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Lumiél

Königreich der Monde
von

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Ein Neubeginn

Siddarmark. Seit er hier angekommen war, fühlte sich Thorin wohler. Freier. Nicht genug, sein ohnehin schon seltenes Lächeln wiedergefunden zu haben, aber doch immerhin etwas beschwingter, um nicht von der lähmenden Trägheit eingeholt und zur Tatenlosigkeit verdammt zu werden. Dieser Flecken der Welt erinnerte ihn oftmals an Kruk. Die weithin kargen Landschaften, gerade an der zerklüfteten Küste, die zahlreichen Moore, die sich nahtlos an unübersichtliche Baumwollplantagen anschlossen. Immer mal wieder wurde das Bild aufgelockert von ein paar Bergen, die sich gelegentlich zu ganzen Gebirgszügen verketteten. Die Hafenstädte waren klein. Dank der Jadestraße gut besucht und teuer zu bereisen, aber klein.

Wer nicht gerade mit Jade, Silber, Kupfer oder Baumwolle handelte, der kam nur aus einem Grund nach Siddarmark: Pferde. Es gab Länder, in denen gehörte es im gewöhnlichen Volk zum guten Ton, einen Hund zu haben. Als Lebensbegleiter, Weggefährte, Stütze und Verteidiger. Als Seelentier, wie es gelegentlich bezeichnet wurde. Was dort die Hunde waren, waren hier die Gäule. Angeblich gab es in der ganzen Welt kein Land, dessen Züchter sich so sehr darauf verstanden, das Vieh in Form zu bringen. Thorin selbst verstand nicht viel von Pferden. Er bevorzugte es, mit beiden Füßen auf dem Boden zu bleiben. Doch während seiner Reise war er immer wieder an großen Höfen vorbeigezogen. Angeschlossen an schier gewaltige Weideflächen. Viele davon wurden bewacht.

Es zog ihn nicht nach Xiva. Die einzige, wirklich nennenswert große Stadt im ganzen Königreich, Regentschaftssitz von Ragaurd Timur, dem gegenwärtigen Herrscher aus einer langen Linie von Timuren. Gesellschaft, Zivilisation, das bedeutete vor allem: Verwicklungen. Durch irgendwen, in irgendetwas. Er verzichtete. Mit Freuden. Die Welt sollte ihn in Ruhe lassen. Er nahm sich, was benötigt wurde und gab, was das Mindeste war. Siddarmark war größer als Lumiél, aber dennoch dünner besiedelt. Viel Platz, um unauffällig sein zu können. Um das eigene Leben zu leben, ohne Bestandteil der Leben anderer zu werden.

Hier gab es keine übereifrigen Herrscher, die jähzornig ihre Soldaten aussandten und ihnen jede Form von Willkür nachsahen. Hier gab es keine fortwährenden Beschwerden über Ungerechtigkeit, keine langen Gesichter über Unterdrückung. Die Wachmänner, denen er hier begegnet war, waren respektable Personen. Gute Männer, wie man wohl gesagt hätte. Nicht, das er noch daran glaubte, dass es so etwas wie gute Männer überhaupt gab.

Dennoch war das Heer des Landes nicht allmächtig. Ganz im Gegenteil. Die Bevölkerung war dünn, das Land weit – es gab zu wenig Rekruten für die Wache, um wirklich überall die Sicherheit gewährleisten zu können. In den Mooren mochte sich kaum ein Flüchtiger freiwillig herumtreiben, ohne von irgendwelchem übergroßem Getier verspeist oder vom Sumpf selbst verschlungen zu werden. Doch noch weiter im Hinterland, wenn man allmählich nahe an die sich gewaltig auftürmenden Bergketten herankam, die Siddarmarks Territorium vom Rest des Kontinentes abtrennten, dann verirrte man sich schnell in riesige Täler, dicht bewaldet, an deren Rändern in den aufragenden Höhen ausreichend Höhlen zu finden waren, um selbst einen kleinen Staat zu formen.

Das Hinterland war reich. An fruchtbarem Boden, an Getier – und an Überraschungen. Wer klug war, vermied Reisen ins Hinterland. Immer wieder versuchten Händler anderer Nationen, sich eine fruchtbare Stute oder einen potenten Gaul zu sichern, indem sie persönlich bei den Züchtern aufmarschierten. Oder jemand wollte eine Teilhaberschaft an einer der zahlreichen Mienen erwerben, indem er mit einer kleinen Kohorte von Söldnern vor dem Mieneneingang auftauchte und ein wenig heiße Luft verströmte. Die Leute entwickelten die kuriosesten Vorstellungen und Pläne, doch die meisten besaßen ein klein wenig Verstand und informierten sich ausreichend über Land und Leute. Es gab natürlich immer wieder die, die dessen offenkundig nicht fähig waren.

Leute, die nicht begriffen, das schon ein einziger erfahrener Söldner – jemand wie er, gewissermaßen -, völlig ausreichend war, um bei der teilweise tagelangen Passage durch die dichten, hoch aufragenden Wälder völlig ungestört zu bleiben. Aber im letzten Dorf hatte ihn ja niemand anheuern wollen. Stattdessen waren im Gerüchte zu Ohren gekommen und er entschied, dass es einen Versucht wert wäre, diesen nachzugehen. Was konnte schon Schlimmes geschehen? Sein Geldbeutel würde ausbluten, nach und nach. Das war unausweichlich. Siddarmark war mit einer rauen Schönheit genau das, was er wollte, was er gesucht hatte und zu brauchen glaubte, vor allem nach den Geschehnissen in der Heimat. Doch Gasthäuser, die gute Betten hatten, hatten oft auch gute Preise. Wer nicht das schalste, bitterste Bier haben wollte, zahlte drauf. Wer den Braten gerne frisch und warm wollte, zahlte drauf. Leben war teuer geworden, so schien ihm.

Sein Blick hob sich zu den Wipfeln. Das Licht der Mittagssonne strahlte hier und da wacker ankämpfend durch das nahezu alles aufsaugende grüne Blätterdach. Die Winter sollten hier fürchterlich sein. Der Torf, der zu dieser Jahreszeit im Eiltakt gestochen wurde, brannte dann unentwegt in den Öfen nieder. Aber noch war Sommer und alles schien nur so vor Leben und Energie zu bersten. Ihm war danach, ein Lied zu pfeifen. Nur für den Bruchteil eines Lidschlages zwar, aber der Drang war kurz da gewesen. Thorin bemerkte ihn, nahm ihn wohlwollend zur Kenntnis. Vielleicht besserte sich seine Laune ja ein wenig. Vielleicht hatte diese Reise tatsächlich den heilsamen Effekt, den er sich erhofft hatte. Nach allem wünschte er sich kaum mehr, als wieder in seine altbekannten Muster hineinzufinden. Zurückzukehren zu den Dingen, die er kannte, die er schätzte, ja sogar den Dingen, die er nicht leiden konnte. Eine gewohnte Routine, eine vertraute Umgebung. Etwas Stabilität, nachdem er sich durch so viel Chaos gewühlt hatte.

Leider schien ihm die Erholung jedoch nicht vergönnt. „Nicht doch…“ nuschelte er unter einem Seufzen. Zu keinem Augenblick wurde der kahlköpfige Hüne langsamer, das hätte ein grober Fehler sein können. Vor ihm erstreckte sich die ungepflasterte Straße in gerader Linie durch den dichten Wald, sodass er schon von weitem eine vorzügliche Aussicht auf die Szenerie hatte, die sich ein ganzes Stück weiter vor ihm abspielte. Sein Blick schweifte, suchte die nahe Umgebung ab. Er konnte nicht sagen, ob man ihn bereits bemerkt hatte, ob es vielleicht einen Hinterhalt gab für solche, die helfen wollten, ob er bereits belauert und verfolgt wurde. Was er wusste war lediglich: Da stand ein Karren, der Zugochse lag am Boden und es schien, als wären die Reisenden gerade erst angegriffen worden. Auf die Entfernung konnte er nur undeutlich sehen, was vor sich ging und hätte er die Wahl gehabt, er wäre in den Wald abgedreht oder auch einfach zurückgegangen. Doch ohne das Wissen, ob man ihm bereits folgte, konnten böse Überraschungen auf ihn warten. Wenn schon nicht direkt bei der Kehrtwende ein Pfeil im Rücken, so vielleicht der Dolch an der Kehle, sobald er ein paar Tage später wieder im vorherigen Dorf angekommen wäre und sich friedlich und sicher wähnend am Abend in seinem Zimmer ins Bett legte und einschlief. Immerhin waren Zeugen immer eine fürchterlich lästige Angelegenheit.

Je näher er kam, umso klarer wurden die Vorgänge. Offenbar handelte es sich um eine Familie, die mit ihrem gesamten Hausstand reiste. Vielleicht zogen sie um, vielleicht wollten sie das Land verlassen. In letzterem Fall zumindest wären sie in die falsche Richtung unterwegs gewesen. „Wegducken…“ flüsterte Thorin leise vor sich hin, doch der Älteste entschied sich stattdessen, beide Arme zur Abwehr zu heben. Der Schmerzschrei des Mannes zog durch den Wald, als ein Knüppel ihm die Arme brach. Er ging auf die Knie, zeternd, fluchend, bis ein zweiter Hieb gegen den Schädel ihn lautlos werden und zur Seite umkippen ließ. Der Hüne schüttelte lediglich den Kopf und verlangsamte noch immer seinen Schritt nicht.

„Abrollen… genau… hoch… antäuschen… hm…“ Der älteste Sohn, so vermutete der Kahlkopf, bewies sich als nicht völlig ungeschickt. Er konnte seine Gegner gut ausmanövrieren, über deren genaue Anzahl und Ausrüstung sich Thorin noch unsicher war. Soweit konnte er drei sehen – aber das waren unmöglich bereits alle. Schließlich zerrte man ein aufschreiendes Weib herbei. Der Krieger war nun nah genug, die ersten Details erkennen zu können. Sie war möglicherweise seine Mutter, vielleicht auch eine ältere Schwester. Eine hübsche, wenn auch schlichte Tracht tat genau den fatalen Fehler, zu betonen, was sie hatte: Eine gute, weibliche Figur. „Nicht erpressen lassen…“ nuschelte der einstige Söldner, doch als man dem Weib eine Waffe an die Kehle hielt und sie zu wimmern begann, hob der Bursche die Hände. Eine Anweisung wurde geblafft, er kniete, legte die Waffe ab und erhob sich wieder, zwei Schritte zurücktretend. „Das… war dumm.“ Ganz wie Thorin es erwartete, trat jemand mit schnellen Bewegungen auf den Jungen zu und brachte zu Ende, was begonnen worden war. Für das Weib, so schien es, würde nun alles noch sehr viel unschöner werden. Wenn sie Glück hatte, würde man sie töten. Irgendwann im Verlaufe des heutigen Tages.

Hatte sie Pech, war sie nun Beute und man würde sie verschleppen, sie als neuen Teil des Unterhaltungsprogrammes eine ganze Weile herumreichen, bis sie lästig, unnütz oder aufmüpfig wurde. Zu sehr, um es noch ertragen zu können. Jede Frau hatte in solch einer Lage ihren Nutzen, um die Männer bei Laune zu halten, aber irgendwann überwogen einfach Risiko und Kosten. Dann wäre die Gnade ihres Todes nahe, bis dahin… Agonie.

Er sah, wie man ihr das Kleid an den Schultern zerriss. Es war schade um das schöne Stück. Auf eine unangenehme, bedrückende Weise erinnerte ihn die einfache Tracht an jemanden, den er gekannt hatte. Gut gekannt… und geschätzt. In vielerlei Hinsicht. Thorin aber wollte sich den Erinnerungen nicht stellen, wischte sie mit der Hand bei Seite wie eine lästige Fliege, die penetrant vor seinem Gesicht schwirrte. Er war nun spätestens bemerkt worden, auf ein paar dutzend Meter Entfernung. Gemächlichen Schrittes und ohne jedes äußere Anzeichen von Unruhe und Anspannung schritt er voran. Er musterte diese Bande einen Moment, als tatsächlich deren Verstärkung aus den Seiten hervortrat und sich zum Karren gesellte, offenbar willens, die Beute zu schützen und abzutransportieren. Oder sich an der ersten Runde mit der Hinterbliebenen zu beteiligen.

Sieben Mann. Hier und da eine leichte Lederrüstung, meist schäbig, abgewetzt, in miserablem Zustand. Ein wenig also wie seine Eigene, nur das die lediglich so übel zugerichtet aussah, von ihm aber beständig in guter Qualität gehalten wurde. An Waffen wurde es sogar noch ein wenig bunter. Brieföffner, Fleischerbeile, Kräutersicheln, sogar eine Spitzhacke. Der, den er als Anführer herauspickte, trug ein Kurzschwert. Stumpf, schartig. Aber dennoch wohl die beste Waffe. Strauchdiebe also, Wegelagerer. Sie plünderten alles, was nach leichter Beute aussah. Verwendeten als Waffen, was immer sie in die Hände bekamen oder stahlen sie einfach dort, wo sie kein Risiko fürchten mussten. Die Revolution in seiner Heimat hatte nicht viel anders angefangen. Verstecken, überfallen, plündern, verschwinden. Es grämte ihn, das so viele Dinge stur darauf fixiert schienen, ihn an das Vergangene zu erinnern, während er sich nach Kräften bemühte, es abzuschließen und zurückzulassen. Doch auch diesen Gram sah man dem geradezu steinern wirkenden Gesicht nicht an.

Stattdessen hielt er einen Moment mit dem Schwertträger Augenkontakt. Sie musterten sich. Für Thorin ging es darum, herauszufinden, ob dieser Kerl wirklich der Anführer war. Wäre er es nicht, würde er sich nach diesem umblicken, würde um Befehle betteln, ob mit oder ohne Worte. Doch seine Vermutungen wurden bestätigt. Dieser Bursche wiederum versuchte ihn abzuschätzen. Der Krieger trug einen Lederpanzer, war von hohem, kräftigem Wuchs und trug eine Streitaxt gut sichtbar auf dem Rücken. Das war weder die übliche Beute dieser Bande, noch jemand, mit dem sie sich anlegen wollten – wie viel Ärger würde also daraus erwachsen? Der Kahlkopf hatte beabsichtigt, die Antwort einfach ‚keiner‘ lauten zu lassen. Er passierte den Karren, warf einen Seitenblick auf den Ochsen, dem man viel zu viele Wunden zugefügt hatte. Vermutlich hatte sich das Tier gewaltig gewehrt, als man es angriff, aber in den Karren fest eingespannt, war ihm letztlich kaum Freiraum geblieben. Stümper, so lautete Thorins Urteil über das Vorgehen dieser Bande. Anfänger vielleicht, Grünschnäbel. Oder die Leute waren in dieser Gegend einfältig genug, dass sie ihre Taktiken nie wirklich hatten ausgefeilter wählen und verbessern müssen.

Natürlich hatte die Überlebende ihn bemerkt. Sie rief um Hilfe, mehr als einmal und er, er passierte den Wagen. Einfach so, all ihre Hoffnungen zerstörend, all ihre Verzweiflung ignorierend, all den Schmerz gleichgültig betrachtend, den sie erleiden würde. Man hatte sie auf dem Boden der Straße festgepinnt, einer der Männer wurde beim Namen herbeigerufen, um ihre Hände über ihrem Kopf festzuhalten. Immer wieder schrie sie auf, rief um Hilfe, bettelte um Gnade, verneinte, was man offenkundig zu tun gedachte. Er hörte, wie der Stoff riss, weiter und weiter, hörte, wie ihr Flehen in Wimmern überging.

„Verdammt nochmal, stopf ihr endlich das Maul!“ drang es an sein Ohr. „Das Miststück hört einfach nicht auf, zu zappeln!“ zeterte ein anderer. Man schlug vor, sie bewusstlos zu schlagen, doch es wurde erwidert, dass das den Spaß halbieren würde, bestenfalls.

Sie hört einfach nicht auf, zu zappeln… sie hat nie aufgehört…

Ein schwerer Kloß bildete sich in Sekundenschnelle in Thorins Hals. Er wurde langsamer. Die Hilferufe der Fremden schienen plötzlich so viel lauter. So viel eindringlicher. Du hast sie damals gehört… als sie nach dir rief… bevor sie-

„Geh weiter.“ Kein Befehl. Der frühere Söldner neigte das Haupt zur Seite und sah den Truppführer. Alarmiert hatte er sich vom Karren abgestoßen, die Hand am Griff seines Schwertes. Er hatte ihn nicht angewiesen, zu verschwinden. Tatsächlich hatte man es seiner Stimme anhören können. Er hatte ihn darum gebeten. Wissend, dass ein Befehl mehr Provokation gewesen wäre, als die Situation vertragen konnte. Du hättest alles für sie getan, oder etwa nicht?

Erneut schrie das Weib auf, er zuckte zusammen. So als habe ein Ton ihn empfindlich getroffen, wie eine Ohrfeige. Schließlich wandte sich der stehengebliebene Kahlkopf zum Karren und der Gruppe um. Unter einem schweren Seufzen fuhr er sich mit der Hand über das kahle Haupt und trat mit wenigen Schritten an den Anführer dieser lausigen Bande heran. „Haben wir jetzt ein Problem?“ wollte der wissen. Ein kluges Kerlchen. Der Krieger konnte es sogar in seinen Augen erkennen. Er war nicht streitlustig, er war nicht lebensmüde. Wie hatte jemand mit so viel Weitsicht und Intelligenz ausgerechnet mit solch einer Bande nutzlosen Gesindels enden können? Nicht, das ihn die Antwort auf die Frage wirklich interessiert hätte…

„Noch nicht“, erwiderte Thorin mit rauer, trockener Stimme, „Sag deinen Jungs, sie sollen das Mädchen gehen lassen.“ In diesem Moment erst horchte auch der Rest der Truppe auf. Sie hatten Thorin bemerkt und ihn nicht für wichtig empfunden, schien er doch vorbeizuziehen, nun aber stand er hier und verlangte etwas.

„Und falls nicht?“ erkundigte sich sein Gegenüber, nachdem er einen Blick hinter den Karren geworfen hatte. Das Weib lag auf dem Boden, festgehalten in den Resten ihrer völlig zerschnittenen Kleidung. Fast nackt hatte man ihre Schenkel auseinander gepresst, doch noch war ihr Schoß unberührt. Erneut holte der Kahlkopf tief Luft, seufzte schwerfällig. „Hör zu: Ich habe eine ziemlich lange Reise hinter mir. Und davor, davor hatte ich ein paar ziemlich, ziemlich beschissene Jahre hinter mir. Im Moment will ich nur noch in ein Gasthaus, mich waschen, etwas essen, etwas trinken und schlafen. Aber wenn es sein muss“, mit jenen letzten Worten blickte er abschätzend in die Runde. Nicht, weil er erst jetzt ihre Kampfstärke bemaß, sondern, weil alle Anwesenden genau wissen sollten, dass er sich einen Eindruck von ihnen verschaffte, „dann schlachte ich euch alle ab. Die Hälfte von euch wird hier auf dem Boden liegen, röcheln, jappsen und langsam den Graben mit Blut füllen, bevor ich auch nur den ersten Schlag abbekomme. Und die andere Hälfte hacke ich in Stücke, bevor auch nur einer von euch sowas wie Erschöpfung an mir sieht.“ Mit bitter ernster und trockener Stimme gesprochen, war es die feste Überzeugung darin, die dem einen oder anderen der Bande tatsächliche Unsicherheit und vielleicht nicht direkt Angst, so doch zumindest Sorge einflößte. Was die anderen jedoch trieben oder dachten, interessierte den Kahlkopf wenig. Er maß seinen Blick mit dem des Bandenchefs.

Völlig wortlos fochten sie ein Duell aus, bei dem es um nichts anderes als Stärke ging. Darum, herauszufinden, ob der Krieger bluffte. Ob er wirklich nicht nur so fähig, sondern auch dieses Blutbades und aller möglichen Wunden für sich selbst willens war. „Lasst sie gehen“, hob der Anführer schließlich an. Mit scharfem Tonfall und deutlich lauter wiederholte er seinen Befehl, als zwei seiner Gruppe aufbegehren wollten. Murrend und maulend ließ man das Weib los. Thorin hingegen schritt um den Karren herum, half ihr auf die Füße hoch und zog eine Decke aus der Gesamtheit ihrer Habe. Es hätte dort Kleider gegeben. Andere Trachten. Notfalls Hosen der Männer, die nun tot einige Meter entfernt im Staub lagen.

Thorin aber gab ihr eine Decke. Eine lausige, muffige Decke – und überließ den Rest der Bande. Denn ebenso, wie deren Anführer ihn zuvor nicht unnötig hatte provozieren wollen, indem er Befehle bellte, gedachte Thorin kein weiteres Blut unnötig zu vergießen. Hätte er sich nun an dem Karren bedient und dem Weib so viel von ihrer Habe in die Hand gedrückt, wie sie wollte, dann wäre er nicht nur Konkurrenz geworden, er hätte sie den Erfolg ihres Tages gekostet. Zwei der Gemüter waren bereits verstimmt, weil sie nicht auf ihre Kosten mit dieser Fremden gekommen waren. Er gedachte die Wut nicht überkochen zu lassen. Zumal auch der Überlebenden durch die Gabe der Decke eines klar wurde: Was immer sie besessen hatte, gehörte ihr nicht länger. Was sie nun hatte, das waren ihre Schuhe und eine Decke. Und das Glück, noch am Leben und frei zu sein. Vielleicht würde sie ihm irgendwann vorwerfen, dass er nicht den Ochsen aus dem Gespann gelöst und selbst den Karren davon gezogen hatte. Und so recht war er sich nicht sicher, was er dann mit ihr tun würde.

Man ließ die beiden ziehen und obgleich der Kahlkopf hinter sich noch das Gemaule und die Beschwerden hörte, vernahm er doch ebenso zufrieden, wie sie strikte Befehle bekamen, vom Karren zu greifen, was immer sie tragen konnten.

Es waren noch zwei weitere Tagesreisen bis zum Dorf. Der Hüne teilte seinen knapp bemessenen Proviant mit der Fremden, sprach sonst jedoch kein Wort. Sie selbst suchte ebenso kein Gespräch. Lediglich einmal hatte sie versucht, ihren Dank auszudrücken, war jedoch am Kummer über ihren Verlust gescheitert. Er hörte sie am Abend, wie sie sich in den Schlaf zu weinen schien. Die Welt ist so. Was immer du dir aufbaust, sie erlaubt es dir nur, um es dir dann mit Wonne aus der Brust reißen zu können. Lebe mit diesem Wissen. Gewöhne dich daran. Es wird dir nicht das letzte Mal passiert sein.

Nichts davon sprach er aus. Zu sehr hatte der einstige Söldner mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen. Am letzten Tag ihrer Reise hatten sie obendrein keinerlei Proviant mehr übrig, doch auch das schien weder ihn noch die Fremde zu stören. Er hatte sie nicht einmal nach ihrem Namen gefragt, interessierte sich auch nicht dafür. Erst als sie die Grenze zum Dorf passierten, als die Baumreihen sich lichteten und Platz machten für ein paar einfache Holzpalisaden, auf deren Obergang die Soldaten der Wache patrouillierten, richtete er das Wort an sie. „Habt ihr jemanden hier, zu dem ihr könnt?“ wollte er lediglich in Erfahrung bringen. Sie antwortete nicht, nickte lediglich. Thorin übernahm die Erklärungen am Eingangstor, fasste kurz und knapp den Überfall zusammen. Seine Begleitung schien bereits von den wenigen Worten neuerlich nah an die Tränen herangetrieben zu werden, beherrschte sich jedoch. Der Wächter empfahl ihr, die Wachstube aufzusuchen, sobald sie sich dazu in der Lage sähe, um dem Kommandanten einen genauen Bericht zu erstatten und die Angreifer zu beschreiben. Diesmal nickte sie nicht. Sie reagierte schlichtweg gar nicht auf diesen Hinweis. Als das Tor sich für sie öffnete, schritten beide hinein. Kein weiterer Dank, keine Verabschiedung, sie ging einfach. Ihm war das nur recht.

Sein eigener Weg führte ihn an diesem noch immer recht sommerlichen Nachmittag nicht etwa zur Wachstube. Was ihn in diese Gegend verschlagen hatte, war das Gerücht einer hübschen Belohnung für das Einfangen oder zumindest Vertreiben einer Bande von Räubern. Nicht etwa diese paar Amateure, denen er bereits begegnet war. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es um die ging. Dafür war die Belohnung zu hoch, dafür waren diese Leute nicht fähig und gefährlich genug gewesen. Dass die Steckbriefe überhaupt existierten war ein Verweis darauf, dass die Wache sie mehrfach zu jagen versucht hatte, daran gescheitert war und stattdessen jetzt mit der Devise vorging: Wir haben uns bemüht, aber die bekommt niemand zu fassen, also seid so klug und reist nur mit Eskorte!

Die Dörfler selbst waren es, die nicht gewillt schienen, dieses Maß an Unfähigkeit hinzunehmen. Sie hatten zusammengelegt und mit Erlaubnis der Wache eigene Steckbriefe rausgegeben. Er war sicherlich nicht der Erste, der sich daran versuchte, aber wenn diese Bande wirklich so gut war, könnte er sehr wohl der Erste sein, der sie wirklich zu packen bekam. Entsprechend suchte er nach dem Haus des Dorfvorstehers, zu welchem er sich schließlich gegen frühen Abend einfach durchfragte, da er es leid wurde, im Dorf erfolglos auf und ab zu laufen. Vor dem gewiesenen Gebäude bemerkte er schon frühzeitig einen Rotschopf. Eine junge Frau, vielleicht in der Mitte ihrer Zwanziger, die eine reichlich lange Mähne in zwei Zöpfe zu bändigen versucht hatte. Das, was sie da trug, konnte kaum als Rüstung durchgehen. Ein paar Lederbänder, notdürftig zusammengepfercht und mit irgendetwas aneinander befestigt. Nicht Nadel und Faden, so hoffte der Hüne. Eines aber musste er dem Mädel lassen: Ihr Anblick ließ ihn schmunzeln. Kurz nur, aber er spürte deutlich, wie seine Mundwinkel empor zuckten. Es war eine so… ungewohnte Bewegung.

„Pass auf, wo du rumstehst“, fuhr er das Weib an, als er sie direkt vor der Tür zum Haus beinahe umrempelte. Sie kam gehörig ins Schleudern, fing sich jedoch. Offenbar hatte sie wenige Sekunden, bevor er die Pforte erreichte, ebenso entschieden, eintreten zu wollen. Und in dieser lächerlichen Aufmachung schwante ihm bereits, dass sie glaubte, sich ebenso um die Räuber kümmern zu können. Oh wie er es leid war, zu sehen, wie sich jeder Idiot für einen Kopfgeldjäger, Attentäter, Meisterdieb oder fähigen Söldner hielt, nur weil er sich irgendwoher eine billige Waffe und eine lausige Rüstung hatte besorgen können. Schlimmer noch wurde es aber, als die Rothaarige tatsächlich hinter ihm begann, eine Entschuldigung zu nuscheln.

Eine Entschuldigung. Genuschelt.

Diebe waren die einzige illegale Profession, die von sich behaupten konnte, dass der beste Ruf war, keinen zu haben. Assassinen brauchten einen Ruf, um an gute Klienten zu kommen. Auftraggeber mit einem stattlichen Vermögen. Genauso verhielt es sich bei Kopfgeldjägern und Söldnern. Man zahlte für den guten Namen mit. Denn der gute Name war nur und ausschließlich deshalb gut, weil man ihn sich mit Erfolgen verdient hatte. Söldner standen überdies in einem überaus schlechten Ruf – einem gut gepflegten, schlechten Ruf. Ein Weib wie die dumme Gans da draußen, die sich entschuldigte, und das obendrein so leise und piepsig wie eine von der Katze überraschte Maus… war mehr eine Beleidigung für seinen Berufsstand als alle schlechten Vorurteile gegenüber Söldnern zusammen.

Entsprechend scherte sich Thorin nicht. Nicht um sie, nicht um ihre Entschuldigung, nicht darum, ob sie umkippte und im matschigen Boden landete. Stattdessen schloss er die Haustür demonstrativ hinter sich, trat an einen großen, quer stehenden Tisch heran und begann seine Verhandlungen mit dem Dorfvorstand. Er verlangte die dreifache Summe des Angebotenen und begründete diesen Sprung mit genau drei Umständen: Der fortwährenden Unfähigkeit der Wache, der steigenden Verzweiflung der Gemeinde angesichts all der Freiwilligen, die an dieser Aufgabe zuvor schon versagt hatten und schließlich mit seinem Dasein als geldgieriger Bastard von einem Söldner. Der Alte auf der anderen Seite des Tisches versuchte zwar zu verhandeln, doch Thorin hatte Blut gewittert. Diese Leute waren auf Leute wie ihn vorbereitet gewesen, sie hatten mit solchen Frechheiten gerechnet, was vor allem bedeutete: Sie hatten so viel Geld.

Und wenn sie es schon mal hatten, konnten sie es ja auch hergeben.

Entsprechend blieb er hart, als sein Gegenüber ihn ein wenig herunterhandeln wollte und ging mit der Zusicherung des dreifachen Lohns hinaus. Ein guter Tag soweit. Obendrein hatte das Dorf alles schriftlich festgehalten, sodass es sogar eine gewisse Seriosität gab, da das Siegel der Wache auf dem Papier aufgebrannt war. Kaum hinausgetreten, stemmte er die Fäuste zufriedenen Blickes in die Hüfte und blickte über die Dächer des Dorfes hinweg in den hoch aufragenden Wald hinein. Ein paar Räuber verscheuchen also. Ein Kinderspiel. Er würde einfach-

„Ähem… äh… E-Entschuldigung?“ Unter einem deutlich hörbaren, enervierten Seufzen senkte er den Blick, senkte ihn ein ganzes Stück, bis er diese verdammte Möchtegernsöldnerin wieder im Visier hatte. „Was?“ brummte er lediglich wortkarg. Sie deutete an ihm vorbei, haspelte ein wenig herum und brachte keinen ganzen Satz zustande. Dennoch kam durch, dass sie hinein wollte und er den Eingang ja immerhin blockierte. Nicht, das er das nicht auch vorher schon gewusst hatte, doch selbst jetzt schien sie nicht wirklich zu begreifen, wie unglaublich ungeeignet sie war.

Entsprechend trat der Kahlkopf bei Seite und schüttelte lediglich das Haupt, als die Rothaarige im Inneren verschwand. Er lehnte sich neben der Tür an die Wand, verschränkte die muskulösen Arme vor der Brust und versuchte zu lauschen, doch mehr als ein gelegentliches Piepsen konnte er kaum vernehmen, alles war einfach viel zu leise. Als sich die Tür wieder öffnete und das Weib heraustrat, sah er sich bemüßigt, sie nun seinerseits anzusprechen. „Was wolltest du da drin?“ verlangte er zu wissen. Scheu kuschte sie sofort einen Schritt zurück, sprach ihn mit ‚Herr‘ an und erklärte, sie habe ihre Hilfe angeboten. „Das ist mein Auftrag. Ein Rat: Halt dich fern.“ Erst jetzt fiel ihm auf, dass ihr ihre Art zu sprechen merkwürdig bekannt vorkam. Nicht zuletzt deshalb, mehr einer Ahnung wegen, wollte er das Gespräch so knapp wie möglich halten. Er stieß sich von der Hauswand ab und schritt an ihr vorbei, sie abermals mit der Schulter anrempelnd. Vielleicht war ja wenigstens das deutlich genug.

Den restlichen Tag über ließ er es sich gut gehen. Im Gasthaus einquartiert, hatte er sich ein Zimmer geben lassen, hatte eine gewaltige Platte bestellt und über den Verlauf von zwei Stunden hinweg leergegessen. Alles auf Kosten des Hauses, für den zukünftigen Wohltäter. Angesichts seiner reichlich imposanten Gestalt war es nicht schwer gewesen, den Hausherrn davon zu überzeugen, dass es das Beste für das Dorf sei… und für ihn. Seitdem hatte er sich schon vier Krug Bier kommen lassen, als ausgerechnet das kleine Prinzesschen eintrat. Sie sah sich an der Tür stehend um, bis jemand anderes hinein wollte und sie bei Seite drängte. Wie schon der Krieger zuvor, wurde sie angeschnauzt und sie entschuldigte sich artig, wenn auch leise. Schließlich schlich die Rothaarige zum Tresen herüber und sprach mit dem Wirt, der sichtlich nicht gewillt war, länger als nötig mit ihr zu plauschen. Dass er die buschigen Brauen hob sprach dafür, dass dieses Sommersprossengesicht irgendwas Lustiges zu erzählen hatte. Schließlich schüttelte er den Kopf und deutete stattdessen auf das Schwert, welches sie einfach mit sich herumschleppte. Sie griff danach, schüttelte überraschend vehement den Kopf und der Wirt zuckte mit den Schultern. Er war gewillt, seine Arbeit fortzusetzen, bis sie sich etwas vom Finger zog, einen Ring möglicherweise, den der Gasthausbesitzer als ausreichend befand. Erst dann drückte er ihr einen der Zimmerschlüssel in die Hand und schon jetzt, da er nur auf die Distanz und außerhalb jeglicher Hörreichweite diese Szene verfolgt hatte, wusste Thorin ganz genau, dass dieses Weib sich gerade gnadenlos hatte über den Tisch ziehen lassen. Seufzend schüttelte er den Kopf, bis plötzlich jemand die Sicht versperrte.

„Hm?“ Er zog verärgert die Brauen zusammen und blickte auf, entspannte sich jedoch ein wenig, als  vor ihm die Frau auftauchte, die er vor dieser Bande stümperhafter Idioten gerettet hatte. Tiefe Furchen unter ihren Augen zeugten von wenig befriedigendem, falls überhaupt vorhandenem Schlaf. Sie wirkte erschöpft, die Augen waren noch immer rot geädert. Offenkundig hatte sie, bei wem immer sie untergekommen war, sich gehörig die Augen ausgeheult. Doch immerhin, sie trug wieder Kleidung. Nicht einmal Schlechte obendrein, vermutlich gehörte sie also zu irgendeiner größeren, mittelständischen Familie. Fast bedauerte der Hüne ein wenig, dass es nicht länger nur die Decke war, die sie um ihre Schultern wickelte. Sie hatte überaus weibliche Rundungen und das wiederum gefiel ihm.

Es erinnerte ihn jedoch auch wieder.

Entsprechend hin- und hergerissen seufzte er auf, als sie begann, sich entschuldigen zu wollen. Er würde hier sitzen, sie stand und würde erzählen und erzählen, was nicht alles geschehen sei, was der ursprüngliche Plan gewesen wäre, bevor es zu diesem schrecklichen Desaster kam, wie es nun weitergehen solle. Er aber war kein Mann der höflichen Sorte, der des Anstands halber so tat, als würde ihn das wirklich interessieren und er würde nicht lediglich nicken, um ihr noch etwas länger in die prall gefüllte Auslage starren zu können. Entsprechend schnitt er ihr schon nach kurzer Zeit unhöflich, aber direkt das Wort ab. „Hör zu, Hübsche“, begann er wohlwissend, sie möglicherweise damit bereits verärgert zu haben. Aber so war das eben, wenn die Dinge unbequem wurden. Er hatte sich ja unbedingt einmischen müssen. Keine gute Tat blieb ungestraft und er wollte wetten, dass sich dieser Spruch jede Sekunde bewahrheiten würde. „Da ist kein Herz, das deine Worte wärmen könnten“, erklärte der Hüne und klopfte sich mit der geballten Faust auf die linke Brust, „Da ist schon eine Weile keins mehr. Aber da oben, da sind Laken, die du mir wärmen könntest. Und ich kann dir versprechen: Du wirst an nichts anderes mehr denken und wenn du einschläfst, wirst du eine ganze Weile gar nichts mehr denken.“ Es waren keine Anzüglichkeiten darunter gewesen. Sicherlich, das Angebot war von reichlich fragwürdiger Moral. Sie mochte möglicherweise gerade Sohn und Mann verloren haben – er hätte es genau gewusst, hätte er sie weitersprechen  lassen -, und nun bot er ihr an, ihr die Erinnerungen an ihren Verlust aus dem Verstand heraus zu vögeln, genauer gesagt, diese leidigen, schmerzvollen Erinnerungen gleich mitsamt ihrem Verstand heraus zu vögeln. Doch er hatte sich all die Sprüche verkneifen können, die ihm auf der Zunge lagen. Über ihre recht üppige und für ihr Alter gut gehaltene Brust, über die prallen Hüften, über die strammen Schenkel. Es war ja nun nicht so, als hätte er nicht selbst einen Blick riskiert, als sie dort nackt auf dem Staub der Straße lag.

Und dennoch: Das Klatschen der Maulschelle hörte man im gesamten Schankraum über die Lautstärke aller Gespräche und des Gelächters an einem Tisch hinweg. Abrupt wurde es viel, viel stiller, Männer drehten sich um, andere sahen von ihrem Essen oder ihren Karten auf. Die Überlebende aber stand vor ihm, einen Abdruck ihrer Hand hatte sie auf seiner Wange hinterlassen, ihre Schultern bebten, sie zitterte, ihr Atem wurde unregelmäßig und neue Tränen rannen ihre Wangen herab.

Einen kurzen Moment blitzte Zorn in seinen Augen auf. Sie sah es. Sie sah es, fürchtete es und trat einen halben Schritt zurück, erkennend, das der Mann, welcher sie gerettet hatte und dem sie hatte danken wollen, möglicherweise keinen Deut besser war als die, die sie überfallen hatten. Er, im Gegensatz zu diesen Halunken, hatte möglicherweise einfach nur einen generösen Tag gehabt.

Thorin bekam sich unter Kontrolle, der wütende Ausdruck verschwand. Das hier war unvermeidbar gewesen, das war ihm klar. Besser, sie erkannte es jetzt, als sich noch Tage und Wochen zu grämen oder zu fragen, was falsch gelaufen war. Sein Gast machte auf dem Absatz kehrt und verschwand aus der Taverne. Ein paar der Männer blickten ihn noch einen Moment an, manche grinsend, andere geradezu rügend, als hätte er irgendetwas verbrochen. Vermutlich glaubten sie sogar, er habe das. Sicherlich sprach sich schnell genug herum, wer er war. Wer sie war. Was er getan hatte. Und nun das – wie konnte er es nur wagen, sie zum Weinen zu bringen? Nach allem, was die Ärmste durchlitten hatte?

Verächtlich schnaubend packte er seinen Krug, nahm einen sehr, sehr tiefen Zug und stellte ihn leer recht geräuschvoll wieder ab. Sein Blick schwirrte durch den Schankraum, erfasste wieder die Rothaarige. Als Einzige unter all den Gästen starrte sie ihn noch immer an. Erst jetzt schien sie sich darüber klar zu werden und wandte sich hastig um, damit sie weiterhin den Wirt um diverse Nerven erleichtern konnte. Geradezu wölfisch musste der Kahlkopf bei der Vorstellung grinsen. Er hatte kein Mitleid. Mit keinem von denen. Jeder Mensch, jeder Elb, Zwerg und Gnom, hatte all das Übel dieser Welt verdient, was ihm widerfuhr. Die Meisten sogar noch weit mehr. Und schuldig… schuldig waren sie alle.

An diesem Abend begab sich der Krieger angetrunken zu Bett, mit dem heldenhaften Vorhaben, am nächsten Tag auszuziehen und den Räubern einen Teil ihrer Kopfgelder zuzusichern, wenn sie sich dafür eine andere Gegend zum Wildern suchen würden. Banden wie diese gab es zuhauf. Wurde eine gefasst, war die Woche darauf die Nächste da. Diese hier schien ganz gut etabliert, nicht übermäßig brutal oder gewalttätig. Sie erleichterte viele um all ihre Habe, tötete aber nur selten und hatte bisher niemanden entführt. Nach Thorins überaus fachkundiger Meinung… gab es wirklich Schlimmere und genau die würden ankommen und den frei gewordenen Platz einnehmen. Besser, man behielt den zahmen Teufel, statt ihn gegen einen Tollwütigen auszutauschen.

 

Siddarmark. Seit Vivica hier angekommen war, fühlte sie sich wohler. Freier. Sie hatte das bedrückend enge Korsett einer Gesellschaft hinter sich gelassen, war entschlüpft. Sie hatte bewiesen, alleine auf sich aufpassen zu können. Gerne wäre sie stolz heim zu Nerwen, hätte an die stets ein wenig vereiste Tür der einsam vor den Toren Xeranors stehenden Hütte gepocht und der alten, verbitterten Elbe gesagt, wie wunderbar sie alleine zurechtgekommen sei. Doch… andererseits fürchtete sie sich davor. Genug, um Lumiél zu verlassen. Eins kam zum anderen, so hätte Alandor es sicherlich gesagt. Eine Verkettung von Ereignissen, welche sie in letzter Konsequenz wie die Ertrinkende hier an die Küste geschwemmt hatte. Sie würde heimkehren, gewiss. Eines Tages würde sie auf einem der großen Schiffe die Überfahrt in die Heimat buchen, sie würde den langen Weg von Sundergrads heißer Sonne über das saftig-volle Grünland bis hinauf in die frostigen Schneeländer auf sich nehmen, sie würde ihrer Ziehmutter gegenübertreten und beweisen, was in ihr steckte. Sie gedachte das zu tun, indem sie Nerwen klar aufzeigen konnte, das sie sich geirrt hatte. Klar und unwiderlegbar, sodass die alte Elbe keinerlei Chance bekam, daran herumzudeuteln oder sie auf Basis irgendwelcher Halbwahrheiten, Verdächtigungen und Vermutungen wieder für den Rest ihres Lebens wegsperren zu wollen. Nötig war dazu eigentlich nicht viel.

Sie musste nur eine Heldin werden.

In ihren Träumen und sehnsüchtigen Vorstellungen war das immer so viel einfacher gewesen, als es sich bisher erwies. Sie kam in die Dörfer und Städte, wurde willkommen geheißen. Man klagte ihr das größte, vorherrschende Leid und sie nahm sich der Sorgen der Bürger an. Mit dem Schwert in der Rechten und unerschrocken-mutig trat sie allem Übel entgegen, würde die Probleme auflösen und als Retterin geehrt und gefeiert werden. Dann zog sie weiter, um das Spiel zu wiederholen. Bis ihr Name im ganzen Land und weit über seine Grenzen hinaus bekannt wäre!

Immer wieder im Verlauf ihrer Reise war die Firnhexe jedoch gezwungen worden, an sich herab zu schauen. Sie sah nicht unbedingt aus wie die Heldin, die sie in ihren Träumen und Vorstellungen war. Eher wie… wie hatte dieser Bauernlümmel im Hafen sie genannt? Ein Landei, das glaubt, sie wäre etwas Besonderes. Aussprüche wie diese taten ihr nicht einfach nur weh. Sie ernüchterten. Sie zogen sie herab und drohten ihr immer wieder das wenige bisschen Mut zu stehlen, welches sie für dieses Unterfangen hatte zusammenkratzen können. Dabei hing inzwischen so viel mehr an ihren Plänen als nur, Nerwen zu beweisen, dass sie sich geirrt hatte. Es gab andere, die auf sie zählten. Menschen, die ihr wert und teuer werden… die darauf vertrauten, dass sie nicht aufgab. Egal wie unschön die Dinge waren, die andere ihr nachriefen.

Immerhin einen Vorteil hatte ihre Reise nach Siddarmark: Rothaarige waren hier ein klein wenig häufiger anzutreffen, weshalb niemand auf die Idee kam, ihr Steine nachwerfend etwas über Hexen zu brüllen und das man den Zirkel holen und sie abfackeln würde. Überhaupt schienen die Leute hier – zumeist – ein wenig netter zu sein. Auch fröhlicher. Freundlicher. Die Wachen zogen nicht fortwährend dieses schrecklich miesepetrige Gesicht oder gafften einen an, als würden sie einen jede Sekunde anspringen und fressen wollen. Alandor hatte ihr damals erklärt, Siddarmark sei ein hübscher Flecken Erde, solange man nicht versuchen würde, etwas zu stehlen. Und solange man nicht auf die Idee kam, mit irgendwem wegen irgendetwas verhandeln zu wollen.

Aber sie war ja auch nicht hier, um zu verhandeln. In der Heimat waren die Dinge… chaotisch. Viele große Namen balgten herum, Allianzen, deren genaue Bedingungen niemand so recht kannte, wurden in Windeseile geschlossen, zerschlagen, verraten, aufgelöst, Fraktionen erhoben lauthals fordernd ihre Stimmen, um dann im Geheimen flüsternd zu verklingen. Es war… einfach kein Ort mehr gewesen, um sich als neuer Stern am Himmel der legendären Abenteurer zu präsentieren. Die Öffentlichkeit war bereits überlastet mit zu vielen Namen, die an jeder Ecke gewispert wurden.

Siddarmark hingegen war viel ruhiger. Hier würde man sicherlich dankbarer sein, wenn man etwas zu erzählen hatte. Zumindest glaubte sie das über die ersten Tage ihrer Reise hinweg. Doch egal, wie oft sie in ein Dorf kam: Man nahm sie nicht wahr. Höchstens ein paar irritierte Blicke hier und da. Es kam auch niemand ausgerechnet zu ihr und klagte ihr sein Leid. Im Gegenteil. Kam sie zu jemandem und fragte, was es zu tun gäbe… dann bekam sie das, was sie schon kannte. Sie durfte dabei helfen, Ställe auszumisten. Oder im Haus Ordnung zu schaffen. Äcker zu pflügen und das Vieh zu füttern. Einmal half sie sogar einer überaus misstrauisch wirkenden Bäuerin, ein Fohlen zur Welt zu bringen. Man trug es sofort danach davon, so als könne sie sich das kleine Ding einfach in die Tasche stecken und davonrennen wollen.

Keine heroischen Aufgaben. Keine Monster zu erschlagen, keine Entführten zu retten, keine Dämonen zu vertreiben.

Wobei ihr die Dämonen nach ein paar unschönen Erfahrungen im Norden Lumiéls ohnehin gerne gestohlen bleiben konnten. Darum durfte sich der Zirkel der Magier kümmern, dafür war er ja immerhin da, nicht wahr? Stattdessen hatte sie in Scheunen übernachtet. Aus Viehtränken getrunken. Ihren Wasserschlauch an öffentlichen Brunnen aufgefüllt. Sie bekam in den Gasthäusern gutes Essen, befand sie selbst zumindest – solange sie dafür arbeitete. Als Bedienung brachte sie den Gästen ihre Krüge, ließ sich die forschen Sprüche, die frechen Töne und dreisten Gesten gefallen.

Sie hatte versucht, ihr Aussehen anzupassen. Irgendetwas musste damit ja nicht stimmen, das man sie einfach nicht ernst nahm und stets nur als Magd einzusetzen bereit war. Sie trug ihr Schwert anfangs geschultert, weil sie das als weniger umständlich befand. Später kaufte sie sich von ihrer wenigen Habe einen Gürtel samt Scheide, trug es stets gut sichtbar über all ihren Kleiderschichten. Doch das genügte nicht, also begann sie, wenn auch sehr unwillig, weniger zu tragen. Mehr noch als das, musste sie einsehen, dass es vor allem anderes sein sollte, was sie würde tragen müssen. Hosen zum Beispiel, obwohl für eine Frau nun eigentlich nicht schicklich. Das gehörte sich nicht, Hosen waren Männersache… doch sie überwand sich. Es kostete Zeit, aber sie schaffte es.

Jede kleine Veränderung fühlte sich wie ein Sieg an. Ähnlich war es mit der Rüstung. Einem alten Schmied hatte sie geholfen, seinen Karren mitten im Unwetter aus dem Schlamm zu ziehen, als er stecken blieb. Sie hätten sich beide Tod und Teufel holen können. Zum Dank hatte er ihr eine einfache Lederrüstung herausgesucht. Sie hatte sie erst ablehnen wollen, doch ihr wurde noch während sie dazu anhob klar: Abenteurer brauchten Rüstungen! Und sie, sie erinnerte sich noch genau an ihren letzten Versuch, eine zu bekommen. Sie hatte ihren Geldbeutel auf einem Tresen ausgeleert und den Schmied gefragt, was sie dafür bekäme. Er hatte sie ausgelacht und erklärt, dass ein paar Armschoner vielleicht drin wären. Verschmäht wagte sie kaum zu fragen und schluckte schwer, als er ihr obendrein sagte, was eine richtige, ordentliche Rüstung zu kosten habe.

So viel Geld würde sie nie zusammenbekommen! Nie im Leben, nicht mit allen Ställen, Gasthäusern und Kälbchen dieser Welt!

Das er ihr da ausgerechnet eine Rüstung schenken wollte, das war ausgezeichnet, das war wie ein Wink der Götter! Obendrein erwähnte er, sich diese Belohnung überlegt zu haben, weil er ihr Schwert bemerkt hatte. Sogar dafür wollte sie ihm dankbar um den Hals fallen. Jemand hatte es bemerkt! Jemand hatte es bemerkt und hatte sich etwas dabei gedacht. Das war ein Anfang. Und es war eine ungeheure Erleichterung, erkennen zu dürfen, dass ihre Veränderungen durchaus wahrgenommen wurden und damit nicht umsonst waren. Hier und da hatte sie natürlich ein wenig ausbessern müssen. Er wies ihr die Stellen und erklärte, wie sie das am besten anstellen könne und sie gab sich wirklich Mühe. Das er ihr nicht gleich sein teuerstes Werk nachwarf, das war ihr völlig klar gewesen. Das wäre ja auch irgendwie unverschämt, es dann anzunehmen. Immerhin hatte sie ja nur einen Karren gezogen.

Doch nach diesem Hoch folgte auch wieder die allmähliche Ausnüchterung. Sie kehrte zurück zu Leuten, die ihr Ställe als Obdach, Essen gegen Arbeit und Wasser aus Brunnen boten, sie kehrte zurück zur Bedeutungslosigkeit eines herumziehenden Niemands, der gewiss nicht bei größeren Nöten um Rat gefragt wurde. Sie erinnerte sich häufiger daran, wie Peter über Sundergrad gesprochen hatte. Ihr Aufenthalt dort war aufgrund der fest eingeplanten Abfahrt des Schiffes nur sehr, sehr knapp ausgefallen, doch die Stadt hatte mit ihrem viel zu dichten Gedränge, der überaus knapp geschnittenen Mode und der brütenden Hitze nicht unbedingt den besten Eindruck bei ihr hinterlassen. Ihr war damals rasch klar geworden, dass Welten zwischen Peter und ihr lagen, auch zwischen dem, was sie schön und angenehm fanden. Dennoch musste sie in Siddarmark häufiger an den Zirkusjungen denken. Er hatte nicht nur von der Stadt geschwärmt. Es waren Details, die nachts, wenn sie auf ihrem Bett lag, langsam zu ihr vorkrochen und in ihren Geist eindrangen.

Hauptsächlich Details darüber, wie der große Adamant zu einem halben Dutzend Identitäten gekommen war, zu Geld, einem klein wenig Wohlstand und einem akzeptablen Ruf. Akzeptabel nach seinen Kriterien natürlich. Gerüchte hatten dabei eine große Rolle gespielt und Vivica war manches Mal durch die Dörfer gezogen, hatte Häuser umschlichen oder die gleiche Straße ganz zufällig drei, vier Mal frequentiert, in der Hoffnung, sie könne auch etwas aufschnappen. Ein zufälliges Gespräch vielleicht, ein paar der berüchtigten Waschweiber beim Tratschen, aber… dieses Glück war ihr natürlich nicht vergönnt. So, so schien es, funktionierte das mit den Gerüchten also nicht. Es dauerte ein paar Tage, ehe sie sich des zentralen Elements wirklich klar wurde: Kneipen.

Eben die Art von Gasthaus für die niederen Schichten, in denen sie häufig gearbeitet hatte und es noch immer tat. Nur wusste sie aus erster Hand reichlich gut: Wer mit zehn Krügen gleichzeitig balancierte oder fünf Portionen Essen austrug, durch eine raufende oder tanzende Menge, vorbei an Männern, die ihr einen Klaps auf den Hintern geben wollten, nur weil sie keine Hand für eine Ohrfeige frei hatte – unabhängig davon, dass sie sich nie gewagt hätte, eine zu erteilen -, der hatte genug zu tun. Zu viel, um ‚nebenbei‘ auch noch Teil der Gespräche zu werden oder wenigstens zuzuhören, was so getratscht wurde.

Ein paar Wochen nach ihrer Ankunft im Land der Pferdeherren gewöhnte sie es sich daher an, die ersten paar Abende im örtlichen Gasthaus zu arbeiten, ehe sie sich dann zwei oder drei Tage als Gast direkt ins Gedränge setzte. Sie konnte nicht behaupten, das zu mögen. Überall wurde gedrängelt, geschoben, betatscht. Ihr war es stets lieber gewesen, ein wenig Abstand zwischen sich und anderen zu wissen. Doch nur so konnte sie ihre Augen und Ohren überall ein wenig haben. Gerade anfangs erwies sich das als schrecklich. Schrecklich anstrengend, schrecklich überfordernd, schrecklich unnütz. Sie schnappte viel auf, oh ja doch. Vieles klang so, wie es erzählt wurde, sogar überaus spannend. Doch mit inzwischen sechsundzwanzig Jahren war selbst Vivica nicht mehr naiv genug, all die Räuberpistolen zu glauben, die da in völlig überzogener Manier zur Belustigung eines breiteren Publikums wiedergegeben wurden. So lernte sie, dass Tische, an denen viel gelacht wurde, eher von geringerem Nutzen und Interesse waren. Tische, an denen die Gäste sich beständig umsahen waren solche, bei denen man im Interesse der eigenen Gesundheit nicht zu sehr zuhören sollte. Interessant waren dagegen meist die, die die Köpfe zusammensteckten, ohne sich beständig nach Wächtern oder Verfolgern umzuschauen.

Als sie auf diese Weise vor ein paar Tagen endlich etwas Nützliches aufgeschnappt hatte, wäre sie beinahe vor Freude jauchzend aufgesprungen. Nun wiederum befand sie sich schon vier Tage auf der Reise nach Süden, tiefer ins Hinterland Siddarmarks hinein. Ihr gefielen die gewaltigen Wälder hier, riesig gewachsene Laubbäume und dichtes Unterholz, man konnte wunderbar jagen und rasten.

„Na wen haben wir denn da?“ erkundigte sich plötzlich eine fremde Männerstimme. Vivica zuckte überrascht zusammen und blickte sich um. Aus einem der dichten Gebüsche trat ein junger Mann hervor. Schwarze Locken, ein Leinenhemd. Sie bemerkte den Dolch an seinem Gürtel ebenso wie den Bogen in seiner Hand. „Ganz allein unterwegs? Ist eine gefährliche Gegend hier. Hab gehört, es soll eine Räuberbande in der Nähe geben“, erklärte der Lockenkopf mit sonnigem Lächeln und sichtlich gut gelaunt.

Die Rothaarige entspannte sich etwas. Alandor hatte ihr vor langer Zeit gesagt, solle sie je wirklich kämpfen wollen, wären ihre Haare eine Schwachstelle. Er fand sie schön, wie er gesagt hatte und sie wusste noch, wie ihr die Röte in die Wangen geschossen war, doch sie würden ab müssen. Ihre hübschen Haare einfach abschneiden… nein, das hatte sie nicht übers Herz gebracht. Aber Linh zeigte ihr, wie sie daraus ordentliche Zöpfe flechten konnte. Diese trug sie seither und neigte in einer schlechten Marotte dazu, ständig an den einzelnen Haaren des rechten oder linken Zopfes herumzuzupfen, sobald sie nervös wurde. Als sie sich diesmal dabei erwischte, warf sie ihren Zopf beinahe hastig über ihre Schulter zurück. „J-Ja, ich weiß!“ erklärte sie und versuchte möglichst selbstsicher zu klingen, „Ich habe davon gehört, meine ich. Also, ich… hm… ich bin Vivica!“ Der Schwarzhaarige stellte sich als Bran vor und erklärte auf ihre Frage nach den Waffen hin, dass er auf der Jagd gewesen sei. Großwildjagd. Den Dolch brauche er lediglich… nun, weil es eben keine so sichere Gegend war. Als sie daraufhin stolz behauptete, sie würde das ändern, lächelte Bran freundlich. „Ich bin sicher, dass du dein Bestes versuchen wirst“, erklärte er und legte ihr in einer geradezu brüderlichen Geste die Hand auf die Schulter. Seine Zweifel als Bestätigung missverstehend, lächelte Vivica nur noch breiter. „Und das willst du mit dem Schwert anstellen? Sieht… ziemlich teuer aus. Darf ich es mir mal ansehen?“ Sie blickte an sich herab. Rüstung, Hosen, Wanderstiefel. Einen Moment war sie zuversichtlich. Alles sah schon so viel besser aus, so viel mehr nach einer ernstzunehmenden Heldin! Dann jedoch wanderte ihr Blick zu dem Schwert an ihrer Seite. Nur langsam zog sie es aus der Scheide. „Ihr müsst mir versprechen, damit sehr vorsichtig zu sein. Es ist wirklich fürchterlich scharf.“ Vorsichtig reichte sie die Klinge weiter. „Es gehörte einem Freund“, erklärte sie einen Moment noch strahlend, ehe ihre Miene sich trübte, „Ich hoffe, ich kann es ihm irgendwann wieder zurückgeben…“

„Geht ihr ihn besuchen?“ wollte Bran wissen, doch sie schüttelte den Kopf. „N-Nein… es… e-es ist… kompliziert. Er ist nicht mehr hier.“ Die Antwort so rätselhaft hinnehmend, wie sie war, erkundigte er sich nach dem kleinen Goldring an ihrem Finger. Vivicas Miene wurde noch etwas betrübter. „Den hat mir ein Freund geschenkt… a-also, ein anderer Freund.“

„Ist der auch ‚nicht mehr hier‘?“ erkundigte sich Bran eigentlich eher aus Jux, runzelte jedoch die Stirn, als sie lediglich nickte und den Blick auf das kleine Schmuckstück geheftet hielt. „Nun gut…“ seufzte der Lockenkopf. Er hob die Hand an die Lippen und stieß einen lauten, hellen Pfiff aus. Die Firnhexe erschrak fürchterlich und zuckte zusammen, erst recht, als plötzlich eine ganze Reihe anderer Gestalten aus den Büschen hervorsprangen. „Ich habe das Schwert. Und ich denke, sie ist harmlos“, erklärte Bran und nahm etwas Abstand von Vivica, die ihn irritiert anblickte und wissen wollte, was denn los sei. „Das hier, mein Liebchen, ist ein Überfall. Und die Räuber, von denen du gehört hast, das sind wir.“ Ihr Herz schien völlig aus dem Takt zu stolpern, als sie diese Worte vernahm. So sehen doch keine Räuber aus! Wo sind sie verlotterten Bärte? Die Lumpenkleider! Die… das… d-das ist alles verkehrt…!

„Mein Schwert… b-bitte gebt es mir zurück!“ wünschte sie sich, doch Bran schüttelte auflachend den Kopf und erklärte, das sei so ziemlich das Dümmste, was er gegenwärtig tun könne. „Bisschen dumm, hm?“ hakte ein beinahe vollständig vermummter Kerl nach, der sich mit zwei Dolchen von der Seite angenähert hatte. Bran hingegen zügelte diesen. „Nein, ich denke nicht. Aber geradezu herzallerliebst naiv“, erwiderte er, verschränkte die Arme vor der schmalen Brust und legte den Kopf ein wenig schief, als würde ihm das helfen, die inzwischen völlig eingekreiste Rothaarige besser abzuschätzen, „Weißt du, du hast Glück, das ich dich gut leiden kann, Vivica. Leute wie du sind selten geworden, gerade dieser Tage. Darum… nehmen wir dein Schwert und den Ring. Alles andere darfst du behalten und gehen. Ich würde dir nur raten, nicht wieder in unsere Gegend zu kommen.“

Das Schwert. Der Ring. Sie wollten ausgerechnet zwei der drei Dinge, von denen sie sich unmöglich trennen konnte. Sie verlangten danach und sie, sie stand da und stammelte. Wie hatte denn alles so schnell aus dem Ruder laufen können? „Bitte… bitte, Bran! Ich möchte euch nicht wehtun, niemandem hier… gebt mir bitte mein Schwert wieder und… u-und verlasst einfach diese Wälder… j-ja?“ Helden töten Monster. Keine anderen Menschen. Mit anderen Menschen redeten sie, brachten ihnen Vernunft bei, zeigten ihnen ihre Fehler auf und gaben ihnen eine zweite Chance. Bran hingegen zuckte mit den Schultern und erklärte, er habe ihr ein gutes Angebot unterbreitet, aber sie wolle offensichtlich nicht annehmen.

Als einer seiner Männer abrupt von hinten vorsprang und sie an den Handgelenken packte, erschreckte sich die Firnhexe. Der Aggressor bekam das als Erster zu spüren – ein Kälteblitz fuhr durch seine Hände und ließ seine gesamten Arme binnen Sekunden taub werden. „Teufel noch eins!“ rief der aus und sprang zurück, „Die’s kalt wie der Winter!“ Vivica wiederholte ihre Bitte, doch das eben noch sonnige Lächeln Brans war verschwunden, war einer hart kalkulierenden Miene gewichen. Er nannte die Namen zweier, die sie angreifen wollten, sie packen und zu Boden bringen sollten. Gerade als man sie in den Staub drückte und ihr den Ring mit einem Dolch samt Finger von der Hand trennen wollte, schrie die Rothaarige in ihrer völligen Verzweiflung auf.

Es war das für einen Wald dieser Größe notwendigerweise reichlich vorhandene Grundwasser, welches ihrem Ruf folgte. Jahrzehnte dicke Schichten von fester Erde und Gestein brachen rüttelnd und rumorend auf, das Beben irritierte die Räuber sichtlich, ein paar rangen sogar um ihr Gleichgewicht – da brach direkt neben der Firnhexe der Boden auf. Eine gewaltige Eislanze schoss daraus hervor, bohrte sich durch die Brust des Angreifers, der ihr den Ring hatte nehmen wollen. Wie eine endlose Pike wurde der Angreifer davongetrieben, von jenem Eispfahl, der sich immer weiter aus dem Boden bohrte und ihn senkrecht in die Hohe schob, bis das Eis ihn an einem Baum schließlich festpinnte. Die Räuber gerieten in helle Panik, stoben auseinander und flohen in alle Richtungen. Bran warf einem anderen das Schwert zu, als Vivica ihnen nachschrie, das sie es zurücklassen sollten.

Weißbläuliche Augen erfassten mit kalter Wut den Rennenden, sie streckte die Hand aus und eine zweite Lanze bohrte sich aus dem Grund, spießte den Flüchtenden auf. Gut drei Meter hinter über dem Boden, auf Höhe der Straßenmitte, als er das Schwert endlich fallen ließ und der Speer zu wachen aufhörte. In wenigen Stunden wäre alles weggetaut, sicherlich… doch die zwei großen Löcher im Boden würden bleiben, die bis hinab zum Grundwasser führten.

Vivica erhob sich, blickte sich um. Blut der zwei Gepfählten rann aus ihren Leibern am Eis entlang gen Boden. Das Licht, welches durch das dicke Blätterdach fiel, brach sich im Eis und ließ das Blut in verschiedenen Rottönen schimmern. Es hätte wunderschön sein können, wäre es nicht solch ein grausiger Anblick gewesen. „Es tut mir so entsetzlich leid…“ hauchte Vivica beschämt. Sie schritt um den ersten Pfahl herum, hob ihr Schwert vom Boden… und setzte ihren Weg fort.

Deine Magie reagiert für dich, wenn du es nicht tust. Das funktioniert instinktiv, du kannst es nicht steuern. Also solltest du endlich aufhören, dir alles anzulasten, was geschieht, wenn andere dich in Zwangslagen bringen! Sie hätten es ja auch einfach sein lassen können, nicht wahr? Alandors Worte, obgleich er nicht mehr da war, schmerzten noch heute. Sie begleiteten sie, während sie endlich die Tore des Dorfes passierte. Sie allein, Vivica Aandergast, hatte zwei Leben genommen. Schon wieder. Dabei hatte sie sich geschworen, ihre Magie nicht einzusetzen. Eine wahre Heldin durfte nicht gefürchtet werden, aber Hexen wurden unweigerlich gefürchtet. Immer. Überall. Also musste sie mit dem auskommen, was Alandor und Teneros ihr an Schwertkunst hatten vermitteln können. Das war ja immerhin auch nicht wenig!

Dennoch hatte sie ihre Zweifel, als sie sich durch das Dorf gefragt hatte, wo es denn zum Vorsteher ginge. Vor der Tür des Hauses schritt sie über Stunden hinweg auf und ab, das Für und Wider mit sich selbst besprechend. Die offensichtlich verstörte Rothaarige, die nuschelnd und brabbelnd vor dem Haus des Dorfältesten herumlungerte, rief zwar bei einigen Dorfbewohnern und ein paar patrouillierenden Wachen verwunderte Blicke hervor, aber noch sah niemand Handlungsbedarf.

Sie hatte ihre Magie nicht im Griff. Lange hatte sie sich darüber belügen können, doch dieser Zwischenfall hatte es wieder bewiesen. War sie wirklich die Richtige, diesen Leuten zu helfen? Was, wenn sie alles noch schlimmer machen würde? Wenn sie noch mehr Menschen töten würde? Bran musste jetzt schon fürchterlich schlecht von ihr denken – zu recht obendrein! Sie sollte sie denn da vernünftig mit ihm reden? Und was ist mit Alandor? Peter? Linh? Teneros? Du kannst jetzt nicht einfach aufgeben! Ihre Leben sind vielleicht in Gefahr. Du hast es versprochen, Vivica, also überwinde dich und sprich mit denen! Sie atmete tief durch, raffte all ihren Mut zusammen. Sie würde dort hinein gehen. Sie würde so selbstsicher auftreten wie nie zuvor und sie würde Bran und seine Bande verjagen, ohne Magie, jawohl!

Kaum aber wandte sie sich um und setzte einen Schritt, kam eine menschliche Dampfwalze daher.

Dieser jemand rannte nicht einmal, er lief nur. In völlig normalem Schritttempo. Doch als sie kollidierten, da schien es, als würde ein Fischerboot vor eine Galeone geschoben – sie prallte einfach ab. Gehörig strauchelnd ruderte sie mit den Armen, um nicht hinzufallen. Hier war eine Menge Matsch, wohl vom letzten Regenguss und mit völlig verdreckten Sachen konnte sie sich ja wohl kaum dort drinnen sehen lassen und mit einer Respektsperson sprechen! „E-Entschuldigung, d-das tut mir wirklich wahnsinnig leid, ich habe einen Moment wohl nicht aufgepasst u-und…“ Sie hatte hastig daher geplappert, nervös wie eh und je und war obendrein auch noch immer leiser geworden. Der Fremde aber, dem sie aus Versehen in den Weg gelaufen war, schien sich nicht einmal sonderlich daran zu stören. Er ging hinein und… und er schloss die Tür. Was dann wohl hieß, das er ungestört sein wollte.

„N-Na gut…“ nuschelte die Rothaarige, zog einen ihrer Zöpfe hervor und begann wieder, daran herumzunesteln. Drinnen wurde es immer mal wieder laut, sie hörte eine tiefe Stimme, die recht… fordernd klang. Schließlich trat der Fremde wieder heraus, auf den sie zuvor kaum einen Blick hatte erhaschen können und Vivica glaubte noch ein ganzes Stück mehr einzuschrumpfen, als er obendrein die Fäuste in die Hüfte stemmte und sein Kreuz, ohnehin überaus breit, noch breiter erscheinen ließ. Die Muskeln an seinen Armen waren nicht weniger beeindruckend als die Axt auf seinem Rücken und der Lederpanzer, den er trug, schien so viel besser verarbeitet, aber auch schrecklich mitgenommen. Dieser Mann musste ungeheuerlich stark sein und reich und erfahren…

Noch ein wenig weiter zusammenschrumpfend, bat sie ihn schließlich kleinlaut, er möge einen Schritt zur Seite gehen, damit sie hinein könne. Dort einmal vor dem Tisch angelangt, nahm sie erst Platz, als der Älteste sie dazu aufforderte. „Ich… a-also ich… m-mein Name ist Vivica“, hob sie stammelnd an. Sie fühlte sich wie bei einer Prüfung durch Nerwen… nur schlimmer. „Ich habe von… v-von eurem Problem gehört. Mit Bran… äh… d-den Räubern, m-meine ich. Ich wollte euch meine Hilfe anbieten… vielleicht?“ Ihr gegenüber schien sichtlich überrascht, jedoch nicht zwangsläufig verärgert, enttäuscht oder belustigt – was die Firnhexe schon einmal für ein gutes Zeichen hielt. Als er jedoch erklärte, das Dorf sei nicht sehr wohlhabend und durch die beständigen Übergriffe der Räuberbande habe man noch weniger als ohnehin schon, wandte sie hastig und natürlich für die Unterbrechung um Verzeihung bittend ein, das eine Entlohnung gar nicht nötig sei. Die Verwunderung des Dorfvorstandes schien ins Grenzenlose auszuwachsen, doch er erklärte sich damit freundlich lächelnd und dankbar einverstanden und ließ sie ein reichlich offiziell aussehendes Dokument mit ihrem Namen unterschreiben.

Schon als sie sich vom Stuhl erhob, strauchelte sie kurz. Ihre Knie waren butterweich, alles schien sich zu drehen und doch wollte sie schreien und jubeln, wollte tanzen, aufspringen, herumhüpfen und ihre Freude in die Welt hinausschreien.

Was sie natürlich nicht tat. Sowas tat man nicht. Nein. Das gehörte sich so gar nicht.

Entsprechend gesittet, ruhig und beherrscht schritt sie hinaus und wollte bereits nach einem Gasthaus suchen, als sie angesprochen wurde. „Huh?“ sie wandte sich um… und entschuldigte sich sofort erneut. Der muskulöse Kahlkopf von vorhin wollte von ihr wissen, was sie drin zu tun gehabt hatte. „Ich… i-ich habe dem Dorf meine Hilfe angeboten, Herr. Es… es gibt da nämlich Räuber, die-“ Bevor sie ihre Erklärungen überhaupt beenden konnte, fuhr er ihr rüde dazwischen und erklärte, sie solle sich fern halten. Da das sein Auftrag sei. Aber sie hatte doch gar nicht-…? Während er ging, überlegte sie. Erinnerte sich. Das Dokument, welches sie unterschrieben hatte. Darauf waren viele Linien gewesen. Viele Namen. Allesamt durchgestrichen. Mit Ausnahme der Zeile direkt über jener, auf der sie unterschrieben hatte.

Dann… dann wollten sie also beide mit den Räubern reden, um sie zur Vernunft zu bringen? Ja das war doch wunderbar! Zwar war ihr ein wenig mulmig dabei, mit diesem Hünen zu arbeiten, immerhin würde es sicherlich unglaublich schwer werden, ihn nicht irgendwie zu enttäuschen… sie konnte in den falschen Momenten so schrecklich tollpatschig sein…! Aber sie hatten ja ein gemeinsames Ziel, dann würden sie sicherlich-

Doch er war bereits weg. Irgendwo um eine Ecke verschwunden. Selbst als sie zur Ecke schritt und auf die Querstraße spähte – er war fort.

Wie unhöflich… er hat sich wohl gelangweilt, weil ich nur herumstand und überlegt habe! Oh weh… nicht das ich ihn beleidigt habe…?

Wie Vivica auf ihrer Suche nach einer Unterkunft schnell herausfinden musste, gab es im gesamten Ort nur einen einzigen Gasthof, der hatte jedoch sehr zu ihrer Erleichterung einen großzügig bemessenen Stall für die Reit-, Nutz- und Lasttiere der Gäste. Daher vorab schon entsprechend zuversichtlich gestimmt, trat die Rothaarige in den Schankraum ein. Zunächst ließ sie ihren Blick schweifen, um das Nötigste zu erkennen. Welche Art von Klientel hier üblich war, vor allem. Sie entschied schnell, dass es hier zu viele Grabscher und Trunkenbolde gab, um für ihr Essen arbeiten zu wollen, deshalb sie sich mit den Resten ihres Wegeproviantes zu begnügen gedachte. Gerade als sie jedoch zur Theke wollte, flog hinter ihr die Tür auf und ein weiterer Gast stromerte hinein, sie dabei einfach rüde bei Seite schiebend. „Oh, Verzeihung, das tut mir wirklich sehr leid!“ entschuldigte sie sich artig, bekam jedoch lediglich ein halbtrunkenes „Jaja, scho‘ gut“ zurück genuschelt. Immerhin nahm man ihre Entschuldigung an!

Sie wagte sich schließlich doch noch an den Tresen heran und versuchte irgendwie die Aufmerksamkeit des Wirtes zu erlangen, bis der endlich aufhörte, die Krüge zu putzen und sich ihr widmete. „Was soll’s’n sein, junges Fräulein?“ erkundigte er sich in einem schwierig zu verstehenden, aber für die hiesigen Einheimischen typischen Dialekt. „Ich habe gesehen, das euer Gasthaus eine Scheune hat u-und… n-nun ja, i-ich wollte fragen, ob ich vielleicht… ob ich-“

„Ob’de drin schlafen kannst?“ kürzte der Betreiber des Hauses ihre Bitte ab. Sie nickte, bemühte sich um ein freundliches Lächeln, welches jedoch einen Moment ins Straucheln geriet, als der Gastwirt sie kurzerhand fragte, was er davon habe. Sie blickte sich kurz über die Schulter hinweg im Schankraum um, erklärte dann widerwillig, sie könne ja dafür arbeiten, doch selbst das wurde ihr verwehrt. Er habe schon zwei Mägde, er brauche keine Dritte. Sie versuchte, so wie sie es mit Peter geübt hatte, um den Preis für ein Zimmer zu feilschen, zeigte ihrem Gegenüber dabei jedoch leider nur auf, das er sie bis auf die Unterwäsche würde ausziehen können, bliebe er nur hart genug. „Was’n mit dem Schwert, hm? Sieht doch gut aus“, erkundigte sich der Besitzer der Schenke und deutete auf das Stück herab. Die Erinnerungen an Bran und seine Gemeinheit brandeten rasant auf, ließen sie mit beiden Händen die Klinge packen und fest an sich drücken, als könne der recht bullig geratene Wirt jede Sekunde über den Tresen hinweg packen und es ihr stehlen wollen, um sich dann in einer Wolke aus Rauch und Dunst aufzulösen. „Das gehört einem guten Freund, ich kann… ich darf es nicht… e-es ist nur geliehen!“ erklärte sie hastig und log dabei fürchterlich schlecht. Alandor hatte es ihr geschenkt. Sie schämte sich auch beinahe augenblicklich, so überstürzt gelogen zu haben und wollte erklären, dass sie das Schwert ja brauche, um die Räuber zu vertreiben, doch ehe sie zu Erklärungen ausholen konnte, deutete der Schankwirt auf den Ring an ihrer Hand. „Und der? Auch geliehen?“ wollte er wissen, eine Braue skeptisch gehoben.

Nein, geliehen war der nicht. Geschenkt, wie das Schwert. Als Peter damals in ihr Zimmer kam und sie bat, die Augen zu schließen, saß sie auf dem Bett. Ihr Bauch kribbelte, weil sie nervös war und nicht wusste, was sie erwarten sollte. Dann nahm er ihre Hand… und schob den Ring auf den linken Ringfinger. Sie zuckte kurz, öffnete die Lider, als er es ihr erlaubte und schaute dann auf dieses wunderschöne kleine Stück. Schlicht und doch hinreißend, genau wie sie – so hatte er es damals ausgedrückt. Sie kannte sich aus, mit Traditionen, mit Gepflogenheiten. Völlig sprachlos starrte sie Peter an, rot wie eine Tomate musste sie gewesen sein und fragte, haspelte vielmehr, ob er wisse, was es bedeute, einen Ring an diesen Finger zu bringen. Heute – viele Jahre später – begann sie zu zweifeln. An dem, was er daraufhin sagte. Er meinte, er wisse von gar nichts. Es sei nur ein Geschenk. Ein kleines Schmuckstück, eine Aufmerksamkeit.

Heute ahnte sie, dass er genauso schrecklich nervös gewesen sein musste wie sie. Dass er sich tatsächlich mit ihr hatte verloben wollen. Irgendwie. Warum auch immer. Heute ahnte sie, dass sie irgendwie falsch reagiert hatte und er es sich anders überlegte. Sie würde gerne glauben, dass das besser für ihn sei. So könne er herumziehen, sich eine andere, eine bessere Freundin suchen. Doch da lag ja der Hund begraben: Er konnte es nicht. Er zog nicht mehr herum. Er war fort.

Genauso wie Alandor. Und Linh. Und Teneros. Sie waren alle fort.

Du tust es für sie. Ich bin sicher, er hätte Verständnis.

Zögerlich löste sie den Ring von ihrem Finger und händigte ihn dem Wirt aus. Mach, dass es das wert war! Hier in diesem Dorf, mit dieser Räuberbande, muss deine Legende beginnen! Der Wirt prüfte kurz die Echtheit des Ringes – tatsächliches, massives Reingold. „Dafür kannst du so lange im Stall übernachten, wie du willst. Erschreck mir bloß die anderen Viecher nicht!“ Sie versprach, sich gut zu benehmen – und kaum hatte sie ausgesprochen, schepperte es irgendwo hinter ihr. Hastig wirbelte sie herum, sah sich nach der Ursache um und erkannte den großen Hünen von vorhin. Ein Handabdruck glühte rot auf seiner Wange, während eine Frau, offenbar den Tränen nahe, davon stürmte. Ist dir eigentlich aufgefallen, dass er wie du redet? Trifft man nicht so oft, weißt du… ich glaube… also wenn er nicht selbst aus dem Norden kommt, und gebaut wie einer von dort ist er ja, dann stammt er zumindest aus Lumiél! Die Vorstellung war fantastisch. Ein Flecken Heimat, hier in der Ferne. Durch Zufall hatten die Götter ihr einen kleinen Flecken Heimat geschenkt. Ihn ihr mit auf die Reise gegeben. Das klang zu schön, um wahr zu sein…

Obendrein gaffte sie.

Beinahe panisch bemerkte sie das und registrierte obendrein, dass er es ebenso bemerkte. Oh Gott wie peinlich! Hastig wirbelte sie wieder herum und eilte sich, das Haus zu verlassen, um es sich im Stall für das Abendbrot gemütlich zu machen.

 

Der nächste Morgen begann für Vivica bereits unangenehm früh, als ein Pferd sich dazu auserkoren sah, sie darauf hinzuweisen, dass die Sonne gerade so über die Wipfel im Osten zu brechen begann. Immerhin hatte sie damit zugleich einen guten Weckruf und konnte frisch und früh ans Tagewerk gehen. Es gab schließlich viel zu tun – heute würde sie eine Heldin werden!

Gleichwohl überrascht und zusätzlich erfreut war sie, zu bemerken, dass dieser groß gewachsene Bursche vom Vortag ebenfalls ein Frühaufsteher zu sein schien. Er passierte das Nordtor des Dorfes zwar schneller, als sie ihn einholen konnte, doch knapp außerhalb gelang es ihr, mit einem kurzen Spurt zu ihm aufzuschließen. „Verzeihung? Herr? Ich… es tut mir leid, ich kenne euren Namen nicht! Ich… ich wollte mich wegen gestern nochmal entschuldigen? Ich hoffe, ich habe euch nicht irgendwie beleidigt? Herr? Ich habe auf dem Papier bei Herrn Dorfvorsteher gesehen, das ihr auch gegen die Räuberbande vorgehen wollt? Vielleicht… also ich meine… möglicherweise kann ich ja helfen?“ Die epische Legende von Gehilfin Vivica? „I-Ich meine… vielleicht können wir ja einander helfen…?“ Sie bemühte sich, mit dem Hünen Schritt zu halten, der querfeldein ein ziemliches Tempo vorlegte. Ihre Versuche, die Relationen zwischen ihnen zu ihren Gunsten nachträglich zu korrigieren blieben jedoch so fruchtlos und unbeachtet wie jedes einzelne andere Wort, welches sie bisher verloren hatte – sehr zu ihrer Frustration. Allmählich bekam selbst Vivica das Gefühl, dieser Fremde wäre nicht unbedingt die Ausgeburt an Manieren und Anstand. „Ihr könntet ja wenigstens stehenbleiben und mir euren Namen sagen!“ entfuhr es der jungen Rothaarigen frustriert, die sich augenblicklich entsetzt die Hände vor den Mund schlug und eine Entschuldigung nuschelte, die nicht einmal durch ihre Finger dringen konnte.

Der Kahlkopf hingegen blieb tatsächlich stehen, wandte sich zu ihr um und blickte sie aus einer scheinbar völlig unflexiblen, steinernen Miene ernst an. „Geh. Zurück. Ins Dorf“, bekräftigte er langsam und überdeutlich betont. Es erinnerte sie sehr an die Art und Weise, wie Nerwen früher mit ihr gesprochen hatte. Wunderbar! Da war sie um die halbe Welt gereist, hatte so viel gesehen und erlebt, um jetzt immer noch herumkommandiert zu werden? Rückgrat, Vivica! Beweise Stärke!

Stärke, genau! „Ich will aber nicht!“ erwiderte sie trotzig, stapfte mit dem Fuß auf den weichen Boden und reckte stolz das Kinn. Statt jedoch irgendetwas zu sagen oder auszudiskutieren, wandte sich der Krieger einfach wieder um und setzte seinen Weg fort. Wissend, dass ihre Wut nicht angemessen war, sah sie sich dennoch ihr gegenüber machtlos und eilte dem Hünen trotz seines eindeutigen Wunsches hinterher. „Ich bin Vivica!“ hob sie neu an, „Du kommst auch aus Lumiél, oder? Ich bin in der Nähe von Xeranor aufgewachsen. Warst du mal in Xeranor?“ Er knurrte lediglich das Wort „Elben“ deutlich missgünstig hervor, nannte seinen Namen noch immer nicht und stapfte weiter voran. Nun… immerhin schien er Xeranor zu kennen. Das… war nicht viel. Aber vielleicht ein Anfang. Möglicherweise?

Den halben Tag brachte sie bis in die Mittagsstunden damit zu, diesem Massiv hinterher zu eilen, bis sie beide endlich auf eine größere, freie Fläche traten, die sich direkt vor einem Höhleneingang befand. Ihr Landsmann begann unverzüglich etwas Holz zu sammeln und zündete ein kleines Feuer in der dafür vorgesehenen, von einem Steinkreis geschirmten Stätte an. Mehrere flache Findlinge lagen um die Feuerstelle verteilt, offenbar wurde dieser Rastplatz häufiger genutzt und war daher halbwegs hübsch hergerichtet worden, zumindest mit dem, was die Natur hier so hergab.

„Hübsch hier. Ist das die Räuberhöhle?“ erkundigte sie sich einen Blick in den vermeintlichen Kriminellenbau werfend. Tatsächlich befanden sich am Einfang auf zwei erhobenen Sockeln große Metallschalen, in denen Öl brannte und daher ein gutes Stück weit Licht in die dahinterliegenden Gänge warf. „Ich werde dich nicht mehr los, oder?“ erkundigte sich der Hüne unter einem tiefen Seufzen. Ein freundliches Lächeln aufsetzend, wandte sie sich ihm zu und nahm auf einem der Steine Platz, als er ihr diesen mit einer Handgeste zuwies. „Mein Name ist Thorin. Ich stamme aus La Coeur.“ Das Lächeln der Firnhexe wurde noch etwas breiter. Sie erlaubte sich sogar, nochmals aufzustehen, um angemessen einen Knicks vor ihm aufführen zu können. „Es freut mich sehr, Thorin“, ließ sie ihn wissen.

„Also – was soll diese ganze Geschichte hier? Du sagst, du hast deine Hilfe angeboten?“ Sie nickte beflissentlich. „Als nächstes sagst du mir, du hast den Lohn akzeptiert, den sie dir geboten haben, hm?“ Geradezu freudig schüttelte sie den Kopf. Nun konnte sie beweisen, was für eine Heldin sie war! „Nein, ich habe ganz auf den Lohn verzichtet!“ Sie war sich nicht ganz sicher, was sie da kurz auf dem Gesicht ihres Begleiters lesen konnte. Es war nicht die übliche Art von Belustigung, die sie kennengelernt hatte, seit sie als Frau mit Waffe herum zog und Leuten anbot, ihnen bei ihren Problemen zu helfen. Dennoch glaubte sie, er würde jeden Moment lachen. „Götter, was für eine Söldnerin willst du denn eigentlich sein?!“ klang es stattdessen aus seiner Richtung. „Gar keine!“ erwiderte Vivica trotzig. „Aha? Wie nennst du es dann? Plünderin? Abenteurerin? Heldin? Oder-… oh je.“ Das kurze Blitzen in ihren Augen hatte sie verraten, das war ihr völlig klar. Als er andeutete, als er es sogar aussprach… wenn auch nur hypothetisch… als er sie eine Heldin nannte… da konnte sie nicht anders, als noch ein klein wenig breiter zu strahlen. Ja, genau das war es, was sie wollte.

Sie versuchte natürlich, sich zu beherrschen, gewann schnell die Kontrolle zurück und wollte von ihm wissen, was so schlimm daran sei, eine Heldin sein zu wollen. „Du taugst dafür nicht.“ Der Satz traf sie mit der Wucht eines Hammerschlages in die Magengrube. Sie glaubte tatsächlich, ihr würde einen Moment übel werden, schwindlig. „A-Aber… aber… w-warum nicht…?“ Erneut seufzte ihr Landsmann tief, erhob sich und deutete ihr, das Gleiche zu tun. „Du hast ein Schwert, hm? Greif mich an. Ich werde dich nur noch als Heldin Vivica ansprechen und jedem von deinen großen Taten erzählen, wenn du einen Schlag gegen mich schaffst.“ Allein die Aussicht, von jemandem ernst genommen zu werden, war verlockend. Obendrein noch ein wenig Unterstützung bei der Verbreitung ihrer Legende zu erhalten… geradezu unwiderstehlich. Sie warnte Thorin, ihre Klinge sei sehr scharf und er, er schien sich nicht zu sorgen. Keine Spur.

Drei Versuche räumte er ihr ein. Ihr Erster erstarb schon lange vor dem eigentlichen Beginn. Sie wollte die Klinge in einer fließenden Bewegung aus der Scheide ziehen, doch die war ledern, bog sich, die Klinge blieb irgendwie, irgendwo hängen – und er, er trat in ganz gemächlichen Schritten an sie heran, packte ihr Handgelenk, ihre Kehle und erklärte, sie sei nun tot. Er zog für sie die Waffe, drückte sie ihr in die Hand und nahm wieder Abstand ein. Sie versuchte sich an einem diagonalen Hieb, doch er wich zur Seite aus, umrundete sie viel zu schnell und packte sie von hinten. „Tot“, erklärte er wieder und nahm für ihren letzten Versuch Haltung ein. „Machen wir’s spannender. Ich sage dir sogar, was ich tun werde“, erklärte er und trat noch einige weitere Meter zurück, „Ich werde in gerader Linie auf dich zukommen. Du musst nicht mehr machen, als mich aufzuhalten.“ Er begab sich in Position… und stürmte voran. Vivica erinnerte sich an einen Schlag, den Teneros ihr einst gezeigt hatte. Für jemanden wie sie, der über wenig Kraft verfügte, musste der Schlag eben mit Trägheit geführt werden. Sie hob die Klinge in die Horizontale, drehte sich einmal voll im Kreis und ließ die Waffe an geschreckten Armen nach außen rotieren. Bei der anschließenden, zweiten Drehung würde sie ihren Feind auf Höhe der Körpermitte treffen. Es gab kein Entkommen, kein Ausweichen, kein Anschleichen, keine Finten – außer er würde schummeln.

Dann jedoch, während der zweiten Drehung, musste sie ihren Fehler einsehen. Ansehen, genauer gesagt. Der Krieger schlitterte über den Matsch vor der Höhle, tief genug, um unter ihrem Hieb einfach hindurch zu tauchen. Er trat ihr gegen das Standbein, sie verlor ihr Gleichgewicht, stürzte auf ihn. Thorin hingegen umklammerte ihre Taille mit einem Arm, packte in die Luft. In Sekundenschnelle war sie plötzlich unter ihm, von seinem Körpergewicht und seinem Arm in Position gehalten – und die Klinge ihres Schwertes wurde von ihm direkt neben ihrem Kopf in den Boden gebohrt. „Tot“, erklärte er abermals.

Sie atmete schwer, war aufgeregt, nervös… und ein fremder Mann lag auf ihr. Bis in die Haarspitzen beschämt, wurde sie mit jedem Herzschlag ein wenig röter. Der Kahlkopf selbst hingegen schien einen Moment in der Situation gefangen, ehe er sich schließlich erhob, ihr die Hand reichte und sie auf die Füße zog. Er zerrte ihre Klinge aus dem Boden, doch statt sie ihr sofort zurückzugeben, setzte er sich damit wieder an seinen Platz am Feuer. „Außerdem müssen die Haare ab. Ich hätte dich bei deiner zweiten Attacke drei Mal am Zopf packen können. Sowas tut nicht nur höllisch weh, du bist dann auch deinem Feind ausgeliefert.“ Es waren harte, ungnädige Lektionen, die er ihr vor die Füße war. Sollte sie doch selbst sehen, was sie damit tat? „Gib mir bitte mein Schwert zurück“, bat Vivica leise. Sie fühlte sich… unwohl. Nie zuvor glaubte sie so sehr daran, für die bevorstehenden Aufgaben nicht zu taugen, wie in diesem Moment.

Zumindest reichte er ihr widerstandslos die Klinge herüber, nachdem er sie sich einen Moment betrachtet hatte. Es hätte ein schwacher Trost sein sollen… doch im Moment fühlte sie sich nicht, als könne sie überhaupt irgendetwas trösten. „Was hat es mit der Waffe überhaupt auf sich, hm? Wenn ich deine Rüstung so sehe, die übrigens eine Nummer zu klein für dich ist und wirklich schrecklich schlecht gearbeitet wurde… die Qualität passt nicht. Das Schwert ist zu wertvoll. Und… es wurde gekürzt?“ Sie war erstaunt, was er von einem so kurzen Blick auf die Klinge alles sagen konnte. Noch immer deprimiert, jedoch im Begriff, ein ganz klein wenig ihre Laune aufzuhellen, nickte sie vorerst nur.

„Sowas kostet ein Vermögen. Ein Schwert kürzen, meine ich. Man muss es komplett neu ausbalancieren.“

„Ich weiß. Ich… ich habe lange darauf gespart“, erklärte die Firnhexe mit niedergeschlagenem Blick. Schließlich hob sie das Haupt, sah diesen Hünen an. Die Freude, einem Landsmann begegnet zu sein, hielt sich inzwischen arg in Grenzen. Die Heimat begann sie zusehends an ihre Verluste zu erinnern. „Woher weißt du so etwas? Bist du… bist du ein Schmied?“

Der Krieger lachte amüsiert auf, wenn auch nur leise und kurz. „Hm nein“, hob er zu einer Antwort an, „Ich war schon sehr vieles. Soldat, Plünderer, Schmied, Zimmerer, Heerführer, Tagelöhner, Söldner, Bettler, König, Viehzüchter, Staatsfeind, Zechpreller… und ein paar Idioten haben mich sogar einen Helden genannt. Deshalb, Vivica, will ich dir erklären, warum das Konzept eines Helden nicht funktioniert.“ Er räusperte sich kurz, nahm einen Schluck aus seinem Schlauch und versicherte sich ihrer Aufmerksamkeit. Die Firnhexe ahnte bereits, das ihr nicht gefallen würde, was er zu sagen hatte… aber Anstand und Höflichkeit geboten, das sie, ein Weib, artig und schweigend dazusitzen hatte, während er ihr etwas erzählte. Und Nerwen hatte keinen manierlosen Höhlentroll großgezogen. „Helden kämpfen mit Ehre, richtig? Jemandem im Kampf zum Beispiel Staub ins Gesicht blasen, damit er geblendet ist und ihm dann das Schwert in die Kehle stoßen, das wäre ehrlos, nicht wahr? Oder jemanden an den schicken roten Zöpfen packen und daran herumwirbeln? Das Problem mit Ehre ist: Sie tötet. Wenn du den ehrbaren Helden spielen willst, bist du so gut wie tot. Im Kampf gibt es keine Ehre. Im Kampf geht es um das nackte Überleben. Lass dir das von einem gesagt sein, der Tausende Leben ausgelöscht hat und auf hunderten von Schlachtfeldern war: Du magst Ehre haben, anderen aber ist sie egal, solange sie am Ende des Tages noch stehen. Sie werden alles einsetzen, um dafür zu sorgen. Tust du nicht das Gleiche, wirst du verlieren. Vielleicht nicht sofort, aber irgendwann. Damit sind wir schon beim nächsten Punkt. Helden reiten auf edlen Rössern daher, nicht? Sie haben schicke Rüstungen und beste Waffen. Sie steigen nicht in einem Stall ab oder trinken das Brunnenwasser. Sie residieren, und das nur in den feinsten Häusern. Weil es ja verdammte Helden sind! Hast du dich mal gefragt, wie die legendären Helden das alle gemacht haben? Sowas kostet Geld. Eine verdammt große Menge Geld. Ich kann dir sagen, es gibt drei Wege, wie das möglich war. Erstens: Sie haben reiche Eltern oder reich geerbt. Dann verprassen sie das von vorherigen Generationen mühsam angeschaufelte Vermögen und verarmen ihre Familie bis in den Bankrott hinein. Glückwunsch, die Vorfahren werden sich vor Gram im Grabe umdrehen! Zweitens: Sie plündern. Ja, in den Geschichten klingt das immer sehr romantisch. Leere, mit Fallen gespickte, längst vergessene Tempel, in denen große Schätze lagern. Beim Plündern denkt aber niemand daran, dass die ach so großen Helden nach einem erfolgreichen Kampf über das Schlachtfeld wandern und den Getöteten die Geldbeutel vom Gürtel schneiden, weil sie ihre große Siegesfeier am Abend ja auch irgendwie bezahlen müssen. Oh und mein persönlicher Liebling – Drittens: Helden erpressen. Und zwar die, für die sie letztlich diese ganzen Heldentaten vollbringen. Sie pressen so viele Kupfer-, Silber- und Goldmünzen aus ihnen heraus, wie sie können. Aber weil das unschön klingt, lassen Barden sowas gerne unter den Tisch fallen. Es klingt einfach nicht gut, wenn der strahlende Held feilscht und droht. Du schüttelst den Kopf, kannst du ruhig machen. Ich sage dir: Ich habe einige dieser Legenden getroffen. Ich habe mit einigen Legenden gekämpft, Seite an Seite, ich sah, wie die Welt funktioniert. Weißt du, was wahre Helden sind? Ehrbare, prinzipientreue, vorbildliche, blutjunge… Leichen. Und wenn ich die Wahl habe, ob ich die ehrbare, aber bettelarme Leiche sein will, oder der verkommene Lebende, der ein paar Wochen gut essen und schlafen kann – was denkst du, was ich wähle?“

Thorins Worte setzten ihr zu. Sie wusste diese Dinge. Insgeheim hatte sie sie immer gewusst. Aber sie hatte Hoffnung gehabt. Nun saß hier ein Mann, alt und erfahren, der von sich behauptete, er sei alles schon gewesen. Vom Bettler über den Schmied bis zum König. Ihr Blick senkte sich auf die Waffe in ihren Händen. Er hatte erkannt, dass die Klinge gekürzt worden war. Alandors Langschwert war für ihn selbst kaum handlich gewesen und er hatte sie noch überragt. Wenn Thorin das erkennen konnte… welchen Grund hatte sie dann, ihn bei den anderen Behauptungen einen Lügner zu nennen?

Doch was er über das Heldentum sagte, war grausam.

„Nein… das… das ist nicht wahr…!“ hauchte sie mit bebender Stimme. Der Kahlkopf jedoch setzte ungerührt nach. „Ach, ist es nicht? Gut, Heldin. Du bist in eine Falle hineingelaufen“, schon als er das erwähnte, blickte sie schlagartig auf, klammerte sich an ihr Schwert und sah sich panisch um, „Wir werden beobachtet, seit wir das Feuer angezündet haben. Also, wie gedenkst du dich nun, tugend- und ehrenhaft, aus der Sache heraus zu schlängeln?“ Sie sah sich hastig um, in alle Richtungen, konnte jedoch nicht das kleinste verräterische Zeichen erblicken. „Oh ja, sehr unauffällig. So weiß niemand, was ich dir gerade gesagt habe und keiner würde vermuten, dass du eine Falle witterst.“ Er schüttelte seufzend den Kopf, griff nach seiner Axt und erhob sich schwerfällig und wie ein alter Mann ächzend. Das Feuer ließ er unberührt. „Was machen wir denn jetzt?“ hakte die Rothaarige hastig nach.

„Ich weiß ja nicht, was Fräulein Heldin machen will. Aber ich, ich gehe jetzt da rein, überlebe deren Hinterhalt und werde dann völlig unehrenhaft und verkommen meinerseits ‘ne Falle auslegen.“ Mit jenen Worten trat er an den Höhleneingang und wandte sich halb zu ihr um. „Was nun? Wird gleich unangenehm hier. Ich würde an deiner Stelle verschwinden. Nicht, das du dir noch ‘nen Zacken aus deiner Ehrenkrone brichst…“ Zorn regte sich in der Firnhexe – schon wieder. Du hast es ihnen versprochen, ihnen allen! Tu, was nötig ist! Mit einer für die Rothaarige überraschend finsteren Miene trat sie, das Schwert gehoben, neben ihn und erklärte, sie sei bereit. Tatsächlich überrascht, hob der Krieger die Brauen, seufzte und schüttelte kurz den Kopf. Schließlich wagten sie sich gemeinsam hinein, wobei Vivica rasch zurückfiel, um – wie er es nannte – die Nachhut zu decken. Damit ihnen niemand in den Rücken fiel, so erklärte er es. Natürlich nicht, ohne ihr auch zu sagen, dass sie nicht nur über den Kampf, den Umgang mit ihrem Schwert und Kampfmanöver offensichtlich noch eine gewaltige Menge zu lernen habe, sondern obendrein auch über Kampftaktik.

Zu sehr mit ihrer Wut beschäftigt, sah sie deutlich zu spät das Aufblitzen seitlich. Sie waren einige Meter in die Höhlen hineingelaufen, der Lichtschein wurde immer schwächer und schwächer und ihre Schatten dafür länger, doch in jenem schwachen, flackernden Schein hatte Metall etwas gespiegelt. Unter einem überraschten Aufschrei wirbelte sie herum, konnte das Schwert jedoch nicht mehr rechtzeitig in Position bringen. Stattdessen riss sie panisch die freie Hand vor. Es war stets ein widerwärtiger Anblick, wenn große Teile des im Körper eines Lebewesens vorkommenden Wassers zu gefrieren begann. Wasser dehnte sich in diesem Prozess aus, was das Gewebe völlig zerstörte und der Klotz aus Eis, der sie dann zerspringend unter sich begrub war eiskalt und sterbend warm gleichermaßen. Thorin dagegen war vorangestürmt, direkt in die Dunkelheit hinein, als er ebenso das verräterische Aufblitzen von Metall erkannt hatte – gerade rechtzeitig, um dem präzise gezielten Pfeil auszuweichen und den Bogenschützen niederzustrecken, bevor er flink nachsetzen konnte.

„Du kannst zaubern?“ hakte Thorin irritiert nach, als er sie aus dem Berg von Eis, Blut und Fleisch hervorzog. Während sie sich prompt übergab, schien er mit dem Anblick keinerlei Probleme zu haben. Zwischen Keuchen und Würgen versuchte sie ihm zu erklären, dass sie lediglich mit Eis zaubern konnte. „Vivica, du musst mir jetzt gut zuhören: Das hier ist ein Hinterhalt!“ erklärte er. Sie wandte ein, dass sie das doch ohnehin schon gewusst hätten, immerhin hatte er ja genau das draußen schon gesagt. „Nein nein, da hatte ich nur gehofft, dich endlich ins Dorf zurückscheuchen zu können, aber du Klette bist ja einfach nicht gegangen!“ Sie wollte völlig empört protestieren, doch ihr Magen krampfte noch immer zu sehr. „Es ist sehr wichtig, dass du jetzt genau tust, was ich dir sage. Du versteckst dich in diesem Seitengang im Schatten, bis ich dich rufe. Sobald ich das tue, kommst du nah genug, dass ich dich sehen kann. Ich werde etwas sagen. Es ist nicht wichtig, dass du verstehst, was es ist. Sobald du siehst, dass ich zu sprechen aufgehört habe, versteckst du dich wieder im Schatten, klar?“

Sie verstand nicht. Natürlich verstand sie nicht und im Grunde hätte ihm egal sein können, was mit ihr geschieht. Als sie sich tatsächlich weigerte, seinem Plan zu folgen, offenbar eine weitere Finte wähnend, reichte es ihm. „Ich kann dich hier auch einfach stehen lassen. Das sind ein Dutzend erfahrene, kampferprobte Räuber, von denen jetzt nur zwei tot sind – der Rest kommt jede Sekunde hier rein. Was hältst du davon, wenn ich die einfach dir überlasse, hm?“ Sie wollte ihn korrigieren. Es seien nur noch acht, weil sie zwei andere auf der Straße umgebracht hatte. Doch das hier, das war nicht der richtige Ort und nicht die richtige Zeit, um das anzusprechen. Stattdessen ließ sie im Wirbel des Geschehens aus Versehen ihrer Wut freien Lauf – mehr oder minder. „Das wäre sehr, sehr… gemein! Ich habe die Nachhut gedeckt! Meinetwegen hat der da dir nicht in den Rücken fallen können!“

Noch während alles sich etwas unangenehm schnell zu drehen schien, packten die zwei großen Pranken des Kriegers ihre Schultern. Eindringlich sah er ihr in die Augen. „Genau deshalb will ich, dass du das hier überlebst. Klar? Also tu, was ich sage!“ Er drehte sie um, schob sie in die richtige Richtung und verbarg sich selbst. Während sie dort stand und ihren Magen und ihren Kreislauf unter Kontrolle zu bekommen versuchte, wurde ihr allmählich klar, woher sie den Namen Thorins kannte. Es hatte in Lumiél Steckbriefe mit diesem Namen und seinem Gesicht gegeben. Mit geradezu astronomisch hohen Summen darauf. Schmied und Staatsfeind. Warum nicht auch Held? Oder König?

Faktisch schien er sie bisher nur einmal belogen zu haben – was den Hinterhalt anging. Weil sie hatte loswerden wollen. Nun hatte er offenbar seine Meinung geändert und wollte zumindest  für ihre Sicherheit sorgen. Was blieb ihr anderes, als gehorsam abzuwarten? Dass er mehr Ahnung vom Kampf und der nötigen Taktik hatte, hatte er bereits ausführlich bewiesen – so ungern sie das auch zugab. Was, wenn diese Räuber ein ganzes Dutzend Thorins waren? Sie konnte von Glück reden, überhaupt bis hierher überlebt zu haben.

Als dann sein Ruf ertönte, eilte sie herbei. „Beschütze Vivica“, flüsterte der Kahlkopf. Sie bekam die Worte nur am Rande mit, viel zu sehr war sie von jenem sich ihr bietenden Anblick schockiert. Fünf Pfeile ragten aus Thorins Brust. Sie hatte die Geräusche des einsetzenden Kampfes völlig überhört. Zweifelnd, ob sie gerade einem Schock unterlag oder es am lauten Rauschen des Blutes in ihren Ohren lag, setzte sie noch einen Schritt vor. Ihr Landsmann rammte einen faustgroßen, merkwürdig weiß glühenden Zylinder direkt in die vereisten und teilweise bereits wieder schmelzenden Überreste des getöteten Räubers. Das Glühen zog aus dem Stab heraus direkt in die Lache aus Eissplittern, Blut und Wasser hinein und begann daraus etwas zu formen.

Alles Wasser aus der Umgebung aufsaugend, während der kahlköpfige Hüne direkt vor ihren Augen von Geschossen durchbohrt starb, erhob sich ein Eiselementar und ging geradezu tollwütig auf die eindringenden Räuber vor, als diese sich Vivica vorknöpfen wollten.

 

Drei Tage später war die Firnhexe auf dem Weg südwärts. Tiefer ins Landesinnere.

Sie wanderte die Straße durch den Wald ohne rechte Lust entlang. Eine Heldin hatte man sie genannt. Endlich. Sie hatte so lange darauf gewartet, doch nun, da der Moment gekommen war und man versprach, andere würden davon erfahren… kam ihr der Sieg schal vor. Viele Menschen waren auf grässlichste Weise ums Leben gekommen. Man hatte sie hoch gepriesten dafür, dass sie den Lohn abgelehnt hatte. Gerade deshalb kam es ihr fast wie Spott vor, als der Schmied des Dorfes zu ihr kam und erklärte, sie könne gegen halben Preis eine gute Rüstung bei ihm erstehen. Halber Preis. Das war noch immer viel zu viel für ihren knappen Geldbeutel. Und Thorin… der war tot. Durchlöchert von Pfeilen. Mit seiner letzten Handlung hatte er sie zu retten versucht. Warum ausgerechnet sie?

Sie hatte in einem dunklen Seitengang gekauert und gewartet, bis das Schreien und Sterben aufhörte. War es das, wofür man sie Heldin nannte? Es war eine schreckliche Vorstellung, auch nur darüber nachzudenken, doch… was, wenn Thorin mit allem Recht hatte? Mit allem, was er über sie und Helden gesagt hatte?

Ein völlig undefinierbarer Laut ließ sie auffahren. Eine große Gestalt wankte aus den Büschen seitlich der Straße heraus und direkt auf sie zu. „Zurück!“ verlangte sie und zückte ihr Schwert. „Das sieht schon viel fließender aus“, erklang plötzlich eine vertraute Stimme. Skeptisch zog die Rothaarige die Brauen zusammen, als die Gestalt begann, sich Erde und Matsch aus dem Gesicht zu streichen. „T-… Thorin? A-Aber wie… wie… was bist du?!“ Hatte sie einen Moment das Schwert sinken lassen, hob sie es wieder an. „Ist eine lange Geschichte“, erklärte der Hüne lediglich, „Belassen wir es doch erstmal bei: ‚schwer zu töten‘, hm? Den Rest erzähle ich dir vielleicht irgendwann mal.“ Ungläubig ließ sie die Waffe sinken… und schließlich fallen. Sie stürzte mit wenigen Schritten auf ihn zu, allen Anstand und alle Distanz vergessen, warf sich ihm in die Arme und war für einen kurzen Moment einfach nur so unglaublich… erleichtert. „Ich bin so froh…! Ich sah dich sterben und…“ Es war befremdlich, diesen Mann, den sie zuvor stets so grimmig erlebt hatte, lächeln zu sehen. „Ja, und du hast mich beerdigt. Ist zwar nett gemeint gewesen, aber bitte, nächstes Mal? Lass das!“ Er erkundigte sich, ob sie denn erreicht habe, was sie wollte und die Firnhexe erzählte ihm von einer kleinen Feier zu ihren Ehren, davon, dass sie wirklich gar nichts bekommen habe, außer dem Angebot des Schmiedes und der Pflicht, an einem Abend so viele Hände zu schütteln, das sie kaum dazu gekommen wäre, etwas zu essen.

„Weißt du, ich hab mir was überlegt“, hob der Hüne an, „Wir könnten diese Nummer öfter durchziehen, hm?“ Natürlich wusste sie nicht, von welcher ‚Nummer‘ er sprach, weshalb der Krieger erklärte, das er es ganz sicher nicht darauf anlege, noch häufiger zu sterben. Nein, seine Idee sah anderes vor. „Ich komme in ein Dorf und verlange – weil ich ein dreckiger, gemeiner Söldner bin, den doppelten Lohn. Du kommst in das Dorf und machst die Aufgabe freiwillig. Ohne Lohn. Wir erledigen den Job zusammen… und teilen dann. So bekommt zumindest jeder den Einfachen, hm?“ Das war Betrug. Gewissermaßen. Oder etwa nicht?

Die Frage, wie weit sie ihre Prinzipien biegen konnte, ohne sie zu brechen, wurde von Thorin in einer Härte aufgeworfen, wie sie ihr zuvor nie begegnet war. Die Vorstellung war verlockend, wenigstens irgendeine tatsächlich brauchbare Form von Dank zu erhalten. Nicht länger im Stall schlafen zu müssen. Als Heldin gefeiert zu werden und sich auch zugleich wie eine Heldin geben zu können. Sich endlich eine gute Rüstung kaufen zu können.

„Wie hast du das mit dem Elementar gemacht?“ wollte sie in Erfahrung bringen – nicht nur aus Neugier, sondern allem voran, um sich auf andere Gedanken zu bringen. Thorin kramte daraufhin aus seiner Tasche den Stab hervor. Er leuchtete nur in der untersten Partie, der Rest schien matt… leer. „Ein Artefakt. Hat mir während der Rebellion daheim ein Magier geschenkt. Drakimh. Ziemlich arroganter Bastard, aber… er wusste, wie man einen guten Auftritt hat. Ich glaube, er hat das Ding irgendwann vom Zirkel geklaut. Es lädt sich sehr langsam auf, saugt wohl irgendwie Magie aus der Umgebung. Einmal im Monat kann ich es in ein Element halten und es flößt ihm Leben ein. Luft, Erde, Wasser, Feuer… oder eben Eis. Funktioniert vielleicht sogar mit Leichen, ich bin nur nicht wirklich drauf aus, das rauszufinden.“ Fasziniert betrachtete sie den Stab, bevor dieser wieder in der Hosentasche des Hünen verschwand, als wäre er nichts Besonderes. Im Gegenzug jedoch schritt der Krieger wieder zu dem Gebüsch hinüber, welches ihm Deckung geboten hatte und zerrte ein kleines Bündel hervor. „Du hast nicht gut zugehört, hm?“ erklärte er ruhig und löste den Knoten einer Decke. Zum Vorschein kamen zahlreiche Waffen, Rüstungsteile, Geldbörsen – alles wild durcheinander. „Da ist auch eine brauchbare Rüstung in deiner Größe dabei.“ Die Verlockung war groß, das konnte Vivica nicht leugnen, sie wuchs beständig an und er schien das Thema auch partout nicht auf sich beruhen zu lassen… bis er jedoch das Bündel wieder schnürte und erklärte, sie würden im nächsten Gasthaus darüber entscheiden. Was sie nicht gebrauchen konnten, würde verkauft werden und das Geld würden sie teilen – weil sie die Nachhut gedeckt habe. Sie wollte bereits einwenden, dass das nicht wirklich in Relation zu der von ihm geleisteten Arbeit stand, als er ihr bereits mit seinem nächsten Ansatz das Wort abschnitt.

„Mir kam übrigens eine Frage in den Sinn: Wieso willst du eigentlich unbedingt Heldin werden?“ Ausgesprochen, so befand der Krieger kurz nachgeschoben, klang das beinahe lächerlich. Nach allem aber, was er für sie getan hatte, befand die Rothaarige, hatte er ein Recht auf die Antwort. Auf eine richtige Antwort.

„Ich hatte ein paar wirklich gute Freunde. Wir… wir waren in Lumiél und sind dort einem Mann begegnet. Einem wirklich fürchterlich bösen, mächtigen Magier. Er… er hat mir meine Freunde weggenommen. Ich forderte ihn heraus und er sagte mir, ich könne um meine Freunde kämpfen, gegen ihn, sobald andere mich eine Heldin nennen. Er verspottete mich damit. Lachte mich aus. Ich forderte ihn auf, das zu schwören… und er tat es.“ Thorin runzelte die Stirn. Das war eine reichlich… kuriose Geschichte. Entsprechend wollte er wissen, was sie mit weggenommen meinte, ob sie nun Sklaven seien oder tot, doch Vivica konnte ihm keine klare Antwort geben. „Sie sind… sie sind irgendwo. Und irgendwann. Einen nach dem anderen hat er sie fortgeschickt. An irgendeinen Ort auf dieser Welt… hoffe ich. In irgendeine Zeit.“ Von ihren Worten deutlich alarmiert, packte der Kahlkopf sie bei der Schulter und zwang sie, stehen zu bleiben und ihn anzublicken.

„Reden wir von Duncan?“ verlangte er bitterernst zu erfahren.

„Du… du kennst ihn?“ Obwohl keine klare Antwort, war es für den Kahlkopf doch offensichtlich Antwort genug. Vivica hatte Raubkatzen gesehen, die ihren Buckel krümmten, das Fell sträubten, die Krallen ausfuhren und bedrohlich fauchten. Thorin schien plötzlich auf ganz ähnliche Weise von Sekunde zu Sekunde finsterer zu werden, zorniger,… gefährlicher. Mit gepresster, leiser Stimme erklärte er, ihn zu kennen. Selbst die Firnhexe konnte ihm anhören, mit welchem gewaltigen Ausmaß an Beherrschung er sich unter Kontrolle zu halten versuchte – und es gelang ihm nur um Haaresbreite.

Erst nach einigen Augenblicken konnte er sich langsam zügeln. „Wir werden ihn finden“, erklärte der Krieger mit bitterster Entschlossenheit, „Wir werden ihn finden und ihn besiegen. Du… du hast jetzt einen Lehrmeister. Und wir, wir haben noch viel zu tun!“



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