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Lumiél

Königreich der Monde
von

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Weißt du, was eine Willenserklärung ist?

Nein. Glaub mir, du weißt es nicht. Du magst vielleicht ein grobes Verständnis davon haben. Eine Ahnung. Vielleicht sogar eine ganz persönliche Definition. Aber ich, ich trage die Krone. Ich kann es mir nicht leisten, persönliche Definitionen zu haben – wurde mir zumindest gesagt. Nein, was ich sage ist Gesetz und damit es ein allgemeingültiges und allseits verständliches Gesetz ist, müssen meine Willenserklärungen offenbar nachlesbar sein. Nicht dass ich mich allzu heftig beschweren will, ein Großteil der Arbeit diesbezüglich blieb schließlich nicht an mir hängen.

Ein kleines Stück des Luxus, den ich mir gelegentlich leisten darf: Man hat Leute für Dinge. In diesem Fall hatte ich Miss Vindur und Misses Lamerak, die einander anleitend und vermutlich die halbe Zeit an der jeweiligen Kehle hängend die neuen Texte entwarfen. Und wir reden hier nicht nur von einem kleinen Zettel, auf dem steht, was eine Willenserklärung ist oder zu sein hat. Wir reden von Wörterbüchern, Definitionen und kompletten Gesetzestexten. Vermutlich werden sie noch eine kleine Ewigkeit daran weiterschreiben. Nicht, das sie die Zeit nicht hätten. Und ich würde ihnen eine stattliche Armee auf den Hals hetzen können, sollten die zwei auf die Idee kommen, mich mit diesem Irrsinn allein zu lassen und einfach zu verschwinden.

Ein guter König tat so etwas natürlich nicht. Dann wiederum… musste sich erst noch zeigen, ob ich wieder ein guter König wäre, nicht wahr?

 

Wer in seinem Leben einmal an einer Schlacht teilgenommen hatte, der kannte diese Geräusche. Es waren die unverkennbaren Laute einer Schlacht, die tobte. Das metallische und das dumpfe Klirren, Schläge von Schwertern, Äxten und Flegeln auf Schilde aus Holz und Rüstungen aus Stahl. Das Fauchen von Flammen, als die Katapulte ihre brennenden Geschosse unter dem Ächzen der Mechanik in die Luft beförderten. Das zornige Aufschreien derer, die sich trotz all ihrer Wunden wieder auf die Beine hoben und den Kampf fortführten. Das verzweifelte Aufschreien derer, die von ihren Wunden in die Knie gezwungen wurden. Das Elend aus den Kehlen der Sterbenden und Verstümmelten. Doch bei der Geräuschkulisse, überwältigend wie sie war, hörte es nicht auf. Eine jede Nase wurde überwältigt vom Geruch nach Blut, nach verbrannten Haaren und verkohltem Fleisch. Die Haut spürte, vom Feuer des Kampfes aufgepeitscht, jede Regung der zarten Luftzüge auf den Haaren an den Armen. Jede Bewegung des Blutes, das in die Stiefel schwappte, wann immer man sich durch die knöchelhohe Suppe bewegte, die die Täler des Feldes bedeckte. Kleine, rote Gräben. Mit darin treibenden Zeugnissen ihrer Herkunft. Fahnen waren wie trotzige Landmarkierungen aufgepflockt werden – teilweise in die Leiber der Feinde, damit sie auch ja stehen blieben. Würde man den Kampf verlieren, wäre es dem Feind ein leicht verdientes Vergnügen, herumzuziehen und diese Fahnenlanzen zu brechen, die Banner selbst dahin zu schicken, wo sie hingehörten – in den Dreck, auf den Boden zu all den Besiegten.

Es war grausam. Es war grässlich. Es war fast… Zuhause.

Ich tobte, wütete, jagte meine Beute. Das Schlachtfeld war nicht mein Heim, natürlich nicht – aber ich konnte nicht leugnen, dass ein jedes davon, stets und allzeit, sich vertraut anfühlte. Ich bemerkte Stolperfallen, bevor ich sie sehen konnte, ich wusste um die Schachzüge derer, die auf mich zustürmten, bevor sie sich mir überhaupt zugewandt hatten. Es war mehr als Intuition. Ich mochte es gerne darauf schieben, dass ich alt war. Sehr alt. Und ein tiefes Verständnis für die Mechaniken entwickelt hatte, die hinter der Kriegsführung im Allgemeinen und dem Schlachtverlauf einer jeden Konfrontation im Speziellen bestand. Aber die Wahrheit war, es ging auch darüber hinaus.

Ein weiterer Leib stürzte auf die Knie, das Leuchten in seinen Augen, Zeugnis seines Lebens, seines freien Willens, wich. Ich riss meine Axt aus seiner Schulter, doch sie löste sich nicht. Den schweren Stiefel gegen seine Brust gestemmt, riss ich erneut – sie löste sich gerade rechtzeitig, um mit einem weiten Schwung nach hinten dem Dummkopf, der mich als leichte Beute glaubte, den Schädel vom Stumpf zu schmettern.

Die grausame, gnadenlose, hässliche Fratze des Krieges. Ich kannte sie gut. Ich wusste sie zu schätzen.

Dann plötzlich ein Stich. Ich konnte nicht einmal wirklich begreifen, was mich erwischt hatte. Oder wo. Ein Stich also – es musste sich um ein Schwert handeln, ein Degen, vielleicht ein Speer? Aber da war kein Brennen, kein Gefühl von Kälte, von Verwundung. Mein Blick glitt an mir herab. Das ich meine Beine nicht sehen konnte, irritierte mich nicht im Geringsten. Ich war zu beschäftigt damit, meinen Leib zu kontrollieren. Arme, dicht in Schoner gepackt, die Beine in Schienen, selbst wenn ich sie nicht sah, die alte Lederrüstung meines Vaters, zerkratzt und zerfurcht. Keine Wunden von irgendwelchen Stichen. Ganz grundsätzlich keine Wunden. Als hätte ich nie auch nur einen Schlag abbekommen.

Ich war gut, sehr gut. Aber so gut, das konnte nun wirklich nicht sein, oder? Die Zweifel an meiner Unversehrtheit ließen mich realisieren, was alles nicht stimmte. Soldaten, die seit Stunden vor sich hin starben. Schreie aus Kehlen, die längst durchtrennt worden waren. Gesichtslose Schemen, die aufeinander einschlugen, ohne Wunden zu verursachen. Und Beine, die nicht sichtbar waren.

Ach verdammt…

 

„Ich hasse mein Leben“, krächzte ich heiser hervor, als ich die Lider hob und mir schlagartig darüber bewusst wurde, wo ich mich befand.

„Die Erlaubnis dazu hast du erst, wenn du das Bett verlässt“, erklang eine grässlich wohlgelaunte Stimme neben mir. Ich blickte zu den leicht gewölbt hängenden Stoffbahnen der Überdachung des gewaltigen Bettes hinauf. Tick, tick, tick, tick, tick. Ich hätte etwas werfen wollen. Daeri nannte es ein ‚Chronometer‘. Hatte man früher geglaubt, dass es völlig ausreichend wäre, am Sonnenstand den Tagesverlauf zu beurteilen, hatten wir nun… das da. Die merkwürdig anmutende Mechanik hing direkt über der Schlafzimmertür, zwei Zeiger bewegten sich dann und wann weiter und ständig gab sie dieses leise Ticken von sich. Durchdringend und nervtötend, wenn der Raum tatsächlich einmal still wurde.

Erst als warme, zarte Finger sich an meine Wange legten und mir mit sanftem Druck eine Richtung vorgaben, lenkte ich meinen Blick wie gewünscht zu ihr. Diese rehbraunen Augen waren einfach unwiderstehlich… vom Rest ganz zu Schweigen.

Ich wusste ganz genau, was folgen würde. Ich stützte mich mit dem Ellbogen vom Bett ab, ließ meine Hand wandern, streifte die Decke zurück, weiter und weiter. Sie lag einfach da, ruhig, sah zu mir auf, mit diesem leichten Schmunzeln, das ich von ihr kannte. Mein Blick verweilte nicht mehr allzu lange auf ihren sanften Gesichtszügen – nicht, wenn es so viel mehr gab, an dem ich mich gleichermaßen sattsehen konnte, wie ich mir davon Hunger holte. Ich spürte meine Lebensgeister erwachen, beugte mich vor und küsste sie. Was harmlos genug begann, entwickelte sich rasch weiter, wurde leidenschaftlicher. Das mochte damit zu tun haben, dass meine Hand sich nicht länger damit beschäftigte, sie bloßzulegen und meinen ungenierten Blicken auszuliefern, sondern sich allmählich zwischen ihren ansehnlichen Schenkeln vergraben hatte. Die Art, wie sie sich unter meinen Berührungen wandte, räkelte, trieb mich rasch voran, ließ mich begieriger werden. Sie wusste das natürlich. Vermutlich tat sie es deswegen überhaupt. Es war eine Art von Manipulation, über deren Existenz ich ausnahmsweise einmal nicht klagen wollte.

Zumindest nicht, bis mir klar wurde, dass ich sie sehen konnte. Sie viel zu gut sehen konnte. Sie lag unter mir, ihre Schenkel weit offen, um meine Hüfte geschlungen – noch wenige Herzschläge mehr und wir hätten hier ein paar Stunden zugebracht. Es war viel zu hell, wurde mir jedoch klar… und das hieß…

Mein Kopf schnellte zur Seite. Ganz wie befürchtet erklang ein Klopfen an der Tür. Ich knurrte einen Moment unwillig. Unter mir lag der Preis aller Mühen, bereit und willig und sie… begann zu kichern, während ihr Atem sich beruhigte. Ab diesem Moment wusste ich, dass ich einmal mehr ausgetrickst worden war. Unter einem elendigen Seufzen ließ ich den Kopf sinken, bettete meine Stirn zwischen ihrem üppigen Busen. Ich spürte ihre Fingerspitzen leicht kratzend über meinen Schädel fahren. Das Gefühl allein hätte mich einschläfern können, wäre es unter den gegebenen Umständen nicht so… elektrisierend gewesen. Ein Begriff, den ich einigen Fachsimpeleien Daeris entnommen hatte. Vermutlich wäre mir das Hirn geschmolzen und fluchtartig zu den Ohren herausgesickert, hätte ich mir auch ihren siebten Erklärungsversuch so gewissenhaft anzuhören versucht wie die sechs Vorherigen – meine Rettung hatte darin gelegen, zu nicken, mit ernstem Gesicht, während ich mir allerhand andere Anzüglichkeiten vorstellte.

Nur ein kleiner Teil davon involvierte sie selbst.

„Ich hasse dich“, nuschelte ich leise gegen ihre Brust. Ihre Schenkel gaben mich frei, ich erhob mich und rutschte quälend langsam von ihrer Seite des Bettes, um mich aufzurichten und zu strecken.

„Das ist völlig in Ordnung“, gab sie mir grinsend zurück, „solange ich es weiterhin schaffe, dich jeden Morgen hinauszuwerfen, mit einem Lächeln auf deinem Gesicht.“ Ich wollte antworten. Ich war mir sicher, ich hatte irgendeine ungemein kluge, schnippische, schlagfertige Antwort gehabt… zumindest bevor sie sich abrupt vorbeugte und ihre Lippen sich um das Werk ihrer morgendlichen Neckereien legten. Ich wusste nicht zu sagen, ob es ein Vorgeschmack auf das war, was kommen könnte – oder ein Nachhall dessen, was hätte sein können. Die wenigen Sekunden, die sie mir schenkte, würden genug sein müssen.

Hatte ich zuvor schon gelächelt, grinste ich nun wie der dämlichste Dorftrottel, den man im Hinterland finden konnte. Das Klopfen erklang erneut an der Tür und obgleich ich mich bemühte, finster und verärgert zu klingen, wirkte mein geblafftes „Gleich!“ vermutlich nicht annähernd so einschüchternd, wie ich mir gewünscht hätte. Ninafer ließ sich wieder in unser Bett sinken, gewährte mir einen letzten Blick auf ihren Leib, ehe sie die Decke über sich zog und, noch immer lächelnd, die Augen schloss.

Mein Schicksal dagegen war besiegelt. Ich vollzog in aller Hast und Eile die Morgenwäsche, ich war ohnehin schon viel zu spät dran – wie eigentlich jeden Morgen – und streifte mir die Gewänder über. Es fühlte sich nach wie vor einfach nur lächerlich an. Und wurde nicht besser, ganz gewiss nicht, als ich einen Blick in den Spiegel warf. Das samtrote… was war das überhaupt? Als Hemd ging das gewiss nicht durch. Dieses Etwas, das an meinem Oberkörper klebte, spannte bei jeder Bewegung meiner Arme und Schultern. Die Rüschen waren so überflüssig wie die Stickereien und diese Hose erst! Das ich noch Blut und Gefühl in den Beinen hatte, war ein Wunder. Und dennoch hatte man mir versichert, dass der Schneider einer der Besten gewesen sei. Dass das alles so seine Richtigkeit habe. Dass ich so lächerlich aussehen müsse. Natürlich hatten sie es nicht ‚lächerlich‘ genannt. Sondern ‚edel‘ und ‚respektabel‘ und eine ganze Reihe anderer Dinge, die ich im Zusammenhang mit mir selbst nie hatte hören wollen. Oder eher – nie wieder.

Die Krone war das letzte Stück Prunk und Protz, das seinen Weg an mich fand. Ich besah meine Reflektion einen Moment und entschied, dass ich immerhin der gottverdammte König war – ich entschied, was sich gehörte. Also ließ ich den verdammten Kopfschmuck, wo er war. Draußen erwartete mich jemand, wie jeden Morgen. Sie war klug genug, mir zu dieser Stunde nicht mit Ungeduld anzukommen, damit, dass ich zu spät sei. „Haben wir Zeit für Frühstück?“, hakte ich in einem winzigen Anflug von aufrichtiger Hoffnung nach. Fragen, so hatte mein Alter immer gesagt, schadete ja nie.

„Nur, falls eure Exzellenz-“

„Stopp“, wies ich sie harsch an. Wie befohlen brach sie sofort ab und fror in ihrer Bewegung ein. Ich wandte mich dem Mädchen zu und nahm mir erstmals die Zeit, sie tatsächlich anzusehen. Ein hübsches Gesicht, ein klein wenig rundlich für meinen Geschmack. Also das Gesicht – der Rest war angenehm proportioniert. Ein ansehnliches Ding, auch wenn es natürlich nicht darum ging, nein. Ihre langen blonden Haare hatte sie zu einer Steckfrisur verarbeitet, in ihren blauen Augen schimmerte so viel Leben, so viel Energie, Tatendrang und… Intelligenz. Sie war neu, wie mir klar wurde. Und obendrein noch nicht sonderlich alt.

„Du bist, wenn ich das richtig verstehe, meine neue, persönliche Assistenz, richtig?“ Assistenz. Wie das klang! Als könnte ich meine eigenen Butterbrote nicht mehr schmieren oder plötzlich nicht mehr kontrollieren, wann ich meine Blase leerte. Sie nickte knapp. Ein wenig eifrig war sie also, hm? „Gut, dann merk dir das von Anfang an: Wir sind per du. Kein ‚eure Exzellenz‘. Auch kein ‚Majestät‘, kein ‚mein Herr‘, kein ‚Euer Gnaden‘, nichts davon, kapiert?“

„Wie du willst.“ Ich spürte, wie mein linker Mundwinkel sich emporzog. Sie lernte schnell – ich war fest überzeugt, dass ich sie gut leiden würde.

„Fein. Da das geklärt ist – was wolltest du sagen?“

„Frühstück wäre möglich, falls du bereit wärst, ein paar Dinge von der heutigen Planung auf morgen zu verschie-“

„Stopp.“ Wenn das so weiter ging, kämen wir nie an. Was natürlich eine wirkliche, echte, richtig ausgewachsene Tragödie wäre. Vor allem nach meinen Maßstäben. Denn es war so viel schöner, in einem stickigen Raum mit einer Bande überalterter Körnerzähler über die Formulierung von Teilsätzen zu streiten, als mit einem hübschen und klugen jungen Ding zu plaudern… „Noch eine Sache – es gibt kein Morgen. Gibt es nie. Niemals.“ Ich erklärte ihr nichts. Ich sah mich nicht in der Notwendigkeit dazu. Ich war König und sie hatte meinen Wunsch zu respektieren. Hinterfragen konnte sie ihn meinetwegen beim Küchenpersonal, die waren laut Mortimer am gesprächigsten. Die würden ihr, so vermutete ich, auch nur sagen, was jeder andere ebenso erzählen konnte. Das ich diese Einstellung überall verbreitete. Oder zumindest jeden wissen ließ, das ich sie hatte.

Es gab kein morgen. Jeder einzelne meiner Tage war vollgestopft mit Dingen, die ich auf den Tod nicht ausstehen konnte. Es war eine Art von Kampf, die ich nie hatte bestreiten wollen. Die Art, vor der ich normalerweise Reißaus nahm. Aber mit dieser verdammten Krone auf dem Schädel und diesem lächerlichen Kostüm an mir klebend war das nicht mehr so einfach. Nicht mehr möglich, genauer gesagt. Das bedeutete aber nicht, dass ich mir selbst das Leben unnötig schwer machen musste. Was immer ich verschob, würde sich aufstauen und mir später das Leben zur Hölle machen. Nein, ich bevorzugte meine Hölle mit gleichbleibender Qual und Temperatur. Ich bevorzugte das Bekannte.

Sie nickte abermals. Scheinbar verstand sie. Oder hatte vorab bereits Erkundigungen eingeholt, was sie zu erwarten hatte. Die Tatsache, dass sie scheinbar aus dem Nichts plötzlich ein Brötchen hervorzog, ließ mich Letzteres vermuten. Sie hielt es mir entgegen und ich zögerte nicht lange. Zwischen den aufgeschnittenen Hälften hing ein Schnitzel. Kalt, vom Vorabend, wie sie mich wissen ließ. Es scherte mich nicht. Im Gegenteil – hätte ich ein angemessenes Frühstück im Bankettsaal eingenommen, hätte man vermutlich versucht, mich mit irgendwelchen feinen Süppchen und ein paar kleinen Häppchen zu verköstigen, irgendetwas leicht Bekömmliches, das nicht allzu schwer im Magen lag.

Idioten.

Ich biss herzhaft hinein und genoss es aus vollen Zügen. Die Kleine wurde mir immer sympathischer. Offenbar bemerkte sie meinen Blick und grinste mir zu. „Annabella. Aber bleiben wir bei Anna, so nennen mich alle. Geht leichter von der Zunge und ist schneller geschrien.“ Ich zog eine Braue empor. Schneller geschrien, hm? In welchem Zusammenhang denn? Doch bevor ich ihre Gepflogenheiten hinter verschlossenen Schlafzimmertüren oder ihre möglicherweise wenig angenehmen Jugendjahre hinterfragen konnte, wanderte dieses halbseitige Grinsen auf meine Miene zurück und wir beließen es vorläufig dabei, unseren Weg fortzusetzen.

Korridore zogen an uns vorbei. Viele der Gemälde waren abgehängt worden. Keiner war sonderlich erpicht darauf, noch mehr Portraits des früheren Bewohners zu sehen, wie die armen Schweine von Künstlern versucht hatten, ihn in möglichst heroischen oder nobel wirkenden Gesten und Akten einzufangen. Oder wie man schlicht versuchte, ihn über kleine Tricks größer wirken zu lassen, als er war. Neue Bilder waren noch nicht vorhanden, nicht überall zumindest. Die meisten, die gestiftet, gespendet, geschenkt oder schlicht aus den verstaubten Kammern des leerstehenden Teils des Schlosses geborgen worden waren, hatte man in den Gängen aufgehängt, die zum Thronsaal führten. Damit das Schloss keinen völlig verarmten Eindruck auf die Bittsteller machen würde.

Die Rüstungs- und Waffenständer dagegen hatte man belassen, wo sie waren. Auch wenn ich mir beim Anblick der meisten Dinge, die daran hingen, ziemlich sicher war, dass es sich lediglich um ein Stück handelte, das im künstlerischen Interesse und ausschließlich unter ästhetischen Aspekten geschaffen worden war. Eine geschliffene, zweiseitige Klinge, spitz zulaufend. Dazu ein in Leder geschlagenes Heft. Für ein Schwert brauchte es nicht viel und es musste ganz gewiss nicht hübsch aussehen, um den Lauf der Geschichte verändern zu können. Das Schwert hatte unsere Welt geformt. Auch ganz ohne Dornen und Runen und Verzierungen in Blümchenform.

Natürlich wäre es zu viel verlangt gewesen, hätte man uns einfach in Ruhe und Frieden von A nach B laufen lassen. Ich war immerhin der König, der höchste Würdenträger – das schien eine willkommene Einladung für alles und jeden im Staat, gefühlt zumindest, um mich mit allerhand Unsinn zu belästigen.

Den Anfang machte Raven. Ich wusste nicht mal, dass sie im Schloss war. Oder in La Coeur. Oder irgendwo außerhalb ihres Klosters. Sie begann mit überschwänglichen Begrüßungen. Ich warf nur einen Blick zu Anna – ich wollte sehen, wie sie die Situation einschätzte und vor allem, was sie machen würde. „Ich bitte um Verzeihung, Lady Gildenstern, doch seine Majestät ist ein vielbeschäftigter Mann – hättet ihr die Güte, euer Anliegen auf den Punkt zu bringen?“ Ha! Hätte ich nicht besser machen können. Außer, ich hätte ihren blinden Arsch zur Tür rausgeworfen. Aber sowas hinterließ beim Volk einen schlechten Eindruck, hatte ich mir sagen lassen müssen. Was die auch immer jeden Spaß gleich so ernst nahmen…

Raven war von der Unterbrechung mehr als unerfreut, realisierte aber rasch ihre Position, als sie bemerkte, dass ich ganz gewiss nicht zu ihren Gunsten das Wort heben würde. Also räusperte sie sich, stimmte Anna zu und begann neu. Sie wollte Geld. Natürlich wollte sie Geld. Es ging immer um Geld. Das oder um mein Bett. Aber das war bereits belegt und ich hatte kein Interesse an irgendwelchen Mätressen. „Vielleicht solltest du darüber lieber mit dem Schatzmeister und seinem Gremium reden?“, schlug ich Raven vor, doch mein Versuch, sie loszuwerden, scheiterte kläglich. Offenbar kam sie vom Schatzmeister – und der verdammte Halunke hatte ihr gesagt, dass ich das entscheiden würde. Wohl oder übel hörte ich mir also an, worum es überhaupt ging. Sie brauchte weit mehr Worte als ich benutzt hätte. Typisch Adelsweiber.

Im Grunde ging es um die Erschließung einer Straße nach Ilmwacht. Einer Straße. Nicht ein ausgetretener Pfad im dichten Gras, sondern etwas Gepflastertes mit festem Boden. Nun gut – warum nicht? Ilmwacht war nicht unbedingt das Zentrum der Welt, sicherlich. Aber seit zumindest ein paar der Esgaroth-Elben den Stock aus ihrem Arsch gezogen hatten, wäre es vielleicht gar nicht verkehrt, einen ersten Schritt zu unternehmen, um eine bessere Anbindung der verdammten Spitzohren an den Rest des Reiches anzudeuten.

Ich sicherte Raven ihre Straße zu, auch wenn das nicht unbedingt zu Ilmwachts Vorteil angedacht war. Das war lediglich ein netter Nebeneffekt – und ich liebte solche Lösungen. Solche, bei denen alle bekamen, was sie wollten. Leider kamen die viel zu selten vor.

Wolfflin suchte mich als Nächstes auf. Vermutlich hatte er nur darauf gelauert, dass ich Ravens Klauen entkam. Nun: Das war ein Mann, den ich respektieren und schätzen konnte. Einer nach meinem Schlag und Geschmack. „Wir brauchen mehr Schwerter für die neuen Rekruten.“ Warum konnten nicht alle so sein? Keine Verbeugungen, keine Respektsbezeugungen, keine ausladenden Gesten oder weitläufiges Herumgerede, bevor sie ihr Anliegen vorbrachten. Nein, Schwerter. Mehr davon. Perfekt.

„Schatzmeister“, gab ich knapp zur Antwort und hätte kurz aufschreien wollen, als ich sah, wie Wolfflin irritiert das Gesicht verzog. Der verflixte Bastard hatte also auch den Hauptmann unserer Bellatoren zu mir geschickt? Damit ich darüber entschied, ob Rekruten wirklich Waffen brauchten? Ernsthaft?! „Urgh… ich muss mit diesem Holzkopf ein paar Worte wechseln. Geh zu ihm und sag ihm, das du die verdammten Schwerter bekommen sollst!“

Ich hatte natürlich gewusst, dass ich die Rechnung irgendwann bekommen würde. Ich warf es Ishara nicht vor, nicht so sehr, nicht einmal ansatzweise so sehr wie ich es Alistair vorwarf. Sie, sie wäre allein niemals auf diese dämlichen Ideen gekommen. Leim auf dem Stuhl. Eine Taube auf dem Dachbalken, die sich auf seinen Kopf erleichterte. Irgendeine widerlich stinkende Mischung in seinem Teevorrat. Das war nur ein weiterer der vielen, vielen Kleinkriege, die in meinem Schloss und damit direkt unter meiner Nase tobten. Ich wusste nicht, wie Ishara in diese Sache hineingeraten war. Vermutlich hatte dieses schmale Bleichgesicht sie hineingezogen, nachdem der Schatzmeister ihn erfolgreich mehrfach von der Schatzkammer hatte fernhalten und ohne Beute daraus vertreiben können. Wäre dieses blasse Nordlicht Lileth nicht so lieb und teuer, hätte ich ihn vermutlich längst hängen lassen. Nicht, weil er wirklich eine Gefahr darstellte. Für irgendwen außer sich selbst. Sondern vielmehr, weil diese grässlich gut gelaunte Grinsekatze genau das tat – einem den letzten Nerv rauben.

Wie ich da hineingeraten war, war weit weniger mysteriös. Das mochte vielleicht ein Kleinkrieg zwischen Alistair und unserem Herrn Staatsdiener sein. Aber in dem Augenblick, als er glaubte, die Hand gegen Ishara erheben zu können, war der Spaß vorbei. Für Alistair ebenso wie für mich, der ich eher zufällig Zeuge wurde. Hätte ich es nicht gesehen, hätte ich es vielleicht auch nie erfahren – sie war nicht der Typ Mensch… oder Halbelbe… der bei erstbester Gelegenheit jemanden verpetzte. Oder sich überhaupt an irgendjemandes Schulter ausheulte.

Indem ich sie in Schutz nahm, schien das Opfer ihrer ganzen Streiche zu glauben, dass ich ihre Taten billigte. Egal wie sehr ich mich zu erklären versuchte. Das hier? Das war offenbar die Rache dafür. Vielleicht konnte ich diesen Irrsinn beenden, sofern ich Lileth und Alistair irgendwie dazu bekam, sich bei ihm zu entschuldigen. Sie waren mir immerhin etwas schuldig, wie ich in diesem Moment beschloss.

„Eure Exzellenz!“, tönte es vor mir. Oh wie ich diese Anrede liebte

Der Hofkoch kam herbei. Ein dicklicher Kerl, der schnaufte, ächzte und dem die Brühe am ganzen Leib herablief, als er vor uns zum Stillstand kam. „Eure Exzellenz“, wiederholte er unnötigerweise, als wolle er meine Geduld austesten, „Ein Desaster! Es ist eine Katastrophe, wirklich ganz schrecklich!“

Es wäre eine Untertreibung gewesen, zu behaupten, dass meine Neugier geweckt worden war. Ich spürte ein altvertrautes Kribbeln in meinen Muskeln, das Bedürfnis, einen Panzer zu tragen, mich nicht mehr ganz so… nackt zu fühlen. Die Axt zu umschließen und auf den Schädel von irgendetwas einzuschlagen. „Was ist geschehen?“, erkundigte ich mich eventuell etwas übereifrig. Eben dieser Eifer schien dem Koch gut zu gefallen. Er fing sich ein klein wenig.

„Die Küchenjungen, die ich zum Einkauf aussandte, haben die falschen Blumen mitgebracht!“

… und all mein Eifer und Enthusiasmus zerschellten schmerzhaft an der Realität.

„Sie sind blau! Sie sind alle blau!“ Noch immer trug er diesen blanken, undefinierbaren Horror in der Stimme und mir wurde einmal mehr schmerzlich bewusst, dass nicht jeder meine Definition von ‚Katastrophe‘ teilte. Hier und jetzt war ich mir sogar ziemlich sicher, dass nur ein oder zwei Leute das überhaupt taten.

Als ich nicht sofort auf sein Wehklagen reagierte, sah er sich genötigt, mir auf die Sprünge zu helfen, was genau daran den Weltuntergang bedeuten würde. „Das Bankett morgen Abend! Die Delegation wird heute eintreffen, die Tafel muss vorbereitet werden und die Blumen sollten auch teilweise die Gästequartiere schmücken! Aber sie müssen weiß sein, sie müssen allesamt weiß sein!“

Delegation? Das… war vermutlich das Problem mit der Einstellung, dass es kein Morgen gab. Es gab es eben doch und irgendwer schmiedete Pläne dafür. Wir bekamen also Besuch. Der Aufregung nach zu urteilen hohen Besuch. Irgendwelche ausländischen Botschafter vermutlich. Ceryddwin? Nein. Nein, daran hätte mich Ninafer erinnert. Bervenia? Nein. Ordewey mal wieder, beladen mit einer Reihe neuer Drohungen? Nein, die waren letzte Woche erst da gewesen. Und sie neigten nicht dazu, ihr Kommen groß anzukündigen. „Die Delegation aus Siddarmark“, flüsterte mir Anna leise von der Seite her zu, „Farben spielen eine große Rolle in ihrer Kultur. Die meisten Interpretationen sind ziemlich deprimierend. Blau steht beispielsweise für finanziellen Verlust und Ruin. Weiß ist eine der wenigen Farben, die mit einer guten Bedeutung belegt sind: Glück bei der Zucht.“

Die Pferdeherren kamen also zu Besuch. Ich hätte Anna in diesem Moment nicht genug danken können für ihren Versuch, mir möglichst subtil und unbemerkt zu helfen. Tatsächlich schien der Koch viel zu aufgeregt, um vom Geflüster Notiz zu nehmen. Es ging also um die Frage, ob wir unsere Gäste durch die falsche Wahl der Blumenfarbe beleidigen wollten oder nicht.

Ich konnte bereits spüren, wie sich Kopfschmerzen androhten. Bereits so früh am Morgen. „Warum kauft ihr nicht einfach ein paar Neue?“

„Aber Eure Exzellenz, keiner kann diese von uns benötigte Menge so kurzfristig noch aufbieten!“

In diesem Moment wurde mir ein weiteres kleines Detail dieser leidigen Angelegenheit klar. Er hatte damit begonnen, dass die Küchenjungen die falschen Blumen mitgebracht hätten. Das war, genau betrachtet, natürlich korrekt. Keine Lüge. Es stellte dennoch die paar Bediensteten als die Schuldigen hin. Präventiv die Schuld von sich abwälzen wollen – das klang, als hätte da jemand etwas zu verstecken. „Dann schickt die Burschen nochmal aus. Sie sollen sämtliche weißen Blumen in allen Läden der Stadt kaufen, falls nötig. Es müssen nicht die gleichen Blumen sein, nicht wahr? Sie müssen einfach nur weiß sein. Also stellt euch nicht so an, denkt ein bisschen mit und schickt die Burschen nochmal los.“

Der Koch nickte eifrig. „Aber was sollen wir mit all denen anfangen, die wir schon haben?“

Ich überlegte einen Moment, ehe ich mir ein privates kleines Lächeln erlaubte. „Bindet einen hübsch großen Strauß und schickt ihn an mein Schlafzimmer. Den Rest verschenkt. Wer immer welche haben will, soll sie sich mitnehmen.“ Ich hätte sie zurückgeben können. Hätte das Geld zurückverlangen können. Ich hätte versuchen können, sie zu verkaufen. Alles legitime Optionen… die mir dreimal mehr Arbeit beschert hätten und obendrein das Risiko bargen, das die verdammten Dinger bis morgen, also bis zur Ankunft der Botschafter, nicht aus dem Schloss verschwunden waren. Und ich hatte einfach keine Nerven übrig, um mich mit ein paar trotzigen Diplomaten herumzuschlagen, denen die gottverdammte Farbe der Blumen Magenschmerzen bereitete.

Als der Koch endlich abgezogen war, winkte ich Anna näher heran. „Da ist was faul. Lass mal die Bestellung der Blumen kontrollieren. Ich wette, unser Herr Koch hat blaue Blumen in Auftrag gegeben.“ Sie nickte, notierte sich etwas auf ihrem kleinen Schreibbrett und folgte mir dann weiter die Gänge herab. Wir kamen vor der unscheinbaren Doppeltür an, die ich so zu verabscheuen gelernt hatte, doch gerade als ich die Hand nach der Klinke ausstreckte, rief erneut jemand nach mir. Beim ersten Mal verstand ich es nicht sofort und erwiderte präventiv schlicht „Wenn es nicht den Untergang der Welt bedeutet, will ich es nicht hören!“ Doch ich wurde abermals gerufen.

„Thorin!“ Nun, immerhin war es kein ‚Eure Exzellenz‘… Ich wandte mich der Quelle zu. Natürlich hatte ich ihre Stimme diesmal bereits erkannt. Als sie näher kam, trat Anna einen Schritt zurück, um uns etwas Privatsphäre zu lassen. Zumindest so weit, wie ihre Funktion und ihr Posten es erlaubten. Ich schloss Ishara ungeniert in die Arme, als sie mir lediglich unsicher eine Hand entgegen streckte. Ich hatte sie ein paar Tage nicht gesehen – oder waren es inzwischen Wochen? Es gab kein morgen. Das machte es schwierig, das Datum nicht aus den Augen zu verlieren.

Ich seufzte tief, als ich ihren zierlichen Leib an mich gedrückt hielt. Es war gut, sie in der Nähe zu haben. Das war es immer. Das Fräulein Herzogin, Botschafterin oder welchen ihrer Titel sie auch immer bevorzugte, hatte sich zum Dienst gemeldet. Vermutlich, weil es leichter war, weiterhin unter meinem Kommando Befehle auszuführen, als auf Anlässen, Bällen und Banketts die vornehme Adlige spielen zu müssen. Und ich konnte nicht leugnen, dass ihre Spähtruppe eine der Besten war.

Als ich sie wieder von mir drückte und ihr in die Augen blickte, sah ich sofort, dass irgendetwas vorgefallen sein musste. Sie wirkte… besorgt. Zugegeben, das tat sie meist. Aber diesmal mehr als üblich. „Was ist los?“

„Ich habe Nachricht aus Sundergrad. Ein Bote ist hierher unterwegs.“ Es war bemerkenswert, wie schnell sie sich ein eigenes, kleines Informationsnetzwerk hatte aufbauen können. Ich war mir nicht absolut sicher, vermutete aber, dass auch dabei Alistair seine Finger im Spiel gehabt haben könnte. Oder Fräulein Tanveer. Oder Ninafer selbst. Oder Mortimer. Gute Güte, ich umgab sie mit nur den besten Einflüssen, nicht wahr?

Ich schüttelte die Gedanken ab. Die Existenz eines auf dem Weg nach La Coeur befindlichen Boten allein würde sie nicht so beunruhigen. Das nur eine Möglichkeit offen ließ: Sie wusste bereits, was in der zweifellos nach wie vor perfekt versiegelten Botschaft stand. Was also könnte es sein? Bevor ich wirklich darüber rätseln konnte, nahm sie mir diese Mühen ab. „Wir haben Nachricht aus Anadyr. Sie haben ihn aufgegriffen. Und bieten seine Auslieferung gegen Geld. Viel Geld.“

Das waren zugegeben Nachrichten, die nicht mit dem Weltuntergang einher gingen und die ich dennoch hören wollte. Oder eigentlich eher nicht hören wollte. Viele im Volk waren mehr als unzufrieden darüber gewesen, das uns Phillipe in den letzten Stunden der Revolution tatsächlich durch die Netze geschlüpft war. Doch nach allem, was ich gesehen, erlebt und über ihn gehört hatte… es wäre deutlich zu hoch gegriffen gewesen, zu behaupten, dass ich Mitleid mit ihm gehabt hätte. Dieser kleine Hurensohn hatte sich freiwillig entschieden, diesen Weg zu beschreiten. Er hatte jede Entscheidung selbst getroffen, jedes Urteil selbst gefällt, jede Anweisung selbst unterzeichnet. Dennoch ließ sich nicht leugnen, dass er kaum mehr war als ein verzogenes Kind. Ein verzogenes Kind, das nie die Chance hatte, ein normales Leben zu führen. Weil er von klein an bereits das Spielzeug und Werkzeug anderer Mächte war, die ihn als Figur auf ihrem Brett herumschoben, wie es ihnen passte.

Wie sagte man bei schlechten Nachrichten? Töte nicht den Boten. Phillipe war das Gesicht, das jeder kannte. Das Böse in Person, wie alle meinten. Er war die Wurzel allen Übels, der große Strippenzieher. Die Wahrheit kannte nur eine Handvoll derer, die mir lange und dicht genug gefolgt waren. Und die wenigen, die mit mir das Schloss erstürmt hatten und es lebend wieder verließen. Ich hätte ihn niemals von irgendeinem der Vorwürfe freisprechen wollen, von irgendeinem der zahllosen Verbrechen, die man ihm zur Last legte. Aber nun ein kleines Vermögen dafür auszugeben – eines, das wir besser für den Aufbau von Schulen, Krankenhäusern und Aquädukten gebrauchen konnten -, nur um die kalte Blutgier eines Volkes zu stillen, das nicht wusste, wohin es mit seinem Zorn sonst sollte? Nur, weil die Wunden noch frisch waren, der Schmerz noch präsent, die Spuren noch nicht vernarbt, hieß das nicht, das es irgendeine Form von Rechtfertigung bieten würde. Oder auch nur, das Phillipes öffentlichkeitswirksame Hinrichtung irgendetwas ändern würde.

Ich stand eine Weile dort, bemerkte nicht, wie erst Ishara, dann auch Anna mich mit besorgter Stimme ansprachen. Erst als sich eine Hand auf meinen Arm legte, blickte ich langsam auf, kehrte in das Hier und Jetzt zurück. Ganz ehrlich? Irgendwo war ich froh, dass dieser kleine Bastard entkommen war. Ich war alt genug geworden, um das Wesen der Menschen zu kennen. Viele von ihnen handelten vorschnell, unbedacht, kurzsichtig. Wir lebten in der Regel nicht sonderlich lange, mussten nur selten die Konsequenzen unserer Taten ertragen, mit ansehen, wie der kleinste Stein im Teich Wellen bis ans Ufer schlug. Ich war froh, dass dieses meine Volk nicht die Gelegenheit bekommen hatte, zu rachsüchtigen, blutlüsternen Bestien zu werden. Zu einer Perversion ihrer selbst. Zu dem, was zu vernichten sie so inbrünstig beabsichtigten.

„Haben sie gesagt, was sie mit ihm zu tun beabsichtigen, sollten wir kein Interesse haben?“, erkundigte ich mich möglichst behutsam. Dennoch sah ich, wie überrascht sich die Augen beider weiteten. Sie begriffen sofort, was ich in Erwägung zog. Aber zumindest schien keine von beiden gewillt, hier und jetzt einen Aufstand deshalb zu veranstalten. Vielleicht käme das später. Oder sie vertrauten mir genug, es ganz zu lassen.

Ishara brauchte einen Moment, ehe sie nickte. „Sie würden ihm gerne selbst den Prozess machen, aber in ihrem Land hat er keine Verbrechen begangen und da er theoretisch noch immer König ist, nur eben im Exil… sie würden ihn freilassen.“

Ich lächelte. Ich spürte, wie die Muskeln sich verzogen, aber… ich fühlte es nicht. Fühlte mich nicht, als sollte ich lächeln oder als hätte ich irgendetwas, worüber ich lächeln könnte. „Das heißt nicht, dass er den Weg auf das nächste Schiff überlebt“, erklärte ich leise. In den ersten Jahren seiner Regentschaft waren viele vertrieben worden oder in weiser Voraussicht des Landes geflohen. Wer wusste schon, wohin es diese verscheuchten Seelen verschlagen hatte? Nur einer davon musste, mit genug Wut im Bauch, den Pfad unseres früheren Königs kreuzen und er wäre so gut wie tot.

Es stand nun ihm allein zu, für sein Überleben zu sorgen. Ich konnte nicht sagen, warum der Gedanke solche Bitterkeit in mir hevorrief. Vielleicht, weil ich mich damit unweigerlich bei all jenen einreihte, die Phillipe seit jeher nur herumgeschoben hatten. Auf sich gestellt? Auf sich gestellt hatte er keine Chance. Wie hätte er die haben sollen, nachdem sein ganzes Leben behütet und gelenkt abgelaufen war. Aber ich war nicht sein Vater, nicht sein Retter, nicht sein Freund. Ich war sein Feind. Und dennoch fühlte ich mich grässlich bei dem Gedanken, wie er eines Morgens abgestochen, aber im Vollbesitz seiner Habe, in irgendeiner schäbigen dunklen Seitengasse gefunden werden würde, das Gesicht noch immer von Schmerz und Panik verzerrt. Er kannte diese Welt dort draußen nicht. Er hatte ja nicht einmal die tatsächliche Welt hier drinnen gekannt.

„Ich… danke dir für die Nachricht. Ich überlege mir, was wir tun werden.“ Der Bote war noch nicht eingetroffen. Offiziell wusste ich noch von gar nichts. Und das war auch besser so – es gab mir mehr Zeit, diese Sache gründlich zu überdenken. Rat einzuholen. Ich würde viel Rat brauchen. Vor allem von Leuten, die keinen persönlichen Hass auf ihn hegten. Ninafer war von ihm gefoltert und vergewaltigt worden – und dennoch traute ich ihr diesbezüglich genug Abstand zu. Ihr Geist war… eigenwillig genug für dergleichen. Mortimer vielleicht ebenfalls. Reva. Eine Hand voll anderer Namen kam mir in den Sinn, ehe ich mich schwer seufzend von der Überlegung löste. Nach dieser Nachricht wirkte das vor mir Liegende nicht mehr ganz so dramatisch und verachtenswert.

„Wir sehen uns hoffentlich beim Abendessen?“, hakte ich noch kurz nach, ehe ich mich von Ishara Anna zuwandte, „Hol mich da raus, sobald es eins ist.“ Beide nickten mir zu, ich presste die Klinke herab und schloss die Tür nach zwei Schritten hinter mir. Kaum wandte ich mich um, begegnete ich einer Front aus einheitlich missbilligenden Blicken. Nicht etwa, weil ich in Erwägung zog, Phillipe nicht hinzurichten. Nein, von dem Gespräch hatten sie kein Wort gehört. Es ging allein darum, dass ich ein paar Minuten zu spät war. Und mit einem Schlag war all das Gewicht der Langeweile und des Grauens wieder da.

Diese überalterten Gesichter waren die Mitglieder eines Gremiums. Ich hatte das Wort fürchten gelernt, weil ich jeden einzelnen Morgen wieder und wieder hier auftauchen musste. Reva und Daeri gaben sich mit den neuen Gesetzesentwürfen redliche Mühe, aber sie konnten und durften die Bücher nicht im Alleingang überarbeiten.

Das hätte ich auch gar nicht gewollt. Es war nicht mein Ansinnen, das Schicksal der zukünftigen Juristerei ausgerechnet in die Hände dieser beiden zu legen. In die Hände eines vermutlich irgendwie gestörten Tieflings und einer ehemaligen Zirkelmagierin, deren Einnahmequellen so zwielichtig waren wie die Absichten des nächstbesten Halunken in einer Seitengasse im Westen Samaras. Aber die beiden kannten die Materie, kannten die Kniffe und Tricks, kannten die Grundlage. Und was vielleicht noch wichtiger war – sie waren als Einzige bereit gewesen, diese Aufgabe anzunehmen.

Dieses Gremium hier diente der Überarbeitung der Vorschläge und Entwürfe. Der Nachbesserung. Tatsächlich hingegen versuchten sie nur auf Gedeih und Verderb Lücken, Schwachstellen und Mehrdeutigkeiten zu finden und zu benörgeln, nachdem ich ihnen mehrfach in unseren ersten Sitzungen versichert hatte, das man an Daeris Werken üblicherweise keine Fehler fand, sofern man die korrekten… Spezifikationen geliefert hatte.

Es war wirklich erstaunlich, um was für absurde Worte mein Sprachschatz gewachsen war, seit ich diese Irre kannte.

Die Tagung des Gremiums begann mit einem Hammerschlag – als wären wir bei Gericht und ich der Angeklagte, der sich nun verteidigen müsse.

 

Es klopfte, just als ich glaubte, aus dem Sitzen heraus aus meinem Stuhl über den Tisch auf den Zausel zuspringen zu müssen, um ihn mit seinem eigenen Bart zu erwürgen, den er so selbstgefällig drein blickend immer wieder streichelte als wäre es eine Katze auf seinem Schoß. Anna trat ein, ohne dass man sie hereingebeten hätte. Sehr zur Verstimmung der Gremiumsmitglieder. „Eure Exzellenz wird im Thronsaal erwartet.“ Kurz und präzise. Ich begann wirklich, sie zu mögen.

„Wir sind hier noch nicht fertig, Kindchen, hat dir denn keiner Anstand und Man-“ begann die alte Hexe zu meiner Linken, doch Anna schnitt ihr selbstsicher und mit stolz gerecktem Kinn das Wort ab.

„Doch, seid ihr, mit Verlaub.“

Stille senkte sich über den Raum. Ich hätte aus vollster Kehle lachen wollen, schon allein der verdutzten Gesichter wegen – doch ich wusste es besser. Langsam erhob ich mich, verabschiedete mich, wünschte noch einen angenehmen Tag. Kein ‚bis morgen‘. Es gab kein morgen. Dann folgte ich Anna hinaus, schloss die Tür und atmete tief und erleichtert aus. „Noch ein paar Minuten und ich hätte sie alle umgebracht.“

„Und in ihrem Blut gebadet? Ich dachte, das wirkt nur bei Jungfrauen.“

Zugegeben – bei diesem Kommentar musste ich dann doch lachen. Sie setzte sich in Bewegung, Richtung Thronsaal. Es war ungewohnt. Jemandem zu folgen, statt andere zu haben, die mir wie treudoofe Hunde hinterher trotteten. Ungewohnt… und angenehm. „Glaubst du wirklich, so wie die sind, dass sie in ihrer Jugend anders waren? Und falls sie das nicht waren, wer würde die schon haben wollen!“, erlaubte ich mir mit ihr zu scherzen. Tatsächlich wusste ich, dass diese Leute lange und erfüllte Leben gehabt hatten. Viele waren bereits Großeltern und hatten einen Großteil ihres Lebens in Staatsdiensten verbracht – meist in ähnlich ermüdenden Positionen, die bis zum Rand mit Langeweile gefüllt waren.

Es war wirklich kurios, nicht? In all den Heldenmythen und all den glorreichen Märchen unseres Zeitalters ist es so oft der Fall, dass der Protagonist, der Held der Geschichte, seine Nemesis selbst erschafft. Aber ich, ich hatte nie irgendetwas getan, um diese frisch hinter mir zurückgelassene Monstrosität zu erschaffen, die ich jeden Tag aufs Neue bekämpfen musste. Dieses Ungetüm aus Papier, das ich so zu fürchten gelernt hatte. Eine Bestie ohne Blut, ohne Krallen, ohne Zähne. Dafür mir scharfen Rändern, mit verschmierbarer Tinte, die für diplomatische Zwischenfälle mit Pferdeherren sorgen konnte, weil die kein Blau mochten. Dieses Monster, diese sogenannte Bürokratie, war mein ganz persönlicher Alptraum. Eine Hölle nur für mich. Und Daeri und Reva, obwohl ich die Notwendigkeit und Wichtigkeit ihrer Aufgabe niemals in Frage stellen würde, schaufelten konstant Kohle in den Ofen, um diese groteske Absurdität am Laufen zu halten.

Wie ich es vermisste, die Axt zu packen und die Monster, die mich bedrohten, einfach erschlagen zu können…

Wir kamen am Thronsaal an. Hier nun startete die nächste Etappe meines Tages. Für ein gutes Mittagsessen war, wie schon für das Frühstück, einfach keine Zeit. Durch die schlichte und unscheinbare Tür betrat ich den gewaltigen Saal. Die Wachen zogen stramm und salutierten, als ich sie passierte. Wir näherten uns dem Thron von der deutlich schlechter beleuchteten Rückseite der Halle, ich nahm meinen Platz ein und starrte auf die großen Tore am anderen Ende.

„Erinnere mich nochmal, Anna – wie genau hat mein Weib sich hierum drücken können?“, hakte ich mit einem Seufzen nach.

„Sie lässt ausrichten, dass das Land sein Königspaar über alles liebt, schätzt und respektiert, doch seinem König folgte es in die Schlacht und seinen König braucht es nun mehr als die ausländische Schönheit, die er heiratete. Außerdem lässt sie ausrichten, dass sie stolz auf dich ist“, erwiderte Anna sehr zu meinem Verdruss. Das hieß, sie war instruiert worden und gab das tatsächlich alles nur wieder. Was wiederum hieß, das Ninafer genau wusste, dass ich im Verlaufe dieses Tages diese Frage stellen würde.

„Warum genau habe ich dieses Weib nochmal zu meiner Königin gemacht…?“, seufzte ich eher zu mir selbst, doch wider Erwarten gab Anna auch hier eine Antwort.

„Wegen ihrer tiefbraunen Augen, dem üppigen Busen, der weiten Hüfte...“ Ich konnte nicht einmal realisieren, was sie da sagte, geschweige denn, wie ich darauf reagieren sollte, als mein Kopf bereits ruckartig zu ihr herumfuhr und ich sie, die Brauen leicht zusammengezogen, eine hinterfragend gehoben, anstarrte. Anna räusperte sich kurz, noch immer mit völlig ernster Miene. „Ihr ihr die Krone so gut stand?“ Ich spürte, wie meine zweite Braue ebenfalls in die Höhe wanderte. Ein Lächeln zwang meine Mundwinkel langsam herauf, ich spürte das Zittern in meinen Lippen, als ich mich auf Gedeih und Verderb zu beherrschen versuchte. „Ich meine, natürlich nur und ausschließlich weil du sie so über alle Maßen liebt. Auf einer intellektuellen, ja fast schon platonischen Ebene. Du gaffst ihrem Hintern auch nur auf einer platonischen Ebene hinterher.“ Ein paar Sekunden dauerte es, ehe ihre Selbstbeherrschung versagte. Als ich das Grinsen aufziehen und mit jedem Herzschlag immer breiter werden sah, konnte ich mich selbst nicht mehr zurückhalten. Unser schallendes Gelächter tönte und hallte durch den Saal, ein paar Augenblicke noch, nachdem wir uns endlich wieder beruhigt hatten.

Ja, ich konnte sie gut leiden.

„Na dann, lass uns loslegen“, wies ich sie schließlich an. Wie zuvor, nahm sie mit ihrem Schreibbrett und dem darauf festgeklemmten Tintenfass ein Stück abseits ihren Platz ein. Sie nickte der Wache am Tor zu, die daraufhin begann, die Bittsteller einzulassen, die sich bereits in einer stattlichen Schlange auf dem Gang versammelt hatten. Wer eine Audienz beim König wünschte, kam in der Regel entweder aus La Coeur oder nahm die weite Anreise nur auf sich, weil bereits die Gewährung eben dieser Audienz zugesichert worden war. Eine solche Zusicherung war Aufgabe der Wache vor den Toren des Thronsaals. Jeder, dem etwas zugesagt worden war, wurde am Anfang der Schlange platziert, damit gewährleistet werden konnte, dass sie auch bekamen, was man ihnen versprochen hatte. Der Rest kam und ging, wie es die Zeit des Königs erlaubte. Meine Zeit. Und die erlaubte in der Regel ziemlich wenig.

Die Anliegen, die mir vorgetragen wurden, waren in der Regel trivial. Beim Abhalten des Hofes ging es nicht so sehr darum, die großen Entscheidungen zu fällen. Die wurden in Gremien hinter verschlossenen Türen besiegelt. Hier ging es um öffentlichkeitswirksame Präsenz. Um das Wiederherstellen von Normalität und Vertrauen in die Krone. Darum, dem Volk nahe zu sein. Und ich nahm diese Aufgabe durchaus ernst. Wenn ein Bauer über die schlechte Ernte klagte, sicherte ich ihm zu, dass jemand sich seine Felder ansehen und sie vielleicht düngen oder mit einem kleinen Zauber nachhelfen würde. Ich musste weder einen Namen nennen, noch weitere Anweisungen erteilen, damit Anna begriff und meine Entscheidungen niederschrieb. Sie arbeitete rasch und gewissenhaft – noch ein Pluspunkt.

Wann immer ich mit einem Anliegen fertig war, nickte ich den Besucher ab. Er ging und sobald er den Saal verlassen hatte, wurde der nächste Bittsteller hereingerufen. Handwerker ohne Atelier, Fischer, die ihre Arbeit aufgrund der Verseuchung der Zwillingsströme mit dem Abwasser verloren hatten, ein Töpfer, dessen Alter ihm das Arbeiten unmöglich machte, doch ohne seine Arbeit wäre er nicht länger im Stande, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten – der Bürgerkrieg und die Revolution hatten ihn seiner zwei Söhne beraubt. Während in diesen ach so wichtigen Gremien schwerlich das große Bild zu übersehen war, all die gewaltigen Probleme, die das Land hatte und die gravierenden Wunden, die die Revolution in seinem Antlitz hinterlassen hatte, zeigte der tägliche Hof auf, wie es für den einfachen Mann aussah. Ich empfand diese Probleme seit jeher als interessanter. Spannender zu lösen. Vielleicht fälschlicherweise sogar als wichtiger. Ich hatte einen Umsturz gewollt, einen Umsturz von unten. Einen zu Gunsten der Mehrheit – und ich hatte bekommen, was ich wollte. Das hieß aber nicht, dass jene, die ich begünstigen wollte, nicht dennoch unter den Veränderungen litten.

Es war eine Kleinigkeit, eine Ladung Tiermist auf ein Feld ausbringen zu lassen oder irgendwen mit einem Gespür für Naturmagie auf das Feld zu stellen, damit er wirsch mit seinen Händen herumfuchteln konnte. Es war eine Kleinigkeit, jemandem eine neue Anstellung zu verschaffen oder für eine bessere Absicherung der Handelswege zu sorgen, eine Kleinigkeit, eine Straße von umgestürzten Bäumen des letzten Sturmes zu befreien. Doch so winzig diese Änderungen wirken mochten, sie besserten das Leben, selbst sei es nur das eines Einzelnen und sie taten es schnell und nahezu unmittelbar. Es kostete wenig, wenig Aufwand, wenig Geld. Während all die großen Beschlüsse und Umbauten am Staatssystem kleine Ewigkeiten fraßen, nur weil die bürokratischen Mühlen alles in fünffacher Ausführung haben wollten – und wehe die Unterschrift saß nicht perfekt auf der vorgezeichneten Linie!

Es mochte gegen vier am Nachmittag gewesen sein, als der Hof schloss. Einige wenige waren enttäuscht, weil sie nicht an die Reihe gekommen waren. Doch während jene sich wunderten, was um der Götter Willen ich nur den ganzen Tag trieb, das ich gerade einmal drei Stunden für den Hof erübrigen konnte, hätte ich liebend gerne mehr Zeit hier investiert. Es ging nur einfach nicht, es gab noch zu viel andere Arbeit, die erledigt werden wollte.

Anna begleitete mich zu einem Arbeitszimmer. Ja – neuerdings hatte ich Arbeitszimmer. Mehrere. Liebend gern hätte ich jedes leerräumen und in eine Rüstkammer oder eine Trainingsanlage umbauen lassen. Vermutlich hätte ich es gekonnt. Wo aber sollte ich dann all den Papierkrieg ausfechten, der unweigerlich tagtäglich auf mich wartete? Wie schon im Thronsaal nahm Anna auf einem deutlich schlichteren Stuhl an der Seite des Tisches Platz, während ich mich dahinter versteckte.

Verstecken passte ganz gut, wie ich befand – denn vor mir türmten sich Berge an Papier auf. Ich wurde dieses Monster einfach nicht los. Ich hatte gehört, es hätte eine Schwachstelle für Feuer und einen Moment lang, beim Anblick seiner schieren Ausmaße, war ich gewillt, dieses Gerücht auf die Probe zu stellen. Aber mir war klar, was dann geschehen würde. Wie ein Phönix aus der Asche, würde sich das Ungetüm neu erheben.

In fünffacher Ausführung. Mit den Unterschriften perfekt auf der Linie.

Die Routine, so verhasst sie mir war, war immer die Gleiche. Es begann mit Formularen, die einfach nur einen Stempel brauchten. Anfangs hatte ich mir die Mühe gemacht, zu lesen, worum es ging. Oder hatte es versucht. Doch in diesen Formularen waren so viele Fremdworte und Abkürzungen enthalten, das ich mit einer Hand voll Blätter tagelang quer durch mein eigenes Schloss gejagt war, nur um herauszufinden, was was bedeutete – und am Ende ging es darum, den verdammten Zaun im Innenhof neu zu streichen. Aber von rechts Wegen durfte ich und nur ich allein diesen Stempel auf drücken. Oder überhaupt in die Hand nehmen.

Irrsinn. Es war der pure, unverfälschte, blanke Wahnsinn.

Dieser Tage war ich klüger geworden. Die Formulare hatten einen Aufbau, der erst erkennbar wurde, wenn man darum wusste. Mit einer Liste der gängigsten Abkürzungen bewaffnet, las ich lediglich quer und bekam meist eine Ahnung davon, worum es ging. Segnete ich es ab – Stempel drauf, neuer Stapel. War ich dagegen – anderer Stempel drauf, anderer Stapel. Nachdem die verdammten Formulare endlich beseitigt waren, kamen die Briefe. Viele enthielten Anliegen ähnlich derer, die ich bei Hofe zu hören bekam. Nicht jeder konnte oder wollte extra hierher reisen, nur um mir sein Elend zu klagen. Etwas, wofür ich dankbar war. Aber neben den Anliegen, die tatsächlich bedacht werden konnten oder teils sogar mussten, gab es natürlich noch… andere Post.

Einige Schreiben stammten aus der Feder heißblütiger Verehrerinnen, so schien es. Und ein paar Verehrer, was zugegeben ungewöhnlich war. Ein paar andere Schreiben stammten aus der Feder solcher Damen – und eines einzigen, absurd hartnäckigen Herren -, die fest behaupteten, mit mir in der Vergangenheit verkehrt zu haben und glaubten, daraus nun gewisse Ansprüche ableiten zu können. Selbst falls mir die Namen irgendetwas gesagt hatten – und sie hatten mich in den vergangenen Jahren selten interessiert -, garantierte die bloße Frechheit, etwas von mir fordern zu wollen, dass ihre Schreiben meinen Kamin beheizten. Mit Ausnahme derer zumindest, die amüsant genug waren. Ich hatte inzwischen eine kleine Sammlung an selbstgedichteten Werken. An Briefen mit besonders kreativen Ideen zur Betitelung der Geschlechtsteile. Und natürlich meine persönlichen Favoriten: Briefe, in denen mir angekündigt wurde, was alles mit mir getan oder mir zu tun erlaubt werden würde, wäre ich nur so freundlich, zurückzuschreiben.

Manchmal glaubte ich, Ninafer und Mortimer hatten bei ihren Teerunden mehr Gefallen an diesen Briefen als ich selbst.

Aber wo es Liebe und Leidenschaft gab, gab es auch Leidenschaft und Hass – ganz unweigerlich. Mein kleiner Staatsstreich hatte viele vor den Kopf gestoßen. Adlige hauptsächlich. Reiche Händler und Handwerker. Die hohen Ränge im alten Militär. Natürlich sammelte ich deren Ergüsse ebenso, wenn sie nur kreativ genug waren. Ich hatte geglaubt, bereits viele denkwürdige Beleidigungen und Flüche zu kennen, aber das war nichts verglichen mit der Fülle und Absurdität dessen, was mir in dieser Position und Rolle entgegen schlug. Ganz zu schweigen davon, dass mancher Brief mir nur bestätigte, was ich über den Geisteszustand der meiste Adligen ohnehin schon immer vermutet, insgeheim gewusst hatte. Da war unter anderem dieser junge Bursche aus dem Niederadel Herothings gewesen, der in seinem Schreiben – anonym, wie er offenbar gehofft hatte – Vermutungen darüber anstellte, wie ich das gewaltsame Zeugnis einer der absurden Spezialitäten aus Madame Gustines ehemaligem Edelbordell gewesen sei, zweifellos in diese Welt gebracht von einem im Suff befindlichen Seemann mit mehr Filzläusen als Haaren im Bart. Besonders spannend fand ich den Teil, der meiner Ansicht nach bereits als halbe Rassenstudie der Filzläuse hätte durchgehen können. Woher dieses detaillierte Wissen stammte, konnte ich mir gut denken, immerhin schien der Bursche intime Kenntnisse von Madame Gustines Haus besessen zu haben.

Vielleicht war er auch einfach nur ein wenig aufgebracht darüber, dass ich sein Lieblingsetablissement dicht gemacht hatte und er nun, unter ganz gewöhnlichen Umständen, bei seiner Herzdame keine Chance mehr besaß, egal wie dick und prall und schwer sein Geldbeutel sein mochte.

Ich fand auch diesmal ein paar, die sich meinen Sammlungen anschließen durften. Jedes einzelne Mal genügte es, das ich trotz aller Selbstbeherrschung kurz auflachen oder zumindest zutiefst vergnügt ein wenig vor mich hin glucksen musste – und jedes einzelne Mal gab ich die Briefe Anna zu lesen, die manchmal rot anlief und manchmal selbst ins Lachen geriet. Sie legte die Meisterwerke wie angewiesen fein säuberlich bei Seite und mit den fortschreitenden Stunden schrumpften die Stapel zusehen vor sich hin. Einmal mehr war das Papiermonster besiegt. Zumindest vorläufig – denn einen endgültigen Sieg über diese Monstrosität gab es nicht.

Ich neigte den Kopf zur Seite und ließ ihn einmal im Nacken rollen bis auf die andere Seite und nach vorne. Das Knacken fühlte sich ebenso scheußlich an, wie es sich wohl anhörte. Anna erhob sich und erklärte, sie sei bald zurück und ihren Worten treu kehrte sie mit einer dampfenden kleinen Tasse wieder. Ein Tee, wie sie mir erklärte, der meiner Entspannung dienen sollte. Ich stellte das noch zu heiße Gebräu ab und widmete mich den verbliebenen, kläglichen Resten der Schreiben, ehe der weniger schöne Teil kam.

Selbst die Feder geführt hatte ich seit Jahren nicht mehr. Vermutlich war das der Grund, warum ich Anna auf meinen Stuhl setzte und ihr diktierte, während ich wie ein eingesperrter Tiger im Raum auf und ab wanderte. In ihrer feinen, säuberlichen, hübschen Handschrift trug sie auf das Papier nieder, was ich vorgab und Umschlag um Umschlag füllte sich mit Antwortschreiben.

Es mochte nach acht sein, als wir endlich fertig waren. Das ließ mir noch vier Stunden, höchstens, falls ich noch die Energie hätte, überhaupt irgendetwas tun zu wollen. „Ich denke, wir sind hier fertig. Du kannst heim, versuch das wenige Bisschen zu genießen, das vom Tag noch übrig ist.“ Ein Blick zum Fenster. „Oder von der Nacht.“

Sie schüttelte unter einem Lächeln den Kopf. „Da ist niemand, der warten würde, also keine Sorge. Trink deinen Tee und komm mit in den Salon, ich habe eine Idee.“ Wer war ich schon, ihr zu widersprechen? Ah ja. Der König.

Dennoch trank ich wie angewiesen. Es war angenehm, mal nicht ständig die Zügel in der Hand halten zu müssen und ich war zugegeben neugierig, was sie im Schilde führte. Dort angelangt, sah ich mich kurz um. Ich kannte die bewohnbar eingerichteten Räume des Schlosses natürlich in- und auswendig. Die bis zur Decke reichenden Bücherregale, der anheimelnde, bereits entzündete Kamin, die dichten, großen Felle, die davor lagen, darum verteilte eine kleine Sitzgruppe hübsch geschnitzter Stühle und ein paar kleine Beistelltische. Ein Leseraum, den Lileth und Ninafer häufig frequentierten, wenn sie denn da waren. Heute schienen wir ihn ganz für uns zu haben.

Anna zog einen Stuhl ein Stück von den Fellen und vom Kamin fort und deutete mir an, mich zu setzen. Noch immer trieb mich meine Neugier vorwärts und ich ließ mich darauf nieder. Ich hatte bereits bequemer gesessen. Dann wiederum war Bequemlichkeit für mich nicht unbedingt das Maß aller Dinge und ich empfand es schon als bedenklich genug, das jeder so bemüht schien, alles in meiner Welt bequem zu machen. Weiche Betten, weiche Sitzkissen, alles weich, weich, weich. Fürchterlich. Würde ich nicht ab und an zur Jagd ausreiten oder einfach ein paar Reisen quer durch das Land machen, ich wüsste vermutlich nicht einmal mehr, wie es sich anfühlt, auf Stein und nacktem Boden zu schlafen. Selbst das durfte ich natürlich erst, wenn ich es geschafft hatte, meine Eskorte abzuhängen und meine vorgesehene Reiseroute zu verlassen.

Ich liebte die Nervenzusammenbrüche der Berater und Bürokraten. Ich erlebte sie natürlich nicht selbst, aber sogar Lileths, Mortimers und Ninafers Erzählungen davon waren stets mehr als nur unterhaltsam.

Anna positionierte sich hinter mir und kurz darauf spürte ich ihre Fingerspitzen auf meinen Schultern. „Hey, das hier hat nichts mit deinen Lenden zu tun, klar?“, hörte ich sie erklären. Ich glaubte das Grinsen regelrecht heraushören zu können, „Also entspann dich. Darum geht es dabei nämlich.“

Einmal mehr begab ich mich in fähige Hände. Ich schloss die Augen und spürte dem Gefühl nach. Sie knetete und drückte, presste und stichelte. Die Verspannungen, von denen ich zweifellos so Einige hatte, lösten sich langsam auf. Wie lange ich da gesessen haben mochte, wusste ich nicht zu bestimmen. Meine Gedanken drifteten ab, zurück zu Ninafer. Natürlich ging es bei Massagen um Entspannung, doch mit dem Moment der Ruhe kam auch das Gefühl des Morgens zurück, das Gefühl, ausgetrickst worden zu sein. Um etwas betrogen worden zu sein. Mir war entfernt bewusst, dass mein Leib auf die Erinnerungen reagierte, aber es scherte mich nicht sonderlich. Sollte Anna sich daran stören, gute Götter, dann würde sie schon etwas sagen.

Tat sie auch, kaum wenige Augenblicke, nachdem ich das gedacht hatte. Obwohl das, was sie sagte, aus einer inkohärenten Folge gurgelnder Laute bestand, ehe ich hinter mir einen Aufschlag auf dem Boden hörte. Ich seufzte tief, öffnete langsam die Augen und wandte meinen Blick zur Seite. Da lag sie, Annabella. Und sie war kreidebleich. Eine kleine Nadel steckte in ihrem Nacken. Man hätte sie kaum sehen können, hätte das Flackern des Feuers im Kamin kein Lichtspiel durch den Raum geworfen, das sich am Metall fing. Und da, knapp neben ihr, war auch die Quelle des metallischen Aufschlages. Ein Dolch.

Ein neues Paar Hände legte sich auf meine Schultern und führte die Arbeit ungeniert fort.

„Attentäterin?“, seufzte ich leise und ließ mich wieder in die Massage sinken.

„Keine von der Gilde“, erwiderte Ninafer leise, ihre flüsternde Stimme dicht neben meinem Ohr. Sie jagte mir einen Schauer den Rücken herab. „Mortimer und Ishara waren so freundlich und hatten für mich ein Auge auf sie, seit sie die Stadt betrat.“

„Schade. Wirklich schade. Ich konnte sie gut leiden.“

Ich bemerkte, wie sie näher an den Stuhl heran trat, ihre Fingerspitzen wanderten über meine Brust, meinen Bauch, tiefer. „Ein wenig zu gut vielleicht, hm?“ Ich lachte auf. Die Vorstellung, Ninafer könne jemals eifersüchtig werden, war schlicht zu absurd. Ihr Griff schloss sich fester, ihre Hand bewegte sich langsam auf und nieder, quälend langsam – und mir blieb das Lachen quer in der Kehle stecken. Nicht etwa wegen dem, was sie tat. Zumindest… nicht nur.

Annas Tod bedeutete auch, dass ich eine neue Assistenz brauchte. Der ich all die Regeln wieder erklären musste. Vielleicht sollte ich ein Handbuch schreiben. So verfahren sie mit Ihrem König! – aber damit würde ich lediglich zum Wachstum meines neuen Erzfeindes beitragen. War es mir das wirklich wert…?

Ich versuchte zwar dem Gedanken zu folgen, wurde jedoch abgelenkt vom Geräusch raschelnden Stoffes. Ich hatte so viel Konzentration auf diese Überlegung verwenden müssen, dass mir schlicht entgangen war, wie Ninafer mich umrundet hatte. Oder wie sie den Saum ihres Kleides emporgerafft hatte. Erst als sie auf meinen Schoß sank, kehrte meine volle Aufmerksamkeit schlagartig ins Hier und Jetzt zurück. Überrascht von so viel, nun, Direktheit angesichts der Umstände, konnte ich das Aufkeuchen nicht zurückhalten. Sie ließ ihre Hüfte kreisen, einmal mehr qualvoll langsam, in eingespielter Präzision. Ich spürte mühelos, dass sie wusste, was sie tat. Genau wusste, genau kalkulierte. Sie hatte das hier schon tausendfach getan, sie kannte jede nötige Bewegung in-und auswendig. Die Vorstellung allein hatte zugegeben etwas Betörendes für sich – denn nun war sie mein und mein allein.

Mit beiden Händen packte ich ihren Hintern. Es brauchte einen Anlauf und sah gewiss nicht sonderlich grazil aus, doch ich vermochte mich vom Stuhl zu erheben. Er bot zu wenig Spielraum für Bewegung, zu wenig Möglichkeiten für mich, Kontrolle zu erlangen und so sehr der Gedanke reizen mochte, ihr ausgeliefert zu sein – nicht heute.

Mein Blick schweifte kurz zu Anna, während Ninafer sich fest an mich klammerte. „Sie wollte mich einfach erstechen?“, hakte ich mit einem Kopfschütteln nach. Da hatten sich andere aber wirklich mehr Mühe gegeben. Obwohl ihr Schauspiel vorzüglich gewesen war.

„Vergiften“, korrigierte sie mich, „Sie hat es den ganzen Tag schon versucht. Frühstück, Tee, eine Massage mit einem gelegentlichen, kleinen Kratzer hier und da.“

Und in diesem Moment, einfach so, vielen alle Teile des Puzzles zusammen. Ninafer hatte sie beobachten lassen. Vermutlich hatte sie von der erstbesten Gelegenheit an gewusst, was sich in ihrem Gepäck befand – möglicherweise dank Alistair, der kleinen Ratte. Sie hatte jeden Schritt verfolgen lassen und daher zweifellos auch gewusst, was sie tat. Was sie kaufte. Womit sie ihre Zeit zubrachte. Was bedeutete, das Ninafer ganz genau gewusst hatte, womit Annabella – sofern das überhaupt je ihr richtiger Name gewesen war – mich zu vergiften beabsichtigte.

Und das erinnerte mich an den Stich, der heute früh meinen Traum durchbrochen und mich aufgeweckt hatte. Vermutlich hatte sie mir da das Gegengift verabreicht. Als ich meinen Blick von Anna löste und auf Ninafer richtete, lächelte sie – obwohl den Umständen entsprechend eine gewisse Röte in ihren Wangen lag. „Du hinterhältige kleine Schlange…!“, raunte ich ihr grinsend zu.

„Zumindest ist es deine Schlange…! Ssssss!“

Mit wenigen Schritten stand ich auf den Fellen vor dem Kamin. Die Bediensteten würden einen Schock bekommen. Die einen, weil sie das Schlafzimmer morgen früh leer vorfinden würden – Schreck, war das Königspaar geflohen? Entführt worden? Die anderen, weil sie diesen Raum zu entstauben kamen und erst eine Leiche fanden – oh wie grässlich! -, und dann… uns.

Nicht, das mich das aufgehalten hätte. Im Gegenteil, die Vorstellung erheiterte mich jetzt bereits. Ich bettete sie auf ihren Rücken. Jede Bewegung war ein kleiner Stich, eine kleine Erinnerung an unsere Verbundenheit, sandte einen kleinen Puls aus Gier nach mehr durch meinen Leib und meinen Verstand.

„Hast du denn überhaupt noch genug Kraft, um-“, hob sie neckend an. Ich hatte für die Dauer eines Wimpernschlages mit dem Gedanken gespielt, ihre Lippen mit den Meinen zu versiegeln – stattdessen stieß ich einmal mit Kraft in sie. Sie bäumte sich unter mir auf, atmete heiß aus, keuchte auf. Es war ein betörender Anblick.

Kein nerviges Tick, tick, tick, tick, tick. Als wir nach einer gefühlten Ewigkeit, die doch nicht lang genug hätte sein können, wieder zur Ruhe kamen, verschwitzt, nunmehr nackt, völlig erschöpft und ausgebrannt, da ließ uns kein Chronometer wissen, wie spät es war. Keine Bittsteller wollten, dass wir uns wieder Kleider anlegten und kein Gremium beriet über unsere Leistung. Ihre Fingerspitzen fuhren verträumt und in gedankenlosen Bahnen über meine Schulter, meine eigene Hand strich behutsam über ihre Seite, ihre Hüfte, ihren Schenkel herab. Als könne sie zerbrechen. Das war natürlich Unsinn, ich wusste es besser – vor allem nach all dem, was wir schon getan hatten, miteinander insbesondere. Dennoch bekam ich dann und wann das Gefühl, das sie zerbrechlicher war, als sie den Anschein hatte. Und sei es nur in bestimmten Momenten.

„Der Tag ist geschafft“, ließ sie mich leise wissen, „Schlaf nun.“

Es war angenehm, nicht selbst immer die Anweisungen geben zu müssen. Das Gefühl ihrer wandernden, zärtlichen Berührungen folgte mir bis in den Schlaf hinein.

 

Wer in seinem Leben einmal an einer Schlacht teilgenommen hatte, der kannte diese Geräusche. Es waren die unverkennbaren Laute einer Schlacht, die tobte. Das metallische und das dumpfe Klirren, als Waffen ihre Ziele trafen. Das Gekreisch der Getroffenen und Attackierenden. „Lange halten wir nicht mehr durch!“, mahnte mich Ishara, ehe sie drei Pfeile aus ihrem Köcher zückte, auf die Sehne spannte und präzise in drei verschiedene Gegner einschlagen ließ.

„Haltet stand! Wir können siegen!“, brüllte ich aus voller Kraft über das Schlachtfeld hinweg. Mortimer tünchte einen armlangen Pinsel in einen bereitstehenden, roten Farbeimer und strich großzügig über das ihn angreifende, zweieinhalb Meter hohe Formular hinweg. Von der Entstellung entsetzt, kreischte es in Agonie auf und rannte davon. In einiger Ferne sah ich Daeri einen Hebel ziehen. Nach dem Beben und Röhren des Bodens hob sich eine Maschine empor, der schwarz klaffende Eingang beschriftet mit den Worten Hier Eintritt zur Buchbindung. Reihenweise stürzten sich die feindlichen Formulare auf ihre Finte, doch am anderen Ende der elend langen Maschine spie sie nur Schnipsel und Geschreddertes aus. Reva und Alandor sah ich ein kleines Stück von Daeri entfernt stehen, wie sie mit spitzen, gespaltenen Zungen Beleidigungen verteilten und die Feinde so in blinde Raserei versetzten, das sie sogar geistlos aufeinander losgingen. Wir hatten das Schlachtfeld unter Kontrolle – es war knapp, aber wir würden siegen können!

Dann donnerte der Boden. Zitterte und bebte, wieder und wieder. Ich hatte diesen Moment befürchtet und ersehnt gleichermaßen. Dies war die Schlacht meines Lebens. Mein Schicksal. Es war gekommen.

Gewaltig thronte es über allem anderen. Sein Schatten schien die Hälfte aller Truppen zu verschlingen, Freund wie Feind. „Macht euch bereit!“, brüllte ich aus vollster Kehle. Wenige Meter entfernt sah ich Ishara und Alistair Rücken an Rücken stehen. Er stahl die Tinte von den Formularen und sie benetzte ihre Schwertklingen damit. Die Formulare kreischten in Panik, Raserei und Agonie, während sie zerschlitzt und entstellt wurden. Doch sie waren nur Kanonenfutter, nur die Stoßtruppen. Dort, gewaltig thronend, erhob sich der Feind.

Mein Feind.

7.308 Seiten purer Bosheit. Grässlich und kehlig lachend verhöhnte es unsere Versuche, seine Legionen in Schach zu halten. „Silas, jetzt!“, befahl ich. Der Grünschnabel steckte mich in Brand. Die Flammen verletzten mich nicht, doch wie eine Fackel preschte ich, die Axt erhoben, einen furchtbaren Kriegsschrei ausstoßend, auf den Feind zu. Ich würde ihn bezwingen, mit Feuer und Klinge und allem Hass dieser Welt! Und wenn es erst einmal sterbend vor mir lag, würde ich jeden Buchstaben eines Namens aus der Geschichte reißen. Nie wieder sollte jemand von diesem Monster verfolgt werden, nie wieder sollte jemand ängstlich im Schatten kauern müssen, weil es noch immer existent, noch immer ein Teil dieser Welt war. Ich würde uns alle von ihm befreien!

Nieder mit dem Steuerrecht!“, donnerte mein Schrei, als ich mich zum Angriff vom Boden abstieß, brennend, die Axt hoch erhoben.

 

Es gibt kein morgen. Weißt du, warum? Weil morgen genauso voll und beschissen ist wie heute. Wie gestern. Wie die einhundertsiebenundzwanzig Tage davor. Weißt du, was heute war? Heute war ein Rekordtag. Heute habe ich mehr Staatsgeschäfte erledigt als an allen Tagen zuvor. Gestern war auch ein Rekordtag. Und der Tag davor. Es gibt kein morgen, weil das hieße, zu akzeptieren, dass morgen schlimmer wird als heute. Wer würde das schon wollen?

Weißt du, was eine Willenserklärung ist?

In meinem Fall ist es ein Staatsgeschäft. Mein Wille wird Gesetz. Wortwörtlich, wenn es darauf ankommt. Alles muss niedergeschrieben, dokumentiert werden. Alles. Jeder Fall bedarf einer Entscheidung. Jeder Brief einer Antwort. Jedes Anliegen einer Wertung. Jede getroffene Entscheidung ist meine Wille, jede Äußerung meines Willens eine Erklärung, und als König, nun…

386. So viele ‚Willenserklärungen‘ habe ich heute abgegeben. Gestern waren es noch 355. Am Tag davor 321.

 

„Ich hasse mein Leben“, krächzte ich heiser hervor, als ich die Lider hob und mir schlagartig darüber bewusst wurde, wo ich mich befand.

„Die Erlaubnis dazu hast du erst, wenn du das Bett verlässt“, erklang eine grässlich wohlgelaunte Stimme neben mir.

„Wir sind nicht mal in einem Bett…“, erwiderte ich mit einem stetig breiter werdenden Grinsen, „Was glaubst du, wie lange sie brauchen, ehe sie uns finden…?“



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