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Lumiél

Königreich der Monde
von

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Der Anfang vom Ende

Die wenigsten Abenteuergeschichten, die je zu großem Ruhm gelangen und in Liedern und Epen wiedergegeben werden, beginnen auch mit den gewaltigen, welterschütternden Ausmaßen, in denen sie enden. Weniger aber noch begannen so wie dieses – mit zwei zwielichtigen Gestalten, wie sie zwielichtiger nicht hätten sein können,… in einer Besenkammer.

Für die Dauer weniger Herzschläge öffnete sich die Tür, völlig lautlos, ließ einen kleinen Spalt breit Licht hinein. Das warme Licht von Öllampen flackerte kurz auf, beleuchtete staubige Regale bepackt mit allerhand Utensilien. Ein Teil derer war bereits verwittert, morsch, von Holzwürmern zerfressen – und selbst die mochten schon vor Jahrzehnten an Langeweile verendet sein. Reinigungsbedarf, so tief vergraben, dass man diesen Raum vermutlich vergessen hatte und trotz der Existenz seiner Eingangstür nicht einmal mehr wahrnahm.

Es war perfekt für ihr Treffen.

Eine Gestalt schlüpfte in den Raum, die Tür schloss sich rasch, lautlos, sperrte das Licht wieder aus. Selbst in völliger Finsternis zogen beide Figuren die Kapuzen ihrer Umhänge noch etwas tiefer ins Gesicht, um sich noch weiter zu verstecken, oder einander zu grüßen. „Hast du den Schlüssel?“, erklang eine weibliche Stimme ungeduldig. Ein leises Rascheln wie von Kleidung, dann ein metallisches Klimpern. „Und… den Rest?“

„Alles da. Sollen wir dann?“, erwiderte eine männliche Stimme aufgeregt.

„Beruhig dich. Gib mir den Schlüssel.“ Etwas ungeschickt tastete eine Hand nach der anderen, bis der kalte, metallene Bund hineingelegt wurde. Stille breitete sich aus. „Was?“ Ihre Überraschung überraschte ihn. Schlimmer noch – ihm entging nicht der leicht zornige Unterton, der sich in nur diesem einen, kurzen Wort aufzubauen schien. Hatte er einen Fehler gemacht? Etwas nicht bedacht? Den… den falschen Schlüssel mitgenommen? Inbrünstig flehte er, dass es nicht der falsche Schlüssel war. Er konnte sich solche Fehltritte nicht leisten, nicht bei ihr. Sie würde ihm… sie würde…

„Licht“, blaffte sie gepresst, um möglichst niedrige Lautstärke bemüht, „Ich brauch Licht, lass mich durch!“ Noch bevor er reagieren konnte, wurde sein dürrer Leib schlicht zur Seite geschoben, er hörte Rascheln, Schritte, Ledersohlen auf Stein und dann das Nirschen einer schon lange nicht mehr geölten Türklinke im Holz. Wie er sie hatte lautlos öffnen und schließen können, war ihm so sehr ein Rätsel wie ihr. Vielleicht, weil er es nicht mit Gewalt versuchte.

Seine Augen hatten sich gerade genug an die Dunkelheit angepasst, um ihre Umrisse zu erkennen, da strömte abermals der flackernde Schein der in regelmäßigen Abständen an den Decken hängenden Öllampen aus dem Gang herein. Geblendet zischte er leise wie eine Schlange es als Drohgebärde von sich geben mochte, kletterte ihr aber zwischen staubigen Säcken voller Werkzeuge und Asche – was immer das früher gewesen sein mochte – hinterher. Wie er diese Hindernisse zuvor in völliger Dunkelheit hatte umgehen können, war ihm nicht klar. Selbst jetzt bemerkte er sie kaum, zu sehr war er auf den Rücken der Gestalt vor sich fixiert.

Sie stand in der nur leicht geöffneten Tür, betrachtete, was sie in Händen hielt.

Irgendetwas verfing sich auf seinen letzten Schritt an seinem Fuß. Er stolperte vorwärts, verlor fast den Griff des Bündels auf seinem Rücken. Bevor es ihm entgleiten konnte, packte er umso fester zu, krampfhaft regelrecht – und lebte stattdessen lieber damit, gegen sie zu rempeln, sie nahezu umzuwerfen. Er selbst stolperte ein paar Schritte vorwärts, hinaus aus der Besenkammer. Hinter sich hörte er die Tür zufallen. Hastig wandte er sich um, packte die Klinke, riss daran, als hinge sein Leben vom Öffnen dieser Pforte ab.

Seltsam. Sie gab keinen Millimeter nach, obgleich er sie zuvor noch so leicht und lautlos obendrein hatte öffnen können. Wissend, dass das Ende seines leidigen Lebens nah war, wandte er sich um. Tausende Entschuldigungen und Ausflüchte jagten durch seinen Schädel, kämpften darum, welche wohl am wahrscheinlichsten zum Erfolg führte – dazu, ihm die Haut zu retten.

Das-“, hob sie an, unterbrach sich jedoch selbst, als ein fremdes Geräusch ihrer beider Ohren belästigte. Da waren Schritte. Leise Schritte, aber sie kamen näher. Wer um des Himmels Willen kam zu dieser Uhrzeit hier runter…?! „Da kommt jemand!“, zischte sie das Offensichtliche, als wäre es seine Schuld. Sie deutete zur Tür – er schüttelte den Kopf. Sie deutete noch ein gutes Stück wütender zur Tür. Was sollte er tun? Das verdammte Ding rührte sich keinen Millimeter!

Was blieb ihm schon zu tun? Sie konnten nur eins machen. Den Plan umsetzen.

Hoffentlich war das nicht der falsche Schlüssel…!

Er packte sie beim Handgelenk und zog. Sie war viel zu perplex, um sich dagegen zu wehren. Er zog sie mit sich, blindlings in den Treppengang hinein, der wenige Meter von der Tür der Besenkammer entfernt in die Tiefe führte. Also, noch weiter in die Tiefe – im Keller waren sie immerhin schon. Die Schritte wurden wieder leiser, je tiefer sie kamen und wenig später fanden sie sich in einem kleinen Rundraum wieder. Hier gab es nur eine einzige Tür. Ein verstärkter Metallrahmen, Metrallstreben entlang der massiv wirkenden Eichenplanken. Ein kleines, feines Schlüsselloch.

„Und jetzt, du Genie?!“, blaffte sie ihn zornig an und riss sich von ihm los, „Wir haben das tagelang geplant und du, du… du Holzkopf, du schleppst den falschen Schlüssel an!“

„Woher hätte ich das denn wissen sollen?!“, schoss er plötzlich zurück. Er hatte selbst nicht recht bemerkt, wie ihre Vorwürfe ihn wütend gemacht hatten, immer mehr, je länger er ihr keine Antwort gab. Nun starrten sie einander an, funkelnd, lauernd, abschätzend.

„Nate“, begann sie erstaunlich ruhig und gefasst, ehe sie den Schlüsselbund direkt vor seiner Nase hochriss, „Der Schlüssel ist aus Stein. Stein, Nate! Und das da“, sie deutete mit einer schwungvollen Geste zur einzigen Tür im Raum, „ist die falsche Tür für den hier! Er würde nicht mal ins Schlüsselloch passen!“

Eigentlich, so flüsterte ihm ein Stimmchen in seinem Hinterkopf zu, ja eigentlich sollte er eher kauern. Und sich Sorgen machen. Sie war kräftig. Selbst wenn sie es nicht wollte, bestand die Chance, dass sie ihn verletzte. Ihre gelegentlichen Schläge auf seinen Hinterkopf – „um dein mit Zucker verklebtes Hirn wieder zum Laufen zu bringen!“ -, waren in der Regel schon schmerzhaft genug. Und da hatte sie noch dieses neckische Grinsen im Gesicht, das ihre Grübchen zur Schau stellte. Hier und jetzt dagegen…

„Woher hätte ich das denn wissen sollen?!“, wiederholte er trotzig und wild mit den Armen gestikulierend, „Du hast gesagt: Die Krone ist im Keller. Und zum Keller gibt es nur einen Weg, mit nur einer Tür. Es gibt auch nur einen Schlüssel an nur einem Schlüsselbund und der hängt an der immer selben Stelle. Ich hab diese verflixte Tür noch nie gesehen – aber ich habe genau diesen einen Schlüssel geholt, der an genau dieser einen Stelle hing!“

Seine Widerworte fachten ihr Feuer nur weiter an. Sie warf in Frustration die Arme in die Höhe und stieß einen kleinen, kaum gedämpften Aufschrei aus. Inzwischen war ihr egal, wer sie alles hören könnte. Ihm ebenso. Sie waren gescheitert. Waren sie doch – oder? Sie waren gescheitert, nicht?

„Und was glaubst du, was wir jetzt machen sollen, hm?“, fuhr sie ihn an. Oder… zumindest hätte es wohl wie ein Vorwurf klingen sollen. Aber ein Teil von ihr wusste es vermutlich besser. Hilfe kam mitunter aus den ungewöhnlichsten Quellen. Und er, er war als Quelle für tatsächliche nützliche Hilfe höchst ungewöhnlich.

Einen Moment gaffte er sie an, dann den Schlüssel, die Tür, wieder sie. Schließlich zuckte er mit den Schultern. „Da hing ein Schlüssel, also… schauen wir zumindest, ob hier eine Tür ist, nicht?“

„Nate, ich kenne diesen Raum, ich war hier unzählige Male, hier gibt es keine weitere Tür!“

Er hatte sich jedoch längst an die Arbeit gemacht. Mit scharfem Auge und wachem Verstand ging er die Wände des Raumes ab, Schritt für Schritt, blieb jedes Mal kurz stehen, prüfte den Boden, besah sich die Decke, suchte nach Mustern im Stein, klopfte nach Löchern, nach Hohlstellen in der Wand. „Willst du nur weiter maulend da herumstehen oder dich nützlich machen?!“ Wie sie geradezu empört nach Luft schnappte, es war einfach wundervoll! Er hätte lachen wollen, der Drang war da, selbst hätte das Echo im ganzen Schloss erklingen können – doch er wusste es besser. Sie zu necken war eine Sache. Sie damit auch noch aufzuziehen, das wurde schnell schmerzhaft.

Seine Freundschaft zu ihr hatte ihm ohnehin schon mehr blaue Flecke eingebracht, als er zu zählen vermochte. Und er war gut im Zählen.

Es dauerte eine Weile. Minuten verstrichen, in denen sie einfach nur die Wände abschritten, wieder und wieder, schweigend, aufmerksam, fokussiert, bis plötzlich…

„Aha!“

„Was? Was hast du?“ Eilig kam sie zu ihm herüber, doch statt ihr zu antworten forderte er lediglich den Schlüsselbund ein. Er blies an einer Stelle, die für sie völlig unauffällig wirkte, gegen den Mörtel zwischen den Steinen. Erst als er den Kopf etwas zur Seite bewegte, um ihr bessere Sicht zu ermöglichen, sah sie, dass er nicht nur gepustet hatte. Ein Schluck Wasser, frisch ausgespuckt, rann am Stein herab. Sie wollte sich schon darüber beschweren, wie eklig das war, als ihr jeder Gedanke quer stecken blieb beim Anblick dessen, worauf er hinaus wollte: Der Mörtel färbte sich dunkel ein, wie er es bei Kontakt mit Wasser tun sollte. Doch da, zwischen vier Steinen, war eine Stelle, die trotz des Wassers hell blieb.

Jetzt erst wandte er sich dem prächtig gefüllten Jutesack zu, den er hierher geschleppt und bei Betreten des Raumes erstmals abgelegt hatte. Er kramte darin herum und förderte einen Gürtel zutage, den er sich rasch umlegte. Zwei absurd geformte Dolche wanderten in die Laschen an den Seiten, eine der Klingen glänzte so schwarz wie die Nacht und schien das Licht zu verschlingen, die andere wirkte weich und starrte man sie lange genug an, glaubte man, sie sei flüssig und würde wider aller Naturgesetze dennoch die Form halten.

Unsicher trat sie zu ihm, packte zu. Ein zerfledderter und unzähliger Male geflickter Lederpanzer schloss sich um ihren Torso. Er spannte unangenehm, als er ihre Brust abdrückte. Er war eben nicht für Frauen gedacht. Dennoch trug sie ihn mit Stolz und zog die Gurte fest, bevor sie sich beugte und erneut in den Beutel griff. Sie förderte einen Kleinschild zutage. Die eigenwillige Form sprach bereits von Geschichte, mehr noch die vielen kleinen Schrammen auf der Vorderseite. In hübschem Schwarz lag die Drachenschuppe auf ihrem Unterarm, von Ledergurten gehalten. Das Licht brach sich daran und ließ die wie Obsidian wirkende Schuppe leicht schillern. Mit einem andächtigen Lächeln fuhren ihre Fingerspitzen über das Stück, ehe sie sich abermals zum Beutel herabbeugte. Alle Freude und Nostalgie waren nahezu augenblicklich verschwunden, als sie eine Streitaxt hervorzog und den nunmehr leeren Beutel fallen ließ.

„Nate… was soll das?“

Der Angesprochene stand längst am vermeintlichen Schlüsselloch und hatte die Aussicht genossen. Jedes Mal, wenn sie sich vorbeugte, dann-… und ihre langen, blonden Haare ließen sich kaum von dem Zopf bändigen, in den sie sie zu zwängen versuchte. Als er seinen eigenen Namen hörte, kehrte er widerwillig aus seinen Tagträumen zurück und schüttelte das Haupt. „Hm?“ Er bemerkte ihren Blick, ungnädig, verstimmt – schon wieder. Was er jedoch ebenso bemerkte, war die Axt in ihrer Hand. Oh er wusste, was er falsch gemacht hatte, es war nur… nun ja…

„Mit der Axt siehst du so viel eindrucksvoller aus…!“, gab er kleinlaut von sich, ein mageres, vorsichtiges Lächeln auf den Lippen. Doch sie hatte keinerlei Achtung für den zaghaften Versuch eines Komplimentes.

„Mir ist egal, wie ich damit aussehe. Ich kann mit dem Ding nicht umgehen!“

„Es ist nicht so, als würden wir tatsächlich kämpfen, Lia!“, versuchte er sich diesmal zu verteidigen. Vielleicht hatte sie nachträglich realisiert, was er ihr gesagt hatte. Die Hoffnung zumindest blieb, als sich eine leichte Röte in ihre Wangen legte und sie es dabei auf sich bewenden ließ. Oder es lag daran, dass er ihren Kosenamen verwendet hatte.

Statt weiter darüber zu rätseln, wandte er sich hastig um. Ihre Launen konnten rasch wechseln, besser man nutzte die guten Phasen klug. Also presste er den Steinschlüssel gegen die noch immer helle Stelle im Mörtel. Er hörte, wie sie näher kam, an seine Seite trat und ihm über die Schulter lugte. Ihr Kinn lag auf seiner Schulter auf. Er spürte ihre Nähe. Die Wärme, die ihr Körper abstrahlte. Ihren Atem. Wie ihre Haare, jene dem Zopf Entflohenen, seinen Nacken kitzelten. Für einen Moment schlug ihm sein Herz bis zum Hals, er fürchtete schon, sie würde es klopfen hören – ganz zu schweigen davon, das seine Knie weich wurden.

Doch seine Hände blieben konzentriert, blieben ruhig. Ein weiteres seiner Talente. Er zitterte nicht. Nie.

Der Steinschlüssel fuhr in den Mörtel hinein. Er machte sich keine Gedanken über das Wie oder Wohin, stattdessen drehte er ihn einfach nach rechts. Denn das tat man so mit Schlössern. Man drehte nach rechts. Immer. Nicht? Widerstand ließ ihn realisieren, dass die Drehung nicht einmal ein Viertel betrug – und sich nichts tat. Also drehte er nach links. Halbe Drehung, Widerstand. Eine Braue gehoben, drehte er wieder nach rechts. Dreiviertel Drehung, Widerstand. Mit in Falten gelegter Stirn und einem breiten Grinsen auf den Lippen drehte er wieder nach links.

Volle Drehung. Ein Klicken. „Heh… clever…!“, lobte er das Machwerk. Lia hätte nach der ersten erfolglosen Drehung nach rechts aufgegeben, da war er sich ziemlich sicher. Oder sie hätte versucht, die Wand einzuschlagen. Was nicht weniger möglich und wahrscheinlich war.

Die Tür öffnete sich. Sofern man das eine Tür nennen wollte. Sein Blick glitt durch den dünnen Spalt hinab in die Tiefe, eine gähnend leere, schwarze, alles Licht verschlingende Tiefe. Eine schmale Treppe führte herab. An seiner Seite dagegen spürte er Lia sich anspannen, wie sie einen Schritt zurücktrat. Er vermisste ihre Nähe fast augenblicklich, sagte jedoch nichts – zu spannend war, was vor seinen Augen geschah. Auch wenn das nicht viel mehr war als… noch mehr Schwärze.

Seine Begleiterin dagegen fühlte sich zunehmend unwohl. Während Nate die Tiefe angaffte, bemerkte sie die Tür selbst. Es war nicht so, als würde ein vordefiniertes Steinsegment ein Stück zurückgesetzt und dann in seinem seitlich befindlichen Hohlraum einsinken. Nein. Die Wand schmolz einfach in die restliche Wand hinein. Das war nicht natürlich, es stank regelrecht nach Magie und das wiederum war ihr einfach nicht geheuer.

„Nate, ich… ich glaube nicht, das wir da unten die Krone finden“, merkte sie zögerlich an.

Er wandte sich ihr zu, grinsend, zuckte mit den Schultern. „Wohl nicht“, stimmte er zu, „Aber lustig dürfte es trotzdem werden, hm?“ Sie griff nach ihm, wollte ihn zurückhalten, doch ihre Reaktion kam einfach zu spät. Er hatte schon die ersten Schritte in die Tiefe gesetzt. „Nate…? Nate! Nathenial, warte auf mich!“

 

„Ugh…“ Unter einem leidlichen, erschöpften Stöhnen ließ sich Thorin in seinen Sessel fallen. Das Polster gab kurz ein Ächzen von sich – oder war es das Holz des Rahmens? Ninafer dagegen besaß mehr Anstand und Manieren, sie ließ sich in einem Sessel an seiner Seite nieder, elegant wie eh und je. „Melina, das Übliche bitte“, orderte sie ein am Eingang des Salons bereitstehendes Dienstmädchen. Die Magd nickte, knickste leicht und verschwand aus dem Raum, die Türen hinter sich schließend.

Ishara atmete tief durch, als sie sich an Thorins anderer Seite in einen dritten Sessel sinken ließ, ein kleines Stück weiter entfernt stehend als der Ninafers. Alistair dagegen entzündete zunächst das Feuer im Kamin, ehe er an der Seite seiner Gemahlin einen kleinen, eigentlich als Fußablage angedachten Hocker als seine Sitzmöglichkeit auserkor.

„Schlechter Morgen, hm?“, erkundigte sich Lileth mit einem Grinsen.

Thorin wischte sich mit der Pranke über das Gesicht und den kahlen Schädel. „Du machst dir keine Vorstellungen. Anadyr fordert die Aufhebung des Embargos. Aber Eumenes aufgeben wollen sie auch nicht. Ordewey braucht noch mehr Weizenlieferungen – ich weiß nicht, was die damit machen. Entweder verfüttern sie’s zusätzlich an ihre Schweine oder jeder einzelne Mann, jedes Weib und jedes Kind dort muss wohlgenährt genug sein, selbst als Schweine durchgehen zu können.“

„Und Lady La Marre hat schon wieder versucht, seinen Berater zu becircen“, stimmte Ninafer mit ein. Obwohl sie höflich und freundlich lächelte, dieses allzeit professionelle, distanzierte Lächeln, sah man ihr an, dass es sie heute mehr Nerven und Kraft kostete, die Fassade aufrecht zu erhalten, als es das an anderen Tagen tat.

„Oh und erinnerst du dich noch an diese kleine Gruppe Kaderalith-Elben, die förmliche Beschwerde gegen euch eingereicht haben, weil ihr euer Leben verlängert?“, setzte Thorin seine Tirade fort und blickte zu Ishara und Alistair, die ihrerseits kurz einen Blick tauschten und dann, für beide erstaunlich grimmigen Gesichtes, nickten. „Rate mal. Sie sind wieder da. Diesmal mit Drohungen, die auf Gesetzesentwürfen aufbauen. Entwürfen. Ihre eigenen Entwürfe, übrigens. Für die sie nicht mal genug Stimmen haben. Das hindert sie aber nicht daran, mir jetzt schon mal vorsorglich drohen zu wollen, was mit euch geschehen sollte, falls sie sie durchdrücken können.“

Ishara schnaubte verächtlich. „Das ist mein verdammtes Blut. Ich kann damit machen, was ich will!“

„Das versuchen wir ihnen ja klar zu machen, Liebes, es ist nur-“, setzte Ninafer mit einem beschwichtigenden Lächeln an, doch Thorin schnitt ihr schlicht das Wort ab.

„Ich habe ihnen klipp und klar gesagt: Drohen sie mir oder meiner Familie noch ein einziges Mal, entziehe ich ihnen den Botschafterstatus und sie können die Sache mit dir persönlich ausdiskutieren.“

Unter anderen Umständen hätte die hitzige Anspannung im Raum vielleicht dafür gesorgt, das spontan mehrere Dörfler aus dem Nichts in die Existenz traten, bereits fertig bewaffnet mit Fackeln, Heugabeln und Spitzhacken, um einen guten, klassischen alten Mob zu formen. Bevor das jedoch in irgendeiner Form geschehen oder sich die Spannung anders entladen konnte, verpuffte ihre gesamte Wirkung einfach beim Aufklang eines heiteren, fast schon hysterischen Lachens.

Alistairs Lachen.

Mit den Jahren – gedehnt wie sie an ihm auch vorbeistreichen mochten -, hatte seine Stimme sich ein klein wenig verschoben, sodass er nun immerhin nicht mehr ganz so hoch klang. Dennoch war sein haltloses, hemmungsloses Gelächter nach wie vor ansteckend. Thorin schüttelte den Kopf, obgleich leicht grinsend, Ninafer schmunzelte deutlich besser beherrscht ein wenig in sich hinein und Ishara selbst begann leicht zu kichern, als sie sich ihrem Liebsten zuwandte. „Du stellst dir gerade vor, wie ich mit ihnen diskutiere. Tatsächlich diskutiere, nicht?“ Noch immer in haltlosem Gelächter gefangen, brachte Alistair lediglich ein Nicken zustande, ehe die Vorstellung, die ihn so erheiterte, auch ihren Verstand infizierte und ihre Dämme brach.

Es dauerte ein paar wenige Minuten, ehe sie sich wieder beruhigt hatten.

„Ich glaube, Worte bringen da nicht mehr viel. Aber Elben sind gute Bogenschützen, ich bin mir sicher, sie werden Pfeile verstehen“, resümierte Ishara noch immer breit lächelnd.

Alistair schüttelte noch grinsend und leicht außer Atem den Kopf, ehe er die Hand hob „Ah, da fällt mir was ein.“ Er zog aus der Hosentasche einen Schlüsselbund hervor und legte ihn auf den kleinen Tisch vor Thorin. Der musterte den einzigen, bronzefarbenen Schlüssel daran kurz und sah irritiert zu Alistair auf. „Der Kellerschlüssel“, erklärte der frühere Gildendieb, nachdem er das Gefühl bekam, das die Stimmung allmählich umschlug. Irgendwie wurden alle immer ernster, die Furchen auf der Stirn immer tiefer und die Blicke, die sich nach und nach auf ihn legten, immer bohrender.

„Du solltest ihn doch dort hängen lassen, wo sie ihn leicht finden können…!“ brachte Ishara leise hervor. Ein ungutes Gefühl wühlte ihre gesamte Magengrube auf und dieses Unbehagen legte sich in jede Silbe ihrer Worte.

„Wenn sie diesen Schlüssel nicht haben…“, setzte Thorin an und wandte sich an Ninafer, die selbst etwas blasser geworden war.

„Sie sind heute früh in den Keller gegangen und seither nicht wieder zurückgekommen“, erklärte die einstige Giftmischerin. Ein eisiger Schauer kroch drei Rücken herab, während Alistair unsicher lächelnd auf seinem Platz hin und her rückte. Er verstand nicht, was vor sich ging.

„Als du heute früh aufgestanden bist, was hast du da gemacht?“ erkundigte sich Ishara mit einer dunklen Vorahnung. Alistair zuckte mit den Schultern, doch seine Erklärung, dass es nur das Übliche gewesen sei, veranlasste drei ungeduldige Nachfragen, das er jeden Schritt genau beschreiben sollte. „Ich bin aufgestanden, habe unser Bett ordentlich hergerichtet, ins Bad, habe meine Morgenwäsche erledigt – muss ich das auch im Detail ausführen?“ Doch niemand teilte seine kleine humoristische Einlage. Etwas lag im Argen, ganz gewaltig. Nicht einmal Ishara lächelte, nicht einmal ihre Mundwinkel zuckten. „Danach bin ich zurück ins Schlafzimmer, hab mich angezogen und kurz gebetet. Dann kam ich zu dir.“

Es wurde still im Raum. Selbst das Feuer, so schien es, wagte nicht mehr zu knistern. „Bist du direkt nach mir aufgestanden?“, erkundigte sich Ishara.

„So wie immer, ja“, gab Alistair zur Antwort und runzelte nun selbst die Stirn. Warum verhielten sich plötzlich alle so merkwürdig?

„Hase, du warst heute früh fast zwei Stunden im Schlafzimmer allein. Was… was war das für ein Gebet?“, brachte Ishara so leise und mit zittriger Stimme hervor, das Alistair nun seinerseits einen eisigen Schauer verspürte. Er begann die düstere Vorahnung der anderen zu teilen, als ihm allmählich klar wurde, worauf sie hinaus wollten. Aber das war nicht möglich. Es durfte einfach nicht möglich sein.

„Ich bat Lenikki, das er ein wachsames Auge auf sie haben möge. Dass sie ein schönes Abenteuer erleben mögen. Nichts Besonderes, nur ein wenig Schutz.“

Kaum hatte er seine Erklärung beendet, sprang Thorin regelrecht auf. Ninafer erhob sich ebenfalls, sogar Ishara. Seine Liebste trat hinter ihn, ihre Hände kamen auf seinen Schultern zur Ruhe. Wollte sie ihn bestärken – oder festhalten? Vielleicht beides. Thorin kramte aus einem kleinen Schränkchen neben dem Kamin eine Phiole mit gelblichem Pulver hervor und reichte sie Ninafer. „Du weißt, wie das funktioniert.“

„Ich weiß auch, dass man danach fürchterliches Nasenbluten hat“, versuchte Alistair abermals, die Stimmung etwas aufzuhellen. Abermals erfolglos. Er hatte schon vorher gewusst, dass es nichts bringen würde. Aber er konnte einfach nicht anders. Diese Ernsthaftigkeit, dieses drohende Unheil, die allseitigen, finsteren Blicke, das war nicht seine Art. Schweren Herzens seufzte er, versuchte seinen überhastigen Herzschlag zu besänftigen, ehe er eine Prise des Pulvers auf die Hand nahm. Er hob es zu seinem Gesicht, zögerte, bis Ishara den Druck ihrer Hände auf ihn ein wenig verstärkte. Abermals kam ihm die Frage in den Sinn: Um ihn zu bestärken, oder um ihn festzuhalten?

Ein tiefer Atemzug beförderte die Substanz in seine Lungen und von dort aus in sein gesamtes System. Wie alle anderen im Raum, wusste er genau, dass das Eintreten der Wirkung einen Moment dauern konnte. Also saß er so lange so ruhig da, wie er es konnte – was sich in seiner Gesamtheit auf wenige Sekunden beschränkte, ehe er anfing, unruhig zu werden und unter Isharas Griff auf dem Hocker hin und her zu rutschen.

„Passiert schon was? Ist da was?“, hakte er ungeduldig nach. Niemand antwortete ihm. Weitere kostbare Sekunden verstrichen, Ishara beugte sich zu ihm herab, ihre Lippen dicht an seinem Ohr, das er ihren Atem spüren konnte.

„Ssscht, ganz ruhig. Entspann dich.“

Alistair schloss die Augen und sog die Luft tief in seine Lungen. Er hielt sie dort einen Moment gefangen und entließ sie langsam und gleichmäßig. Die Übung wiederholte er drei Mal – eine Technik, die Meister Lamerak ihn gelehrt hatte. Als er die Augen öffnete, sah er Thorins steinerne Miene. Nur wenn man ihn näher kannte war der Funke unterschwelligen Zornes in seinen Augen erkennbar. Ninafer wirkte gefasst, doch auch in ihren Augen lag der Glanz von Sorge. Etwas umständlich drehte er sich um und sah den gleichen Ausdruck im Gesicht seiner Liebsten, offen zur Schau getragen.

Er leuchtete. Schwach nur, kaum wahrnehmbar an einem Finger oder einem Stück Haut, aber in seiner Summe, am gesamten Leib, leuchtete er. „Er ist manipuliert worden“, knurrte Thorin bedrohlich, „Ich habe dir immer gesagt, du sollst diese Scheiße lassen!“, fuhr er den früheren Dieb herrisch an.

„Das ist nicht seine Schuld!“, sprang Lileth ihm rasch zur Hilfe, „Du kannst den Leuten nicht einfach ihren Glauben verbieten!“

„Ich habe nicht zwanzig Jahre dafür gekämpft, die Götterdämmerung aufzuhalten, nur damit er nun die Tore aufstößt!“, blaffte der Kahlkopf schäumend vor Zorn zurück. Erst als er realisierte, nachträglich, das Ishara unter seinem plötzlichen Ausbruch zusammengezuckt war, trat er einen Schritt zurück. Schloss die Augen. Atmete tief durch.

„Ninafer, dein Rohr und die Ampullen. Mein Panzer, die Axt. Wir treffen uns im Keller – spute dich!“, orderte er in rascher Abfolge. Die Giftmischerin nickte und begab sich sofort auf den Weg, das Verlangte zu holen. An der Tür zum Salon hielt Thorin inne, als Lileth seinen Namen nannte – eine bittere Entschlossenheit in der Stimme.

„Wir kommen mit. Falls wir etwas tun können, um zu helfen… sie… sie sind dort unten und-“

Während Ishara ins Stocken geriet, schnaubte Thorin lediglich, sein ungnädiger Blick richtete sich auf den früheren Langfinger. „Wenn ihnen etwas zustößt…!“ Der Rest blieb unausgesprochen. Alle drei wussten sie, dass es keine Drohung war. Nein, viel schlimmer – es war ein Versprechen.

 

„Was steht da?“, hakte Nathenial leise nach und richtete damit den Blick seiner Begleiterin nach oben.

Am Absatz der Treppe hatte sie lediglich ein weiterer kleiner Rundraum erwartet. Endlos viele Treppen – nur um vor einem weiteren Tor zu stehen. Es war groß, eindrucksvoll, zugegeben. horizontale Metallstreben gaben der Pforte die eindrucksvolle Wirkung einer Bastion, eines zwergischen Bollwerks.

„Die, die ihr tretet vor diese Pforte“, begann sie unter zugekniffenen Augen zu entziffern, „Empfangt das Schicksal, welches euch gebührt. Mit Mut und Klugheit sollt ihr die Hürden brechen, mit Geschick und List die Pfade neigen.“ Mehr stand dort nicht geschrieben, doch selbst jenes wenige Bisschen schien Nathenial in Aufregung zu versetzen.

„Ein Rätsel! Und Prüfungen! Und vermutlich ein Schatz am Ende!“ Er packte seine Begleiterin bei den Schultern, „Emilia, das ist so viel mehr als wir haben wollten! Vergiss die blöde Krone! Wenn du deinem Vater das hier erzählst, werden ihm die Augen rausfallen!“

Kurz verzog sie von der Vorstellung angewidert das Gesicht, doch sie konnte nicht leugnen, dass die Inschrift in feinen, elbischen Buchstaben ihre Neugier geweckt hatte. „Dann los, worauf warten wir!“

Trotz ihres Enthusiasmus vergingen mehrere Minuten erfolglos mit der Suche nach einem Schloss oder einem Mechanismus zum Öffnen. Nathenial widmete sich schließlich den vier Handabdrücken, die direkt auf dem Holz des großen Tores eingebrannt schienen. „Heh, schau dir das mal an…!“, meinte er grinsend und legte eine Handfläche mit gespreizten Fingern auf das vermeintliche Symbol, „Ist genau meine Größe.“ Kaum aber lag seine Hand tatsächlich auf, ertönte in der völligen Stille des Raumes ein fast unhörbar leises Klicken. Hastig zog er die Hand zurück, eine Falle witternd – und es klickte abermals. „Das war knapp…“, nuschelte er zu sich selbst und wischte sich ein wenig Schweiß von der Stirn.

„Sei nicht so ein Angsthase! Wie kann jemand mit solchen Eltern wie du nur so feige sein!“, rügte sie ihn mit den Augen rollend.

„Hey, ich bin nicht feige! Ich bin… vorsichtig! Ich hab noch nie von Kavernen so tief unter dem Schloss gehört und hier könnten alle möglichen Arten von Fallen sein. Wie kann jemand mit solchen Eltern wie du nur so brachial sein!“, erwiderte er defensiv, ehe er dazu überging, sie gezielt schlecht zu imitieren und zu sticheln. Sie war gerade dabei, sich einen Konter zu überlegen, als ihr Blick an den anderen Handabdrücken hängen blieb.

„Das ist… völlig unmöglich und vollkommen…“ Sie erhob sich langsam, trat direkt vor die linke Seite des Tores und legte ihre Hände in die Abdrücke. Jedes Mal ertönte ein leises Klicken.

„… gruselig“, hauchte sie.

„… wunderbar“, erschallte Nathenials Einschätzung zeitgleich. Er legte seine Hände in die Abdrücke. So wie die Ihren perfekt zu ihren Handflächen passten, so war es auch mit seinen. Zwei weitere Male ertönte das leise Klicken, dann ein Rattern wie von einem schweren Riegel, der entfernt wurde – sie spürten das Vibrieren in der Tür. Unsicher blickten sie zueinander, abschätzend, wortlos kommunizierend, ehe er mit einem Grinsen die Schultern zuckte und drückte. Sie tat es ihm gleich, schob mit aller Kraft – und das gewaltige Tor öffnete sich vor ihnen.

Direkt im Zentrum der großen, kreisrunden Kammer erhob sich ein kleiner, aufgeschichteter Erdhügel vom massiven Fels. Allem Anschein nach wuchs darin ein schimmerndes, pilzartig wirkendes Gewächs – doch aus den vielen Erzählungen und teils absurden Geschichten ihrer Eltern wussten sie beide es besser. Diese Kreatur war gefährlich, ein rasch wirkendes Nervengift bedeckte die schleimigen Tentakel, die im Inneren darauf lauerten, katapultartig hervorzuschnellen und alles zu töten, was in Reichweite kam – um es dann langsam in den im Verborgenen liegenden Schlund zu ziehen.

Emilia packte den Schild fester und hob die Axt. „Keine Kämpfe, hm?“, knurrte sie unzufrieden, schritt aber dennoch auf den Feind zu. Nathenial packte sie hastig an der Schulter und zog die Streitlustige zurück. „Was soll das?! Machen wir das hier jetzt oder nicht?!“, fuhr sie ihn zornig an.

Er aber deutete auf den Boden – auf die kleine Rinne darin, die zu gleichmäßig verlief, um natürlichen Ursprunges zu sein. Es schien eine Markierung. Ein Halbkreis um das Tor. Mühselig schabte er mit Hilfe seines Dolches einen Holzsplitter aus dem Tor und warf ihn zur Seite in den Raum. Wie vermutet, schnellte ein Tentakel aus dem Zentrum der Kreatur hervor und peitschte in die Richtung des winzigen Stückes, kaum dass es die Markierung überquert hatte.

„Dagegen hast du keine Chance“, erklärte er und sah sich stattdessen weiter um.

„Und was jetzt? Gehen wir einfach zurück und rufen unsere Eltern zu Hilfe? Ich glaube kaum!“

„Nicht…“, begann Nate und neigte sich weit zur Seite fort, gerade weit genug, noch in der Markierung zu bleiben, „… wenn ich es verhindern kann!“ erklärte er schließlich mit einem triumphierenden Grinsen, als er sich wieder aufrichtete, „Da drüben auf der anderen Seite, bei der Tür? Davor ist auch so eine Markierung. Und eine Druckplatte, glaube ich. Das hier sind Rätsel, nicht? Also rätseln wir.“ Nathenial deutete nach oben. Erstmals richtete Emilia ihren Blick empor und bemerkte eine Art von Spalier oder dergleichen, dicht bewachsen mit dornigem Gestrüpp. Da die mitgenommene Öllampe und der leuchtende Pilz die einzigen Lichtquellen im Raum waren, gaben sie dem erstaunlich grünen Gewächs einen beinahe schwarzen Schimmer. Emilias Blick folgte dem Spalier – es führte auf der anderen Raumseite herab.

Nathenials Plan erahnend, wirbelte sie herum und sah ihn gerade mit seinen Dolchen als Kletterhilfe die Tür erklimmen, über der das Spalier seinen Anfang nahm. „Bist du irre? Wenn du fällst, brichst du dir das Genick! Nate! Denk doch mal nach, das ist es einfach nicht wert! Wir wissen nicht mal, was da ist, was das hier überhaupt sein soll! Nate! Verflucht noch eins, ich kann so nicht klettern, ich kann die Axt nicht halten! Wie soll ich denn rüber kommen?!“

Doch er antwortete nicht. Irgendwo, im Hinterkopf, rührte ihn ihre Sorge um sein Wohl. Es wärmte ihm regelrecht das Herz. Doch er war zu fokussiert auf die vor ihm liegende Aufgabe. Das Gewächs hatte das gesamte Spalier in Beschlag genommen. Das Setzen jedes Fußes musste gut überlegt sein – die Dornen waren lang und hart genug, durch die dünnen Sohlen seiner Schuhe zu kommen. Entsprechend doppelt und dreifach vorsichtig musste er damit sein, wohin er griff. An dieser Seite des Raumes heraufzuklettern war ein Kinderspiel, trotz der Umstände, doch als er einmal zur Decke gewechselt hatte, wurde alles um ein Vielfaches härter.

Sein eigenes Körpergewicht arbeitete gegen ihn. Er hatte ein Drittel des Raumes hinter sich gebracht, da spürte er allmählich, wie seine Arme und Beine ermüdeten. Unter ihm regte sich die Kreatur, als er die Hälfte passierte und peitschte nach ihm – einen Versuch schien es ihr wert zu sein. Er straffte seine Haltung, zog sich näher an die Decke heran – egal wie anstrengend es war. Würde ihn das Gift erwischen, wäre er tot.

Jeder Griff wurde mühseliger, jeder Tritt schwieriger. Schweiß drohte ihn abrutschen zu lassen, sein Körpergewicht ließ ihn ein wenig durchhängen. Emilia war still geworden. Erstaunlich still. Er wünschte sich sehnlichst, sie würde irgendetwas sagen. Ihn anfeuern. Ihm Mut machen. Ihm sagen, dass sie an ihn glaubte. Doch sie schwieg. Sie schwieg, weil sie genau das eben nicht tat, weil sie-

„Du hast es fast geschafft!“

Er hätte vor Schreck fast losgelassen. Ihre Worte rissen ihn aus seinen Gedanken, brachten den Automatismus zum Erliegen, der ihn vorangetrieben hatte. Aber was noch viel wichtiger war als das: Sie glaubte an ihn. Sie war nur still gewesen, weil sie wusste, dass er sich konzentrieren musste.

Als er fast die gesamte Strecke hinter sich gebracht hatte, trat er falsch. Ein Dorn zwängte sich durch den Stoff, durch Haut und ins Fleisch. Unter einem leisen Aufschrei zuckte er zusammen, verlor den Halt. Mit aller Kraft klammerte er sich in das Spalier, als sein Körper herunter schwenkte. Er hörte das Knacken von Holz, als das Gerüst brach, die Trägheit einen Teil davon mit ihm riss. Er sah das Spalier an der Wand näher kommen, hob die Füße, um sich davon fern zu halten, spürte den Teil über sich nachgeben, hörte ein Bersten, einen Aufschrei, Rascheln von Blättern und Aufschläge auf steinernem Boden – dann wurde es schwarz.

Das Glück, das Nathenial seit seiner Geburt zu begleiten schien, war häufig als unnatürlich bezeichnet worden. Seine Mutter hatte die Geburt trotz ihrer schweren Erkrankung knapp überlebt, so wie er selbst unzählige Male Ereshkigal um Haaresbreite entkommen zu sein schien. Als er von der Decke stürzte, fürchtete Emilia das Schlimmste. „Nathenial!“ Er schlug auf dem Boden auf – offenbar direkt auf der von ihm benannten Druckplatte. Denn kaum war er in einem Berg aus Dornengewächs und Holzsplittern gelandet, ertönte ein Klicken und Rattern, der Boden schien kurz zu vibrieren – und mit einem letzten Ruck öffnete sich eine Falltür.

Direkt unter der Kreatur in der Raummitte.

Ihre Tentakel wirbelten wild in der Luft, als sie mitsamt der Erde, in der sie sich versteckt hatte, in die Tiefe stürzte. Emilia zögerte keinen Herzschlag länger und stürmte voran, direkt an der Falltür vorbei zu jenem Haufen aus Trümmern und Gliedmaßen herüber. Ohne jede Rücksicht auf ihre eigenen Hände wühlte sie Nathenial aus all dem Gestrüpp und den Splittern heraus. „Und ich sag noch, das du vorsichtig sein sollst, du Holzkopf!“, blaffte sie ihn zornig an, als sie ihn endlich geborgen hatte. Er regte sich nicht.

Kaum wurde ihr das bewusst, drapierte sie ihn vorsichtig auf dem Boden, prüfte Puls und Atmung. Alles war da. Ein wenig blass war er. Zerschrammt. Ohnmächtig? „Keine Zeit für Nickerchen!“, fuhr sie ihn an und verpasste ihm eine gehörige Ohrfeige. Er schreckte nicht auf, wie sie beinahe schon erwartet hatte. Vielmehr drehte er unter einem Keuchen und Stöhnen den Kopf zur Seite. Das war nicht viel. Aber es war genug.

Unter einem erleichterten Aufatmen packte sie sein Gesicht in ihren Händen und neigte sich herab. Dass sie ihre Lippen auf die seinen gepresst hatte, dass sie ihm gerade ihren ersten Kuss ebenso schenkte, wie sie ihm den Seinen stahl, wurde ihr erst wenige Augenblicke später bewusst.

Hastig ließ sie ihn los – sein Kopf schlug dumpf auf den Steinboden auf. Ein Gröhnen drang aus seiner Kehle, als er langsam die Lider öffnete. „Ugh… nie wieder Klettern…“, jammerte er und setzte sich langsam auf. Er zischte und seufzte mit jedem Dorn, den er bemerkte, blickte dann aber über seine Schulter zurück. Emilias furiose Röte entging ihm völlig, sein Blick haftete an der offenen Falltür, begleitet von einem geistlosen Grinsen. „Heh… hab ich ja gesagt.“

„Ach halt den Mund und komm her, du Dummkopf!“, fuhr sie ihn an, „Du hättest dich umbringen können!“ Sie ging wenig rücksichtsvoll vor, als sie einen Dorn nach dem anderen aus ihm herauszog. Aus seinen Handflächen, seinen Armen, seinem Gesicht – sie hatten sich schier überall hineingefressen. Er trug ja auch kaum mehr als ein schlichtes Leinenhemd über der jugendlichen Brust. Und die, die hatte kaum Muskeln vorzuweisen. Egal wie hübsch das Hemd war, es ersetzte eben keine Panzerung.

„Mach sowas nochmal, und ich schmeiß dich in die Grube dort!“

 

Eilige Schritte trugen einen massigen Körper durch die Korridore, eine Treppe hinab und die nächsten Hallen entlang. Thorins Figur umrundete eine Biegung und verlangsamte kaum, als sein Blick die versammelten drei Gestalten erspähte und zuordnete. „Sie haben die Axt und die Rüstung“, knurrte er übellaunig, während er zwischen ihnen hindurchschritt, ohne auf Reaktion zu warten, „Was steht ihr noch so herum, bewegt euch!“ Da war er wieder. Der Kommandant. Der Befehlshaber. Der Mann, der mehr Schlachtfelder gesehen hatte, als ein Mensch sehen sollte.

Nur waren sie nicht seine Soldaten. Sie waren nicht seine Untergebenen.

„Thorin, was ist, wenn wir uns umsonst irre machen?“, hakte Ishara sorgenvollen Blickes nach, gleichermaßen hoffend, ihre Worte könnten zu ihm durchdringen… und sie selbst gleich mit davon überzeugen, dass diese Eventualität existieren würde. Der Hüne aber blieb nur kurz stehen, bevor er im nächsten Treppengang nach unten verschwinden konnte, wandte sich den drei Gestalten zu, die noch immer zögerlich waren, keinen Schritt in seine Richtung gesetzt hatten. Seine Brauen zogen sich zusammen. Selten ein gutes Zeichen.

„Wenn-… Falls ich mich irre, dann finden wir sie lachend und kichernd über die Genialität ihres eigenen Streiches vor und Alistair bekommt einen Keks! Aber falls nicht, dann solltet ihr verdammt nochmal endlich euren Arsch bewegen!“ Ohne einen weiteren Atemzug zu verschwenden, kehrte er wieder um und trat weiterhin eilig die Stufen herab. Es war an Ninafer, neben Ishara und Alistair zu treten, ihnen jeweils eine Hand auf die Schulter zu legen und milde zu lächeln.

„Er macht sich große Sorgen, das wisst ihr. Er ist nur… Thorin. Nehmt es euch nicht zu sehr zu Herzen. Aber ich denke, für den Moment sind wir gut beraten, ihm rasch zu folgen!“ Lileth nickte und tat, was man ihr gesagt hatte. Alistair zögerte einen Moment länger. Er wusste, dass Thorin sich selten irrte. Nicht, wenn es darum ging, Ärger zu wittern. Und falls wirklich etwas geschehen sein sollte… die Konsequenzen waren für den Nordländer unvorstellbar. Den Hals in einer Schlinge zu finden, die in Thorins Händen lag… war noch das geringste Übel daran.

Sie folgten dem Krieger, Stufe um Stufe, Gang um Gang, bis ihr Pfad sie an der Tür einer unscheinbaren Besenkammer vorbei die letzten Stufen hinabtrug. Dort, am tiefsten Punkt des Schlosses, war nur eine Tür. Eine Einzige. Zumindest hätte es so sein sollen. Tatsächlich jedoch ließ sich in jenem kleinen Rundraum kaum etwas erspähen – die Öllampe, die an der Decke in ihrer Verankerung hätte hängen sollen, fehlte. Dafür lag ein Lumpen am Boden, der sich bei näherer Inspektion als großer Jutesack entpuppte.

Im Schein der von Thorin mitgenommenen Fackel begutachteten sie einander, wägten ab. Sie waren hier gewesen, so viel war klar – nur wohin waren sie verschwunden? Der Kahlkopf leuchtete zur Seite fort und bemerkte ein Loch in der Wand, perfekt ausgeschnitten wie eine Tür. „Was zum-?“

„Wo kommt das denn her?“, stimmte Ninafer in seine Verwunderung ein.

„Warum… warum steht es noch offen?“, stellte Alistair schließlich die Frage, die deutlich größere Relevanz hatte. Dort war keine Tür, kein Durchgang, keine Passage. Sie befanden sich bereits am tiefsten Punkt des Kellers im Schloss. Was sie sahen, hätte nicht existieren dürfen. Wenn hier also irgendwelche mächtige Magie am Werk war, gleich welcher Art – warum ließ man die Passage offen?

Ein kehliges Brummen drang aus Thorins Richtung, als seine ohnehin miserable Stimmung nochmals um ein gutes Stück in ihr eisiges Grab sank. „Weil sie fest überzeugt sind, das wir nichts mehr ausrichten können. Das wir sowieso zu spät sind.“ Der Krieger schwenkte den Kopf zu seinen drei Begleitern, ein zorniges Funkeln im Blick. „Sehen wir, ob wir sie falsch prüfen können!“ Und mit jenen Worten verschwand er rasch in der Passage, nur wenige Herzschläge später von einem Getrippel mehrerer Verfolger begleitet.

 

„Abenteuer ist ja schön und gut“, begann Nathenial unsicher, „Aber das hier? Ich werde einfach das Gefühl nicht los, das wir vielleicht besser nicht hier sein sollten.“

Ein schweres Seufzen erklang hinter ihm, während er weiter auf die Tür zugeschoben wurde. „Stell dich nicht so an, Nate! Du hast gesagt, wir gehen trotzdem rein, also gehen wir trotzdem rein. Außerdem sind wir schon drin! Wir haben bereits das erste Rätsel geknackt. Du willst doch jetzt nicht aufhören, oder? Das wäre ja peinlich! Und was, wenn das hier ein Test ist, hm? Was, wenn sie uns reingelegt haben und uns mit Absicht den falschen Schlüssel zugespielt haben, damit wir ihnen nicht auf die Nerven gehen oder ihnen wieder ihre Lieblingspantoffel klauen und gegen Schalen mit Kartoffelbrei ersetzen?“ Als die Erinnerung lebhafter wurde, begann ihr Begleiter herzlich zu kichern. Sie stimmte mit einem Grinsen in seine Frohnatur ein und schüttelte, von ihm ungesehen, leicht den Kopf. Er war so leicht von seinen nicht weniger rasch aufkommenden Sorgen abzulenken, es war jedes Mal faszinierend. „Manchmal denke ich-“, hob Emilia gerade an, als Nathenial offenbar einen Mut wiederfand und vorschnellte. Er packte den schweren Eisenring am nächsten Tor und zog es auf.

Ein neuer Raum, ein neues Rätsel, wie es schien. Die Decke war hoch, so hoch sogar, dass man nur eine gähnende Schwärze sehen konnte. Die Fackeln, die den Raum beleuchteten, saßen jedoch auch sehr tief. „Wer die wohl angezündet hat…?“, murmelte Emilia unbehaglich, doch Nathenial lachte nur leise auf.

„Also bitte! Anzünden! Es gibt Zauber für sowas. Vielleicht brennen sie ewig. Vielleicht sind sie nicht mal da und das Feuer ist nur eine Illusion. Wen interessiert’s!“ Viel interessanter war tatsächlich der Inhalt des Raumes. Abgesehen von einem schmalen, kaum einen halben Meter breiten Laufweg um das Zentrum des quadratischen Raumes herum war der gesamte Rest des Bodens in ein weiß-schwarz-gekacheltes Schachbrett aufgeteilt. Sogar inklusive der Nummerierungen am Rand – und mannshoher Figuren auf dem Brett.

„Vielleicht sind wir in einem Trollbau und hier haben sie ihr Spielchen versteckt?“, witzelte Nathenial, während er sich vorsichtig vorbeugte und eine der Figuren berührte. Sie war schwer, die Oberfläche kalt und glatt. Obsidian. Die weißen Figuren auf der anderen Seite wirkten anders, greifbarer. Elfenbein vielleicht? Doch welche Kreatur war gewaltig genug, um Hörner oder Stoßzähne zu haben, das man Figuren dieser Größe aus einem Stück davon schlagen konnte?

„Mach dich nicht lächerlich“, erwiderte Emilia scharf, während ihr Verstand bereits Feuer und Flamme war, „Trolle sind zu dumm zum Schachspielen. Da braucht man mehr Verstand als die ganze Rasse zusammen aufbringen könnte.“ Während Nathenial sich eher mit der Art und Beschaffenheit der Figuren und Kacheln auseinandersetzte, studierte Emilia das Brett und die Positionen.

Das Spiel war schon weit vorangeschritten. Schwarz war dabei, zu verlieren.

Zeitgleich mit ihrem Begleiter bemerkte sie, dass vier Positionen auf dem Spielfeld besonders markiert waren. Vier Kacheln, die anders aussahen. Auf ihnen war, in schwarzer Farbe, jeweils ein Symbol abgebildet. Ein Bauer, ein Springer, ein Turm, ein Läufer. Wie sich diese schwarze Farbe sogar auf den schwarzen Kacheln abheben konnte, war ihr völlig unklar. „Druckplatten“, erklärte er plötzlich und richtete sich aus der Hocke wieder auf, „Die markierten Kacheln sind Druckplatten.“

Ein neues Rätsel also. Wieder eines, welches sie das Leben kosten könnte? Doch selbst die Aussicht auf eine solche Bedrohung vermochte sie lediglich zögerlich zu machen, nicht aber zur Umkehr zu bewegen. Zu groß war der Reiz des Spieles, zu groß die Idee, die sich in ihrem Verstand formte.

Vier Druckplatten für Schwarz, Schwarz war am Verlieren. Vier Positionen. Sie konnten zwei davon besetzen. Ließe sich damit das Spiel wenden? Tief in Gedanken ging sie Pläne durch, Strategien, Positionen, Züge. Sie plante, plante immer weiter voraus. Weiß hatte seine Dame noch. Ein weißer Turm war noch übrig, stand frei. Ein paar Bauern waren im Weg. Wenn sie-

Klick.

Dem leisen Klicken folgte ein Rattern. Dem Rattern ein Quietschen. Hastig sahen sich beide um. Was für ein Mechanismus? Wo war er? Was tat er? Warum war er überhaupt ausgelöst worden?! Letztere Frage wurde rasch beantwortet, als Nathenials Blick auf den Boden fiel. Eine Sicherheitsmarkierung, ein Halbkreis, wie im letzten Raum – nur gab es diesmal an der gegenüberliegenden Tür keine. Keine Sicherheit am Ausgang. Und mit dem Starten des Mechanismus begann sich die Rinne um ihren Eingang zu heben, zu verblassen, zu verschwinden – auch keine Sicherheit am Eingang mehr, wie es schien.

Während um sie herum alles ratterte und klickte und quietschte und Metall über Metall scharrte, schwang hinter ihnen unbemerkt die Tür zu und verriegelte dann hörbar.

Sie waren eingesperrt. Eingesperrt in einem quadratischen Raum mit Schachfiguren.

„Oh nein…“, keuchte Emilia leise hervor, als ihr klar wurde, das sie diesen Aufbau aus einem wirklich fürchterlich schlechten Abenteuerroman kannte, den sie sich einst von ihrer Mutter ausgeliehen hatte. Ihr Blick wanderte nach oben. Weit in der Höhe glaubte sie etwas zu sehen. Ihre Pupillen schrumpften, als ihr der Horror der Situation bewusst wurde: Die Decke kam herunter. Sie wurde ganz langsam herabgesenkt. Und dem Anschein nach… war sie besetzt mit zahllosen Dornen. Natürlich war sie das. Keine Falle war vollständig ohne eine riesige Sauerei am Ende.

„Auf das Brett, schnell!“, wies sie Nathenial an und eilte zwischen den großen Figuren hindurch. Vor einer der Druckplatten blieb sie stehen, zögerlich. Sie brauchte einen Plan. Ein Plan. Plan, Plan, Plan! „Turm! Nein, Läufer! Nein, Turm!“

„Lia!“

Turm!

Als sie selbst auf die Position des Springers trat, und er die Position des Turms besetzte, verblasste die Farbe auf allen vier markierten Kacheln. Ihre Kacheln sanken auf die gleiche Höhe herab, auf der sich der Rest des Schachbrettes befand – kaum ein paar Millimeter hatten sie hervorgestanden. „Und jetzt?!“

Panisch sah sie sich um. Was musste geschehen? „Wir müssen irgendwie die Figuren bewegen!“

„Was? Welche? Wohin?!“ Immer wieder sah sie, wie Nathenial seinen Blick nach oben richtete. Sie wagte es inzwischen nicht mehr, hinauf zu schauen. Sie brauchte ihren Verstand einsatzfähig und die schiere, nackte Panik, die sie bei jenem Anblick erfassen würde, war zu viel, zu lähmend – sie wusste es einfach. Also konzentrierte sie sich, atmete tief durch, versuchte ihre Atmung bewusst zu regulieren. „Wir müssen den… den…“

„Lia, welche Figur?!“, fuhr er sie abermals hektisch an.

„Lass mich nachdenken, verdammt!“, giftete sie laut genug zurück, mühelos das Dröhnen der Mechanik zu übertönen. Sie tat es abermals. Spielzüge zogen an ihrem geistigen Auge vorbei, Figuren bewegten sich von allein. Schach. Schach matt. Schach matt. Schach matt. Schach. Aber immer auf der falschen Seite.

„Der Bauer muss von B3 auf B5!“, erklärte sie schließlich laut, als sie die Augen wieder aufschlug. Nathenial wollte sich gerade in Bewegung setzen, die Figur zu verschieben, als plötzlich sehr zur Überraschung beider Leben in die Obsidianstatue kam. Sie rutschte aus freien Stücken zwei Felder vor. Emilia spürte abermals die Gänsehaut ihren Rücken herabjagen. Das war einfach nicht natürlich, nicht richtig – aber, so wurde ihr bewusst, sie hätten das Spiel vermutlich auch schnell verlieren können. Hätte Nathenial den Bauern bewegen wollen, hätte er sich zu ihm begeben müssen.

Und Türmen war es nicht erlaubt, quer zu ziehen.

Das Rattern und Scharren des Metalls der Konstruktion über ihren Köpfen wurde lauter und lauter. Immer wieder sah Nathenial herauf, während sie überlegte, Pläne schmiedete, Züge durchspielte und aus dutzenden von Ideen eine auswählte. Der Feind spielte gut – für jeden ihrer Züge setzte Weiß einen der Seinen. Sie wusste nicht, gegen wen sie hier spielte und entschied auch, vorläufig keine Zeit zu haben, um darüber nachzudenken. Stattdessen opferte sie einen ersten ihrer Bauern. Als die Figur geschlagen wurde, barst der Obsidian. Splitter, deren Größe zwischen Fingernägeln und Köpfen rangierte, stürzten über das Feld.

Schwer schluckend blickte Nathenial zu Emilia auf. „Was passiert, wenn wir… also…“ Er wagte nicht einmal die Frage auszusprechen. Auch ihr wurde schlecht beim Anblick der zerstörten Figur. Das… hatte sie nicht einkalkuliert. Sie konnte das Spiel gewinnen, aber ihr bisheriger Plan lief darauf hinaus, dass sie den Turm opfern musste. Den Turm zu opfern war kein Problem – Nate zu opfern dagegen schon.

„Mach dir keine Sorgen, ich krieg das hin. Versprochen!“, versuchte sie ihm Mut zu geben, ihm zu versichern. Sie zwang sich ein Lächeln auf die schmalen Lippen, unsicher und wackelig, aber getragen von gutem Willen und besten Absichten.

Das Spiel schritt weiter voran, Zug um Zug, Figur um Figur. Sie geriet stärker in die Defensive, wie es schien, und die Decke kam unaufhaltsam näher. Irgendwann konnte sie keinen Blick mehr über die Figuren schweifen lassen, ohne die gewaltigen Dornen am Rande ihres Sichtfeldes zu bemerken, die sich gemächlich immer tiefer schoben.

„Lia…?“, hakte Nathenial sorgenvoll nach, als sie eine Weile geschwiegen hatte. Sie reagierte noch immer nicht – bis ihr Gesicht plötzlich aufhellte.

„Hab dich, du Hurensohn!“, keifte sie in einer Mischung aus gerechtem Zorn und Triumph. Sie blaffte ein Kommando, die Figur verrutschte, der Trümmer des Bauern ungeachtet. Der nächste Zu von Weiß, ganz wie vorhergesehen – sie wies Nathenial an, drei Felder zur Linken zu rutschen. Ein Bauer kam und bedrohte ihn. Ihr eigener Zug setzte den König Schach – er hatte keine Gelegenheit, Nathenial zu schlagen, ohne Matt zu riskieren. Also verrutschte der König.

„Emilia!“, rief ihr Mitspieler und deutete empor. Sie musste sich sputen. Die Dornen waren tief genug, das sie jeden Moment die größeren Figuren aufspießen würden. Und ihre Dame musste noch mindestens einen Zug tätigen.

In kürzester Abfolge blaffte sie Anweisungen. Zug um Zug, Schwarz, Weiß, Schwarz, Weiß, Schwarz. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn, ihr war schwindlig, ihre Augen rasten herum, sondierten, analysierten, planten. Ihre Hände zitterten, ihre Knie drohten nachzugeben. Hinter sich hörte sie das widerwärtige Geräusch, als die Metalldornen sich in den Obsidian der Dame und den Elfenbein des weißen Königs bohrten.

„Nate, eins nach links!“, wies sie an. Weiß versetzte den König, sie tat ihren Zug, zwei Felder vor, ein Feld nach rechts. „Schach matt!“, brüllte sie aus tiefster Kehle. Sie stand geduckt, die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, genau wie Nathenial – um sie herum waren die Türme aufgespießt worden, die Läufer, die Springer. Die Bauern waren klein genug, noch ein paar Sekunden mehr gehabt zu haben, doch kaum brüllte sie aus tiefster Kehle ihren Sieg hinaus, stoppte die Mechanik plötzlich.

„Wa-… war’s das…?“, wagte Nathenial nur leise zu flüstern, aus Furcht, die Decke könne jeden Moment herabkommen und sie aufspießen. Mehrere Augenblicke rührte sich nichts, bis plötzlich…

Klick.

Ein Rattern, wie von einem Riegel, der entfernt wurde – an der Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Die Tür hinter Weiß. Emilia vermisste einen Moment lang das gleiche Geräusch in ihrem Rücken. Sie hatte ernsthaft erwogen, den Ausgang zu nutzen. Einfach zurück zu gehen. Zu verschwinden. Doch so sehr ihr das Herz auch in die Hose gerutscht war, sie konnte eines nicht leugnen: Weiß war ein guter Gegenspieler und das hier, das war das mit Abstand spannendste Spiel gewesen, das sie jemals bestritten hatte! Ihre Eltern waren schon lange keine brauchbaren Gegner mehr für sie. Überhaupt fand sie nur noch schwer Herausforderungen. Hier aber hatte sie sich beweisen können.

Wenn auch mit deutlich mehr Einsatz und Risiko, als ihr lieb war.

„Können… können wir jetzt vielleicht gehen? Lia? Bitte? Ich… mir ist egal, ob ich feige wirke. Ich will einfach nur noch hier raus.“ Sie konnte ihn verstehen. Wirklich, das konnte sie. Er hatte diese ganze Sache überhaupt erst eingefädelt, um sie zu beeindrucken, aber egal wie sehr er sich auch bemühte, die Fakten waren eindeutig: Sie war die Mutige. Sie war die Kräftige. Und sie war die Kampftaugliche. Er, er war der Kletteraffe. Er war der Glückliche. Er versuchte ständig, ihr das Wasser in den Dingen zu reichen, in denen sie ihm schlicht überlegen war. Es gab da nur ein Problem.

„Es hat sich nur eine Tür geöffnet“, merkte sie seufzend an und deutete voraus, „Die, die weiter rein führt.“

Weiterhin geduckt schritten sie in etwas eigenwillig anmutendem Gang zu ihrer vermeintlichen Fluchtroute voran. Der nächste Raum, so hofften sie beide inständig, würde zumindest weniger laut sein und sie nicht mit herabstürzenden Dornen bedrohen. Am Ausgang angekommen, stieß Nathenial die Tür auf und starrte auf den Raum vor ihnen.

„… wie beruhigend…“, ächzte er und ließ sich knapp hinter der Tür auf seinen Hosenboden fallen.

 

Die Fackel stürzte, tief und tiefer. Erst in einigen Dutzend Metern kam sie auf dem Boden auf. Dort unten konnte er im schwachen Schein des flackernden Feuers die Überreste einer Kreatur erkennen, der er schon lange nicht mehr begegnet war. „Wunderbar, einfach prächtig“, giftete Thorin und wandte sich von der Grube in der Raummitte ab, „Kommt schon, weiter!“ Er versuchte vergeblich, die Tür zum nächsten Areal zu öffnen. Sie war versiegelt worden. Die Mechanik dafür saß in der Wand oder auf der anderen Seite oder war magischer Natur, er wusste es nicht genau zu sagen. Nur eines war ihm klar: Von ein paar Holzbrettern würde er sich ganz sicher nicht aufhalten lassen!

All seine Wut, all der brennende Hass und all die Sorge und Angst, sie wurden zu Kraft, zu Treibstoff in seinen Muskeln, als er mit beinahe unmenschlicher Kraft die Axt schwang und das scharfe Blatt wieder und wieder auf das Türholz niederfahren ließ. Der erste Schlag riss eine Scharte ins Holz, der Zweite ließ kleine Splitter durch die Luft sausen. Ninafer, Alistair und Ishara standen ein Stück abseits und tauschten besorgte Blicke. Nicht nur besorgt der Zwei wegen, die hier herabgekommen waren und denen sie folgten. Besorgt auch um Thorins Willen, den sie schon seit langer Zeit nicht mehr in solcher Raserei erlebt hatten. Keiner von ihnen hatte Wert darauf gelegt, das wieder einmal sehen zu müssen.

Als der Kahlkopf ein kleines Loch in die Tür gedroschen hatte, mit nicht mehr als brennendem Willen und roher Kraft, hielt er kurz inne und wischte sich den in Bahnen seine Stirn und seinen Hals herabrinnenden Schweiß fort. „Was zum-“, hob der Krieger leise an und spähte in das Loch. Ungeduldig streckte er die Hand nach hinten aus, wedelte herum, bis ihm endlich jemand die Fackel hinein drückte. Er leuchtete das Loch aus – auf der anderen Seite war ein Raum. Ein erstaunlich flacher Raum, wie es schien. Er sah seltsame Figuren und massive Stahldornen, die von der sehr niedrigen Decke herabragten. Eine Falle vielleicht?

Achtlos warf er die Fackel bei Seite und schlug immer vehementer und nachdringlicher auf das Holz der Pforte ein. Wenn die Beiden hier unten herumrannten und mit Kreaturen wie dem beim Aufprall zerplatzten Ding in der Grube konfrontiert wurden oder Fallen wie jener im nächsten Raum, dann wollte er gar nicht wissen, was noch auf sie wartete…!

 

„Will ich wissen, was noch auf uns wartet…?“, hakte Emilia seufzend nach. Sie saß neben Nathenial am Boden und atmete tief durch. Ihre Hände zitterten noch immer ein klein wenig. Ihr Begleiter deutete auf den kleinen, schmalen Sicherheitskreis um die Eingangspforte herum. Der Raum vor ihnen war groß. Eine rechteckige Halle, länglich. In den Wänden waren zwei Alkoven eingelassen, auf jeder Seite. Und in jeder dieser vier Kammern stand eine gewaltige Statue. Sie mochte drei Meter hoch sein, vielleicht sogar vier. Die Darstellung eines Tieflings, mit eindrucksvollen Hörnern, einem langen Schwanz, Klauen an Händen und Füßen und einer Hellebarde in den Händen. Ein Aasimar mit einem Langschwert, die zwei gewaltigen Federschwingen wie ein Kokon um ihn geformt und fast vollständig geschlossen. Ein Zentaure, wuchtig und bullig, mit einem massigen Speer in den muskulösen Armen. Und ein Mensch – der massiven Plattenrüstung und dem gewaltigen Turmschild nach zu urteilen ein Bellator, der ein kurzes, aber fies gezacktes Breitschwert führte.

Alle vier Figuren schienen aus massivem Stein gefertigt. Nur ihre Waffen nicht. Die Hellebarde und der Zentaurenspeer hatten wuchtige Holzstangen mit eindrucksvollen Metallklingen am Ende. Das Langschwert war aus Stahl geschmiedet, so wie auch das Breitschwert – obwohl Schild und Plattenrüstung aus Stein zu bestehen schienen.

„Jede Wette, dass die zum Leben erwachen, sobald wir den Kreis verlassen“, nuschelte Nathenial niedergeschlagen. Er tat ihr leid. Mitleid war gewiss nicht, was er gerade wollte und doch konnte sie sich dessen nicht erwehren. Emilia legte den Arm um ihn und zog seine schmächtige Gestalt ein wenig an sich – soweit der alte Lederpanzer das zumindest zuließ.

„Hey, Kopf hoch. Was ist denn los? Du wolltest doch immer ein Abenteuer, hm? Wenn wir das hier überstanden haben, dann haben wir kräftig was zu erzählen. Und bekommen vermutlich Hausarrest für den Rest unseres Lebens.“ Sie grinste. Und sie hatte erwartet, dass er es ihr gleichtun würde. Doch diesmal schien sie ihn nicht so leicht ablenken zu können.

„Falls“, korrigierte er kleinlaut und setzte beinahe unhörbar leise nuschelnd fort, „Falls wir das hier überstehen. Das ist… ich wollte immer nur…“ Unter einem frustrierten Seufzen ließ er den Kopf hängen, schüttelte ihn. „Das ist nicht, wie ich mir das alles vorgestellt habe.“

Sie schloss die Augen, gönnte sich selbst einen Moment, ein Seufzen, ehe sie die Lider wieder öffnete. Ihm entgegen blickte. In seinen Augen lag in diesem Moment so viel Wärme, so viel Kummer, so viel Sehnsucht. Zögerlich legte sie ihm die Hand an die Wange. „Die Dinge sind eben selten so, wie man sie sich vorstellt. Oder wie man erwartet, dass sie wären. Ich sitze hier unten und lasse mich in Leib und Leben bedrohen, dabei wollte ich eigentlich immer nur, das du Dummkopf mich zu einem Tanz aufforderst.“ Versonnen lächelte sie vor sich hin, erinnerte sich an all die grässlichen Bälle, an all die verstockten Anlässe und Feiern, an die hochnäsigen Adligen, an die Zurechtweisungen, wenn sie unaufgefordert das Wort ergriff – natürlich wiesen andere sie zurecht. Ihre Eltern hätten das nie getan. Und auch nie erlaubt, hätten sie es bemerkt! Sie erinnerte sich aber auch an all den Unsinn, den sie mit Nathenial angestellt hatte, um sich die Zeit zu vertreiben. Scharfe Gewürze in den Punch mischen. Den Teig für die Torte mit fürchterlich starkem Schnaps aus den Privatvorräten Thorins tränken. Oder den Zimt in den Streuern in der Küche mit Alistairs Schlafpulver austauschen – und zuschauen, wie die Adligen von kleinen Häppchen umkippten, die die Bediensteten auf Silbertabletts herumreichten.

In ihren Erinnerungen versunken, bemerkte sie die glühende, brennende Röte in seinen Wangen nicht, als er sie fassungslos und aus großen Augen anstarrte. „Na gut, schauen wir mal, was wir hier haben, hm? Vielleicht schaffen wir’s zum Abendessen zurück“, erklärte sie, ohne nochmals zu ihm zu blicken. Stattdessen klopfte sie ihm blind auf die Schulter und riss ihn damit aus seinen Gedankengängen hervor. Sie griff die bei Seite gelegte Axt, stand auf und klopfte sich den Staub vom Hosenboden.

Nathenial dagegen kämpfte noch immer gegen seine Schamesröte, doch zumindest erlaubte die Art und Weise, wie sie aktuell mit ihm umging ihm, sich auf das Rätsel vor ihnen zu konzentrieren. Obwohl er die Befürchtung hatte, dass es sich nicht wirklich um ein Rätsel handeln würde.

„Also gut, wollen wir mal“, pflichtete er ihr schließlich mit deutlicher Verzögerung bei und klopfte sich die Hände ab. Sein Blick schwenkte abermals musternd durch den Raum. Die gegenüberliegende Tür war versperrt – mit vier Riegeln auf der Innenseite. Vier Riegel, vier Statuen. Wie passend. „Die Dinger sind aus Stein. Aber Mutter hat mir erzählt, das Konstrukte aus so ziemlich allem sein können. Stein, Metall, Sand, spielt keine Rolle. Aber die Axt wird gegen die Dinger nicht viel ausrichten können, schätze ich. Kannst du sie vielleicht beschäftigt halten, sollten sie plötzlich anfangen und herumlaufen?“ Emilia nickte lediglich, also tat Nathenial den einen Schritt über den Sicherheitskreis hinweg.

Kaum berührte seine Schuhsohle den Boden, ertönte ein Klicken – und ganz wie erwartet, setzte sich die erste Statue in Bewegung. Der Tiefling mit der Hellebarde trat aus seiner Nische heraus. Es war ein beeindruckendes Schauspiel. Die Gelenke funktionierten perfekt und makellos. Der Gang wirkte ein klein wenig abgehackt, aber der Stein – und er war sich recht sicher, dass die gesamte Figur aus massivem Stein bestand - schien in jeder Bewegung zu fließen.

Nathenial wartete, bis die Figur, die Emilia zunächst zu ignorieren schien, näher an ihn herangetreten war. Weiter aus der Nische heraus. Wie befürchtet, schwang die Gestalt die Hellebarde, sobald die Angriffsreichweite hergestellt war – und schlimmer noch, kaum hatte er den Schlag erfolgreich mit einer tiefen Rolle ins Leere laufen lassen, musste er hastig weiterrollen, um dem herabpeitschenden Steinschwanz zu entgehen. Er umkreiste die Gestalt und gab Emilia das Kommando, die Figur zu beschäftigen, während er sich die Nische näher ansah. Die Figuren standen auf einem kleinen Sockel, doch egal wie sehr er ihn abtastete, daran herumspielte – keine Druckplatten. Keine Schalter, Hebel, Mechanismen. Nichts, einfach gar nichts.

Ein Seitenblick versicherte ihm, dass Emilia weiterhin erfolgreich den Attacken auswich. Die Riesen waren aufgrund ihrer Beschaffenheit kreuzgefährlich, nicht kleinzukriegen und mit dieser Größe und ihrer Bewaffnung obendrein deutlich im Vorteil, was die Reichweite ihrer Angriffe anbelangte – aber ihre Natur machte sie auch schwerfällig, träge. Langsam.

Wenn also keine Mechanik an den Sockeln oder in den Alkoven war, musste sich eine an der Tür finden. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass man wirklich von ihnen erwartete, dass sie vier gewaltige Steinkonstrukte bezwangen. Wie sollte das gehen?! Sie waren keine Magier! Also musste es einfach eine Lösung an den Riegeln geben.

Er rannte los und bemerkte die feine Linie am Boden erst, als er sie bereits überschritten hatte. Eine winzige Rinne – gleichartig zu dem Schutzkreis an der Eingangstür. Kaum setzte er einen Fuß darüber hinweg auf den Boden, fuhr ein Druck durch die Figur des Aasimars.

Ganz schlecht.

Nathenials Blick wanderte unsicher zur verriegelten Tür. Das konnte unmöglich der Plan sein. Was war das denn für ein Irrwitz! Eine Tür öffnen, die mit schweren Riegeln verschlossen war, während vier gewaltige Statuen auf einen einzuhacken versuchten? Er glaubte sich mit seinem Wissen am Ende. Er brauchte Input, frische Ideen, eine andere Perspektive. Er hätte sich gern mit Emilia zusammen hingesetzt und nochmal die Situation überdacht, doch dafür… war es schlicht zu spät. Er wandte sich zu ihr um, wenigstens um sie vorzuwarnen und sich zu versichern, dass sie auch mit zwei Statuen immer noch irgendwie zurechtkäme. Das Erste, was er sah, als er sich umwandte, war ein direkter Stoß des Aasimars. Die Schwertklinge fuhr herab – und stach ins Leere. Die Hellebarde sauste daraufhin horizontal knapp über den Boden, doch Emilia sprang erstaunlich grazil darüber hinweg – und die Klinge fuhr dem Aasimar in die Beine. Die gewaltige Statue stürzte, fing sich jedoch mit den Armen ab. Das Schwert klirrte dabei knapp zwei Meter weiter über den Boden. Kurz nur, für die Dauer eines Herzschlages, hatte er wirklich gehofft, die Figur würde einfach vom Aufprall zersplittern. Oder das man sie tatsächlich so simpel gegeneinander ausspielen könnte. Doch der Aasimar richtete sich wieder auf, die Beine fast unbeschädigt die Arme komplett unversehrt – und wischte Emilia mit einem seiner Flügel von den Füßen. Sie rappelte sich ein paar Meter weiter hastig wieder auf und entging dadurch knapp dem nächsten Schwanzschlag des Tieflings.

So konnte das einfach nicht dauerhaft weitergehen – schon gar nicht, wenn noch zwei von denen dazu kämen.

Dann jedoch bemerkte Nathenial etwas anderes. Etwas, das vorher übersehen worden war und auch nicht hatte gesehen werden können: Da waren Schlitze. Auf dem Rücken, direkt zwischen den Schulterblättern der gewaltigen Statuen, waren Schlitze. Der Aasimar hatte einen vertikalen, geraden Schlitz. Der Tiefling eine runde Passform, aus der sich an der Oberseite ein kürzerer, vertikaler Schlitz heraushob.

Während er nachsann, von den Figuren unbehelligt, verfolgte er den Kampf weiter. Es wurde rasch auffällig, wie aggressiv der Aasimar plötzlich vorging. Dass er sich schneller bewegte. Zumindest bis zu dem Moment, als er sich bückte und sein Schwert wieder aufhob.

Sein Schwert!

„Bring den Aasimar auf die Knie!“, rief Nathenial lauthals, während er auf die gewaltigen Figuren zusteuerte. Emilia nickte. Schweiß glitzerte auf ihrer Stirn, als sie auf einen direkt auf sie zukommenden Hellebardenangriff zurannte, nur um Sekunden vor dem Treffer sich rücklings fallen zu lassen und auf ihrem Hosenboden und der Rückenschale des Lederpanzers unter der Klinge hindurch zu schlittern. Sie kam auf der anderen Seite rasch wieder auf die Beine, umtänzelte den Schwertschlag des Aasimars, wich dem Flügelschlag aus und vollbrachte das Manöver ein zweites Mal – die Hellebarde jagte in die Beine des Aasimars, der daraufhin in die Knie stürzte. Just in dem Moment jagte Nathenial zwischen den kämpfenden Gestalten vorbei. Er packte das Schwert des Aasimars. „Halt ihn unten!“, lautete die nächste Anweisung. Emilia positionierte sich vor dem Aasimar – geradezu perfekt, sodass sie sich seitlich davonrollen konnte, während die Hellebarde direkt auf den Rücken der Gestalt donnerte. „Lenk den Tiefling ab!“

Nathenial griff der weil das Langschwert und schleppte es mit aller Kraft Schritt um Schritt weiter. Die Gestalt unter ihm versuchte sich aufzurichten und es bedurfte all seiner Balancekünste, um nicht den Halt zu verlieren, während er das Schwert auf dem Rücken der Kreatur aufrichtete. Es war groß, hoch, schwer – und er musste, als die Spitze einmal im Schlitz steckte, emporspringen und sich mit all seinem Körpergewicht an das Heft hängen, damit die Klinge hineinfuhr. Wie bei Schwert und Scheide sank das Metall tiefer und tiefer ein, ohne jedoch auf der Brustseite des Kolosses hervorzubrechen. Stattdessen ertönte ein weiteres, lautes Klick und ein Rattern, als das Heft den Rücken des Aasimars erreichte. Die Gestalt zuckte, zitterte, vibrierte, während irgendwo auf der anderen Hallenseite der erste der vier schweren Riegel zurückgezogen wurde.

Nathenial sah die Risse, die sich durch die Gestalt formten und sprang von dem Koloss ab. „Deckung!“, rief er noch, ehe er selbst hinter dem Podest im nahegelegenen Alkoven des Tieflings Schutz suchte. Emilia dagegen war auf offener Fläche – relativ betrachtet. Also nahm sie die einzige Deckung, die sie hatte: Ihren Gegner.

Die Figur des Aasimars explodierte regelrecht. Ein Regen aus unterschiedlich großen Steinbrocken ging durch den ganzen Raum, feinste Splitter wie Scherben und Schrapnelle, während größere Brocken das Format von Tischen erreichten. Der Tiefling wurde von so vielen dieser Splitter getroffen, das die Gestalt vornüberkippte. Nathenial sah darin die perfekte Gelegenheit. „Die Hellebarde, wir müssen sie auf seinen Rücken bringen!“ Während die Gestalt sich langsam aufzurichten versuchte, entrissen sie ihren Händen die Waffe. Mehrfach musste Emilia auf den Stein einhacken, sogar einen Finger herausbrechen, ehe sie das Stück bergen konnten.

Nur zu zweit vermochten sie das gewaltige Stück zu tragen und diesmal musste er obendrein Emilias eher mäßigen Gleichgewichtssinn mit ausbessern. Dennoch gelang es ihnen mit viel Mühe bereits im zweiten Anlauf, die Hellebarde richtig herum in den Spalt zu senken. Die Waffe verschwand wie zuvor auch das Langschwert vollständig darin, ohne Spuren zu hinterlassen. Ein Klicken, der zweite Riegel wurde zurückgezogen und die zweite Statue detonierte kurz darauf. Erst, als der Raum wieder still wurde, wagten beide den Kopf hinter dem Podest hervorzuheben, das ihnen diesmal als Schutz gedient hatte.

„Zwei erledigt, zwei bleiben. Der Trick ist also, ihre Waffen gegen sie zu richten. Man muss nur die richtige Stelle dafür finden“, resümierte er und grinste – das Rätsel war schließlich so gut wie gelöst. Emilia dagegen wischte sich Schweiß von der Stirn und versuchte, ihre heftige Atmung zu beruhigen.

„Du hast leicht reden, du musst sie ja nicht ablenken. Also gut – der Paladin als Nächstes, oder? Schwert in den Rücken und fertig.“ Doch ihre Hoffnung wurde enttäuscht, als Nathenial sie rügte, das es wohl kaum so einfach sein würde. Darauf hoffen, das könnte sie natürlich jederzeit – aber nur ein Narr würde damit rechnen, dass es so angenehm simpel bleiben würde. „Simpel…?!“, entfuhr ihr dabei nahezu empört.

Als sie die dritte Linie überschritten, erwachten sehr zu beider Verdruss die letzten zwei Statuen zeitgleich. Schlimmer noch als das – erst als sie sich zu bewegen begannen, wurde ersichtlich, wohin ihre Waffen mussten: Die Passöffnung für den Zentauren war vorne, am Übergang vom Pferdeleib in den menschlichen Oberkörper. Der Paladin dagegen hatte die Öffnung an der Unterseite seines steinernen Panzerschuhs. Nathenial überdachte die Lage kurz, ehe er Emilia angrinste. „Wir spielen sie gegeneinander aus! Vertraust du mir?“ Er musste nicht lange warten, bis sie entschlossen nickte.

Es begann damit, dass er etwas austesten musste. Die Figuren lösten sich aus dem hinteren Teil der Halle und sie befanden sich nach ihrem kleinen Rückzug im Vorderen – also positionierte er sich direkt vor der Eingangstür und wartete. Der Paladin klopfte drohend mit seinem Schwert gegen den Turmschild und bewegte sich zäher und langsamer noch als Tiefling und Aasimar – vermutlich aufgrund der Rüstung, wie eine Stimme ihm erklären wollte… obwohl das einfach keinen Sinn zu machen schien.

Der Zentaure dagegen erwies sich, wie gleichermaßen erhofft und befürchtet, als unangenehm agil. Allem voran aber: Als kreuzgefährlich, für sich und alles und jeden. Er preschte voran, stürmte mit Hufschlägen, die die Halle erbeben ließen, auf sein Ziel zu. Der Speerstoß ging ins Leere, als Nathenial mit einem Sprung nach vorne rasch unter den Beinen der Kreatur hindurchjagte, das Beste hoffend und offenkundig einmal mehr von seinem Glück damit gesegnet, von den Hufschlägen verschont zu werden.

Der Zentaure wandte sich um, den Speer wieder erhoben, bereit zum nächsten Sturmangriff. Auf der anderen Hallenseite duckte sich ein sehr schwer atmender Nathenial gerade unter dem Schwertschlag des Paladins hindurch und wurde gerade rechtzeitig von einer seitlich herbeispringenden Emilia fortgerissen, als der Schildschlag folgte. Es vergingen nur Sekunden, bevor sie sich hinter dem Paladin befanden. „Kannst du noch?“, hakte Emilia besorgt nach. Nathenial keuchte schwer.

„Wird gehen müssen. Wir müssen noch viel mehr rennen, gleich… puh… viel mehr.“

Wie erwartet, preschte der Zentaure wieder voran – und wie schon zuvor Tiefling und Aasimar, nahm er keinerlei Rücksicht auf den zweiten Koloss. Er rannte den Paladin schlicht um. Hinter der kippenden Figur waren sie vor dem suchenden Blick der Kreatur sicher, was Nathenial die Chance gab, gänzlich seiner Aufmerksamkeit zu entkommen, während Emilia diesmal rannte und den Zentauren ablenkte, damit er wieder an das andere Ende der Halle stürmte. Dort wich sie einmal mehr aus, wenn auch deutlich knapper als Nathenial und sputete in aller Eile. wieder zur anderen Seite. Der Paladin versuchte sich gerade aufzurichten, saß bereits aufrecht, mit einem Arm abgestützt. Nathenial hatte das Schwert unter Aufbietung aller Körperkräfte ans Fußende der Gestalt gezerrt. Die Spitze auf seinem Rücken gelagert, die Klinge über seinen gesenkten Kopf hinweg auf den Schuh ausgerichtet, hatte er sich bereits unter die Waffe gestemmt. Emilia kehrte so zügig zurück, wie ihre Beine es ihr erlaubten. Sie warf die Axt und den Schild bei Seite, packte den Schwertgriff und drückte ihn hastig empor. „Schieb!“, wies sie an und gemeinsam vollbrachten sie es, die Klinge in der Schuhsohle des Paladins zu versenken.

„Der Schild, wir brauchen deinen Schild!“, plärrte Nathenial hastig, während der dritte Riegel entfernt wurde, „Falls es klappt, gibt der Splitterregen uns ein Fenster für den Zentauren, aber wir müssen uns beeilen!“ Die Kehrseite des Plans war ihnen natürlich bewusst – Emilia führte die Drachenschuppe als Schild. Drachen waren gewaltige Bestien, doch eine einzelne Schuppe aus ihrem Panzer… war dennoch nicht groß genug, um ihnen beiden ausreichenden Schutz vor der Detonation des Konstruktes zu bieten. Doch er hatte gefragt, ob sie ihm vertraute… und das tat sie.

Sie nahm in Kauf, was geschehen würde.

Hinter dem Schild verkrochen, warteten sie ab. Der Zentaure stürmte herbei, der Speerstoß ging nieder und just, bevor er einen vernichtenden Treffer landen konnte, zerfetzte es den Paladin. Steinsplitter surrten herum, die Schrapnelle verletzten beide an den Beinen, während sie noch bemühter die Köpfe und Arme hinter die Schuppe zu schrumpfen versuchten. Die Detonation hatte jedoch auch ihrem letzten Gegner den Speer aus den Händen entrissen. Scheppernd stürzte das wuchtige Kriegsinstrument zu Boden. „Jetzt!“, wies Nathenial an. Zusammen packten sie den Speer, stemmten ihn mit einem Ende gegen die noch verriegelte Tür und richteten ihn auf die Höhe aus, die sie brauchten. „Höher. Weiter links! Nein, rechts. So, so halten!“

Der Zentaure senkte sich nach dem Aufscheuen durch den Splitterregen wieder herab – und wie schon zuvor der Aasimar, war er schneller, agiler, aggressiver, als es darum ging, wieder in den Besitz seiner Waffe zu gelangen.

Der Plan stand und fiel mit der einen Frage: Wie klug waren diese Konstrukte wirklich? Nur weil sie auf jeden Feind stürmten und jeden Freund ignorierten hieß das nicht, das sie nicht zumindest über rudimentäre Intelligenz verfügten und-

„Heh, soviel dazu…“, nuschelte Nathenial leise, als der Zentaure in dem Versuch, rasch wieder in den Besitz seines Speeres zu gelangen, voranstürmte… direkt in die aufgerichtete Waffe hinein. Beide ließen den Speer los, sobald sie spürten, wie er in den Spalt hineingezogen wurde und suchten einmal mehr Deckung hinter dem nächstgelegenen Podest – obgleich jenes zu erreichen einfach aufgrund der schieren Summe an unterschiedlich großen Steinbrocken überall zu einer wahren Hürde geworden war. Sie duckten ihre Köpfe gerade als der Zentaure barst und hoben sie in dem Moment, als der vierte Riegel zur Seite gezogen einrastete und sich das Tor langsam öffnete.

Beide atmeten schwer. Emilia zitterte leicht von den Anstrengungen. Nathenial fühlte sich am Ende seiner Kräfte. „Ich hoffe, da kommt nicht mehr allzu viel, ich kann langsam nicht mehr“, brachte er keuchend hervor.

„Heh… ich hab da’n ganz mieses Gefühl…“, erwiderte Emilia und erhob sich, nur um die Splitter von sich abzuklopfen und sich auf das Podest zu setzen.

„Hm? Wieso das?“

„Das Rätsel am Eingang. Es war die Rede von vier Prüfungen, nicht? Hast du ja auch so verstanden. Überleg doch mal. Der erste Raum – an der Decke herumklettern, eine Druckplatte bedienen und dieses… Etwas in die Grube fallen lassen. List, oder nicht? Und der letzte Raum, das Schachspiel? Klugheit. Das hier? Gegner gegeneinander ausspielen? Geschick, wenn du mich fragst. Obwohl man’s auch einfach „rennt viel herum!“ hätte nennen können.“

Kurz lachte Nathenial auf, während er sich neben ihr niederließ. „Ja, und?“

Emilia verzog das Gesicht zu einem bitteren Lächeln. „Das lässt Mut übrig.“

„Oh…“

 

Unzählige Flüche und Verwünschungen hatte er schon ausgespien, alle leise genug, das niemand sie wirklich vernehmen konnte, während er sich tief gebückt durch den Schachraum bewegt hatte. Dann und wann hatte er sich unbewusst etwas aufgerichtet und war sofort mit einem Dorn im Rücken dafür bestraft worden, was ihn nur veranlasste, etwas mehr und heftiger zu fluchen und zu wettern.

Als Thorin die andere Seite erreichte, starrte er ungläubig in den Saal. Große Ölschalen hingen in gut sieben oder acht Metern von der Decke, aus durchsichtigem Material gefertigt stellten sie die Beleuchtung eines wahren Schlachtfeldes dar. Brocken und Stückchen von vermutlich ehemals gewaltigen Statuen lagen überall im Raum verteilt, hatten sich teilweise sogar geschossartig in die Wände gebohrt. Der gesamte Boden des Raumes war mit den Überresten bedeckt, was – der Anzahl an Alkoven nach bemessen – wohl einstmals vier große Kolosse gewesen sein mussten.

„Und was um Himmels Willen ist hier wieder passiert…?!“, brummte er grimmig eher zu sich selbst, als Ninafer an ihn herantrat, die Hand langsam und vorsichtig auf seine Schulter gelegt.

„Thorin, was, wenn wir zu spät kommen?“ Es waren genau die Worte, die er nicht hören wollte. Er würde nicht zu spät kommen, nie wieder – das hatte er sich geschworen, damals, vor so vielen Dekaden und Generationen. Nie wieder. Sein Kopf wirbelte herum, seine Mundwinkel zuckten herab, doch er hielt die steinerne Fassade aufrecht. Nur in seinen Augen loderten die Flammen von Krieg, Gewalt und Hass. Hätte irgendwer anders als Ninafer diese Frage gestellt, er hätte für nichts garantieren wollen.

„Werden wir nicht“, gab er knapp zur Antwort, gepresst, um Kontrolle bemüht.

„Aber was, wenn doch?“ Sie ließ einfach nicht locker. Sie erlaubte ihm nicht, dass er sich der Konfrontation mit dieser Eventualität entzog, dass er die Existenz dieser Möglichkeit verleugnete. Sie erlaubte es einfach nicht. Unter einem frustrierten Seufzen wischte sich Thorin über das Gesicht, den Schädel herab. Eine altbekannte Geste, eine Gewohnheit, die er nicht mehr loswurde. Was, wenn doch? Was dann?

Nur einen kurzen Moment lang nahm er sich die Zeit, wirklich darüber nachzudenken. Was dann? Als er sich wieder Ninafer zuwandte, seine Antwort parat, lag ein derartig entschlossener, kalt lodernder Glanz darin, dass selbst der Giftmischerin eine leichte Gänsehaut über die Unterarme kroch. „Ich reiße die Himmel ein. Ich zerfetze das Gewebe. Ich marschiere in die Weißen Hallen ein. Ich reiße Kaleran sein Herz aus der Brust und stopfe es ihm die Kehle herab, falls nötig. Ich werde sie finden, sie alle, und ich werde ihre elenden Existenzen beenden, falls sie mich dazu zwingen!“

 

„Mut, Nate. Denk dran: Mut.“ Egal, wie oft er sich das zuflüsterte und obgleich er wusste, dass sein Balancegefühl deutlich besser ausgeprägt war als Ihres, fand er sich angesichts der Situation dennoch mit schwachen Nerven geschlagen. Vielleicht lag das auch daran, dass nach all der Rennerei, den Kämpfen, der Anstrengung seine Knie weich waren und er einfach ein Zittern in den Muskeln spürte, das nicht mehr verschwinden wollte. Ganz gewiss jedoch hatte es etwas mit der gähnenden, klaffenden, bodenlosen Schwärze zu tun, die beiderseits des geländerlosen, dünnen Steinstegs lag, auf dem sie beide gerade entlang balancierten.

Mehr enthielt die vierte Prüfung nicht. Einen Graben von sicherlich um die zehn oder fünfzehn Meter Breite, überspannt von nur dieser einen, schmalen Steinbrücke – und sonst nichts. Auf der anderen Seite führte die Brücke in eine kleine, an der zugewandten Seite offene Kammer. Ein Podest stand dort, von den Ausmaßen her hätte es auch ein Sarkophag oder ein Altar sein können. Darauf lag etwas, das im schwachen Lichtschein einer einzelnen Fackel schimmerte. Und angesichts des Umstandes, dass es keine weiteren Türen gab, lag die Vermutung nahe, dass dies ihr Preis war. Was immer das sein sollte.

„Wir haben’s fast geschafft“, hörte er Emilia kaum einen Meter vor sich. Entgegen ihrer guten Ratschläge hatte er es nicht lassen können, in die Tiefe zu starren und jedes Mal beschlich ihn das Gefühl, das sie ihn anziehen würde, er taumelte, er gleich hinabstürzen müsste und, schlimmer noch als all das – das etwas aus der Tiefe zurückstarrte.

Doch entgegen aller Befürchtungen kamen sie unversehrt am anderen Ende an. „Huh“, gab er lediglich von sich, „Hab ich mehr erwartet.“

„Ja, genau, beschrei’s doch noch, du Holzkopf!“, rügte Emilia ihn leise zischend und stieß ihm den Ellbogen in die Rippen. Als sich ein paar Sekunden lang nichts rührte und nichts tat, kein Klicken, Kreischen, Fauchen, nahmen sie sich die Zeit und besahen sich ihren Preis. Auf einem erstaunlich sauberen und staubfreien weißen Seidentuch aufgebettet lagen drei Waffen. Eine Streitaxt, in ihrer Form der nicht unähnlich, die sie sich von Thorin ausgeliehen hatte, doch ihr Klingenblatt schimmerte im sanften, orangen Licht der Fackel blutrot. Es war… hübsch. Dennoch konnte sie nicht wirklich viel mit dem Anblick anfangen. Ganz anders als Nathenial, der völlig verstört vor der anderen Seite des Altares stand und die zwei Dolche angaffte, die dort lagen. Ihre gewundenen Klingen, die mit simplem Leder umwickelten Hefte, das eingravierte Symbol.

„Unmöglich…“, würgte er leise hervor. Ihm wurde wieder schwindlig. Nathenial krallte sich an den Altar, um nicht den Halt zu verlieren, seine Knie wurden weicher. Vorsichtig streckte er die Hand aus. Diese seine Hand, die niemals zitterte. Woher kam das Zittern jetzt plötzlich? Er fuhr die Klinge damit entlang, berührte sie geradezu ehrfürchtig, als wolle er sich versichern, dass sie real war, keine einfache Illusion. „Das“, erklärte er leise, ohne den Blick von den Dolchen zu lösen, „Das sind Stich und Fang… ich… ich habe Geschichten darüber gehört…“

Emilia zog die Brauen zusammen. Diese Namen kamen ihr vage vertraut vor. Die Falten auf ihrer Stirn wurden etwas tiefer, ehe sie sich zu erinnern glaubte. „Diese Geschichten, die hat dir nicht zufällig mein Vater erzählt, oder? Der neigt nämlich gehörig zu Übertreibungen…“

Nathenial grinste geistesabwesend. „Meiner doch auch…“, erwiderte er, noch immer ohne den Blick von den Waffen zu lösen.

„Soll ich euch Dreien vielleicht ein wenig Raum lassen? Wollt ihr euch ein Zimmer nehmen? Oder- ah!“ Emilias Worte wurden abrupt abgerissen, ihr überraschter Aufschrei erklang laut und unangenehm in seinem Ohr, als etwas sich um ihr Fußgelenk wickelte und sie vom Boden fortriss.

Nathenial wirbelte herum, nur um je ein Dutzend mit Saugnäpfen gespickter Tentakel auf jeder Seite der Steinbrücke aus dem Abgrund emporragen zu sehen. Natürlich war es zu simpel gewesen. Natürlich hatte er das Schicksal herausfordern müssen. Natürlich hatte etwas aus der Tiefe zurückgestarrt! „Lia!“, rief er überfordert, „Halt dich fest!“

„Machst du Scherze?!“, schrie sie zurück, während sie in der Luft herumgeschleudert wurde. Die erste Kollision mit der Wand sorgte dafür, dass die Axt ihrem Griff entglitt und in die Finsternis stürzte. Sie beide wussten – irgendwie fände das Ding schon seinen Weg zurück in Thorins Besitz. Nur… für den Moment bedeutete es, dass sie nicht sonderlich wehrhaft war. Sie bemühte sich, kopfüber hängend und herumgeschwenkt den Schild von ihrem Unterarm zu lösen und mit dessen Kante auf den Tentakel einzuschlagen, in der verzweifelten Hoffnung, dass er sie in genau dem Moment loslassen würde, wenn sie fähig wäre, eine Kante zu greifen – denn ihr stand wenig der Sinn danach, in die Schwärze zu stürzen und herauszufinden, was dort unten tatsächlich war.

Nathenial zückte seine zwei Dolche, eilte einige Schritte vor und schnitt wild fuchtelnd die erstbesten Tentakel, die dafür nah genug herankamen. Mit einem Schlag waren all seine Bedenken vergessen, das Gleichgewicht nicht halten zu können, in die Tiefe zu stürzen – Emilia war in Gefahr und er, er musste irgendetwas tun, ihr irgendwie helfen, sie-

„Ugh…!“ Alle Luft wurde aus seinen Lungen gequetscht, als ein wuchtiger Schlag ihn zurückbeförderte. Seine Finger lösten sich und die Dolche… stürzten in die Tiefe herab. Für die Dauer eines Herzschlages betete und bettelte er, sie mögen Klinge voran ins Auge dieses Monstrums stürzen – bis ihm klar wurde, das etwas, das so tief im Dunkel zu hausen schien vermutlich weder Augen hatte, noch sich von ein paar Zahnstochern beeindrucken lassen würde.

Aber dass es sich gegen ihn verteidigt hatte, bedeutete zumindest, dass es Schmerz kannte. Und wenn es Schmerz spüren konnte… nun, besiegen würden sie’s sicherlich nicht – aber vielleicht konnten sie aufzeigen, wie unglaublich nervig und unappetitlich sie waren?

Hatte das Ding überhaupt vor, sie zu fressen?

Nate!“, brüllte Emilia und brachte ihn wieder ins Hier und Jetzt zurück, „Waffe, sofort!“

Eifrig nickend kam er wieder auf die Füße, wich einem Tentakelschlag aus, der die Frage aufwarf, wie dieses Ding überhaupt wahrnehmen konnte, wo er war und was er tat. Hastig stürzte er zum Altar vor – es waren die einzigen Waffen, die es hier noch gab. „Bitte, bitte, bitte, bitte – nehmt uns das nicht übel, aber wir brauchen sie gerade dringend!“ Er packte die Axt und wirbelte herum. „Fang!“

So gut er eben mit seinen erschöpften Armen zielen und werfen konnte, schleuderte er die Axtklinge in Emilias Richtung. Abermals herumfahrend, spürte er gerade noch, wie sich etwas um sein Fußgelenk wickelte. Er hatte noch genug Zeit, die zwei Dolche zu packen, da wurde er bereits in die Höhe gerissen.

Sie fing die Axt auf. Es war… es war absurd, wirklich. Die Axt war schwer. Nicht gerade sonderlich windschnittig geformt. Und Nathenial war schwach. In der Theorie. Doch hier und jetzt, da schien er ungeahnte Kräfte zu mobilisieren. Und die Axt, sie stürzte nicht einfach herab, sie schien regelrecht auf sie zuzufliegen… oder bildete sie sich das alles nur ein? Als Emilias Hände sich um den Griff der Waffe schlossen, schoss ein solch enorm starker Impuls durch ihren ganzen Leib, das sie glaubte, sie würde jede Sekunde das Bewusstsein verlieren. Doch da war mehr, so endlos viel mehr als zuvor. So viel Kraft, so viel rohe, ungebändigte Kraft, ziellos, lauernd, nur auf ihren Befehl zum Einsatz wartend. Mit nur einem Streich durchtrennte sie den Tentakel. Ein anderer fing sie prompt auf, während das abgetrennte Stück in die Tiefe stürzte. Auf der anderen Seite der Steinbrücke sah sie Nathenial. Er stach zu, so schnell, dass das Auge kaum folgen konnte. Kletteraffe. Er wurde nicht länger von den Tentakeln gehalten. Die Tentakel waren nicht länger sein Ärgernis.

Er war das Ihre.

Auf und ab, die Beine als Halt um die wabbernden Extremitäten geschlossen, kletterte er an ihnen entlang, die Dolche als Hilfen in das Fleisch gerammt. Sprang von einem Tentakel zum Nächsten, stieß die Dolche in genau die empfindlichen Bereiche und Stellen. Geschickt. Grazil. Elegant. Sie dagegen, sie empfand es als überflüssig. Wozu sich die Mühe machen, wenn sie so… unendlich… viel… Kraft hatte…!

 

Mit dem dritten Tritt des wuchtigen Stiefels gegen die Tür sprang jene endlich auf. Der jenseitige Raum war kaum der Bezeichnung wert. Thorin trat auf einen gut zwei Meter breiten Streifen, bevor eine stattliche Schlucht vor ihnen lag. Nur eine schmale Steinbrücke führte auf die andere Seite, zu einem kaum beleuchteten Altar… an den zwei Gestalten lehnten, die sich nicht rührten.

„Nein…“, drang es atemlos aus der Kehle des Kriegers. Ohne Rücksicht auf die anderen preschte er voran, jagte über die Brücke hinweg. Die zwei Gestalten waren blass, geradezu bleich. Er tastete nach dem Puls des Burschen. Ein starker, stetiger Herzschlag. Ein flacher, aber vorhandener Atem. „Nathenial… Nathenial…?!“, sprach er den Bewusstlosen an, doch der regte sich nicht. Die Miene Thorins wanderte in kürzester Zeit durch eine Unzahl an Impulsen und Empfindungen, ehe sich der Schleier der Undurchdringlichkeit senkte, ehe die steinerne Fassade des abgehalfterten Kriegers einkehrte. Einen Arm unter die Kniekehlen geschoben, mit dem anderen den Rücken abgestützt, erhob sich der Kahlkopf auf die Füße. Er presste die Gestalt seines gerade einmal vierzehnjährigen Sohnes dicht an sich, als er wortlos durch den Korridor lief, den seine drei Begleiter für ihn formten. Was die taten, es scherte ihn nicht. Wie es Isharas Tochter ging? Es scherte ihn nicht.

Vorsichtig und umständlich strich er seinem Sohn eine Locke des wirren, zerzausten schwarzen Haares von der Stirn, während er die Brücke sicheren Schrittes und dennoch ohne jedes Empfinden für seine Umwelt zum zweiten Mal überquerte. „Es wird alles wieder gut werden“, flüsterte er seinem Jungen zu, „Ich muss dich nur hier raus bringen… nur hier raus… dann wird alles wieder gut…“

 

… natürlich wusste er es besser...



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