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Lumiél

Königreich der Monde
von

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Die Ruhe vor dem Sturm

Ein leises Rascheln. Ein zartes Klimpern. Mehr war nicht nötig, um sie aus ihrem Dämmerzustand zu reißen. Für einen kurzen Moment schreckte sie regelrecht empor. War sie wirklich eingeschlafen? Nein. Gedöst hatte sie, aber… sie hatte es nicht verpasst, oder? Hastig blickte sie zu jenem Bett, an dessen Seite sie saß. Der Stuhl unter ihr knarzte leicht, erregte die Aufmerksamkeit des Mannes, der in jenem Bett lag. Er konnte sich kaum bewegen. Sein Bart war es gewesen, der geraschelt hatte. Die kunstvoll geschmiedeten Zierringe darin, die aneinanderstoßend das Klimpern verursacht hatten, als er den Kopf zu neigen versucht hatte.

„Schhh, ruhig“, flüsterte sie ihm zu und versuchte wider physikalischer Gesetze noch ein Stückchen näher an das Bett und ihn heranzurücken. Ihre Blicke trafen sich. Mehrere Atemzüge verstrichen, in denen sie ins Chaos stürzte, spiegelnd für eben jenes Chaos in seinen Augen. Sie sah die Liebe darin, jene tiefe Verbundenheit, die sie so lange geteilt hatten. Aber sie sah auch die Angst. Die Bestürzung. Die Verwirrung. Er öffnete die Lippen, formte Worte, die nicht hörbar wurden. Aber sie verstand. Sie konnte jedes Wort verstehen… auch ohne Ton. „Ruhig“, bekräftigte sie nochmals, „Du bist zuhause.“ Er erkannte die Decke nicht. Das Zimmer. Die Vase auf seinem Nachttisch. Für die Dauer eines Herzschlages hatte sie befürchtet, er hätte sie nicht mehr erkannt. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass dies geschah. Aber der Medicus hatte ihr erklärt, dass es nur noch eine Frage von Stunden wäre – und sie wusste nicht, wie lange sie dort gesessen und gedöst hatte.

Die Ahnen allein mochten wissen, wie viel Mühe es ihn kostete, die Finger zu krümmen, die Hand zu bewegen. Er versuchte den Arm zu heben – erfolglos, bis sie es für ihn tat, seine prankenhafte, raue Hand in die Ihren nahm und einen zarten Kuss auf deren Rücken hauchte. Ein Kloß in ihrer Kehle ließ sie schwer schlucken, vergeblich. Tränen begannen, noch zurückgehalten hinter Staudämmen aus Willen und Selbstbeherrschung, ihre Sicht zu verschleiern.

Ihr Schmerz wurde zu seinem Schmerz. Sein Blick wurde glasig, richtete sich erneut an die Decke. Er versuchte stark zu sein. Für sie. Für sie beide. Dieser sture Holzkopf hatte es immer versucht… und meist sogar Erfolg gehabt. Sie war sich nicht sicher, ob heute ein weiterer Tag dafür war. Ob heute wieder so ein Tag wäre, an dem er für sie beide stark sein musste. Oder nur für sie. Oder für sich selbst. Als er ihr das Haupt wieder zuwandte, brannte eine lange vergessen geglaubte Entschlossenheit in seinem Blick.

Da war noch eine Sache, die es zu tun galt. Sie konnte es ihm ansehen. Eine Sache, ehe er seinen Frieden finden konnte.

„Versprich es mir“, krächzte seine Stimme kaum hörbar und rau. Er hatte sie seit Tagen nicht genutzt. Heute… welcher… welcher Tag war heute überhaupt? Gute Güte. Vielleicht hatte er sie auch schon seit Wochen nicht genutzt.

Zaghaft schlich sich ein bittersüßes Lächeln auf ihre Lippen. Sie wollte sanft den Kopf schütteln, wagte ihm jedoch nicht auf so vielfältige Weise zu widersprechen. „Sie ist keine vierzig mehr…“ erwiderte sie. Mit einer Kraft, die sie ihm nicht mehr zugetraut hätte, versteiften sich seine Finger um die Ihren. Wortlos las sie von seinen Lippen den Wunsch ab. Abermals. Unter den ersten, die Dämme brechenden Tränen nickte sie zögerlich. Sie sah, wie sein Bart zuckte. Sah die Rüge in seinem Blick. Unter Tränen musste sie kurz auflachen.

Sie hatte ihm selten Dinge verheimlichen können.

„Fein“, setzte sie neu an. Sie beugte sich ein Stück vor, einen weiteren Kuss auf seinen Handrücken platzierend und seine Pranke vor ihr Gesicht haltend, als wolle sie sich dahinter verstecken. „Beim kleinsten Zahnrad des Weltenmechanismus‘ schwöre ich, das ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, sie zu behüten, eine jede Stunde eines jeden Tages, bis meine Pfade mich vor die Tore der Ahnen führen.“ Wie einen einstudierten Reim oder Psalm hatte sie ihren Schwur vorgetragen. Nur zu zwei anderen Gelegenheiten hatte sie ihn je genutzt. Bei ihrer Hochzeit, um ihm Treue und Beistand zu geloben, wie finster die Zeiten auch werden mochten… und nach einem Kampf, der sie blutüberströmt und dem Tode nahe zurückgelassen hatte, um ihrem Widersacher klar zu machen, das es keinen Ort auf dieser oder irgendeiner anderen Welt geben mochte, an dem er sich vor ihr würde verstecken können.

Er war mit ihrem Schwur zufrieden. Die Bewegung schien wie in Zeitlupe abzulaufen, kaum wahrnehmbar neigte er das Haupt und hob es wieder… nickte. Heiß spürte sie die Tränen über ihre Wangen rinnen. Sie wollte betteln. Flehen. Auf Knien wäre sie gekrochen, hätte zu den Ahnen gebetet, den Göttern, zu welchem Geist oder welcher Maschine auch immer sie musste. Doch kein einziges Wort verließ ihre Lippen und kein Gedanke zeigte Demut. Was sie wollte… stand nicht zur Debatte. Die Dinge hatten eine Ordnung. Und der Ablauf dieser Dinge war unausweichlich. Selbst hätte sie es gekonnt, egal wie groß die Versuchung auch gewesen wäre, sie hätte weder die Zeit anhalten, noch zurückdrehen wollen. Das hier… so schmerzhaft es auch war… hatte seine Richtigkeit.

Irgendwann, in ein paar Dekaden, würde sie das vielleicht anerkennen können, ohne dabei vor Kummer bittere Galle auf den Boden spucken zu wollen.

Vorsichtig erhob sie sich vom Stuhl. Sein Haupt neigte sich zurück, er starrte wieder an die Decke empor. Schwere, unregelmäßige Atemzüge hoben die über ihm liegende Decke. Langsam bettete sie seine Hand wieder neben seinem Leib, beugte sich über seine Gestalt. „Schlaf“, flüsterte sie ihm leise zu, „Du wirst deine Kräfte brauchen.“ Es war eine Lüge. Vielleicht die Größte, die sie je erzählt hatte. Und sie wusste es. Doch egal, wie sehr sie sich bemühte, sie konnte sich dessen nicht schämen. Nicht, wenn er die Kraft fand, ein so wissendes, besänftigendes Lächeln für sie zu mustern. Noch ein Stück tiefer beugte sie sich, drückte erst einen Kuss auf seine Stirn, dann einen weiteren auf seine Lippen. Als sie wieder auf ihrem Stuhl Platz nahm, hatte er die Augen geschlossen. Er war wieder eingeschlafen.

Und auch ohne Magie oder Kenntnisse der Heilkunde wusste sie, dass sie zum letzten Mal in seine Augen geblickt hatte. Er würde nicht mehr aufwachen… und die Wucht dieser Erkenntnis traf sie so hart, wie sie nie erwartet hätte. Obwohl sein Herz noch schlug, brach sie in jenem Stuhl sitzend völlig zusammen. Ihr Schluchzen, ihre Tränen, ihre eigenen, ersticken Atemzüge und all das Gebettel, das zu äußern sie sich verboten hatte, füllten die Luft des Raumes, nahmen so viel Platz ein, das sie die Tür nicht hörte, die Schritte nicht hörte. Ihr Kummer kannte keine Grenzen und keine Rücksicht mehr. Eine harte Hand legte sich auf ihre Schultern, sie reagierte jedoch nicht darauf. Selbst dann nicht, als sie weitere Schritte vernahm, das Geräusch eines zweiten Stuhls, der herbeigezogen wurde. Jemand umarmte sie umständlich, eine Stirn kam auf ihrer Schulter zum Liegen. Und nach einigen Augenblicken spürte sie die Feuchtigkeit weiterer Tränen durch ihre Kleider dringen.

Sie hatte versprochen, stark zu sein, wenn er es nicht mehr konnte. Sie hatte an einer Hand abzählen können, wie oft sie ihre Versprechen gebrochen hatte.

Jetzt konnte sie das nicht mehr.

 

Mit einem tiefen, heftigen Atemzug fuhr Luzula in ihrem Bett empor. Hatte sie im Schlaf den Atem angehalten? Ihre Brust hob und senkte sich hektisch, um die Entbehrung aufzuarbeiten. Vorsichtig befühlte sie ihre Wangen, wischte ohne Groll, ohne Scham und ohne Kummer die Feuchtigkeit hinfort. Ein Traum. Nur ein Traum. Es war zu viel Zeit vergangen, als das sie sich von diesem Speziellen noch so hätte aufwühlen lassen wie damals.

Siebenhundert Jahre hatte er ihr geschenkt, siebenhundert Jahre und eine Tochter. Mehr hatte sie nie zu verlangen gewagt, mehr hatte sie sich nie erhoffen können. Und dreihundert Jahre später war der Schmerz verblasst, die Wunde vernarbt, aber verheilt und zurück blieb nur das Wissen um die gemeinsamen Patzer und Erfolge, um die guten und schlechten Zeiten, die sie bestritten hatten. Es war wie ein Tuch, welches alles einfärbend über dem Ganzen lag. Gemeinsam. Wie viel so ein Wort doch verändern konnte.

 

Es war noch tiefste Nacht gewesen, als die Seherin aus ihren Träumen erwacht war. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, ihr Bett zu verlassen und den Tag zu beginnen. Müßiggang war aller Laster Anfang, sagte man unter den Menschen, nicht wahr? Und was für die Langbeine galt, das galt für Zwerge doppelt! Immerhin hatte ihr Volk einen gewissen Ruf zu wahren. Sehr zum Verdruss ihrer Tochter natürlich, die durch da Geklapper und Gerassel in der Küche irgendwann unweigerlich wach wurde und völlig verschlafen in den grässlich grell erleuchteten Raum trat, nur um die rhetorische Frage zu stellen, was der ganze Radau eigentlich sollte.

„Frühstück, Vahla. Das beinhaltet normalerweise die Aufnahme lebensnotwendiger Proteine, Mineralien und anderer Nährstoffe, darüber hinaus wird es in vielen Kulturen als soziale Aktivität betrachtet, zu der man einander von der Qualität der vergangenen Nacht berichtet und die Pläne für den kommenden Tag austauscht“, erklärte Luzula mit einem wissenden Lächeln und einer geradezu heimtückischen Selbstverständlichkeit.

„Mooom…!“ quengelte die junge Zwergenfrau und schüttelte verschlafen den Kopf, „Das ist nicht lustig! Kannst du nicht irgendwie… an deiner komischen Maschine arbeiten oder so? Ich will nachher nicht aussehen wie ein Tiefenlaurer, der in eine Kompanie gerannt ist, nur weil du nicht schlafen konntest… schon wieder.“ Eine Spur von Schalk hatte sich in Luzulas Grinsen gestohlen, als sie ihre Arbeiten unentwegt fortgesetzt hatte, nur um bei der besonderen Betonung jener letzten Worte doch noch innezuhalten. Einen Moment musterte sie ihre Tochter, versuchte das Für und Wider abzuschätzen und notierte gedanklich eher am Rande, das aus ihrem kleinen Mädchen längst eine hübsche junge Frau geworden war. Nicht, das sie das davon abhielt, sie zu necken oder, des Spaßes halber, gelegentlich noch immer wie ein Kind zu behandeln. Üblicherweise ließ sich Vahla damit recht gut provozieren – etwas, das sie wohl von ihrem Vater hatte. Sie neigte dazu, sich dann rasch in allerhand Weise zu verteidigen und auf ihre immerhin schon gut sechshundert Jahre Lebenserfahrung hinzuweisen.

Lebenserfahrung. Der bloße Gedanke ließ sie lächelnd den Kopf schütteln. Ihre Tochter war wohlbehütet aufgewachsen, hatte Nothrend noch nie verlassen. Nicht, das sie es ihr verboten hätte. Sie schien diesen Drang einfach selbst nicht zu besitzen. Auch etwas, das eindeutig von ihrem Vater stammte und nicht von ihr.

„Gut, ich sag dir was“, hob Luzula an und stemmte die Hände in die Hüfte. Dabei wog die mechanische Hand weitaus schwerer und die Kälte kroch zügig durch ihre Kleidung in die Nieren. „Du machst uns nachher Frühstück, und ich verspreche dich so lange schlafen zu lassen und mich in mein Arbeitszimmer zurückzuziehen. Sind wir im Geschäft?“ Sie streckte die mechanische Prothese aus. Ein Meisterwerk verschiedener Schmieden und Feinmechaniker. Die Eisenhände und Kupferschläge hatten wirklich etwas Sensationelles geschaffen. Traurig, das dazu erst die Verbindung beider Clans in einer groß gefeierten Hochzeit nötig gewesen war.

Ein kurzer Blick über den Arm ließ für die Dauer eines Herzschlages Schwermut in ihr aufkommen. Die kleinen, feinen Runen, die hier und da leuchteten, erinnerten sie noch immer an den stämmigen, kräftigen Traum von einem Mann, der sie gefertigt hatte. Schließlich jedoch legte sich eine zierliche Hand in die metallenen Finger. „Fein! Aber wehe du tust nur wieder so, als würde es schmecken!“ erwiderte Vahla mit prüfendem Blick auf ihre Mutter.

Luzula versuchte dem auszuweichen. Sie zählte die Sommersprossen ihrer Tochter. Begutachtete den hübsch geflochtenen Zopf. Vermaß die kleine Schupsnase in Relation zu den breiten, vollen Lippen. Aber letztlich konnte sie nicht anders, musste sich dem Feind doch stellen. Kaum kreuzten sich ihre Blicke, spürte Luzula die mühsam aufgebaute Ernsthaftigkeit dahinbröckeln und ein Kichern drang aus ihrer Kehle. Beschwichtigend im Angesicht des Grolls ihrer Tochter hob sie die Hände empor. „Gut, schon gut, schon gut, ich… ich werde etwas sagen, wenn es wieder so fürchterlich wird wie beim letzten Mal.“

Ein unzufriedenes Schnaufen ertönte. „Das wäre reizend“, zickte Vahla ein wenig, „Arrkan dachte, ich wollte ihn umbringen.“

Spätestens jetzt gab es kein Halten mehr. Luzula versuchte sich an der Küchenzeile festzuhalten, während ein herzhaftes Lachen tief aus ihrem Bauch heraufrollte und sie sich krümmen ließ. Neue Tränen schossen in ihre Augen und die Laute aus ihrer Kehle hallten durch das gesamte Haus wider. Es dauerte einen Moment, ehe Vahlas Trotz fortgespült wurde, doch schließlich erkannte auch sie die amüsantere Seite ihrer beständigen Fehlversuche, ihren Liebsten zu bekochen. Natürlich hätte sie versuchen können, von ihm zu lernen. Er war… so… perfekt.

… also im Kochen. Und so.

Nur traute sich Vahla einfach nicht, ihn darum zu bitten. Sie war immerhin die Frau, oder nicht? Es war ihre Pflicht, egal wie oft ihre Mutter etwas anderes behauptete. Nur egal wie sehr sie sich bemühte, egal wie viele Bücher sie über das Thema las, sie fand einfach keinen Konsens mit dem Erzfeind ihres Lebens: Dem Kräuter- und Gewürze-Regal.

 

Nachdem sich beide einige Minuten später beruhigt hatten, war die junge Eisenhand in ihr Schlafquartier zurückgekehrt und Luzula schlich mit dem Kerzenhalter in der Hand durch die weiten, leeren Flure des gewaltigen Anwesens. Sie hatte sich redlich bemüht, die Räumlichkeiten, die tatsächlich bewohnt wurden, dicht beisammen zu halten und entsprechend umzudekorieren. Neu einzurichten. Aber für ihr Arbeitszimmer bevorzugte sie eine gewisse Abgeschiedenheit. Vielleicht jedoch, so überdachte sie ihre Entscheidung, als sie zum dritten Mal auf halber Strecke in einem Korridor innehielt, sich umsah und den Weg, den sie gekommen war, zurück ging… ja, vielleicht sollte sie ein kleines, klitzekleines bisschen weniger abgeschieden zu arbeiten versuchen.

Das Haus war ja schließlich fast größer als der Palast. Kein Wunder, das sie sich ständig darin verlief. Eine angemessene Ausschilderung an den Korridorwänden wäre vielleicht praktisch…?

Das Anwesen überhaupt zu bauen war schon eine Sache für sich gewesen. Die Seherin des Kupferschlag-Clans und der beste Runenschmied, den der Eisenhand-Clan je hervorgebracht hatte, beide obendrein lebende Legenden, Helden ihres Volkes noch vor ihrem Eingang in die Ahnenhallen, Freunde des Königs obendrein… natürlich hatten sie sich nicht einfach irgendein gemütliches kleines Haus irgendwo in der Stadt nehmen dürfen. Stattdessen verlief sie sich nun ständig in diesem Ungetüm, das keine halbe Stunde vom tatsächlichen Palast entfernt errichtet worden war. Das wiederum… war gar nicht so verkehrt. Immerhin hatte sie als Beraterin des Königs gewisse Verpflichtungen. Die, beispielsweise, gelegentlich unangekündigt hereinzuplatzen und ein paar wirklich kluge Dinge zu sagen, denen kaum einer folgen konnte. Oder jene, dem Herrn Donnerbart gelegentlich Dinge zuzuflüstern, die er dann sagen konnte, um klug zu klingen. Oder, falls nötig, einfach dafür zu sorgen, dass jemand, der etwas vermeintlich Kluges gesagt hatte, das dummerweise auch noch viel Anklang fand, einfach zukünftig den Mund hielt.

Wie dieses Edikt zur Flutung der unteren Ebenen. Ganz abgesehen von der Geringschätzung der dort lebenden Bevölkerung, den horrenden Schadensersatzansprüchen durch zerstörtes Eigentum und beschädigten Wohnraum – wer kam auf die Idee, mehrere Ebenen der Stadt fluten zu wollen, nur um die Anstellung weiterer öffentlicher Reinigungskräfte zu vermeiden…?!

Ernsten Blickes schüttelte Luzula den Kopf, während sie endlich an der richtigen Tür angelangte. Sie zog die Kette unter ihrem Nachthemd hervor, an der ein kleiner, silberner Schlüssel baumelte. Er öffnete alle vier Schlösser – sofern man sie in der richtigen Reihenfolge betätigte. Als sie im Inneren verschwand und die Tür schloss, glühten die Runen am Türrahmen kurz auf und die Schlösser verriegelten automatisch wieder.

 

„Mutter, wir kommen zu spät!“ tönte Vahlas ungeduldiger Ruf nun schon zum dritten Mal durch die Tür.

Luzula seufzte tief, schüttelte mit dem Anflug eines Lächelns den Kopf und beendete die Zeichnung mit wenigen weiteren Linien. Vorsichtig rollte sie dieses und eine ganze Schar weiterer Pergamente zusammen, ehe sie sich zum Gehen wandte. Als sie die Türklinke betätigte, leuchten an der Außenseite erneut die Runen auf. Automatisch erloschen alle Lichter im Arbeitszimmer und die Tür verriegelte wieder, als sie ins Schloss gezogen wurde.

Sie warf einen kurzen Blick auf Vahla, bereits wissend, was jetzt kommen würde. Wie erwartet fand sie ihre Tochter in einem Kleid vor. Einem sündhaft teuer aussehenden, unverschämt eng geschnittenem Kleid. Ihre Tochter strahlte über das ganze Gesicht, konnte den leichten Schimmer von Scham und Unsicherheit aber nicht verstecken. „Na, was sagst du?“ Abermals musterte sie ihr Kind. Sie hatte die Figur ihrer Mutter geerbt, das war… immerhin etwas.

„Wenn ich den Satz ‚Ich bin schwanger‘ vor dem Satz ‚Ich bin verlobt‘ höre, sorge ich dafür, dass dein Schneider samt seiner Familie und allen, die seiner Blutlinie  folgen, verstoßen wird.“ Die bittere Ernsthaftigkeit Luzulas verschreckte Vahla einen kurzen Moment, deren Lächeln in sich zusammenstürzte. Sie schien noch verwirrt, beschäftigt damit, zu begreifen, was gerade gesagt worden war, als Luzulas Schalk durchblitzte und sie zu grinsen begann. Begreifend, das die Drohung eher spielerischer Natur war und es sich tatsächlich um ein Kompliment gehandelt hatte, kehrte Vahlas Strahlen mit doppelter Stärke zurück, frei von jeder Spur von Unsicherheit. Unter einem herzhaften Ausruf fiel sie ihrer Mutter um den Hals, die daraufhin lächelnd den Arm um ihr Kind legte.

„Ich hoffe nur, du erwartest heute keine allzu eloquenten Antworten von ihm. Er wird gewisse Durchblutungsstörungen haben…“ flüsterte Luzula ihrer Tochter in die Ohren, die daraufhin hochrot anlief. Sie musste es nicht sehen, um das zu wissen. Vahla war ein Spätzünder und hatte noch keinerlei nennenswerte Erfahrung mit Männern gemacht. Luzula war für diesen Umstand auch durchaus dankbar gewesen… die meiste Zeit zumindest. „Na komm, los geht’s. Sonst sind wir wirklich noch zu spät.“

 

„S-Seherin E-Eisenhand…!“ grüßte ein strammer junger Zwergenbursche sie auf dem Platz. Luzula konnte nicht anders als ihre Miene zu einer Grimasse zu verziehen. Einerseits wollte sie grinsen, weil jeder Blinde hätte bemerken können, wie schwer es Arrkan fiel, seine Augen der Höflichkeit wegen bei ihr zu belassen, während sie doch ganz eindeutig zu der hübschen jungen Zwergin zu ihrer Linken driften und sie aus vollstem Lauf angaffen wollten. Andererseits wollte sie ihm übelnehmen, dass er sie so ansprach.

Also tat sie einfach beides.

„Wie oft habe ich dir jetzt gesagt, dass du das lassen sollst?“ rügte sie ihn streng. Er kam nur langsam zu Sinnen, überdachte seine Worte… und lief rot an, sich der Antwort erinnernd. „Einundvierzig Mal.“ Luzula schnaubte, irgendwo zwischen Belustigung und Groll. Na immerhin zählte er immer noch mit. Wirklich übelnehmen konnte sie ihm die Reaktion jedoch nicht – er war ganz offenkundig mehr als… abgelenkt. „Fein, diesmal lasse ich dir das noch durchgehen.“ Schon wieder. „Aber das du mir ja gut auf meine Kleine hier aufpasst, ja?“ Während Arrkan eifrig nickte, erklang Vahlas langgezogener, theatralischer Einspruch. „Muuuum…!“ Tatsächlich winkte Luzula ihr Kind nochmals zu sich heran, ein kleines Stück abseits. Vahla folgte, einen trotzigen Blick zur Schau tragend, als wolle sie verdeutlichen, dass sie ihr längst noch nicht vergeben hätte. Doch Luzula kannte ihre Tochter und wusste, wie die Dinge zu richten waren. „Dass du mir ja gut auf ihn aufpasst, hörst du?“ flüsterte sie ihrem Kind zu. Vahlas Miene hellte auf, geradezu belustigt. Ein leichtes Kichern unterdrückend, nickte sie eifrig.

Arrkan war ein guter Junge. Aber ein bisschen… weich. Nicht, das daran irgendetwas verkehrt wäre. Jeder sollte leben und sein, wie es ihm passte – so zumindest die Meinung der Seherin, und wer außer dem König würde schon wagen, mit ihr zu streiten? Nun gut, wer, außer dem König und ihrer Tochter? Aber Vahla hatte wenigstens ein paar Grundlagen in einfachem Waffenkampf. Speere, Äxte, Schilde, notfalls ein Stuhlbein. Luzula hatte entgegen Garwinns Wünschen ihr ab und an ein paar Tricks gezeigt, die sie mindestens aus einer Kneipenschlägerei retten würden. „Und nun geh schon, schnapp ihn dir!“ feuerte sie ihre Tochter an, die daraufhin nochmals nickte und eilig zu ihrem Liebsten zurückkehrte. Etwas lauter richtete sie ihre Worte an den jungen Burschen. „Und das du sie mir ja nicht zu früh zurückbringst!“ Rot anlaufend nickte der junge Mann, bot Vahla den Arm dar und führte sie in Richtung des Tores jener Mauer, die das Palastviertel umschloss. Die Geste, ihr den Arm anzubieten, damit sie sich einhaken konnte… gefiel Luzula. Guter Junge. Er hatte ihren Segen.

„Sie werden so schnell erwachsen, hm?“ ertönte eine raue, gealterte, aber wohlvertraute Stimme hinter ihr. Ein Lächeln zog über ihre Lippen, bevor sie seine Figur neben sich zum Stehen kommen sah. „Manchmal zu schnell… und manchmal nicht schnell genug“, erwiderte die Seherin. Einen Augenblick verharrten beide in Schweigen, ehe sich Ragnar abermals an Luzula wandte. „Du lässt sie gehen? Einfach so?“ wollte er wissen, die dichte, buschige Augenbraue skeptisch gehoben. Ein geradezu heimtückisches Lächeln breitete sich auf Luzulas Lippen aus, ehe sie ihren mechanischen Arm hob. Ein paar der Runen drehend und drückend, nahm sie die nötigen Kalibrierungen vor. Schließlich schoss ein konzentrierter Strahl gelben Lichtes aus der gebündelten Energie der Runen und öffnete ein Portal keine drei Meter vor ihnen, direkt auf dem Platz.

Die Wachen auf der Mauer wurden nicht einmal unruhig. Als die Seherin das das erste Mal getan hatte, war heilloses Chaos ausgebrochen. Erst recht bei dem, was danach folgte! Denn auch diesmal drehte sich die spiegelartig wirkende, schimmernde Fläche nicht allzu lange, ehe eine fremde Kreatur daraus hervorbrach. Wie ein gewaltiges, monströses Insekt wandte sich das tausendfüßlerartige Wesen, auf dessen segmentierten Rückenteilen Arme empor sprossen, die das Laufen im Notfall ebenso gut übernehmen konnten wie die krabbenartigen Beine.

Als Pfeifer erstmals auf dem Hofplatz aufgetaucht war, hatte man ein Attentat auf die Krone vermutet. Man hatte Pfeifer drei Mal umgebracht und er war jedes Mal einfach wieder aus dem Portal gekommen. Die Beraterin des Königs hatte man zu Boden gerungen, in Ketten gelegt, aber glücklicherweise war Pfeifer nicht auf die Idee gekommen, sie befreien zu wollen oder die ihn attackierenden Zwerge anzugreifen. Er kehrte einfach ständig zu ihr zurück und die heillos überforderte Wache wusste nicht, wie sie ihre Armprothese bedienen konnte, um das Portal zu schließen. Erst mit Ragnars Auftauchen hatte sich die Situation damals entschärfen lassen.

Heute war die Kreatur zwar alles andere als gern gesehen, selbst Ragnar fühlte sich in ihrer Nähe unwohl, doch Luzula pflegte mit diesem… Ding einen innigen, geradezu freundschaftlichen Umgang. „Pass auf die zwei auf, hörst du? Ich hab so ein Gefühl…“ flüsterte des Königs Beraterin dem Wesen zu, während sie in Richtung der Palastmauer blickte. Das junge Paar war längst verschwunden, doch Pfeifer hatte überlegene Sinne und konnte sie in ganz Nothrend mühelos wiederfinden. Dabei unbemerkt zu bleiben, das war die Kunst. Mit einer wahnsinnigen Geschwindigkeit jagte der Fremdweltler davon, dem glücklichen und ahnungslosen Paar hinterher.

Ragnar hatte das Spektakel verfolgt, neugierig und ebenso zurückhaltend wie immer.

Erst als Luzula sich ihm zuwandte, tauschten sie eine angemessene Begrüßung aus. Die Umarmung dauerte nicht lange und Seite an Seite begaben sie sich in Richtung des Palastes davon. „Wir haben uns zu lange nicht mehr gesehen… und das, obwohl wir praktisch Nachbarn sind!“ erörterte Ragnar. Seine Begleitung dagegen lächelte nur vage. „Zwei Monate, vier Tage und sieben Stunden ist es her. Und eine Minute. Und elf Sekunden. Dreizehn. Fünfzehn.“ Der König des lumiél’schen Zwergenreiches lachte heiter auf. „Eine Antwort, die einer Kupferschlag würdig ist!“

Sie durchschritten gemeinsam das erste Tor und streiften durch die hell erleuchteten, prunkvollen Korridore des Palastes. Hier zumindest könnte man sich gefahrloser verlaufen: Alle paar Meter stand eine Wache vor irgendeiner Tür, hauptsächlich die Gemächer von Boten, Spionen, Botschaftern und Gesandten der verschiedenen Familien. Und jede der Wachen konnte zweifellos Auskunft geben, wo im Namen der Ahnen man gerade war und wohin man sich richten musste.

„Wie ist es dir ergangen?“ begann Luzula das Gespräch mit ein wenig seichteren Themen, während die Blaupausen in dem kleinen Rucksack mit jedem Schritt schwerer zu wiegen schienen.

„Wie wohl? Verdammte Höflinge. Allmählich machen Gerüchte die Runde, ich würde alt werden. Ich! Alt! Pah… junges Gemüse.“ Luzula schmunzelte, erwiderte jedoch nichts. Ragnar war nun schon ein ganzes Stück über die tausend Jahre. Ein guter König, einer der Besten vielleicht, der sie durch mehr als nur eine Krise geführt hatte. Aber so sehr er sich dem auch widersetzen wollte, war an den Worten der Buhler etwas dran: Auch für einen guten König stand das Rad der Zeit nicht still. Thorin, ein früherer Freund Garwinns, hätte davon sicherlich auch das eine oder andere Liedchen singen können. Wussten die Ahnen, wo der sich rumtrieb…

„Was gibt’s Neues aus dem Osten?“ erkundigte sich die Seherin, wissend, dass sie damit bereits heiklere Themen anschnitt. Die Bühne der Weltöffentlichkeit hatte sich lange Zeit nicht sonderlich für Tieflinge oder Aasimare interessiert. Es gab sie und sie waren eine seltene Kuriosität. Die einen waren Ungeziefer, die anderen… einfach seltsam. Hübsch, aber irgendwie auch gruselig. Das war zumindest die landläufige Meinung gewesen, bis beide Parteien aus irgendeinem diffusen Grund plötzlich Krieg ausgerufen hatten. Und nicht nur irgendeinen. Es war ein Vernichtungskrieg, auf den sich beide Seiten eingelassen hatten. Am Ende dieses Kampfes würde es auf dieser Welt nur noch eine Seite geben. Die andere wäre getilgt.

Das hätte die meisten anderen Völker nicht sonderlich interessiert, wäre da nicht die Art und Weise, wie dieser Krieg geführt wurde. Selbst das Abschlachten der Alten, Kranken und Kinder hätte wenig Aufsehen erregt – Krieg war eben schmutzig. Aber als in mehreren Konfrontationen auf diversen Schlachtfeldern immer höhere Verluste unter Rassen zu beklagen waren, die mit ihren Scharmützeln nicht einmal etwas zu tun hatten, verfinsterte sich die Stimmung. Als dann obendrein noch jemand auf die glorreiche Idee kam, die Vorfahren zu Hilfe zu rufen, war alles aus und vorbei.

Tieflinge beschworen Teufel und Dämonen und Aasimare… was auch immer in deren Blutlinie herumgepfuscht hatte. Das war eine konstante Belastung für das magische Gewebe, zu stark an vereinzelten Punkten. Risse taten sich auf, die selbst der Zirkel der Magier nicht mehr schnell genug zu stopfen fähig war. Immer mehr drang aus fremden Welten in diese. Anfangs waren es nur deren Bewohner. Manche kamen aus Neugier, aus Dummheit, aus Zufall hierher. Andere leider etwas gezielter. Aber inzwischen waren es nicht nur deren Bewohner. Ganze Landschaften wurden durch ihr Äquivalent aus einer anderen Welt ersetzt. Und schlimmer noch, um manche Risse herum begannen sich neue physikalische Gesetze zu etablieren. Die fliegenden Gärten hatte man beispielsweise eine Weile lang wirklich hübsch gefunden. Gewaltige Klumpen Erde, voller Bäume, Gräser, Kräuter, ganze Wälder wucherten darauf und sie schwebten still und majestätisch durch die Lüfte.

Naja zumindest, bis einer dieser Brocken die Einflusszone verließ. Und eine Stadt mit mehreren tausend Einwohnern einfach unter sich zerschmetterte, als er herabfiel.

Die Magier hatten unweigerlich begonnen, sich einzumischen. Während der Orden versuchte, die Kämpfe zu minimieren, versuchte der Zirkel, die Löcher zu stopfen. Nur öffneten die sich schneller, als die Magier hinterher kamen. Irgendwann zeigte der Orden dann sein wahres Gesicht und begann eine gnadenlose Hetzjagd. Jeder Tiefling, jeder Aasimar, ob krank, verwundet, an Kampfhandlungen interessiert oder nicht, jeder friedliche Teufel, jeder Paktpartner, alles was auch nur ansatzweise im Entferntesten mit fremden Welten zu tun hatte, wurde gejagt. Und die Jahrtausende alte Tradition, ihre Ränge nur mit den Besten und Stärksten zu besetzen, sie nur auf offensive Handlungen auszubilden, machte sich grausig bezahlt. Die Leichenberge in aller Herren Länder türmten sich gewaltig in die Höhe.

Während überall Genies, Entwickler, Techniker und Zirkelmagier damit befasst waren, Lösungen für das Problem der sich inzwischen selbstständig öffnenden Risse zu finden, gab es nun die Ostfront. Alles, was auch nur den Anschein hatte, nicht von dieser Welt zu sein und genug Beine, um fliehen zu können, war nach Shou Lang gereist. Sogar Tieflinge und Aasimare hatten vor der Hölle, die der Orden entfesselt hatte, gemeinsam auf Schiffen kauernd Reißaus genommen, so hieß es. Doch der Orden hörte nicht auf, nicht, solange die Gefahr restlos getilgt wäre. Shou Lang stand unter konstanten Angriffen. Die Nation war gewaltig, fremdartig… aber nicht unbesiegbar.

Und während der Rest der Welt irgendwie versuchte, nicht von dem Berg anderer Sorgen und Probleme ertränkt zu werden, hielten sie alle zugleich den Atem an. Über die eine Frage, die irgendwann wichtig werden würde: Was geschah, wenn der Orden gesiegt hatte…?

Auch Ragnars Gedanken waren mit Sorgen verhangen. Mit eben dieser Frage belastet. Er schüttelte lediglich ernsten Blickes den Kopf. „Sieht nicht gut aus“, erklärte er. Das Problem mit der Antwort war… das man sie gut in beide Richtungen deuten konnte. Und keine von beiden Richtungen wirkte sonderlich einladend.

Luzulas Gedanken kehrten zu Vahla zurück. Es war… keine schöne Zeit, in die sie hineingeboren worden war. Eine Zeit lang hatte es gewirkt, als wäre mit der Rückkehr der Drachen in diese Welt das trübe, finstere Blatt zum Besseren gewendet worden. Als würde diese sich erhebende, gewaltige Macht von Weisheit und Güte endlich wieder etwas mehr Licht in die Welt bringen. Vielleicht hätte das auch geklappt, hätte nicht irgendein Idiot auch die andere Hälfte der Drachen geweckt. Wirklich böse Drachen gab es nicht. Nur offenbar ziemlich… Wahnsinnige. Doch die Seherin behielt all das für sich. Die Drachen waren ein völlig anderes Thema. Ein anderer Krieg. Einer, aus dem die Zwerge glücklicherweise bisher geschafft hatten, sich herauszuhalten. Sie trugen ihren Bürgerkrieg in Shou Lang aus. So wie die Aasimare und Tieflinge. So wie der Orden und die fremden Welten. Es schien, als würden alle Kriege sich gegenwärtig dort konzentrieren. Und Luzula… sie wusste die Antwort. Sie hatte sie gesehen, in ihren Träumen, hatte sie berechnet. Sie tat es immer wieder und wieder. Aus Langeweile, manchmal. Aus Angst, gelegentlich. Oder aus der schlichten Hoffnung, das Ergebnis sei diesmal ein anderes.

Dies war der Krieg. Nicht irgendeiner. Nicht eine wahllose Ansammlung von Konflikten. Es war der eine Krieg, der, mit dem das Ende begann.

 

Irgendwo waren sie abgebogen. Hatten eine in eine Mauer eingebaute Geheimtür genutzt. Die Gänge hier waren keine kunstvoll gehauenen Korridore, sondern eher grobe Stollen. Nur alle paar dutzend Fuß fand sich eine Fackel. Keine Wachen, die man um Auskunft bitten konnte, keine Büsten, Bilder und Teppiche. Stattdessen kreuzte gelegentlich der eine oder andere Gnom ihren Weg. „Ich sehe die Pläne in deinem Rucksack“, setzte Ragnar nach einer kleinen Ewigkeit an, die sie in Schweigsamkeit Seite an Seite einfach nur laufend zugebracht hatten, jeder seinen eigenen, stetig düsterer werdenden Gedanken nachhängend. „Die nächste Bauphase?“ erkundigte sich der König. Seine Beraterin nickte. „Bist du dafür bereit?“ wollte sie wissen, doch Ragnar schnaubte zunächst nur. Es brauchte einen Moment, ehe er sich fing. „Jedes Mal, wenn du mit diesen Plänen ankommst, muss ich erklären, wohin solche Summen verschwinden, das ich damit drei neue Armeen aufstellen und für meine ganze Lebensspanne füttern, bezahlen und ausrüsten könnte. Oder eher… ich muss es verschleiern. Ich glaube nicht, dass ich dafür je bereit sein werde. Wie viel ist es diesmal? Also… im Vergleich zum letzten Mal?“

Luzula ließ sich die Worte ihres Königs durch den Kopf gehen. Sie konnte nicht einmal erahnen, was für eine Bürde er tragen musste. Und sie… sie war diese Bürde. „Fast das Doppelte“, gestand sie ein. Ragnar blieb abrupt stehen. Sie ging noch ein paar Schritte, bemerkte dann erst sein Fehlen und hielt inne. Besorgt blickte sie zurück, sah die steinerne Miene ihres Freundes. „Das wird ein Problem sein, nicht wahr?“ erkundigte sie sich unsicher. Sie konnte den Weltenmechanismus berechnen, sie konnte Geschehnisse sehen, die sich jeglicher Vorstellungskraft entzogen… aber ihre Gabe versetzte sie nicht in die Lage, unvorstellbare Unsummen an Münzen aus dem Nichts erscheinen zu lassen.

Ragnar harrte dort aus, vielleicht eine Minute, vielleicht zwei, ehe er sich langsam wieder in Bewegung setzte, die Miene finster. „Nein“, antworte er grob und hart, „Ich schaff das schon. Irgendwie.“ Er wusste selbst noch nicht, wie er das bewerkstelligen sollte. Die von Luzula bezeichnete Menge verschlang fast die Hälfte ihres Etats. Jedoch nicht nur des Etats für Nothrend. Das waren Größenordnungen, die sie mit der dritten Überarbeitung bereits gesprengt hatten. Es war der Etat für das gesamte Reich. Und vermutlich würde noch vor seinem Ableben eine Reihe an Plänen eintrudeln, für die mehr Geld nötig war, als das Zwergenreich Lumiél aufbieten konnte. Doch er erinnerte sich noch an Luzula. An die junge, schüchterne Frau, die mit ihren gekritzelten Plänen ankam. Er erinnerte sich an das Zittern in ihrer Stimme, an die Angst in ihrem Blick… und daran, wie all das verschwand und einer beängstigenden Schärfe, Härte und Gewissheit Platz machte, sobald sie von ihren Plänen zu berichten begann.

Selbst heute noch hatte Ragnar nie auch nur den Hauch von Zweifel in Luzula gefunden. Sie glaubte an ihr… kleines Projekt, wie sie es anfangs genannt hatten. Anfangs, ehe ihnen beiden angesichts immer größerer Baukosten der Witz quer in der Kehle stecken blieb.

Sie kamen schließlich an der Baustelle an. Die monströse Apparatur, die sich vor ihnen dutzende Meter in die Höhe erhob und irgendwo in der Decke der Höhle verschwand… war kaum mehr als ein einzelnes Haar im Vergleich zum restlichen Körper. „Wie lange noch?“ wollte er von ihr wissen, einmal mehr nach Zweifeln in ihrer Stimme suchend. Nach irgendeinem Grund, dieses irrsinnige Monstrum abzureißen, das ganze Projekt einfach hinter dieser Tür zu vergessen und totzuschweigen.

Luzula holte tief Luft. Das war nie ein Thema, das sich als sonderlich erfreulich erwiesen hatte. „Ein-, schlimmstenfalls zweitausend Jahre.“ Ragnar japste nicht nach Luft. Er gaffte sie nicht schockiert an. Er hatte ähnliche Zahlen schon früher gehört. „Vahla ist klug“, begann die Seherin anzusetzen, „Einmal die Woche muss ich die Bibliothek mit einer neuen Charge füllen. Sie hat ein makelloses Gedächtnis, sie ist nicht wählerisch, wenn es zu ihrer Lektüre kommt. Technische Handbücher, Esoterik, fantastische Romane… sie verschlingt es. Alles.“ Sie konnte sehen, wie Ragnars Schultern zu sinken begannen. Er starrte auf die Apparatur und auch ohne dass er ein einziges Wort darüber verlor, wusste sie einfach, dass er begann, sich klein zu fühlen. Winzig im Vergleich zu den Geschehnissen in einer viel zu großen Welt. Und dumm im Angesicht einer virtuosen Idee, die Luzula eisern verfolgte und die er mit seinem Verstand einfach nicht völlig erfassen konnte. „Warum weihst du sie nicht ein?“

Ragnar konnte die Stille hinter sich vernehmen. War es das? War das der Moment des Zögerns und Zweifelns, auf den er gewartet hatte? Er hörte Schritte hinter sich, ihm begann zu dämmern… das er sich irrte. Nein. Das war nicht der Moment. Eine Hand legte sich auf seine Schulter und mit geradezu mütterlicher Güte hob Luzula leise hinter ihm an. „Lass sie noch. Beide. Dein Sohn wird sich früh genug mit den Regierungsgeschäften herumschlagen müssen und Vahla… ich wollte immer, das sie ein normales Leben führen kann. Sich ihren Weg aussuchen kann. Diesen Luxus werde ich ihr vielleicht nicht bieten können, aber… sie soll so viel leben, wie sie kann. Ich will ihr so viel Zeit geben, wie mir möglich.“ Mit sanftem Druck wandte die Seherin Ragnar vom Anblick der Maschine ab. Er sah sie an, ihre Blicke trafen sich. Die mechanische Hand kam schwer auf seiner anderen Schulter zum Liegen. „Unsere Kinder“, begann sie eindringlich, „werden den Hauptteil des Projektes abschließen. Ich weiß, dass sie das schaffen werden, weil ich sie kenne. Besser, als sie sich selbst. Sie werden das bewältigen, rechtzeitig – und dank ihnen werden wir überdauern. Wir alle.“

Ragnar hatte nicht bemerkt, wie sein Blick trübe geworden war. Er rührte sich nicht, sagte kein Wort, als Tränen über seine Wangen rannen und sich irgendwo in seinem Bart verloren. Ein zögerliches Nicken, voller Unsicherheit, besänftigt nur von dem zarten, warmen Lächeln auf den Lippen einer deutlich gealterten Luzula. Sie zog ihn in eine enge Umarmung, versuchte ihm Trost zu spenden, ihm eine Stütze zu sein.

Während der König in ihren Armen versuchte, sich zu fangen, wanderte der Blick der Seherin zur Maschine. Ernst und beinahe schon zornig starrte sie das Metall an. Krieg war schmutzig. Das war er immer gewesen und würde er immer sein. Er erforderte harte Entscheidungen. Hässliche Entscheidungen.

… und sie triefte vor Dreck in ihrem Kampf gegen die Zeit…



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