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Lumiél

Königreich der Monde
von

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Lady Acedia

Lächeln, mahnte sie sich abermals, Immer lächeln. Mit der Mühe, als würde sie einen Troll gegen seinen Willen bewegen wollen, hob, zog und schob sie an ihren Mundwinkeln herum, bis der gepresste, forcierte Ausdruck auf ihre Lippen zurückkehrte und ihre Mundwinkel sich zittrig hoben. Nichts von alledem sah man ihr an. Sie hatte dieses Lächeln zu lange geübt, um zuzulassen, dass andere sahen, was es sie kostete. Dabei wäre die Alternative so simpel…

 

„Es reicht. Wirklich, es reicht, das ist jetzt genug“, bekräftigte sie, während ihre Hand in aller Seelenruhe hinter ihre Gestalt griff. Unsicher, was er zu erwarten hatte, starrte der breit gebaute Zwerg sie an. Obwohl er ein ganzes Stück kleiner war, blickte er auf sie herab. Und sie war diesen Blick leid. Sie war seine herablassende Art leid und seine selbstgerechten Worte. Der elbische Bogen kam zum Vorschein, wurde gehoben, ein Pfeil aus dem Köcher gezogen. Keine fließende, rasche Bewegung, nein. Sie musste sich umdrehen. Musste nach ihrem Köcher suchen. Er stand an der Wand gelehnt, zwischen einem Stuhl und der Tür. Ein paar Schritte trugen sie herüber, ein einzelner Pfeil verschwand aus der Summe des Inhalts und ein paar weitere Schritte trugen sie an ihre Ausgangsposition zurück.

Sorgfältig legte sie an, hob die Spitze.

Der Zwerg hatte das Schauspiel verfolgt. Zunächst erstaunt, doch mit wachsendem Unbehagen. Ungläubig gaffte er sie an. Hatte er zu Beginn gefragt, was sie sich erdreistete, zu unterbrechen, schien ihm allmählich zu dämmern, worauf das hier hinauslaufen würde. Eine buschige Braue hob sich, verhöhnte sie selbst jetzt noch, da sich ihr Pfeil auf ihn richtete. Er setzte an, etwas zu sagen, begegnete in jenem Moment ihrem Blick. Jenen schönen, blauen Augen. Kalt wie das Nordeis, das die Unachtsamen erfror. Die Dringlichkeit seiner Situation wurde ihm mit einem Schlag bewusst, er hob die Hände, plötzlich der Panik nahe, stammelte Entschuldigungen, Mahnungen, Gebettel, alles wild durcheinander.

Also wirklich. Der Anblick hätte sie fast auflachen lassen. Vielleicht, so rätselte sie, sollte sie ihm einen Rat mitgeben. Dass er sich das alles früher hätte überlegen müssen – dann wiederum, was nutzte ihm der Rat jetzt noch? Ihr Arm riss sich wie automatisiert zurück, die Spannung wuchs von Sekunde zu Sekunde und während die Stimme des Zwergs schriller wurde, hysterisch, in ihren Ohren zu schmerzen begann, zögerte sie eine letzte Sekunde.

Hierfür würde sie sich was von Thorin anhören dürfen. Er mochte dieses Zwergenpack.

Dessen ungeachtet schnellte der Pfeil von der Sehne. Blut. Blut überall. Der verdammte Teppich war voll davon. Hatte dieser Dummkopf denn noch nie einen Kampf bestritten?! Man zog Pfeile nicht einfach heraus. Schon gar nicht an solch sensiblen Stellen und erst recht nicht, wenn man gegen sie antrat. Nicht, das er Letzteres hätte wissen können. Doch seit ein paar einschlägigen Erfahrungen unschönerer Natur verwendete sie Geschosse mit kleinen Widerhaken. Sie herauszuziehen richtete in der Regel mehr Schaden an als sie durchzudrücken.

Dummkopf. Den Teppich wieder sauber zu bekommen würde ewig dauern.

 

Das Lächeln auf ihren Lippen, obwohl aufrichtig wirkend, hatte kurz einen verträumten Einschlag erhalten. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die aktuellen Geschehnisse, als man sie dazu aufforderte. Worum ging es? Waren sie mit dem letzten Thema schon durch? Gute Güte, wie viel von diesem Irrsinn musste sie sich noch anhören? Konnte sie nicht einfach…

 

… sein schickes neues Hemd packen? So hübsch, so fein gearbeitet, nur die besten und teuersten, seltensten und edelsten Stoffe, von den geschicktesten Händen vernäht und verziert. Es machte sie rasend, diesen dekadenten Fummel an ihm zu sehen. Ihre dünnen, geschickten Finger vergruben sich darin. Hoffentlich zerknitterte sie das verdammte Material!

Sie riss ihn vom Boden. Nicht, dass das möglich sein sollte. Physikalisch undenkbar. Sie war kleiner als er, schwächer als er, er wog vermutlich ein Stück mehr. Egal. Wen interessierte schon Physik – sie war eine Elbe, verdammt nochmal! Oder… zumindest zur Hälfte, wie dieses blasierte Vollblut in ihrem Griff betonen würde.

Wind fuhr ihr wie die geschmeidige Hand eines Liebhabers durch die Haare. Sie schloss kurz ihre Augen, ignorierte das Zappeln, das ihre angespannte Armmuskulatur belastete und neigte das Gesicht in den morgendlichen Wind hinein, gab sich den Liebkosungen ihres Gespielen einen Moment lang hin. Der Wind trug den Geruch nach einbrechendem Sommer mit sich. Nach Vitalität und Leben, nach satten Wiesen, weiten Wäldern, dichtem Unterholz und prall gefüllten Beerensträuchern.

Sie hätte sich darin verlieren können. Hätte sich dank dessen beruhigen können. Aber das ständige Gezappel vor ihr, die wütenden Ausrufe und Forderungen, das alles mahnte sie, das es wirklich an der Zeit war. Sie öffnete ihre Augen wieder, wartete ein paar Herzschläge ab, binnen derer sich ihre Augen an das Sonnenlicht gewöhnten.

Ihr Blick fuhr zu seinem verdammten, schicken neuen Hemd zurück. Noch immer zappelten seine Füße wenige Zentimeter über dem Boden. Ein einziger Schritt ihrerseits und sie zappelten mehrere hundert Meter über dem Boden. Kurz nur lehnte sie sich vor, blickte hinab. Die Kreuzwegfeste war Teil des gewaltigen, ehemals verfluchten Bollwerks der Schwarzen Mauer. Sie war nahtlos in den Wall eingelassen worden und befand sich am östlichen Ende – direkt am Ende. Unter ihnen ging es in die Tiefe der Meeresbucht, die an dieser Stelle des Atolls zu einer Landenge führte. Ein kleiner, leicht zu verteidigender Flaschenhals und dort unten war nur die schäumende See, die sich an uralten Klippen brach.

Er versuchte nach ihr zu schlagen, während sich seine linke Hand in ihren Unterarm krallte.

Der bloße Versuch brachte ihr Gemüt zum überkochen. Er hatte versucht sie zu schlagen? Er hatte versucht, sie zu schlagen! Nicht, wie es sich gehört hätte, mit der Faust. Nicht, wie es sich gehört hätte – angesichts seiner Situation – mit voller Kraft. Nein, dieses kleine Aas hatte versucht, ihr eine Ohrfeige zu verpassten. Als sei sie ein kleines Mädchen, das gescholten werden musste. Als könne man sie selbst wider der Situation nicht ernst nehmen.

Ihr Blick bohrte sich in ihn, durch ihn durch, wanderte zu jener linken Hand, deren Finger sich in ihr Fleisch zu graben versuchten. Sie aber, das dumme kleine Gör, hatte etwas, das er aufgrund seines enormen Sinns für Reinlichkeit und Hygiene aktuell nicht besaß.

Fingernägel.

Sie löste eine Hand aus seinem Hemd, grub selbige in sein Handgelenk. Er wimmerte kurz, versuchte einen Schmerzschrei herunter zu würgen, versuchte seine Position zu halten, sie nicht loszulassen – doch er war chancenlos. Blut rann über sein Handgelenk, seine Hand, seine Finger, floss auf ihren Arm über. Er ließ schließlich los – und sie tat das Gleiche.

Sie empfand keine nennenswerte Befriedigung dabei, ihn in den Tod stürzen zu sehen. Das unbeschreibliche Ausmaß an Angst in seinen Augen, das hilflose Rudern mit den Gliedmaßen, in der verzweifelten Hoffnung, aus Luft und Nichts möge sich etwas materialisieren, das ihm Halt und Rettung versprach.

Nein, sie empfand keine Befriedigung, als sie ihn fallen sah.

Die kam erst, als sein Körper an den Felsen aufschlug, von den Wellen fortgetragen und wieder und wieder im Wogen der Wellen gegen die Küstenlinie geschmettert wurde. Erst dann gönnte sie sich…

 

… ein zufriedenes Lächeln.

Ishara ertappte sich dabei, wie sie hinter sich spähte. Zu ihrem Köcher, der zwischen einem Stuhl und der Tür an der Wand lehnte. Zu den Pfeilen darin. Das war alles, was sie wissen musste. Alles, was sie bemerken musste.

Sie entschuldigte sich eilig, mit rasendem Puls und trat hinaus auf den Gang jenseits des Konferenzraumes. Einmal die Tür ins Schloss gezogen, atmete sie tief durch. Lehnte gegen die Wand, schloss die Augen, den Kopf in den Nacken gelegt und atmete bewusst ein und aus.

„So schlimm, hm?“ erklang eine honigsüße Stimme, die jedem noch so kritischen Gehörgang schmeichelte. Unwillkürlich zogen ihre Mundwinkel empor. Nicht als einstudiertes Schauspiel wie die Schritte eines Standardtanzes, sondern als aufrichtige Geste, als Zeichen ihrer Freude, jemanden mit klarem Verstand als Gesellschaft zu haben. Nun… zumindest jemanden, dessen Gesellschaft sie zu schätzen wusste – vom Zustand des Verstandes abgesehen.

Sie antwortete nicht, hörte aber die sanften, fast lautlosen Schritte auf dem Teppich. Irgendwo in der Ferne war die dumpfe Hintergrundkulisse des alltäglichen Lebens in der Feste zu vernehmen. Geschäftiges Treiben, Klappern von Tellern und Kochtöpfen, Waffentraining, gerufene Befehle, leichtherzige Gespräche, alles vermischte sich zu einem Brei, der sich leicht ignorieren ließ, wenn man ein paar Tage hier zugebracht hatte.

Sie spürte die Wärme, die von jenem nahe an der Wand neben ihr lehnenden Körper ausging. „Soll ich übernehmen?“ erkundigte sich Ninafer. Das Lächeln Isharas wuchs zu einem beinahe hämischen Grinsen aus. „Wäre das wirklich fair?“ erwiderte sie, ohne sich zu rühren, ohne die Augen zu öffnen oder den Kopf zu drehen. Sie überdachte, was geschehen war. Wie sie jeden in diesem Raum bis auf einen hatte umbringen wollen. Wie sie es sich ausgemalt hatte, die Umsetzung, wie sie Genugtuung dabei empfunden hatte, wie sie sich bei dem Gedanken erwischt hatte, es vielleicht einfach darauf ankommen zu lassen, es umzusetzen.

Fakt war – sie brauchten diese Idioten. Sie brauchten sie und ihre Zustimmung, ihre Gelder, ihre Truppen, ihre Informationen. Sanft schüttelte sie den Kopf. Sie brauchten all das für ihre Sache. Ihre Sache. Wann hatte sie eigentlich angefangen, sich diesen ganzen Wahnsinn so zu Herzen zu nehmen? Schlechter Einfluss. Da gab es mindestens zwei, drei Leute, die eindeutig einen schlechten Einfluss auf sie ausübten.

Nicht, das sie das wirklich hätte ändern wollen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit schlug sie die Augen auf, starrte zunächst an die Decke, ehe sie das Haupt zur Seite rollte. Ihr Blick glitt über Ninafers Figur und einen Moment konnte sie sich nicht erwehren, mehr zu sehen, als ihr möglicherweise zustand. Ein wirklich hübsches, grasgrünes Kleid mit goldenen Ranken als Verzierung. Eine adrette Schnürung, die so viel Einblick auf ihren Busen gab, wie sich gerade noch gesellschaftlich vertreten ließ. Sie wusste, was unter diesem Stoff lag. Sie wusste, wie ihre Haut sich anfühlte. Wie sie schmeckte. Ein kurzer Schauer rann ihr Rückgrat herab. Sie wusste, wie sie roch, wie sie-

Die aufkeimende Röte auf ihrem Gesicht verriet sie zweifellos. Sie intensivierte sich nur noch, als ihr Blick den Ninafers traf. Die frühere Ereshkigal-Adeptin schenkte ihr ein wissendes, ein geradezu verspieltes Grinsen. Sie störte sich nicht an musternden Blicken. Sie störte sich nicht einmal an lüsternen Blicken – es war fraglich, ob sie sich überhaupt an irgendetwas störte. Doch sie wartete offenkundig noch immer auf Lileths Antwort.

Sie hätte es wirklich wissen müssen. Natürlich interessierte Ninafer nicht wirklich, ob Fairness eine Rolle spielen sollte. Das hier war Isharas Land, Isharas Festung und Isharas verdammte Konferenz. Mehr oder minder. Es würde so fair zugehen, wie immer sie das wollte. Und der Gedanke trieb ihr ein Lächeln auf die Lippen, so kalt, berechnend und räuberisch wie es sich dort lange nicht hatte blicken lassen. „Mortimer ist noch drin und reißt sie vermutlich gerade in Stücke, mit freundlichen Worten und höflichem Lächeln“, setzte Ishara an, ehe sie Ninafer nochmals in Augenschein nahm. Langes, wallendes, dichtes braunes Haar. Rehbraune Augen. Volle Lippen. Sie verstand, was Thorin – und jeder andere Mann, sogar so manches andere Weib – in ihr sah. Was sie nicht verstand, nicht vollständig zumindest, war Ninafers Gabe, all das in eine Waffe zu verwandeln, die sie mit weit mehr Präzision führen konnte als sogar ein Mortimer Wittgenstein fähig war.

„Könntest du-“, hob sie an, zögerte. Wäre das wirklich fair? „Könntest du vielleicht sicherstellen, dass die Stücke nicht zu groß sind?“ Ninafers warmes, herzliches Lächeln wuchs noch ein Stück weiter in die Breite. Sie nickte, wortlos Isharas Wunsch entsprechend und stieß sich von der Wand ab. Mit einem kleinen Sprung im Schritt, so als wäre sie das vergnügteste, bestgelaunte kleine Mädchen dieser großen weiten Welt, umrundete sie Lileth, klopfte an der Tür des Saals und trat kurz darauf ein.

Das Klicken des Schlosses war ihr Zeichen genug, die Augen wieder zu schließen und den Kopf wieder in den Nacken zu legen.

Was hatte sie den Gesandten und Botschaftern da nur angetan? Nicht, das sie plötzlich Mitleid empfinden würde. Aber es hatte selten Gelegenheiten gegeben, zu denen sie fähig gewesen war, zu verfolgen, wie Mortimer und Ninafer zusammenarbeiteten. Mit eigenen Augen zu sehen und mit eigenen Ohren zu hören, wie sie vorgingen – und was hinterher noch übrig war. Ein Rudel ausgehungerter Wölfe ließ in der Regel von ihren Opfern mehr zurück als diese beiden.

Irgendwie… beschwingte sie dieser Gedanke.

Eine kleine Melodie wurmte sich ihre Kehle herauf. Sie stieß sich von der Wand ab und wandelte gedankenverloren durch die Korridore der Feste, während sie leise zu summen begann. Eine Abzweigung links, eine Kurve nach rechts, ein paar Treppen hier, ein paar Treppen da. Irgendwann unterwegs wurde ihr klar, dass sie Ninafer hätte  fragen können, wo Thorin gerade war. Wenn es jemand wusste, dann am ehesten noch sie. Der Gedanke an die beiden brachte ihre Erinnerungen jedoch prompt zu neuem Leben. Sie erinnerte sich an das ekstatische Geschrei von letzter Nacht und ihr Verstand machte sich einen hämischen Spaß daraus, Ninafers Keuchen und Stöhnen einzubringen, das aus ihren… anderen, gemeinsamen Erfahrungen resultiert war. Sie konnte nicht leugnen, dass – beides vermischt – einen recht eindeutigen Effekt auf sie hatte. Die Tatsache ignorierend, drückte sie eine schwere, beschlagene Tür auf und fand sich plötzlich unter freiem Himmel wieder.

Sie schloss die Pforte ordentlich hinter sich, ehe sie die letzten Stufen auf die Turmkrone hinaufstieg. Der höchste Punkt der Kreuzwegfeste. Sie trat an die Westseite, die Hände auf der rauen Oberfläche der Steinzinnen. Ihr Blick schweifte umher, während der Wind, ganz wie in ihren Vorstellungen, durch ihre Haare fuhr. Ein angenehmes, vertrautes Gefühl. Obwohl so weit südlich, kühlte er ihren Verstand, ihr Haupt, und machte sie damit überhaupt erstmals darauf aufmerksam, wie sehr sie in diesem Konferenzraum überhitzt war.

Wache, aufmerksame Augen erfassten zahllose Details. Der Burghof, der Tempelplatz, der Markt. Viele bunte Stände, geschäftiges Treiben. Jenseits der schweren Mauern waren Häuser zu sehen. Äcker. Zäune und Weiden und Vieh. Das Dorf erstreckte sich ein Stück jenseits der Schwarzen Mauer, sowohl nach Norden als auch nach Süden. Es war im Grunde die perfekte Verteidigung für die Siedler. Kamen des Königs Truppen, konnte man alle Bewohner in den Südteil evakuieren. Kamen Dämonen oder Zentauren aus dem Süden, schaffte man das Volk in den Nordteil.

Nicht allzu weit entfernt konnte sie das gewaltige Tor sehen. Noch immer schauderte sie, wann immer ihr Blick den schwarzen Stein streifte, den schweren Obsidian der Tore selbst oder die schwach leuchtenden Runen, die darauf prangerten. Sie waren keine Schöpfung der Zwerge, kein Ergebnis der Mühen des Zirkels. Wussten die Götter, woher das kam. Rasch zog sie ihren Blick zurück, konzentrierte sich auf etwas Näheres, Angenehmeres. Unweigerlich streifte sie abermals die Ringmauern der Feste. Der äußere Wall war voller Leben. Wortwörtlich. Nicht nur die Patrouillen, die auf dem Wallkamm entlang spazierten, sondern auch Medeas… Freunde. In unterschiedlichen Größen fanden sie sich auch auf den inneren zwei Wällen, hatten Position bezogen. Sie hatte von diesen Kreaturen gehört. Arbor Genius, Waldgeister, Baumhirten, es gab so viele Namen für sie, wie es Legenden und Theorien über ihre Art und ihre Ursprünge gab. Medea selbst hätte  vielleicht Licht ins Dunkel bringen können, aber mit einer Hüterin zu sprechen entpuppte sich als erstaunlich… kompliziert und anstrengend. Geradezu nervenaufreibend. Man musste ihr so vieles erklären, ehe sie bereit war, eine vernünftige, verständliche Antwort zu geben. Und dann musste man ihr, in aller Regel, jedes weitere, erklärende, zwingend notwendige Wort regelrecht aus der Flechtennase ziehen.

Dennoch war der Anblick der Geschöpfe immer wieder beeindruckend. Gewaltige, grüne Giganten voller Äste, Rinde, Blätter, die sich bewegen als wären sie… nun, sie waren lebendig, keine Frage. Sie hatte sie noch nie kämpfen sehen. Aber der Gedanke eines wild um sich schlagenden Baumes war gleichwohl beeindruckend wie irritierend.

Wenn man von Teufeln spricht, kommen sie angekrochen, merkte ein Stimmchen in Isharas Hinterkopf an, als sie eine erstaunliche grüne Gestalt sah, die sich dem Hauptgebäude näherte. Sie verfolgte ohne sonderliche Vorfreude, wie dutzende Ranken hervorschnellten, sich zu einer Art überdimensioniertem Pflanzententakel verflochten und, zusammen mit einer zweiten, gleichartigen Gliedmaße, die Figur der Hüterin vom Boden hoben. Zunächst kletterte sie auf diese recht unkonventionelle Weise lediglich auf das Dach der Wache, dann auf das Dach des Hauptgebäudes und begann schließlich, sich den Turm an der Außenmauer heraufzuarbeiten.

Im Stillen fragte sich Lileth, wie sie das wohl anstellte. Vielleicht funktionierten die Ranken wie Saugknöpfe eines Tintenfisches? Medea hatte mit ihren Ranken zumindest noch nie die Mauern beschädigt. Der Gedanke, nachzufragen, lag ihr jedoch fern. Entsprechend suchte sie noch einen Moment weiter nach der Gestalt Thorins dort unten im geschäftigen Treiben, ehe Medea ihre Aufmerksamkeit forderte, indem sie schlicht… still und schweigsam neben ihr stand, sie anstarrte und wartete.

Ishara seufzte leise. Gar nicht gruselig. Medea blinzelte ja nicht einmal. Sie verstand das Konzept von Höflichkeit nicht, räusperte sich nicht, sprach nicht. Sie stand einfach da, starrte und wartete. „Was willst du?“ erkundigte sich die Burgherrin. Die Dryade sah das als Zeichen ihrer Aufmerksamkeit und hob in einer Stimme an, die Lileth noch immer an das Rascheln von Blättern im Herbstwind erinnerte. „Der Zwerg hat gedroht, unsere Gefährten zu verbrennen.“ Ihre Schultern sackten herab. Das schon wieder. Sie hatte mit Garwinn, Luzula, Caedhal und Daeri keine Probleme. Also… nicht grundsätzlich. Es war nur leider so, das, egal wie oft sie den Betreibern der Schmiede und der Werkstatt die gleiche Predigt hielt oder halten ließ, diese es einfach nicht zu begreifen schienen. Entweder das, oder sie wollten ihr Medea regelrecht auf den Hals hetzen. Sie konnte sich nicht einmal entscheiden, welche Variante ihr weniger lieb war.

„Humor. Das nennt sich Humor. Sie haben einen Witz gemacht“, erklärte sie und wagte tatsächlich für die Dauer einer Sekunde zu hoffen – ehe sie hinter sich blickte und sah, wie die Hüterin den Kopf schief legte. Soviel dazu. „Ich versichere dir, sie werden deine Gefährten nicht anrühren. Ich… ich rede mit ihnen.“ Schon wieder. Immerhin, die Ankündigung schien Medea zufrieden zu stellen. Sie wollte sich gerade auf dem gleichen Weg, den sie gekommen war, wieder zu ihren Freunden zurück begeben, als Ishara eine Idee hatte. „Hey, warte mal! Kannst du mir sagen, wo Thorin ist?“ Die Dryade hielt inne, schloss ihre grünen Lider. Eine Minute lang wirkte es, als wäre sie eingeschlafen, von zwei gewaltigen Rankenbündeln mitten in der Luft an der Seite der Turmspitze festgehalten – dann verzog sie das Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. „Er ist an der Grube. Seine Arbeiten haben eine Wurzel des Alten Triebes verletzt.“

Ohne eine weitere Erklärung verschwand die Hüterin abwärts. Das war auch etwas, worüber sie sie im Grunde gerne gefragt hätte. Dieser ‚Alte Trieb‘. Medea erwähnte ihn häufiger. Es schien sich um irgendeine Art von Pflanze zu handeln, die im Untergrund der Kreuzwegfeste existierte und offenbar ihre Wurzeln schon seit einigen hundert Jahren durch massiven Fels trieb. Ishara konnte seine Präsenz spüren, aber sie konnte nicht ermitteln, was es war – oder auch nur, wo es genau war.

Ein weiteres Rätsel, das vorläufig ungelöst bleiben würde, so schien es.

Zumindest wusste sie nun, wo sich Thorin herumtrieb. Und mit dem hatte sie ein Hühnchen zu rupfen, wie man so schön sagte. Sie stieß sich von den Zinnen fort, genoss noch einen Moment mit geschlossenen Augen den Wind auf ihrem Gesicht, ehe sie den Ausgang suchte. Treppen, Treppen, Treppen, lange Korridore, große Hallen, kleine Wachstuben und, wer hätte es gedacht, noch mehr Treppen. Das Haupthaus war im Grunde ideal errichtet worden – das hieß nur leider nicht, dass es dadurch nicht dennoch zu einem Irrgarten geworden war.

Selbst vier Jahre nach ihrem Einzug musste sie immer noch dann und wann eine Wache fragen, wo sie war und wo es weiter ging. Heute hingegen hatte sie Glück und fand ihren Weg auch ohne Schilder. Schilder! Gute Idee!

Sie vermerkte den Gedanken für später, ehe sie hinaus ins Freie trat. Ein flach abfallender Weg schlängelte sich vom Eingang der Anlage hinab in die Miniaturstadt, die innerhalb der Wälle der Kreuzwegfeste lag. Die Straße war vor zwei Jahren frisch gepflastert worden, sehr zu Medeas Verdruss, die ausgetrocknete Erde, Staubschichten und eventuell ein paar dörre Grasbüschel bevorzugt hätte. Ihr klar zu machen, das bei Regen sonst kein einziger Karren mehr vorankäme, hatte sich als Aufgabe für mehrere Stunden erwiesen.

Thorin zu finden erwies sich als nicht sonderlich schwer. Im Moment gab es innerhalb der Festung nur eine Baustelle und dort wurde erst das Fundament ausgehoben. Schon von weitem konnte sie die abgesperrte Stelle sehen – ebenso wie die Spitzhacke, die mit ungebrochenem Eifer zweifellos schon seit Stunden geschwungen wurde. „Du warst heute früh nicht bei deinem Treffen“, erklärte sie mit heiterer Stimme und setzte sich an den Grubenrand, die Beine in die Tiefe baumeln lassend. Der Hüne blickte nur kurz von seiner Arbeit auf. Sein Oberkörper glänzte von den Anstrengungen, Muskeln spannten sich wie kleine Pakete unter der Haut, als ein weiterer, kraftvoller Schwung das Werkzeug niedertrieb und ein Stück Stein schlicht spaltete.

„Tut mir leid“, schob er schwer atmend zwischen die Schläge, „Ich dachte mir, du wirst damit fertig“, erklärte er sein wundersames Verschwinden aus den Räumlichkeiten, die für ihn vorbereitet worden waren, „Hätte ich heute auch nur einen Diplomaten sehen müssen, ich hätte das ganze Pack erschlagen!“ Isharas Lächeln wuchs zu einem Grinsen aus. Ja, das konnte sie sich tatsächlich gut vorstellen. Obendrein erinnerte es sie an ihre eigenen Fantasien. Als Thorin entsprechend etwas skeptisch danach fragte, ob das Treffen denn schon vorbei sei, konnte sie nicht anders. Kurz auflachend drängte sie die Bilder zurück. Mortimer und Ninafer, die gefährlichsten Wölfe auf Lumiéls sozialem Parkett – und sie hatte die paar Holzköpfe, die sich selbst für Wölfe gehalten hatten, wie Schafe zur Schlachtbank geführt. „Ich hab sie Mortimer überlassen“, setzte sie an. Sie beobachtete die Reaktion des Hünen genau. Wie er kurz das Gesicht verzog, als hätte ihn ein plötzlicher schmerz überkommen. „… und deiner Liebsten“, schob sie nach. Als er hörbar Luft zwischen den Zähnen hindurchsog, hallte abermals ihr Lachen durch die Grube. Ja, in der Haut dieser Gesandten wollte sie im Moment nicht stecken. Sie bekamen zweifellos die Lektion ihres Lebens.

Eine Weile begnügte sie sich damit, dem Krieger bei der Arbeit zuzusehen. Die Grube hatte ein erstaunliches Format erreicht, Erdhaufen schichteten sich hier und dort auf, Karren und Eimer standen ungenutzt herum, ein paar weitere Grabgeräte warteten, verwaist, an eine Mauer gelehnt. Die etwas knorrig wirkende Leiter war Thorins einziger Weg, aus der Grube zu kommen. Wie tief war das wohl? Drei Meter? Dreieinhalb? „Du weißt, dass für diese Aufgabe fünf Leute eingeteilt waren?“ hakte sie nach einer kleinen Ewigkeit nach, als der Krieger gerade vier weitere Eimer mit Erde aus den Tiefen über die Leiter nach oben schleppte und auf den Schuttberg entleerte, ehe er wieder hinab kletterte.

„Bin fast fertig“, warf er ihr lediglich zur Antwort zurück. Ishara schüttelte lächelnd den Kopf.

„Du weißt, dass diese fünf Arbeiter in drei Tagen erst hätten fertig sein sollen…?“ Es war für den früheren Söldner nichts Neues, sich schwere, körperliche Arbeit zu suchen, wann immer er glaubte, ihm würde die Decke auf den Kopf fallen. Oder er müsse irgendwem etwas beweisen. Oder er müsse sich selbst etwas beweisen. Oder etwas ginge nicht schnell genug voran. Oder er hatte einfach Langeweile. Im Grunde war Arbeit immer sein Mittel erster Wahl. Und wie immer leistete er mehr als man von einem durchschnittlichen Mann erwarten konnte – und mehr, als gut war. Er brachte schon wieder sämtliche Pläne für dieses Bauprojekt durcheinander. Schon wieder.

„Sag mal, hast du hier irgendwo eine Wurzel zerhackt? Medea hat sich schon wieder beschwert.“ Ohne groß Worte zu verschwenden, deutete Thorin lediglich mit der Spitzhacke auf die Wand, über der sie saß. Sie zog die Beine aus der Grube, ging auf alle Vier und beugte sich, die Hände vorsichtig am Rand positioniert, nach vorne. Ihr Blick suchte den braunen Untergrund ab, bis sie es fand. Ein Weißes etwas, von dichter Rinde umgeben, wie es schien, das nun Pflanzensäfte in die Grube zu bluten schien. Sauber abgehackt. Sie hätte den Kahlkopf dafür rügen wollen, doch in jenem Moment ertönte ein recht eindeutiger Pfiff, begleitet von einem „Hübscher Hintern!“

Ishara lief einen Moment rot an, ehe sie sich… anderer Umstände bewusst wurde. Rasch setzte sie sich wieder auf, bemerkte nur am Rande, wie Thorins Blick sich schlagartig verfinsterte, wie sein Haupt herumgeschnappt war und fixierte, was er noch nicht sehen konnte. Lileth selbst dagegen suchte die Quelle des Ausrufes und… fand sie auch. „Danke“, erwiderte sie grinsend, ehe sie ein Stück Mut zusammenkratzen konnte, „Ebenso.“ Die Röte in ihren Wangen wurde noch ein Stück intensiver, ehe sie in das Loch vor sich zurück blickte.

Oh je. Thorin schien regelrecht zu kochen. „Flirtest du?“ hakte er nach, zunächst ungläubig.

„N-Nein. Natürlich nicht“, erwiderte sie. Doch sie hatte es versaut. Das war ihr in dem Moment klar geworden, als sie das erste Wort nicht sauber hatte herausbringen können. Als sie es nicht mit genug Überzeugung hatte aussprechen können. Oh je.

„Du flirtest“, nannte er diesmal lediglich das Offensichtliche, ehe er sich in Bewegung setzte. „Thorin, nein! Nein!Böser Thorin, aus! Sie stieß kurzentschlossen die Leiter um, doch der Hüne hatte ihren Zug kommen sehen, fing das im Kippen befindliche Instrument ab und lehnte sie an eine andere Seite der Grube. Ishara… verfiel in Hektik. Er durfte auf keinen Fall den Kopf über den Rand bekommen. Wenn er sah, wer ihr das Kompliment gemacht hatte… nun, dem letzten hatte er die Nase gebrochen. Zumindest, bis der sich einen flapsigen Kommentar erlaubt hatte. Danach hatten noch ein paar Rippen, ein Brustbein sowie Elle und Speiche des linken Armes daran glauben müssen.

Hastig sprang sie von ihrer Position auf, eilte mit wenigen Schritten um die Grube und bekam die Leiter zu fassen. Sie zog mit einem Ruck, mit all ihrer Kraft, als Thorin gerade den Fuß auf die erste Sprosse setzte. Er rutschte ab, diesen Zug eben nicht erwartend. Ishara aber zögerte keine Sekunde. Sie kannte ihn zu gut, kannte seinen Zorn und die Entschlossenheit, die in aller Regel daraus resultierte. Immer höher zog sie die Leiter, verausgabte sich in Sekunden, als sie das verdammte Ding so schnell wie möglich komplett aus dem Loch zog und mit einem erschöpften Schnaufen neben sich fallen ließ.

Sie beging den nächsten Fehler, als sie kurz über die Schulter zu schauen wagte. Irrationalerweise hatte sie sich nur versichern wollen, dass er noch gesund und munter war. Noch in einem Stück war. Vielleicht hatte das bereits genügt. Falls nicht: Das Lächeln, welches sich auf ihre Lippen schlich, genügte allemal. Als sie in die Grube zurück blickte, sah sie die Weißglut in Thorins Augen brennen. „Thorin… nein. Nein!

Wann hatte dieser sture Holzkopf je auf sie gehört?!

Was er diesmal tat, war jedoch sogar für seine Verhältnisse… sensationell dumm. Er hätte die Spitzhacke in die Wand schlagen und mit etwas Anlauf als Sprosse nutzen können. Er hätte es mit einem gut gezielten Sprung versuchen können. Er hätte… wussten die Götter was tun können. Etwas anderes als das. Seine bloßen Hände gruben sich in den Boden, gruben sich in das harte, ausgetrocknete Erdreich der Wand. Ein, zwei wuchtige Tritte und er hatte mit dem Fuß genug Halt, um sich ein Stück empor zu schieben – ehe er den Prozess wiederholte. Als der Hüne oben angelangte, war, sehr zu Isharas Erleichterung, weit und breit niemand mehr zu sehen.

Thorin ragte wie ein Gebirge über ihr auf. Alt, gewaltig und ehrfurchteinflößend für all jene, die um seine Tücken wussten. Lileth hätte sich vor ein paar Jahren noch bei jenen einsortiert, die sich davon einschüchtern ließen. Dieser Tage hingegen sah das Ganze etwas anders aus. Sie liebte diesen Dummkopf als den Vater, den sie nie hatte. Leider schien das zu bedeuten, dass er auch die Fehler beging, die für Väter üblich waren. „Wer war es?“ verlangte er zu wissen, während Blut von seinen Fingerspitzen tropfte. Dem schroffen Erdreich hatten selbst seine gewaltigen, arbeitsgewohnten Pranken mit all ihrer Hornhaut nichts entgegensetzen können. Feine Steine und Splitter hatten sich in die Wunden eingegraben.

„Komm her und setz dich da hin, du Idiot!“ zeterte sie wütend. Es war nicht lange her, da hatte sie in diesem Zustand niemand ernst genommen. Niemand hatte sie ernst nehmen wollen und vermutlich war es auch ganz grundsätzlich schwer gewesen, das zu tun. Nur, weil man einen Bogen trug und damit umzugehen wusste, wurde man nicht respektabel. Doch diese letzten Jahre hatten für sie mehr getan als nur, ihre Perspektive zu verschieben. Sie war inzwischen fähig, eine gewisse Autorität auszustrahlen und selbige auch in eine erstaunlich kommandierende Stimme zu fokussieren.

Aus welchen Gründen auch immer, aber auf Thorin schien dieser Effekt stets etwas stärker zu wirken als auf andere. Sie hatte sich mehrfach mit Ninafer darüber unterhalten. Die Giftmischerin hatte eingestehen müssen, dass es auf den ersten, zweiten und sogar dritten Blick leicht zu sein schien, Thorin zu durchschauen und herauszufinden, welche Knöpfe man für welche Ergebnisse drücken musste. Auch, wenn man auf jeden weiteren Blick stets eine neue, andersartige Facette des Kraftprotzes kennenlernte. Doch das war eben nur der Anschein. Selbst Ninafer wusste bis zum heutigen Tag nicht alles. Selbst sie, der sein Herz gehörte, konnte ihn noch immer nicht durchschauen, seine Launen nicht absehen. Es schien in seinem Leben nur eine Konstante zu geben, die nie schwankte, nie relativiert wurde: Er tat alles, was in seiner Macht stand, zum Schutze derer, die ihm wichtig waren.

Natürlich war vieles davon eine reine Definitionsfrage. Mitunter war es wirklich merkwürdig, was Thorin so alles als ‚Schutz‘ auslegte. Beispielsweise hielt er bis heute krampfhaft jeden von ihr fern, der ihr auch nur ein Lächeln zuwarf. Zweifellos steckte dahinter irgendeine verdrehte Logik, das Liebe stets mit Schmerz und Enttäuschung einherging – oder irgendetwas ähnlich romantisch-Poetisches, von dem er nie eingestehen würde, es zu denken. Dann wiederum hatte er jeden um sich herum immer wieder aufs Neue damit überrascht, was alles in seiner Macht stand…

Seufzend kniete sie sich vor den nun endlich sitzenden Hünen und besah sich seine Hände. „Idiot“, nuschelte sie zum gefühlt hundertsten Male, ehe sie sich konzentrierte und ihre Magie wirkte, um die Schäden zu heilen. „Weißt du, ich bin kein kleines Mädchen mehr“, rügte sie ihn missmutig, während der Zauber seine Arbeit tat, „Ich kann auf mich selbst aufpassen und muss früher oder später sowieso meine eigenen Erfahrungen sammeln.“ Sie schüttelte sachte den Kopf. Wieso musste er nur ständig so stur sein?!

„Du wirst immer mein kleines Mädchen sein.“

Der Zauber brach. Mitten im Heilungsprozess versiegte die Magie, als ihre Konzentration gebrochen wurde. Überrascht sah sie auf und begegnete einem nicht weniger überraschten Blick Thorins. Etwas wie… nun, das, zu sagen, laut auszusprechen, das war nicht seine Art. Er bevorzugte es, seine Zuneigung und Entschlossenheit zu zeigen. Nach und nach erholten sie sich beide von ihrem Schrecken. Ishara löste sich zuerst aus ihrer Starre und, wortlos wie sie beide es gewohnt waren, hob sich ein Stück empor, um die Arme um seinen Nacken schlingen zu können. „Du großer, dummer Holzkopf…!“ rügte sie ihn, ihm leise ins Ohr flüsternd, ehe sie das Gesicht an seinem Hals vergrub. Der Krieger schloss seinerseits die Arme um sie und einen Moment harrten sie schlicht aus, ehe sich ihre Nähe einvernehmlich und ohne jede Absprache wieder löste.

„Außerdem“, begann der Kahlkopf zögerlich, ehe er sich wieder gefestigt hatte, „Klang das viel zu sehr nach jemand anderem, den ich kenne. Du hattest nicht zufällig in letzter Zeit mal wieder Tee und Gebäck mit Ninafer, hm?“

Ishara fühlte sich ein klein wenig… ertappt. Sie spürte Wärme in ihr Gesicht und ihre Ohren steigen. „Mortimer“, gab sie kleinlaut zurück.

„Knapp daneben“, erwiderte Thorin lediglich mit den Schultern zuckend. Das war, einmal mehr, eine Diskussion, die sie nicht beenden würden. Vermutlich würden sie sie nie beenden. Es war schon eine ganze Weile her, das Lileth die Vermutung aufgestellt hatte, das Thorin, entgegen allem, was er behauptete, schlicht Angst hatte, dieses Gespräch zu beenden. Jemals. Denn es hieße, er würde eine Entscheidung treffen müssen. Die, sie entweder ihrer Entscheidungsfreiheit zu berauben, zumindest ein Stück weit. Etwas, das er offenkundig nicht mit sich vereinbaren konnte. Oder jene, sie ihrem eigenen Urteil zu überlassen und damit auch ihren eigenen Fehlern, die ihr unweigerlich über kurz oder lang Schmerz bereiten würden. Etwas, das er ebenfalls nicht recht zuzulassen gewillt war. Vermutlich würde er das Ende dieser Debatte so lange wie nur irgend möglich hinauszögern – und der aktuelle Moment war nur ein weiterer Mauerstein, der ihre Theorie bekräftigte.

„Wär’s in Ordnung, wenn ich mit Ninafer zum Tanz gehe?“ stichelte Lileth nach einem Moment, als sie begann, ihren Heilzauber wieder aufzunehmen.

„Meins“, erwiderte der Krieger lediglich, eine Braue hebend.

„Mortimer?“

„Hey, keine Irren. Wieso kommst du mit den ganzen Durchgeknallten an?“ echauffierte er sich regelrecht, das Gesicht verziehend. Sie aber grinste ihm lediglich zu. Diese Grube hatte er sich selbst gegraben.

„Schlechtes Vorbild, schätze ich.“ Und zack, die Falle schnappt zu. Abermals verzog der Hüne das Gesicht, wagte jedoch zunächst keine Widerworte. Sie hätte alles und jeden aufzählen können. Fakt war, in seinen Augen wäre niemals irgendjemand gut genug für sie. Es würde ein gehöriges Maß an Arbeit und Geduld erfordern, um ihm irgendwann, eines Tages, klar zu machen, dass das nicht in seiner Entscheidung lag. Ihn dazu zu bringen, das zu akzeptieren, ihren Liebhaber oder… möglicherweise auch ihre Partnerin zu akzeptieren, das wäre eine Aufgabe für sich. Das wird ein interessanter Tag werden.

„Lady Acedia! Herr Eichenschild!“

Beide Angesprochenen verzogen angesäuert das Gesicht. Sie beide konnten es nicht ausstehen, so betitelt zu werden, aber angesichts der Größe ihrer Rebellion war dergleichen wohl inzwischen unumgänglich geworden. Nachdem sie sich gefangen und etwas Neutralität in ihre Mienen gezwungen hatten, sahen beide zu dem Burschen auf. Er schwitzte aus allen Poren, stemmte sich vorgebeugt auf die Oberschenkel, keuchte schwer, rang nach Luft. Er war offensichtlich ein gehöriges Stück Weg gerannt. Sie erkannten ihn nach ein paar Momenten als einen der Späher, die regelmäßig auf Patrouille geschickt wurden. Die Späher arbeiteten in Schichten entlang der Grenze des Landes, das Ishara gehörte. Schichtwechsel war am Morgen und am Abend. Es war Nachmittag. Das dieser Späher in diesem Zustand hier war, verhieß nichts Gutes. Lileth sah kurz zu Thorin, ihre Blicke trafen sich, tauschten sich aus – sie waren beide zu der gleichen Schlussfolgerung gekommen.

Als wäre es noch nötig gewesen, es auszusprechen, erklang die Stimme des Boten abermals.

„Sie kommen.“

Was folgte, verschwamm in Isharas Gedächtnis zu einer einheitlichen, grauen Masse. Thorin erhob sich. Die Heilung war noch nicht ganz abgeschlossen, aber nun gab es dringlichere Anliegen. Alle Boten und Späher, alle Reiter, deren Tiere schnell genug waren, wurden in alle Himmelsrichtungen ausgesendet. Alle Bewohner der Nordhälfte des Dorfes wurden bereits vorsorglich im Südteil einquartiert. Vorräte wurden gehortet und in sichere Höhlen und Keller verschafft. Das Training der Truppen wurde intensiviert und mit jedem Tag kam neue Verstärkung hinzu. Eine Woche lang musste man immer mehr Platz in den Schlafsälen finden, um diese Kameraden und Verbündeten irgendwie noch hineinstopfen zu können.

Die Schmiede lief rund um die Uhr. Der Lederer hatte schwer zu schuften. Die Werkstatt surrte, qualmte und klickte tagein, tagaus. Medeas Sprösslinge schossen in Windeseile empor, verstärkten auf der Rückseite die gewaltigen Mauerwerke mit Flechten und einem Netz aus Ranken, während sie an der Vorderseite die garstigsten Dornengewächse hervorbrachten, die Ishara je gesehen hatte. Ninafer überarbeitete sich in ihrem Labor, tränkte tausende Pfeile der Schützen, Klingen der Streiter, Dolche, Äxte, Hämmer. Lileth ging ihr dabei zur Hand, so gut sie konnte. Sie durften sich mit diesen Gemischen keine Fehler erlauben.

Drei Kompanien der Zwerge aus Nothrend würden erst nach den Kämpfen eintreffen und konnten bestenfalls als Verstärkung der Linien dienen, sobald sie gewonnen hatten. Vier kleinere Heere der Elben würden es ebenfalls nicht rechtzeitig schaffen, ganz zu schweigen von den Goblins und Gnomen aus Jiggary. Aber das Drachenweibchen vom Höllenschlund hatte es rechtzeitig geschafft, ihre Verbündeten aus dem Süden, Osten und Westen waren eingetroffen. Sie arbeiteten nicht mit voller Schlagkraft… aber waren nah dran. Es würde reichen. Würde es doch, nicht wahr? Es wird reichen müssen.

Sie hätte es ungern zugegeben, doch sie war nervös. Unruhig. Die Schlacht, auf die sie alle zusteuerten, war von gewaltigen Dimensionen. Sie hatte noch nie an Kämpfen in dieser Größenordnung teilgenommen. Thorin blieb ruhig, natürlich blieb er ruhig. Wussten die Götter, wie viele Schlachtfelder er schon gesehen hatte. Zu viele.

„Komm her, lass mich helfen.“ Die Stimme des Kahlkopfes klang rau. Angespannt. Wie gebeten, trat sie vor ihn, die Arme in die Horizontale gehoben. Er zog die Gurte ihrer Rüstung fest, prüfte den Halt des Köchers. Als alles an Ort und Stelle war, legte er seine Hände auf ihre Schultern. Sie ließ die Arme sinken, blickte zu ihm auf. Zweifelnd. Unruhig. Er schien, wie so oft, der Fels in der Brandung zu sein. Tausende würden heute sterben können. Sie eingeschlossen. Vielleicht sogar er – immerhin war auch seine Zeit begrenzt. Wie um alles in der Welt konnte er so ruhig bleiben?!

„W-Wo-“ hob sie an und brach sofort ab. Ihre Stimme zitterte. Sie würgte einen imaginären Klumpen in ihrer Kehle herab. Seine Hand verschob ihre Position, legte sich zwischen ihre Brüste. „Ein“, wies er an. Ihr Brustkorb hob sich. Wartend. „Und aus.“ Sie ließ die Luft aus ihren Lungen fahren, die bereits vor Anspannung zu brennen begonnen hatten. Einen Moment schloss sie die Augen, versuchte sich zu sortieren, ihre Gedanken aufzuklaren. Der Erfolg war… mäßig.

„Wo wirst du sein?“ konnte sie endlich aussprechen. Er lächelte ihr zu. Wann immer sie in einen Kampf gingen, der absehbar war. Wann immer sie die Chance hatten, sich auf das Gefecht vorzubereiten. Dies war seit über drei Jahren ihr Ritual. Sie hatte ihn sterben sehen, mehr als einmal – und nachdem sie um seine Natur wusste, hatte sie bei jedem Mal panische Angst, dass seine Zeit um sein könnte, das die letzten Körner in seiner Uhr nicht mehr ausreichen würden, um ihn auch dieses Mal zurück zu bringen.

„Mit meinem Rücken an deinem“, gab er zurück, wie es seine Aufgabe war. Es stimmte: Erschreckend oft hatten sie nicht etwa Seite an Seite gekämpft, das gleiche Unheil vor sich. Nein, viel häufiger kämpften sie Rücken an Rücken, jeder auf seine Seite des Desasters konzentriert, mit blindem Vertrauen in den Anderen, das er einem den Rücken freihalten würde. Seine Worte gaben ihr Kraft. Trost. Er würde da sein. Immer in Sichtweite. So gut wie nie mehr als eine Armeslänge entfernt. Er wird da sein. Immer.

Sie spürte ihren Atem zittern, als sie ihre Augen schloss und die Stirn gegen die lederne Brustplatte Thorins lehnte. Die Kühle schien in ihren Verstand einzuziehen. Würde sie auch so ruhig sein, wenn sie nur oft genug in Kämpfe zog? Könnte sie Thorins Gelassenheit erlernen, in zehn Jahren? Hundert Jahren?

„Wo wirst du sein?“ brach plötzlich die Stimme des Kahlkopfes die Stille. Ihre Mundwinkel hoben sich in einem Lächeln. Sie öffnete die Augen nicht, blickte nicht auf. So oft hatte sie diese Frage gestellt. Es war ihr Weg gewesen, ihm zu sagen, dass sie um ihn besorgt war. Dass sie ihn brauchte. Dass er nahe sein musste, damit sie stark und standhaft blieb, diesen ganzen Kriegswahnsinn überstand. Es war ihre Art, auszudrücken, dass sie Angst vor dem Kommenden hatte, ohne wirklich irgendwelche Ängste eingestehen und beim Namen nennen zu müssen. Das er jene Worte verwendete, war neu.

Hatte er auch Angst?

War er am Ende doch nervös? Ebenso unsicher wie sie?

Vorsichtig trat sie einen halben Schritt zurück, lockerte seine Umarmung und sah schließlich doch noch zu ihm auf. Seine Miene war steinern, ausdruckslos. Wie immer. Doch sie kannte ihn inzwischen gut genug, etwas in seinen Augen lesen zu können, ein Hauch von all dem, was in seinem Schädel vor sich ging. Wo werde ich sein? Sie kannte Thorin. Sie wusste, was ihn motivieren würde, sein Bestes zu leisten – und mehr. Was ihn motivieren würde, alles zu geben und alles zu wagen und dennoch am Leben zu bleiben. Wo werde ich sein?

„Da, wo du mich am wenigsten haben willst“, erklärte sie kurz auflachend. Ein helles, warmes Geräusch, das rasch verklang und von einem Lächeln ersetzt wurde. Sie würde an der Front sein. Mitten im Kampf. Direkt im Chaos von Blutvergießen, Geschrei, Schlagen und Stechen und Dreschen.

Einen Moment verloren sie sich in den Augen des anderen. Thorins Pranken umschlossen schließlich ihr Gesicht, neigten es ein Stück herab. Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Lass uns Geschichte schreiben“, flüsterte er leise und trat mit ihr zusammen ab. Sie verließen die Waffenkammer, ihr Weg führte sie aus der Feste hinaus. Sie waren keine Feiglinge. Strategisch wäre es vielleicht klüger gewesen, in der Burg zu bleiben und abzuwarten, bis die königlichen Truppen zumindest einen Teil ihrer Kräfte an den Wällen aufgerieben hatten. Aber dem Feind trotz der Sicherheit der eigenen Burganlage direkt im Rücken auf offenem Feld zu begegnen… das war ein Symbol. Für den Widerstand, für die Truppen, für das Volk. Für ganz Lumiél. Es sandte eine klare Botschaft aus: Wir haben es nicht nötig, uns zu verstecken! Wir siegen so oder so!

Nicht lange war es her, da hätte sie sich eingeengt gefühlt von all den Blicken. Das stehende Heer formte eine Gasse für die beiden, die in der ersten Reihe stehen und kämpfen würden. Zwei Symbole der Rebellion, mit Namen und Gesichtern, die hier so gut wie jeder kannte. Und so mancher verehrte.

Irgendwo hinter ihnen ratterte es gewaltig in einem der Burgtürme, als Caedhals gewaltiges Katapult empor fuhr und die Turmspitze einnahm. Eine ganze Reihe an Gnomen begann, das Geschütz mit allerhand chemischer Geschosse zu beladen. Luzula gab ihnen präzise Anweisungen zur Ausrichtung des Geschützes. Medeas Baumgeister hatten seit Wochen seltsame Früchte getragen, die sie nun von den eigenen Ästen pflückten. Vermutlich wussten nur die Hüterin selbst und ihre göttliche Herrin, was diese Dinger anrichten würden. Und auf dem höchsten Turm der Burg röhrte tief und kehlig die Mahnung, fern zu bleiben, aus dem Rachen des Drachenweibchens, die den Turm mit ihrem Leib und Schwanz umschlungen hielt, als wäre sie den Zeichnungen zahlloser Märchenbücher entsprungen.

Silberne Elbenrüstungen, Mithril-Zwergenhämmer, Feinste Bögen, zahllose Piken. Ishara wusste, was sie hinter sich stehen hatte.

„Weißt du“, brach plötzlich Thorins Stimme in schier unbegreiflicher Beiläufigkeit die angespannte Stimmung des erwachsenden Schlachtfeldes, „vielleicht wäre es gar nicht so dumm, heute zu sterben. Ich hab‘ gehört, jemand hat Garwinn für morgen zum Küchendienst eingeteilt. Offenbar hat er schon wieder versucht, Medeas Bäume in Brand zu stecken.“

Sie konnte einfach nicht anders. Es war… es war schier unmöglich, sich dagegen zu wehren. Die einzelnen Schritte des Lächelns und Grinsens prompt übersprungen, begann Lileth zu kichern. Garwinn, der den Kochlöffel schwang? Die gesamte Anspannung, die zum Bersten geladenen Nerven, ihre Unsicherheit im Angesicht der sich mit Feinden füllenden Ebene… alles begann sich plötzlich in einem Kichern zu entladen. Das rasch und kräftig zu einem Lachen auswuchs. Wie sie schon bald darauf hörte, war sie nicht die Einzige. Andere hatten Thorins Scherz vernommen. Und konnten sich, ganz offensichtlich, ebenso wenig beherrschen.

Das Lachen brach für viele die angespannte Stimmung und gab ihnen einen Moment der Ruhe. Einen Weg, die nervöse Energie durch ein unerwartetes Ventil abzulassen. Sich wieder zu konzentrieren. Als Lileths Gelächter verebbte, musste sie sich tatsächlich ein paar Tränen aus den Augen wischen.

So breit grinsend, das ihre Wangen schmerzten, nuschelte sie nur ein einziges Wort zurück.

„Idiot.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2015-05-24T15:02:08+00:00 24.05.2015 17:02
Ich habe zwar nicht ganz mitbekommen, warum manchmal zwischen Ishara und Lileth gewechselt wird (es gibt leider keinen angelegten Charakter für sie), doch der altertümliche, typische Lumielstil ist unverkennbar. :-) Ich finde es belustigend, dass sie sich nicht auf die Versammlung konzentrieren kann, ja, sogar darüber ärgert und man in den Rückblicken immer wieder neue Schnipsel zu ihrer Einstellung präsentiert bekommt. Medea ist nach wie vor die Hüterin, wie sie im Buche steht: Ein wenig feindselig, immer der Natur zugewandt und mit vielen Gebräuchen noch immer nicht vertraut. Was auch immer der "alte Trieb" sein wird, Garwinn sollte besser die Finger von ihm lassen - am Ende findet Thorkn keine Gelegenheit mehr, solche Scherze zu machen. Kichern musste ich allerdings auch.

Es ist verteufelt lang, aber jede einzelne Zeile wert. Vielleicht wäre bei der Leiterszene noch ein Zeilenumbruch gut, weil die Charaktere noch besser zu trennen wären.

Viele Grüße,
Morgi
KomMission-Unterstützerin, für mehr Feedback auf Animexx!


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