig schienen sie es aber auch nicht zu haben. Thorin dagegen kniete inzwischen fast und hatte redlich Mühe, sich der Wand noch entgegen zu stellen.

Ich versuchte einen Moment abzuwägen, ob wir es noch rechtzeitig würden heraus schaffen können.

Und dann wurde Thorin getroffen.

Ein Speer durchschlug seinen Oberschenkel. Die Kette rasselte, die daran hing. Er schrie auf vor Schmerz und mir gefror das Blut. Nicht nur des Schreies wegen. Oder des Anblicks wegen, wie er verletzt wurde. Es war der Horror über die Vorstellung dessen, was folgen könnte. Ein Speer mit Kette. Was, wenn sie ihn hinausziehen würden? Was, wenn er von uns getrennt werden würde? Was, wenn ich mit Ninafer hier allein zurückbliebe?

Ich sah bereits den Zug, wie sich die Kette spannte, wie sie sich bereit machten, ihn von uns zu trennen. Weglaufen war jetzt eh keine Option mehr. Die Steinwand war zu weit herabgesunken. Und mit Thorins nunmehr durchschlagenem Bein… er erkannte das ebenso. Fluchend wie ein Seemann packte er die Kette, riss ein Stück daran und rollte sich unter dem Steintor hervor, zu uns ins Innere. Die Kette hatte genug nachgegeben, den Widerhaken nicht in sein Fleisch zu rammen, als der Stein mit einem Krachen auf den Boden schlug und die Kette damit durchtrennte.

Völlig unbewusst war ich zu ihm herüber geeilt. Ninafer hatte ihn bereits mit dem Rücken an eine Säule gelehnt und ihn herab gedrückt, bis er saß. Sie hatte angefangen, die Wunde freizulegen und ich sah mir unumwunden an, wie schlimm es wirklich war. Die Antwort auf meine Frage gefiel mir noch weniger. „Wir müssen die Blutung stoppen“, merkte ich an. Doch dazu musste dieser verdammte Speer raus. An einer Seite Widerhaken, an der anderen Seite die Kette. Meine Gedanken rasten. Wie bekamen wir das Ding fort, ohne die Wunde noch zu verschlimmern?!

Ninafer dagegen kramte hastig in ihrer Tasche herum und förderte einen Tiegel hervor. Ich bekam erst mit, das sie überhaupt etwas tat, als sie die dicke, gräuliche Paste auf einen Teil des Eisenspeers auftrug. „Was-?“, setzte ich an, brach jedoch ab. Ich erkannte schließlich, was sie tat. Immerhin hatte ich ihr geholfen, dieses Mittel anzurühren. Gedacht war es eigentlich gewesen, um im Fall einer Gefangennahme mit Gitterstäben oder Eisentüren zurechtzukommen. Das Metall wurde nach einer kurzen Einwirkzeit weich und formbar. Jetzt hingegen rettete es Thorin potenziell das Leben. Es wurde zwar nicht weich genug, damit man es einfach brechen oder auseinanderziehen konnte, aber ein guter Schlag war genug. Also packten Ninafer und Thorin die zwei Teile des Speers so fest sie konnten. Je weniger Vibration sich auf die Wunde übertrug, umso besser. Und ich holte mit dem Schwert aus.

Wenn ich bedenke, wieviel Panik ich zu Beginn meiner Reise hatte, ein Schwert zu führen. Oder auch nur anzufassen. Jetzt hingegen? Ich zog es ohne Zögern, ich setzte an in dem Wissen, das nur ein paar Zentimeter mich davon trennten, Thorin zu töten, Ninafer zu töten oder zumindest, sie sehr schwer zu verletzen. Und mit ruhiger Hand zog ich die Klinge durch, gezielt, geübt, erfahren. Der Speer brach an der präparierten Stelle und wir konnten das Metall entfernen.

Die Wunde im Anschluss mit Heilmagie zu stopfen war… unangenehm. Ich nahm so viel ich vor Thorin rechtfertigen konnte von mir selbst, griff jedoch auch auf Ninafer, Cyron und Thorin selbst zurück. Wenn sich an seinem Körper andere Wunden öffneten, war das nicht so schlimm wie die Große, die geschlossen werden musste. Natürlich wäre es mir lieber gewesen, hätte ich einfach ein paar Pflanzen nehmen können. Gras. Moose. Flechten. Aber hier unten lebte absolut nichts. Es war eine gähnende, klaffende Leere für meinen Lebenssinn. Glücklicherweise begegnete ich diesem Phänomen nicht zum ersten Mal, sonst hätte mich das vermutlich weit mehr aus der Bahn werfen können…

Als wir die Beinwunde halbwegs versiegelt hatten, wies Ninafer ihn in strikten Worten an, Ruhe zu wahren. „Ein Stier donnert durch die Gassen, bis man ihm ein Ende setzt!“, erklärte sie scharfen Tones. Er nickte artig und blieb sitzen. Ihr mahnender Blick ging zu mir und auch, wenn es mir schwer fiel… sie meinte es ja gut. Also setzte ich mich ebenfalls hin und ließ sie ihre Arbeit machen. Salben und Tinkturen, ein paar Tränke, Verbände, sie versorgte die zahlreichen kleinen Wunden, die ich geschlagen hatte. Desinfektion war wichtig, gerade hier unten.

„Ich seh mir das Podest an“, erklärte ich, kaum, dass Ninafer mit mir fertig war. Wir würden nicht ewig hier bleiben können – die Luft war der begrenzende Faktor. Und falls das Tor sich öffnete, standen potenziell zwei Golems davor. Wir brauchten Alternativen. Glücklicherweise sahen beide das ein und nickten. Also hievte ich mich mit Cyrons Hilfe wieder auf die Beine. Und ich war dankbar für seine Unterstützung. Ich fühlte mich in diesem Moment elend, erschöpft. Sitzen zu bleiben, besser noch – mich hinzulegen -, das hatte solche Verlockung besessen. Einfach einen Moment ruhen. Oder zwei.

Stattdessen stakste ich etwas ungelenk zum Podest herauf. Es schien keine Druckplatte unter der Lampe zu geben und sie war neben den Reliefs, die zu studieren wir nun wirklich keine Zeit hatten, das einzig Bemerkenswerte im Raum. Ich erwog, sie mit einem Tuch zu nehmen. Sie vorher vom Staub frei zu putzen. Sie einfach da stehen zu lassen. Ich ließ mir all meine Optionen durch den Kopf gehen und… nahm sie am Ende einfach von dort weg.

Schon als ich die Lampe anrührte, begann ein dicker, blauer Nebel aus der Lampe zu quellen. Ich hielt sie am ausgestreckten Arm so weit wie möglich von mir fort und warnte Thorin und Ninafer. „Wir bekommen vermutlich gleich Gesellschaft.“

„Hoffentlich atmet der nicht auch noch“, maulte Vater, während er sich mit Hilfe der Säule und Ninafers aufrichtete. Er packte seine Axt, nickte ihr zu und beide verschwanden vorläufig hinter Säulen in Deckung. Nur für den Fall der Fälle.

Nach wenigen Sekunden manifestierte sich aus dem dicken, blauen Nebel eine Gestalt. Der Unterkörper blieb auch Nebel, aber ein muskulöser, von einer tiefblauen Weste bekleideter Oberkörper formte sich. Hellblaue Haut, eisblaue Augen, die Haare fast schon schwarz.

„Ahhh, endlich! Das wurde aber auch mal Zeit, dass sich jemand bequemt, mich rauszuholen“, begann die Gestalt. Er sah sich aufmerksam im Raum um und verneigte sich dann vor mir. Vielleicht, weil er nur mich sah – obwohl ich selbst aus dem Augenwinkel heraus Thorins Schultern hinter der Säule hervorlugen sehen konnte. „Nenn mich Jeva, Teuerste.“

Etwas überfordert von der Situation, erinnerte ich mich der Lehre, die ich unter Leander, Myron und Ninafer vollzogen hatte und knickste leicht. „Ishara.“

Es folgte ein Moment des Schweigens. Der sich zog. Und zog. Und weiter zog. Bis Jeva die Geduld zu verlieren schien. „Nun? Ich warte.“

Verdutzt sah ich mich um, starrte ihn an. „Worauf?“ Das wir ihn hier heraus brachten? Dass ich fragte, was er sei? Dass ich ihm irgendwie auf eine Weise Respekt zollte, wie die alten Drakoiden es getan hatten, die ihn beschworen?

„Dass du dir etwas wünschst, selbstverständlich“, merkte er in einer Mischung aus leichter Frustration und überwiegendem Amüsement an. Als wäre es das Offensichtlichste der Welt. Nun… für ihn war es das vielleicht auch.

„Einfach so?“, stutzte ich.

„Einfach so. Wenn du willst“, gab er mit einem derartig spitzbübischen, hintergründigen Lächeln zurück, das sämtliche Alarmglocken in meinem Kopf erklangen und selbst Cyron mich eindringlich warnte, mit meinen Worten vorsichtig zu sein.

„Bist du… ein Djinni?“ Ich weiß nicht, warum mir diese Frage in jenem Moment wichtig erschien. Vielleicht, weil ich in meinen Büchern – den Teuren, Exotischen -, von den Djinn gelesen hatte. Aber sie waren nie als… nun, blau beschrieben worden. Wenn er also diese Wünsche erfüllende Kreatur sein sollte – was war er dann? Und funktionierten Wünsche überhaupt wie in den Büchern, oder-

Gute nächste Frage.

„Also bitte!“, empörte sich Jeva, obwohl ich das Gefühl bekam, dass es ihm damit nicht wirklich ernst war, „Ich bin ein Marid! Kein Shaitan, kein Janni und schon gar kein niederer Djinni.“

Marid? Shaitan? Janni? Gab es so viele Geister, die Wünsche erfüllten? Worin unterschieden die sich wohl alle? Eine Frage der Hautfarbe? So neugierig ich auch war, da weiter zu fragen… gab es Dringlicheres. Und Thorin hätte mich wirklich nicht mit seinem bohrenden Blick darauf aufmerksam machen müssen, den ich im Kreuz spürte.

„Wie funktioniert das mit den Wünschen?“, hakte ich also nach.

Das Lächeln Jevas wurde unangenehm räuberisch, während er mich durchdringend musterte. Als würde er den Wert seiner nächsten Mahlzeit abschätzen. Und je nachdem, welche Geschichten nun wohl zutrafen, mochte das vielleicht sogar tatsächlich den Tatsachen entsprochen haben. „Du bist ein kluges Mädchen, Ishara. Also gut, kommen wir zum geschäftlichen Teil. Ein Wesen kann von einem Marid nur einmal in seinem Leben Wünsche gewährt bekommen. Findest du einen zweiten Marid, kann der dir keine Wünsche erfüllen. Ein Shaitan oder andere Genie können das. Überleg‘ dir also gut, was du willst. Überhaupt: das ist ein gutes Motto für unsere Zusammenarbeit, Ishara. Denk vorher gut nach. Ich erfülle dir genau eine Intention. Wir nennen das gerne Wünsche, aber es sind Intentionen. Du willst deinen größten Feind tot sehen? Dann wünsch es dir. Falls es nicht klappt, wirst du dir nie wieder wünschen können, dass er stirbt – zumindest nicht von einem Marid. Egal, wie oft du es umformulierst. Soweit verstanden?“

Verstanden schon. Aber es warf so viele Fragen auf. Wusste ein anderer… Marid denn automatisch, das er mir keine Wünsche mehr erfüllen durfte? Oder spürte er das einfach? Was waren Shaitan überhaupt? Oder Janni? Oder Marid? Genies, offenbar – aber worin unterschieden sie sich, wenn diese Differenzen groß genug waren, dass andere Genies einem weiterhin Wünsche erfüllen durften? Wenn ich meinen Feind töten wollte und der Wunsch scheiterte – durfte ich mir dann legitim wünschen, ihn zu verstümmeln? Nicht, dass ich das vorhätte, aber es war eine andere Intention, oder nicht? Dennoch nickte ich zunächst nur etwas benommen.

„Fein“, fuhr Jeva unumwunden fort, „Ich gewähre dir sieben Wünsche. Sieben. Nicht sechs, nicht acht, sieben. Du kannst dir mehr Wünsche wünschen, aber das funktioniert nicht. Was funktioniert? Du kannst dir mehr Genie-Behausungen herbei wünschen und dich dann mit denen herumplagen, wie dir der Sinn danach steht. Aufgrund des Wunsches eines ach so edlen, noblen früheren Besitzers bin ich angehalten, vor jedem Wunsch eine Warnung darüber auszusprechen, was mit deinem Wunsch passieren könnte. Genauer gesagt, was ich mit deinem Wunsch wahrscheinlich machen werde. Ich will, kann und werde jeden deiner Wünsche verdrehen. Hauptsächlich, weil es mir Spaß macht. Es gibt immer mal wieder kluge Magier, die elend lange Schriftrollen mit ihren angeblich perfekt ausformulierten Wünschen präsentieren und es ist ein Vergnügen sondergleichen, ihren angeblich unbeugsamen Intellekt zurechtzuweisen, indem man ihnen ihre Fehler vor Augen führt. Einfach ein Genuss. Soweit mitgekommen?“

Erneut nickte ich. Eigentlich nur in der Hoffnung, er würde endlich zu reden aufhören. Dabei war dieser Teil wichtig, und das war mir auch klar. Die Regeln waren komplizierter, als ich erwartet hatte. In den Büchern stand stets nur, dass ein Djinni drei Wünsche gewährte und das war’s. Oh – und je nach Buch sollte man ihm die Freiheit gewähren oder genau das eben gerade nicht tun. Denn entweder waren sie gefangene Geschöpfe, die dann endlich heimkehren konnten, oder böswillige Monster, die dann ihre Kräfte frei gebrauchen konnten. Ich wusste nicht recht, womit ich es bei Jeva zu tun hatte. Er widersprach bisher bestmöglich sämtlichen Informationen, die ich über Genies hatte.

„Gut, dann der letzte Punkt. Ich habe drei Vetos. Du hast sieben Wünsche und ich habe drei Vetos. Wenn ich einen deiner Wünsche partout nicht erfüllen will, aus welchen Gründen auch immer, dann kann ich mich dem verweigern. Drei Mal. Jedes Mal, wenn ich ein Veto ausspreche, bekommst du einen weiteren Wunsch. Im Grunde sorgt das nur dafür, dass ich bestimmte Intentionen ausschalten kann, weil du sie dir ja nur einmal wünschen darfst. Ich denke, damit hätten wir das Gröbste. Noch Fragen?“ Jeva wirkte… vergnügt. Amüsiert. Ihn belustigte all das hier. Ich belustigte ihn. Meine Überforderung, die er mir vermutlich bestens am Gesicht ablesen konnte. Und sicherlich auch der Umstand, überhaupt wieder Gesellschaft zu haben, die er irreführen konnte.

Ich sah mich um. Sah Thorin dort stehen, die Axt in der Hand, der Blick warnend, alarmiert. Ninafer mit dem Blasrohr hinter einer anderen Säule, der Blick lauernd. Das geschlossene Steintor. Der türlose Rundgang. Und dann die blaue Nebelwolke, aus der Jeva aufstieg. „Kannst du uns hier herausbringen?“

„Mädchen, also bitte! Natürlich kann ich das. Aber da müssen wir etwas arbeiten. Ich dachte, die Folklore hätte da gründlicher gegriffen. Ein Wunsch beginnt mit: Ich wünsche mir…!“, schulmeisterte er mit sichtlichem Vergnügen über die neue Rolle.

Ich schüttelte den Kopf. Darum ging es nicht. „Nein, kein Wunsch. Kannst du oder kannst du nicht?“

Das schien ihn kurz stutzen zu lassen. Vielleicht hatte er den Verlauf anders erwartet? „Warum sollte ich, wenn es kein Wunsch ist?“

Er schien aufrichtig verwirrt darüber. Oder schauspielerte es gut. Cyron drängte sich noch etwas dichter an mich. Ihm war die fremde Gestalt nicht geheuer. „Wir sind hier eingeschlossen. Und werden hier in den nächsten Stunden ersticken, falls du uns nicht hilfst. Es könnte Jahrhunderte dauern, bis die nächsten hierher kommen. Vielleicht Jahrtausende. Vielleicht kommt nie jemand, weil der Tempel des Alters wegen zusammenbricht und du verschüttet wirst.“

Jeva verzog das Gesicht. Sehr. Die Aussicht, uns beim Sterben zuzusehen… ich weiß nicht, ob die ihm überhaupt irgendetwas bedeutete. Die Aussicht jedoch, hier festzusitzen, weiterhin, die schien ihm wiederum reichlich Unbehagen zu bereiten. Nach einigem Hin und Her, Stirnrunzeln und überlegenden „Hmmmm“‘s, „Hrm“‘s und „Mmmmm…“‘s seufzte er schließlich gedehnt, überdramatisierend. „Fein. Die Statuten. Jede enthält eine Darstellung der Weltenschlange. Drück das Auge rein und da drüben öffnet sich eine Tür.“

Erleichtert atmete ich auf. Es gab also einen Geheimgang. Vielleicht wären wir auch rechtzeitig darauf aufmerksam geworden, nur… kein Risiko war immer besser. „Vielen Dank, Jeva!“

„Hey! Was ist mit den Wünschen?“, verlangte er zu wissen, als ich mich bereits zum Gehen abwandte.

„Oh, uhm… später, vielleicht? Wir müssen erstmal hier heraus kommen und Duncan entkommen, der war ziemlich dicht auf unseren Fersen.“ Er wollte noch wissen, von wem ich sprach, doch Thorin nahm mir die Lampe ab und hängte sie sich an den Gürtel. Mit Verlust des Kontaktes wurde der blaue Dunst rasant in die Lampe zurückgezogen und Jevas Gespräch damit unweigerlich abgebrochen. Das war… unhöflich. Dann wiederum war Thorin Thorin und niemand konnte ihm das mit ernster Miene vorwerfen. Er war einfach so.

„Worüber habt ihr geredet?“, erkundigte er sich prompt und meine Verwirrung schnellte abermals empor.

„Hast du denn nicht die ganze Zeit zugehört?“, stutzte ich.

„Schon. Aber ihr habt in irgendeiner seltsamen Sprache geredet“, gab er noch immer besorgten Blickes zurück. An jener Stelle wurde auch mir etwas flau im Magen. Es gab viele mögliche Erklärungen dafür, warum das geschehen sein könnte und auch, wenn ein paar Harmlose sicherlich mit dabei waren – die Mehrheit der Möglichkeiten war doch eher beunruhigender Natur.

„Wir… wir müssen die Augen der Schlangen reindrücken“, begann ich unsicher, zögerlich. Ich demonstrierte an Thorins Säule, wovon ich sprach und sie folgten bereitwillig meinem Beispiel. Währenddessen jedoch gab ich bestmöglich wieder, was ich im Gespräch mit Jeva erfahren hatte. Auch wenn mir nach wie vor ein Rätsel war, warum sie kein Wort verstanden hatten.

Wie Jeva gesagt hatte, öffnete sich ein Gang. Er führte in eine tiefere Ebene des Tempels, von wo aus wir unseren weiteren Weg bestreiten konnten, bis es uns gelang, an die Oberfläche zurückzukehren. Eine alte, steinerne Wendeltreppe führte aus den tiefsten Tiefen herauf in einen langen Korridor, zwei Meter breit, drei Meter hoch, leer, muffige Luft, verstaubt. Ein dezent gesetzter Fackelhalter bediente die Geheimtür, die hinausführte. Als sich der Stein seitlich davon schob, um den Ausgang für uns zu öffnen, blinzelten wir allesamt. Echtes Tageslicht war nach so vielen Stunden – Tagen? – in der Dunkelheit, begleitet bestenfalls von Fackeln und Sturmlaternen, ungewohnt. Grell, regelrecht.

„Wir sollten nicht zu viel Zeit vertrödeln“, fuhr Thorin fort, „Rasten können wir heute Abend, wenn wir ein Stück Weg zwischen uns und die Anlage gebracht haben, sonst-“

Wir hatten uns nur wenige Schritte hinaus bewegt, als Ninafers Aufschrei uns alarmierte. Zeitgleich rief irgendwo weiter vorne jemand „Jetzt!“ und ein Hagel aus Bolzen und Pfeilen ging über uns nieder. Jemand hatte Ninafer am Arm gepackt und fortgezerrt. Sie kämpfte dagegen an. Cyron packte mich vorsichtig, stieß, zog, schob mich in Deckung.

„Nein, warte, Thorin!“, rief ich hastig aus, doch der war – glücklicherweise – selbst bereits in Deckung gesprungen. Ich spähte über den Findling hinweg, der mir Schutz bot und versuchte, mir die Situation zu vergegenwärtigen. Ein Hüne von einem Mann, glatzköpfig, muskulös und dunkelhäutig, schleppte Ninafer gegen ihre initial fruchtlose Wehr davon. Er erinnerte mich stark an Jarduk – der ein ähnlich unangenehmes Schicksal erlitten hatte wie dieser Kerl es würde.

Als Ninafer sich erst einmal ihrer Situation bewusst wurde, endete der abrupte Widerstand. Stattdessen setzte sie sogar ein paar Schritte vor – zog eine Nadel und stieß sie dem Muskelberg in den Hals. Binnen Sekundenbruchteilen ließ er sie los, brach auf die Knie und kippte vornüber, ein zitterndes, krampfendes Bündel schwindenden Lebens. Ninafer hechtete ihrerseits ebenfalls in Deckung, als der nächste Geschosshagel sich gleichmäßig zwischen uns aufteilte. Sie befand sich einige Meter von uns entfernt und mit so vielen Schützen in so guter Deckung hätten es auch Meilen sein können. Thorin wiederum war keine vier Meter entfernt hinter einem anderen Findling – die ich jetzt erst als die verwitterten, umgekippten Überraste von Statuen erkannte, die hier vermutlich einstmals den Ausgang oder Hintereingang oder etwas in der Richtung markiert hatten.

Obendrein sah ich die Lampe, von einem der Pfeile von Thorins Gürtel geschossen, zwischen uns auf dem Boden liegen. Und weiter hinten beiden nunmehr langsam vorrückenden Schützen war Duncan. „Konzentriert euer Feuer“, wies er seine Söldner an. Ich konnte nicht sehen, auf wen er deutete.

Wir brauchten einen Plan, und zwar schnell. Ich spähte zu Thorin, der sich gerade bereit machte, anzugreifen. Ich verstand erst nach einem weiteren Spähversuch, warum. Mehrere der Söldner begannen, Ninafer einzukreisen. Ihre Position zu flankieren. Wenn er ihr nicht zu Hilfe käme, würde sie nicht mehr lange überleben. Ich konzentrierte mich. Auf die Tiere um uns herum. Auf die Pflanzen überall. Auf die unglaubliche, gewaltige Vielfalt an Leben, das es hier gab.

Und dann, einfach so, brach meine Konzentration.

Weil es neben mir winselte.

Ich hatte es nicht bemerkt. Aber jetzt? Jetzt, da ich mich auf all das Leben um mich herum konzentrierte? Da konnte ich es nicht mehr übersehen. Und so sehr er sich auch bemüht hatte, sich zurückzuhalten, sich zu beherrschen, mich nicht aus der Fassung zu bringen… hatte auch seine Selbstdisziplin und Willensstärke Grenzen.

Cyron starb.

Ich begriff es nicht. Nicht sofort. Vielleicht, weil alles in mir sich gegen diese Erkenntnis aufstemmte, mit aller Kraft. Ich tastete ihn ab, suchte nach seinen Strömen im Gewebe. Was ich fand, war eine kitzgraue Stelle in seinem Fell, die es vorher nicht gegeben hatte. Meine Gedanken fühlten sich zäh an, schlierig, träge, und doch waren es nur Sekundenbruchteile, die ich benötigte, um zu verstehen. Man hatte uns hier einen Hinterhalt gelegt. Sie hatten gewusst, dass wir kommen würden. Sie hatten auf uns gewartet. Duncan hatte Zeitmagie. Cyrons Fell war ergraut.

Dem Winkel folgend lag irgendwo darunter, unter Fell, Haut und Knochen, sein Herz.

Das nun, binnen eines Wimpernschlages um Jahre gealtert, seinen Dienst einstellte. Ich hatte nicht einmal mitbekommen, wie oder wann Duncan irgendetwas getan hatte. Ob er außer seinen Kommandos irgendetwas zum Kampf beigetragen hatte. Jetzt… wusste ich es.

Jeder, der jemals irgendwen, der ihm nahe stand, verloren hat – unmittelbar, direkt vor den eigenen Augen – wird verstehen. Wird wissen, was das bedeutet. Cyron war mein Freund. Mein erster Freund. Mein bester Freund. Und viele, harte Jahre lang mein einziger Freund. Er hatte mich durch dick und dünn begleitet. Wir hatten gemeinsam gejagt. Unser Essen geteilt. In bitterkalten Nächten Wärme geteilt. Unser Band war natürlich gewachsen und zugleich von meiner Naturmagie gefördert worden. Er war verständiger geworden, klüger. Irgendwie hatte dieses Band dafür gesorgt, dass er länger lebte. Weit länger als je ein Hund gelebt hatte oder hätte leben dürfen. Ich hatte das nie hinterfragt. Und war stets einfach glücklich darüber gewesen, nicht von ihm Abschied nehmen zu müssen. Bis zu diesem Moment.

Es gibt keine Worte für das, was ich empfand.

Ich realisierte, am Rande meiner Wahrnehmung, wie Thorin den seiner Meinung nach richtigen Moment abwartete, um loszustürmen. Wie er mit der Axt eine gehörige Furche in die Reihen der Feinde schlug und Ninafer ermöglichte, sich in eine neue Position zurückzuziehen, mit besserer Deckung. Ich sah, wie er einen Pfeil in die Schulter bekam. Wie jemand gegen die Wunde an seinem Bein trat. Ich sah den fein gekleideten Herrn aus der Böschung hervortreten, lange nachdem alle Schützen sich vorgewagt hatten. Ich sah ihn in aller Ruhe die Schriftrolle entfalten und den Zauber sprechen. Ich sah Ninafer mit ihrem Blasrohr ein halbes Dutzend Männer zu Boden schicken.

Ich sah sie – vor meinem geistigen Auge – sterben. Was immer sie tun würden, es wäre nicht genug. Duncan war dort draußen. Und er hatte sich einen Magier zur Unterstützung angeheuert. Neben einer kleinen Armee fähiger Schützen und ein paar Nahkämpfern. Eine kleine Armee gegen uns vier.

Drei.

Mit fahrigen, zittrigen Händen strich ich selbst in den Sekunden noch durch sein Fell, als bereits kein Leben mehr von Cyron ausging. Ich brauchte all meine Willenskraft, um mich aus dieser Starre zu reißen. Mein Vater kämpfte noch verbittert gegen das plötzlich unausweichlich Scheinende. Er kämpfte für mein Überleben und das meiner Mutter. Selbst Mutter kämpfte. Nur ich nicht. Ich saß herum. War nutzlos. Ballast.

Es war dieser Gedanke, den zu fokussieren mir erlaubte, mich loszureißen. Ich konnte, durfte mir nicht erlauben, im Chaos zu ertrinken. Nicht jetzt. Also rollte ich mich rasch aus meiner Deckung, packte die Lampe und verschwand hinter dem zweiten Findling. Der Zauber des Magiers ging los. Ein Riss öffnete sich. Ein gewaltiger Schlund, der zog und sog und zerrte. Thorin schlug seine Axt in den blanken Stein und hielt sich daran fest. Es zog ihn herauf. Mit den Füßen als höchstem Punkt versuchte er, sich nicht davon verschlingen zu lassen. Pfeile und Bolzen, auf ihn abgefeuert, erreichten trotz guter Schusslinie ihr Ziel nicht, sondern wurden in das Portal gesaugt. Selbst als Duncan befahl, nicht auf ihn zu feuern, sondern auf die Axt, wurden die Projektile abgelenkt.

Thorin würde sich da nicht ewig halten können.

Ninafers neue Position wurde abermals eingekreist.

Cyron war tot.

Und vor mir manifestierte sich Jeva.

„Ich wünsche mir, dass du alle Splitter Duncans tötest!“ Heiße Tränen, eine bittere, zitternde Stimme und der unstillbare Wunsch nach Vergeltung. Es war das Erste, was mir in den Sinn und über die Lippen kam.

Jeva aber verschränkte die Arme. „Nein. Veto. Aber lustig, dass du genau diese Formulierung wählst. Kaleran meinte, dass jemand kommen und mir grenzenlose, endlose Unterhaltung bescheren würde. Jemand, dessen erster Wunsch genau das wäre. Also worin läge für mich der Spaß, wenn ich deine Reise einfach hier schon beende, hm?“

Ich versuchte, meinen Zorn herunterzuschlucken. Die Raserei, für die er sich plötzlich als so viel geeigneteres Ziel anbot. Versuchte, einen klaren Kopf zu bewahren – so unmöglich dieses Unterfangen angesichts der Umstände auch zu sein schien. Ich konnte nicht an zwei Orten gleichzeitig sein, das war mir klar. Ich musste eine Entscheidung treffen. Eine, von der ich nicht erwartet hatte, je vor ihr zu stehen. Würde ich Ninafer retten und zulassen, dass Thorin durch dieses Portal verschwand? Oder sollte ich Thorin zur Seite stehen und zulassen, dass-…

„Ich wünsche mir…“, begann ich zittriger Stimme. Was? Was wünschte ich mir? Ich wünschte mir, der Alptraum würde endlich ein Ende nehmen! Ich wünschte mir, wir könnten einfach nur in Ruhe unser Leben leben! Ich wünschte mir, die Welt würde sich einen neuen Spielball suchen! Ich wünschte mir, die Götter würden-

Aber das war ja, weshalb ich mir Sorgen um Hans machte, nicht wahr?

„Ich wünsche mir, ich könnte an mehreren Orten zugleich sein!“, platzte ich schließlich heraus. Es war nicht nachgedacht, nicht gut überlegt, nicht einmal ansatzweise gut formuliert. Jeva würde so viel Grässliches damit anstellen können, aber was hätte ich noch tun sollen? Duncan war dort draußen und er hatte bereits einen von uns getötet. Meine Gedanken kreisten immer wieder um diesen einen Punkt. Er war da und hatte bereits einen von uns erwischt.

Jeva hingegen lachte beherzt auf. „Oh köstlich, wundervoll, einfach prächtig, meine Liebe! Ich sehe, was er meinte. Oh, wir werden so. Viel. Spaß miteinander haben! Ich warne dich gemäß der Verpflichtungen vor: Du wirst fähig werden, jederzeit und an jedem Ort beliebig viele Kopien von dir zu erstellen – bis zu einem Maximum von zwölf. Du musst es nur wollen. Die Kopien werden all deine Erinnerungen bis zum Zeitpunkt der Erstellung der Kopie tragen und deine vollständige Persönlichkeit innehaben. Wirkt harmlos, oder?“

Nein, tat es nicht. Ich wusste genau, was das bedeuten mochte. Irgendwann einmal, vielleicht, falls es überhaupt je Relevanz erlangen würde. „Bleibt das dein Wunsch?“ Ein letzter Blick über die Schulter, ein Nicken und er schlug in die Hände. „So sei es!“

Ich schloss die Augen. Ich weiß nicht mehr, warum. Es erschien mir in dem Moment richtig. Und ich erschrak furchtbar, als mich jemand an der Schulter berührte.

„Gib mir den Bogen und Köcher, ich kümmere mich um Mutter!“, haspelte mein eigenes, gehetztes Ich mir entgegen. Ich nickte lediglich, mehr mechanisch als verständig, reichte das Gewünschte weiter, reichte ihr auch den Umhang, damit sie wenigstens etwas zum Anziehen hatte. Sie stürmte vor und feuerte. Pfeil um Pfeil. Ranken. Vögelschwärme. Sie entfesselte alles, was ich hätte entfesseln sollen. Warum war sie dazu fähig? War sie beherrschter als ich? Aber sollte sie nicht ich sein, genau ich sein?

Ich konnte mir darüber nicht den Kopf zerbrechen. Denn ein Gedanke manifestierte sich mit unbeugsamem Ringen um Präsenz und Priorität: Thorin brauchte mich.

Also schnellte ich, Schwerter gezogen, hervor und versuchte, zu ihm zu kommen. Der Sog des Portals riss mich fast von den Füßen, lenkte aber auch die auf mich gefeuerten Projektile ab und verschlang sie. Mir wurde schmerzlich bewusst, dass ich nicht an ihn herankommen würde. „Tu das nicht!“, rief er mir zu. Ich hörte es kaum, aber konnte es seinen Lippen ablesen. Er wollte mich zurückschicken. Er wollte sich lieber von diesem Portal verschlingen lassen, als zu riskieren, dass ich an einer Stelle eingesaugt wurde. Aber wir waren eine Familie. Ich war sein kleines Mädchen. Er hatte mich gelehrt, ausgebildet, mir so viel von dem vermittelt, was ich wusste. Auf mich abgefärbt, ganz unwillkürlich.

Das betraf auch seine Sturheit.

Ein letzter Blick zur Seite. Ishara mit Bogen, Köcher, Pfeilen und Umhang. Ein paar Ranken rissen die Schützen von den Füßen, bevor sie den perfekten Schuss auf sie setzen konnten. Sie hatte einen beachtlichen Bienenschwarm aufgestöbert, der sich wie ein Sichtschild um sie legte. Kleine Nagetiere stürzten sich scharenweise auf die Söldner. Sie war der entfesselte Zorn der Natur.

Sie war der Zorn der Natur.

In dem Moment wurde mir klar, was Jeva getan hatte.

Zwölf Kopien. Ich war die Botin des Pantheons. Ich war die Botin der zwölf Götter. Jede angebliche Kopie war vielmehr eine Abspaltung von etwas. Die Ishara dort drüben, die meinen Kampf kämpfte, meine Mutter rettete, meine Naturmagie nutzte… war die Botin Phylias. Mich ängstigte der Gedanke, ob ich durch diese Abspaltung meine eigene Naturmagie möglicherweise verloren haben mochte. Ob ich meinen Lebenssinn verloren hatte. Ob ich noch mit Tieren auf die gewohnte Weise kommunizieren konnte. Doch ich wagte ebenso wenig, das zu prüfen. Nicht hier und jetzt.

Nicht, solange wir noch mitten im Kampf waren.

„Schütze Ninafer!“, brüllte Thorin mit aller Kraft über das Tosen hinweg. Mein Kopf schwenkte herum, mein Blick fixierte ihn, als könne ich ihn tatsächlich dort, genau dort, im Raum festpinnen. Aber so funktionierte das natürlich nicht – und er ließ los. Die Axt löste sich, auf wundersame Weise, im gleichen Moment und kam prompt in seine Hand geflogen. Ich dachte nicht nach. Nicht in diesem Moment. Ich stürzte vorwärts und sprang. Ich wollte ihn festhalten. Ihn zurückziehen.

Ich versuchte sogar, nach Ranken zu rufen, die mich wiederum würden halten können. Aber weder bekam ich Thorin zu greifen, noch erhielt ich von den Pflanzen eine Antwort. Stattdessen wurde er in das Portal gezogen – und ich Sekunden nach ihm ebenso.

Die Reise in jenem Strudel war chaotisch. Verwirrend. Ich weiß nicht, ob sie nur Sekunden dauerte oder Stunden. Es hätten genauso gut Jahre sein können – jegliches Zeitgefühl geht verloren in diesem Wirbel aus Farben, Formen und Lichtern. Thorin jedoch… sah ich da drinnen nicht. Nirgendwo.

Als das Portal mich auf der anderen Seite wieder ausspuckte, landete ich auf heißem Stein. Nicht brennend, sengend, Haut bratend heiß. Aber unangenehm heiß. Und dennoch war ich zunächst nicht fähig, mich zu rühren. Ich lag dort, übergab mich und lag in der Pfütze, die ich selbst angerichtet hatte. Alles drehte sich. Schwankte. Weigerte sich, feste Form anzunehmen, feste Farben. Erst nach einem unbestimmten Zeitraum – Minuten, schätze ich -, nahm diese neue Welt, diese neue Umgebung, allmählich Gestalt an.

Sie war laut.

Um mich herum war eine Stadt. Eine riesige, gewaltige Stadt. Der steinerne Boden war der Gehweg. Die Luft war heiß. Die Winde waren heiß. Die Häuser bestanden teilweise aus Obsidian oder Basalt. Langsam nur richtete ich mich auf. Zunächst auf die Knie. Atmete tief ein. Versuchte, mit dem Schlauch an meinem Gürtel meine Haare etwas vom Unrat zu befreien.

Die ganze Zeit liefen Gestalten an mir vorbei. Zuhauf. Es war eine große Stadt. Und keinen scherte, dass ich dort lag. Dort kniete. Dort saß. Dort stand. Nach und nach. Sie trugen seltsame Kleider, Roben, Umhänge, Tücher. Es wäre mir noch weitaus seltsamer vorgekommen, hätte ich solche Mode nicht in Südwacht schon gesehen. Südländische Mode. Aber dies war nicht Akkara. Kein Magierland.

Die Gestalten waren fremd. Humanoid, aber keine Menschen. Hier und da waren Hörner zu sehen. Die meisten hatten rote Haut. Viele Hände waren mit regelrechten Krallen bewehrt. Der Lärmpegel resultierte nicht nur aus den Gesprächen, dem Laufen, dem Geräusch von Schuhen auf Stein oder den Rädern der gelegentlich vorbeirollenden Gefährte – er war auch das Ergebnis der Marktschreier, die lauthals einander übertönend ihre Waren anpriesen.

Hoch über mir ragte ein blutroter Himmel auf, nur hier und da besprenkelt mit vereinzelten, rußschwarzen Wolken. Wenn es hier regnete, dann regnete es Asche. Drei Sonnen rotierten. Drei von fünf. Und viele der Dächer der Stadt waren aus polierten Kupferplatten geformt worden. Dieser ganze Ort schien eine Faszination für alle nur erdenklichen Abstufungen von Rottönen zu haben.

Ich griff die Lampe und Jeva formte sich wieder vor mir. „Ah, wundervoll. Na dann – gute Entscheidung, Ishara. Willkommen… in der Kupferstadt!“

Ich sah mich kurz um. Eine Stadt, ja. Kupferdächer. Der Name war nicht sonderlich originell. Ich nickte lediglich. „Wo ist Thorin?“

Jeva lächelte mich strahlend an. „Hier. Irgendwo. Und vermutlich, weil die Kupferstadt nunmal die Kupferstadt ist, Hals über Kopf in Schwierigkeiten.“ Ein gefährlicher Ort also. Er sah nicht gefährlich aus, auf den ersten Blick. Aber dass das täuschte, hatte ich frühzeitig gelernt. Städte waren so viel heimtückischer als Wälder.

„Ich wünschte mir, dass du Cyron wiederbelebst und zu mir bringst.“ Ich weiß nicht, was es war. Ich hatte meinen Freund vor wenigen Minuten erst verloren. Sekunden, dem Gefühl nach. Das unbeugsame emotionale Chaos hätte noch da sein, mich zu dieser erstbesten Gelegenheit völlig überwältigen müssen. Stattdessen stand ich dort, mitten in der Kupferstadt, umgeben von fremdartigen Geschöpfen – Tieflingen, vermutlich – und sprach mit ruhiger, gefasster Stimme einen weiteren Wunsch aus.

Jeva schien amüsiert. „Ah, schön, schön! Eine Frau, die weiß, was sie will – die sind ja nun wirklich selten genug geworden. Ich warne dich allerdings vor: Cyron könnte eventuell zeitlos werden, immerhin ist Altersschwäche schwer zu kurieren und sollte irgendwann das Universum zusammenstürzen, er würde immer noch-“

„Ich bleibe dabei“, fiel ich Jeva ins Wort.

Er grinste lediglich. „So sei es“, und klatschte abermals in die Hände. Ich spürte wenige Augenblicke später, wie sich ein vertrauter, pelziger Kopf unter meine Hand schob. Sein Fell war dunkler geworden. Schien das Licht schon fast zu schlucken. Ich hockte mich vor ihn, schmiegte mich an ihn. Die Augen geschlossen, verweilte ich einen Moment, vergrub das Gesicht an seinem Hals. Atmete tief ein. Füllte meine Lungen mit seinem vertrauten Geruch. Er war nicht tot. Nie gewesen. Es war so leicht, es mir in diesem Augenblick einzureden. Wir hatten einander lediglich kurz aus den Augen verloren.

Irgendwo dort draußen, wo genau war mir nicht klar, kämpfte eine andere, stärker von Phylia geprägte Ishara an Ninafers Seite. Sie würden den Kampf sicherlich nicht gewinnen können – aber gemeinsam würden sie zumindest entkommen. Von ganzem Herzen – wirkt so etwas selbstsüchtig? – wünschte ich ihnen Glück. Alles Glück, dass ich selbst für meine Aufgabe entbehren konnte. Sie würde gut auf Mutter aufpassen, das war mir klar. Das wusste ich. Darauf musste ich mich verlassen.

Aber Thorin brauchte mich ebenso. Und ich war hier – nicht sie.

Thorin zu finden und ihn zurück zu bringen, das war meine Aufgabe.

„Wir müssen ihn finden“, flüsterte ich Cyron zu, als ich mich langsam von ihm löste. Er nickte verständig wie eh und je. Nichts war anders als vorher. Keine graue Stelle im Fell. Ihm war nie etwas geschehen. Er senkte seine Schnauze und schnüffelte. Es wurde leichter, als ich ihm etwas gab, an dem er schnüffeln und Thorins Note aufnehmen konnte. Die Lampe hängte ich mir an den Gürtel. Jeva schwebte einher. Verfolgte schweigsam, aber neugierig jeden Schritt, jede Bewegung. Vielleicht lauerte er einfach nur darauf, dass ich realisierte, was ich getan hatte. Oder er wartete, bis sich eine weitere Situation ergab, um mir einen neuen Wunsch abzupressen.

So leicht würde er mir jedoch nicht davon kommen. Ob er nun beteiligt war oder nicht – seinetwegen waren diese Dinge überhaupt erst passiert. „Dritter Wunsch“, begann ich, „Ich wünsche mir, dass du mir dabei helfen wirst, Thorin zu finden und zu Ninafer zurückzubringen.“

„So sei es!“, erwiderte er prompt, geradezu jubeljauchzend.

„Keine Warnung?“, hakte ich argwöhnisch nach.

Jeva jedoch schüttelte lediglich amüsiert den Kopf. „Wozu? Ich habe nicht vor, diesen Wunsch zu verdrehen. Der Wunsch in sich ist schon sooo viel spannender als alles, was ich daraus machen könnte! Ich bin neugierig, wohin uns das führen wird.“

Ich nickte und wollte ansetzen, ihn über diese Kupferstadt zu befragen, als Cyron anschlug. Er hatte eine Spur. Thorin war hier gewesen, offenbar vor nur wenigen Tagen. Wieviel Unterschied bedeutete es, mit ein paar Sekunden Differenz in das gleiche Portal zu springen? War die Verzerrung immer so groß oder hatte Duncan das steuern können? Hatte er Verbündete auf dieser Seite, hier in der Kupferstadt, oder hatte Thorin einfach nur nicht warten wollen und hatte direkt nach eigenen Mitteln gesucht, zurückzukehren? Vielleicht hatte er sogar gewartet… aber es hatte Tage gedauert, ehe ich das Portal verließ.

Wichtig war nur: Er war hier irgendwo und brauchte mich. Cyron war bei mir. Ich hatte mir Jevas Hilfe gesichert. Und ich würde ihn finden und heimbringen. Irgendwann, irgendwie.

„Cyron – los!“



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück