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Amnesie

von

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Gegenteil

Die Mischung aus hüfthohem Schnee und tiefster Dunkelheit war unglaublich nervenaufreibend.

Das war zumindest Deans Meinung. War der Weg zum Museum schon eine Tortur gewesen, so hatte ihnen noch wenigstens das Tageslicht zur Verfügung gestanden. Nun aber war es stockfinster und seine kleine Taschenlampe konnte da auch nicht allzu sehr helfen. Manche Stellen waren dermaßen düster, dass man nicht mal die Hand vor Augen sehen konnte.

Dean war sogar vor gut einer halben Stunde mit voller Wucht gegen einen Wagen geknallt, den er einfach nicht bemerkt hatte.

Kollidiert mit einem Auto! Er! Und das auch noch zu Fuß.

Castiel hatte die ganze Zeit über keinen Ton von sich gegeben, aber sein Missmut war deutlich spürbar gewesen. Es stand unumstößlich fest, dass der Engel und der Schnee keine tiefe Freundschaft schließen würden.

Dean musste aber ehrlich zugeben, dass er diese weiße Decke auch nicht unbedingt liebte.

Dementsprechend war er mehr als erleichtert, als er schließlich das Motel erblickte. Seine Lebensgeister erwachten, als er an frische und vor allen Dingen trockene Kleidung, ein kühles Bier und Nachos dachte. Das würde den Tag gleich wieder aufwerten.

Aber als er die Tür zu ihrem Zimmer öffnete und Bobby zusammengesunken auf dem Bett entdeckte, wusste Dean, dass ihm ein bisschen Entspannung offenbar nicht vergönnt war.

„Bobby?“, fragte er zögerlich, während er näher zu seinem Freund trat. Bobby wirkte über alle Maßen frustriert und grummelte vor sich hin. Seine Hose, so glaubte Dean im Licht der Taschenlampe zu erkennen, war nass, was darauf hindeutete, dass er draußen umhergelaufen war.

Aber wieso?

Bereits einen Augenblick später bemerkte Dean, dass das Zimmer seltsam leer wirkte. Er ließ den Lichtstrahl umherschweifen, konnte aber nicht das leiseste Anzeichen von Sam erkennen.
 

„Wo ist Sam?“, fragte er alarmiert. Sofort wanderten seine Gedanken zu den zwei Dämonen, die seinen Bruder schon seit einiger Zeit verfolgten.

„Weg.“

„Wie – weg?“ Dean legte verwundert die Stirn in Falten.

„Weg.“

Dean knirschte mit den Zähnen. „Das habe ich schon verstanden, Bobby. Aber wie? Und warum? Was ist passiert?“

Bobby brummte übellaunig. Was auch immer geschehen war, es hatte ihm gehörig die Laune verdorben. „Dieser kleine Bastard hat mich niedergeschlagen und ist einfach abgehauen.“

Dean hielt kurz inne. „Wer? Etwa … Sam?“ Er wollte spöttisch auflachen, aber irgendwie wollte es nicht recht klappen. „Ich versteh nicht …“

„Ich bin auch nicht viel schlauer“, gab Bobby zu. „Er meinte plötzlich, er würde gerufen werden und müsse weg. Und als ich ihn nicht gehen ließ, wurde er eben handgreiflich. Ich hab es echt nicht kommen sehen, sonst hätte ich mich von diesem jungen Milchbubi sicher nicht überrumpeln lassen.“

Dean hatte das Gefühl, dass sich in seinem Kopf alles drehte.

„Er wurde … gerufen?“ Sein Innerstes zog sich unangenehm zusammen. Wenn man Stimmen vernahm, die niemand anderes hörte, war das nie ein gutes Zeichen.

„Frag mich bitte nicht, von wem“, entgegnete Bobby. „Er war auf jeden Fall hundertprozentig davon überzeugt.“

Dean ließ sich ebenfalls auf das Bett fallen. Sein Körper war mit einem Mal unglaublich schwer geworden. Als würde die Last auf seinen Schultern immer größer und größer werden.
 

„Er … hat sich das eingebildet?“ Dean sprach diese Worte nicht gerne aus. Ein Sam ohne Gedächtnis war eine Sache, aber ein Sam mit Wahnvorstellungen eine ganze andere.

„Wie willst du es dir anders erklären?“

„Vielleicht haben die Dämonen ihn gerufen“, meldete sich plötzlich Castiel. „Ihn zu sich gelockt.“

Dean bedachte ihn daraufhin mit einem düsteren Blick. „Danke, Cas“, meinte er sarkastisch. „Dein Optimismus lässt den ganzen Raum erstrahlen.“

Castiel zuckte kurz mit den Augenbrauen und schien zu überlegen, ob Dean den Dank wirklich ernst meinte oder nicht.

Bobby seufzte derweil schwer. „Wir müssen das alles logisch betrachten. Barbara Woods hat ihn mit ihrer Amnesie angesteckt, aber im Grunde war der Gedächtnisverlust bloß ein Symptom ihrer schweren Schizophrenie … oder woran auch immer sie nun gelitten hat. Verfolgungswahn, Hysterie, Wahnvorstellungen. Stimmen hat sie da bestimmt auch gehört …“ Er hielt kurz inne und kratzte seinen Bart. „Vielleicht nimmt das jetzt alles nach und nach Überhand. Möglicherweise war die Amnesie bloß der Anfang.“

Dean aber schüttelte entschieden den Kopf. „Barbara Woods ist fort! Sam müsste sich doch wieder an alles erinnern.“

„Er tut’s aber nicht“, erwiderte Bobby. „Anstatt dass es besser wurde, hörte er plötzlich Stimmen und kam auf die Idee, mir eins überzubraten. Mein Kopf schmerzt immer noch wie die Hölle. Wenn ich Sam das nächste Mal sehe, ziehe ich ihm seine gottverdammten Hammelbeine lang!“

Dean wusste nicht, was er sagen sollte. Das alles wuchs ihm langsam über den Kopf.

Er hatte sosehr damit gerechnet, dass Sam sein Gedächtnis zurückerhalten würde, dass er gar nicht darüber nachgedacht hatte, was er tun sollte, wenn es dann doch nicht geschah. Er hatte diese Möglichkeit einfach schlichtweg ignoriert. Hatte sie nicht wahrhaben wollen.

Und nun war Sam verschwunden. Irrte irgendwo dort draußen herum, wo Dämonen nur auf ihn lauerten.
 

„Nachdem ich wieder aufgewacht bin, hab ich versucht, ihn zu finden“, fuhr Bobby fort und deutete demonstrativ auf seine feuchte Hose. „Aber es war aussichtlos. Der Neuschnee hatte seine Spuren verwischt und außerdem war es viel zu dunkel, um etwas sehen zu können. Er könnte sich sonst wo rumtreiben.“ Bobby seufzte. „Also bin ich dann irgendwann hierher zurückgekommen und wollte auf euch warten.“

Mit einem Mal überkam Dean der sehnsüchtige Wunsch nach einer Dusche – ganz egal, ob kalt oder warm. Er wollte sich nur unter das rauschende Wasser stellen und alles um sich herum ausblenden. Nichts hören, nichts sehen.

Seit sie Willcox betreten hatten, war eine Katastrophe der anderen gefolgt. Und es konnte nur schlimmer werden.

„Das ist aber noch nicht alles“, meinte Bobby, als hätte er Deans Gedanken gelesen. „Ihr seid auf eurem Weg nicht zufällig einem Toten begegnet?“

„Einem Toten?“

„Offenbar steigen die Leichen überall aus ihren Gräbern“, klärte Bobby ihn auf. „Und die Menschen in der Stadt sterben.“

In einigen wenigen Worten berichtete er, was er von dem Motelbesitzer erfahren hatte.

Dean konnte daraufhin nur ungläubig den Kopf schütteln. „Das ist doch alles nicht wahr. Was, zur Hölle, ist denn hier nur los?“

Auch Castiel hatte Bobbys Worten aufmerksam gelauscht. Nun nickte er verstehend. „Es ergibt einen Sinn.“

„Einen Sinn?“, fragte Dean irritiert nach. „In der ganzen Stadt ist das Chaos ausgebrochen. Ich sehe da keinen Sinn.“

„Es folgt aber einer gewissen Logik“, erwiderte der Engel. „Alles wird ins Gegenteil verkehrt.“

„Und was soll das heißen?“

„Hochsommer wird zu tiefstem Winter“, meinte Castiel. „Tag wird zu Nacht. Tod wird zu Leben und Leben wird zu Tod.“
 

Dean wollte im ersten Augenblick protestieren, merkte aber schnell, dass er keine Gegenargumente vorzubringen hatte. Ganz im Gegenteil, Castiel hatte durchaus Recht. Auf eine abgedrehte Art war das Ganze tatsächlich irgendwie logisch.

„Heißt das, heute Abend wird die Sonne wieder … aufgehen?“, hakte er zögernd nach.

„Wenn diese ganzen Ereignisse wirklich gewissen Gesetzen folgen, dann wäre es möglich“, meinte Castiel bestätigend.

„Das ist absolut verrückt!“ Anders vermochte es Dean einfach nicht auszudrücken. Er hatte in seiner langen Laufbahn als Jäger schon viele übernatürliche Dinge gesehen, aber die momentanen Ereignisse in Willcox ließen sich mit nichts vergleichen.

„Es ist tatsächlich … ungewöhnlich“, sagte Castiel. Langsam schritt er durch den Raum und schien alles intensiv zu betrachten, als würde er dadurch irgendeine Antwort bekommen.

Dean beobachtete den Engel, während sich alles in seinem Kopf wie in einem Karussell drehte. Dass die Geschehnisse in Willcox auf Logik beruhten, machte es für den Winchester eigentlich nur sehr viel komplizierter und verwirrender. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was es zu bedeuten hatte. Ob es überhaupt etwas zu bedeuten hatte.
 

Vordergründig kreisten aber Deans Gedanken immer noch um Sam. Wieso, zur Hölle, war er einfach abgehauen? Und warum war es ihm dermaßen wichtig gewesen, fortzukommen, dass er selbst gegenüber Bobby Gewalt angewandt hatte?

Dean fand keine Antwort und das wurmte ihn über alle Maßen. Am liebsten wäre er einfach nach draußen gerannt und hätte nach seinem Bruder gesucht. Es brodelte regelrecht in seinem Inneren.

Aber sein logischer Verstand maßregelte ihn zur Ruhe. Wie hoch waren die Chancen, Sam dort draußen in der Dunkelheit aufzuspüren? Als Bobby sich, nachdem er wieder aufgewacht war, auf den Weg gemacht hatte, hatte Sam höchstens einen Vorsprung von zehn Minuten gehabt und war trotzdem unauffindbar gewesen. Und jetzt waren bereits einige Stunden vergangen.

Wo hätten sie mit der Suche anfangen sollen?

Dean gefiel es absolut nicht, wie sich das Ganze entwickelte. Sein Instinkt riet ihm, trotz der schlechten Aussichtschancen sofort loszueilen und alles zu geben, aber tief in seinem Inneren fühlte er sich viel zu müde und ausgelaugt. Er war durch hohen Schnee gestapft, hatte gegen einen wütenden Geist gekämpft und hatte sich anschließend wieder durch die weißen Massen kämpfen und dabei auch noch zusätzlich mit der Finsternis klarkommen müssen.

Er wollte Ruhe. Nur einen Augenblick.

Aber er wusste, dass ihn die Sorge um Sam nach und nach auffressen würde.
 

Castiel war inzwischen neben dem Bett am Fenster stehengeblieben, auf dem sich unzählige Blätter tummelten, die Sam vollgekritzelt hatte. Er nahm einige der Papiere und schaute sie sich mit undurchdringlicher Miene an.

„Dies hat Sam gezeichnet?“, wollte er nochmal nachdrücklich wissen.

„Ganz recht“, bestätigte Dean, während er sich mühsam aufrappelte und zu dem Engel trat. Sein Blick fiel dabei sofort auf das Bild am Fußende, das anscheinend den afrikanischen Dschungel zeigte und einfach nur fantastisch war.

„Das ist das Bild, das er für dich gemalt hat?“, fragte Dean, an Bobby gewandt, welcher daraufhin nickte. „Oh Mann. Kein Wunder, dass es dich beunruhigt hat.“

Es war so vollkommen samuntypisch.

„Diese Bilder …“, meinte derweil Castiel. Dean drehte sich zu ihm und betrachtete die Blätter in den Händen des Engels genauer. Es handelte sich um diejenigen, die Sam die ganze Zeit voller Eifer mit seinem Stift bearbeitet hatte. Aber im Gegensatz zu dem Dschungel-Porträt wirkten diese Meisterwerke wie die Bilder eines Kleinkindes. Keine Ordnung, alles wild durcheinander und nicht mal ansatzweise ein Motiv erkennbar. Stattdessen hatte Sam offenbar wahllos irgendwelche Kritzeleien gezeichnet.

„Das ist nur Geschmiere“, erwiderte Dean. „Außerdem haben wir im Moment wichtigeres zu tun, als Sams Malkunst zu bestaunen. Wir müssen ihn finden, ehe ihm etwas zustößt!“

Eine andere Option gab es einfach nicht, sosehr auch alles dagegen sprach. Aber Dean konnte seinen kleinen Bruder nicht einfach dort draußen herumirren lassen. Ganz allein und orientierungslos.

Er hatte viel zu viel für Sam aufgegeben, um ihn jetzt im Stich zu lassen.

„Und wo willst du mit dem Suchen anfangen, Junge?“, hakte Bobby skeptisch nach. „Die Stadt ist zu groß und zu dunkel, um jemanden zu finden, von dem man nicht mal annähernd weiß, wo er sich aufhält.“

„Das ist mir schon klar“, meinte Dean seufzend. „Aber willst du wirklich untätig hier herumsitzen und darauf hoffen, dass Sam aus freien Stücken wieder zurückkommt?“

Bobbys Gesichtsausdruck zeigte deutlich, dass er auch wenig erpicht darauf war, einfach zu warten.
 

„Beherrscht Sam Alt-Ägyptisch?“, fragte Castiel plötzlich ohne jeden Sinnzusammenhang. „Alt-Griechisch? Oder Sumerisch?“

Dean blinzelte verdutzt. „Bitte was?“

„Beantworte einfach die Frage“, meinte Castiel in einem merkwürdigen Tonfall, der Dean irgendwie nicht ganz geheuer war.

Der Winchester zwang sich aber trotz seiner Verwirrung, Castiels Aufforderung so gut wie möglich nachzukommen. „Na ja, Griechisch … kann sein, dass Sam ein paar Brocken beherrscht. Zumindest sehr viel besser als ich. Immerhin ist er schon immer ein kleiner Streber gewesen.“ Dean hob die Schultern. „Aber Alt-Ägyptisch? Ich wüsste nicht, dass Sam viel damit zu tun hatte. Und wo dieses Sumerien liegt, weiß ich nicht einmal.“

„Sumer“, korrigierte ihn Castiel. „Es lag im Gebiet des heutigen Mesopotamiens.“

„Faszinierend“, schnaubte Dean. „Und was hat das mit Sam zu tun?“

Castiel hob die vollgekritzelten Blätter demonstrativ hoch. „Das hier ist kein … Geschmiere“, entgegnete er und sprach das letzte Wort dabei derart seltsam aus, als hätte er es noch nie in den Mund genommen. „Es sind antike Sprachen. Immer und immer wieder hat Sam dasselbe geschrieben.“

Dean spürte, wie sein Kopf allmählich zu brummen begann. „Und was?“

Rettet mich!“

Dean hob eine Augenbraue.

Hatte er das gerade tatsächlich richtig verstanden?

„Du … du willst damit also sagen, dass das nicht das Gekritzel eines verwirrten Kerls ohne Gedächtnis ist?“, hakte Dean nach. „Sondern … ein Hilferuf?“

Er wusste nicht mehr ein, noch aus.

Und es war nun offiziell: Dean war mit der Situation heillos überfordert.

Er vermisste glatt die Zeit, als seine Gedanken bloß um Barbara Woods gekreist waren. Als sein größtes Problem Sams Amnesie gewesen war.

Nun aber hatte er keine Ahnung mehr, was überhaupt vorging.

Nicht mal ansatzweise.
 

Bobby war inzwischen aufgestanden und nahm Sams Bilder näher in Augenschein. „Wenn man es genauer betrachtet, sind das wirklich keine wahllos gezeichneten Formen“, meinte er. „Aber Sam … als er diese Bilder gemalt hat, wirkte er … gedankenverloren. Und in keinster Weise wie jemand, der um Hilfe schreit.“

Dean musste ihm da zustimmen. Sam hatte zwar meist einen konzentrierten und eifrigen Eindruck erweckt, aber oft genug hatte er seinen Blick auch vom Blatt erhoben und woanders hingeschaut, während sich seine Hand weiterbewegt hatte. Als würde sie ein Eigenleben besitzen.

„Ist das vielleicht … von Barbara Woods?“, fragte Dean zögerlich nach. „Ich meine, eine Art Überbleibsel. So wie sie ihre Krankheit auf Sam übertragen hat …“

„Du meinst, sie beherrschte diese antiken Sprachen und hat es auch Sam vermacht?“ Bobby rieb sich nachdenklich am Kinn. „Wäre möglich. Dann würde sich das Rettet mich auf Barbara Woods beziehen, die von ihrem Bruder gefangen gehalten wurde und durch Sam irgendwie zu kommunizieren versucht hat.“

Dean nickte. Das klang durchaus plausibel.

Aber als er zu Castiel blickte, merkte er, dass sich der Engel mit dieser Antwort nicht anfreunden konnte.

„Barbara Woods war für ihre Zeit sicherlich eine gebildete Frau“, meinte er. „Vielleicht hat sie sogar wirklich Griechisch gesprochen. Aber Ägyptisch und ganz besonders Sumerisch …? Das sind nicht unbedingt Sprachen, die heute wie damals viele Leute beherrscht haben.“

Dean zuckte mit den Schultern. „Vielleicht war’s eine Art Hobby von ihr. Wer weiß? Immerhin hatten die Leute damals kein Fernsehen und mussten sich irgendwie anders beschäftigen.“

Castiel wirkte immer noch nicht überzeugt, sagte aber dennoch: „Möglich.“
 

„Außerdem ist es sowieso egal“, erwiderte Dean. „Wir müssen Sam finden! Und wenn wir die ganze Stadt dabei auf den Kopf stellen.“

Bei dem Gedanken, wieder nach draußen in die eisige Kälte zurückzukehren, zitterte er zwar schon automatisch am ganzen Leib, aber dennoch blieb ihnen keine andere Wahl. Sam war wehrlos, verwirrt und ungemein gefährdet. Und Dean würde sich es nie verzeihen, wenn er nicht alles unternommen hätte, um seinen Bruder zu finden.

„Das wird eine Suche nach der Nadel im Heuhaufen“, entgegnet Bobby wenig begeistert. Man merkte seinem Tonfall aber an, dass auch er irgendetwas tun wollte.

„Ich könnte ihn vielleicht aufspüren“, meldete sich Castiel. „Zumindest, wenn er in der Nähe ist.“

Dean lächelte knapp. Das war wenigstens sehr viel besser als gar nichts.

„Wir sollten aber auch noch herausfinden, was es damit auf sich hat.“ Castiel holte aus der Seitentasche seines Trenchcoats etwas hervor und hielt es ihnen entgegen. Dean kniff die Augen zusammen und konnte im ersten Moment gar nicht benennen, worum es sich eigentlich handelte, ehe er den Lichtstrahl seiner Taschenlampe darauf richtete.

Es war eine goldene Halskette!

Und sie ähnelte sehr derjenigen aus dem Museum.
 

„Hast du das Ding etwa mitgehen lassen?“, fragte Dean erstaunt und konnte sich dabei eines Grinsens nicht erwehren. Ausgerechnet ein Diener Gottes entpuppte sich als Meisterdieb.

„Es hat meine Aufmerksamkeit erregt“, sagte Castiel unbeeindruckt. „Es gibt eine seltsame Energie ab.“

Auch Bobby war nun nähergetreten und nahm die Kette entgegen. Intensiv musterte er sie, aber seinem Gesichtsausdruck konnte man entnehmen, dass er sie bloß für ein simples Schmuckstück hielt.

„Wesen wie euch fällt es nicht auf“, meinte Castiel. „Die Energie ist auch nur ausgesprochen schwach. Ich hätte es sogar beinahe übersehen.“

„Und was denkst du, worum es sich handelt?“

„Ich weiß es nicht“, gab der Engel ehrlich zu. „Wahrscheinlich ist sie nicht mal etwas Besonderes und hat mit der momentanen Situation überhaupt nichts zu tun. Vielleicht hat sie einst einer Hexe gehört und es sind noch einige magische Spuren auf der Kette vorhanden. Aber ebenso gut könnte sie wichtig sein.“

Dean musterte die Kette genauer.

Und schnappte erschrocken nach Luft, als ihn die Erinnerung einholte.

„Sam hat das Ding berührt“, erklärte er aufgeregt. „Als Barbara Woods ihn angriff, ist er nach hinten gestolpert und hat ein paar Sachen mitgerissen. Ich glaub, diese Kette gehörte dazu.“
 

Bobby schaute alarmiert drein, aber Castiel wirkte in keinster Weise überrascht. Er schien sich wohl etwas Vergleichbares bereits gedacht zu haben.

Dean hingegen wusste nicht genau, ob ihn diese neue Erkenntnis beunruhigen sollte oder nicht. „Und … was hat das jetzt zu bedeuten?“

„Vielleicht nichts“, sagte Castiel. „Vielleicht aber auch alles.“

Dean schnalzte mit der Zunge. Eine kryptischere Antwort war ihm wohl nicht eingefallen?

„Möglicherweise hatte diese Kette irgendeinen Effekt auf Sam“, fuhr der Engel fort, nachdem er bemerkte, dass sein knapper Kommentar Dean nicht zufriedenstellte. „Unter Umständen ist es aber auch genau umgekehrt.“

„Und das heißt …?“

„Vielleicht gibt die Kette eine merkwürdige Energie ab, gerade weil Sam sie in dem Augenblick berührte, als der Geist ihn angriff“, mutmaßte Castiel.

Dean nickte zögernd, auch wenn er noch weit davon entfernt war, das Ganze richtig zu verstehen. Im Grunde war er bloß froh, dass Bobby und Castiel an seiner Seite waren, ansonsten wäre er völlig aufgeschmissen gewesen.

„Na gut, na gut.“ Dean atmete einige Male tief durch. „Ich schlage vor, dass Cas und ich auf Sammy-Suche gehen. Hoffentlich reicht das verbliebende Mojo aus, um ihn zu finden. Und du, Bobby, versuchst inzwischen, etwas über die Kette herauszufinden. Ich weiß noch, als Sam ganz zu Anfang die Internetseite des Museums besucht hat, dass dort viele Ausstellungsstücke aufgelistet waren. Vielleicht steht ja dort irgendwas Brauchbares drin. Ich weiß zwar nicht, wie lang die Akkus unserer Laptops noch ohne Strom funktionieren, aber wir sollten nichts unversucht lassen.“

Bobby nickte. „Ich könnte auch Miles anrufen. Er schien eine Menge Ahnung von dem Kram zu haben. Soweit ich mich erinnere, hat er sogar bei meinem Besuch über die Ketten in Barbara Woods‘Zimmer gesprochen. Er meinte, sie stammen aus Athen.“

„Was auch immer“, entgegnete Dean. „Alles, was du finden kannst.“

Ob es etwas brachte, war natürlich eine ganz andere Sache. Vielleicht war diese Kette wirklich vollkommen unbedeutend für ihren Fall und würde bloß ihre Zeit verschwenden. Aber Dean wollte lieber auf Nummer Sicher gehen. Außerdem war es sicherlich ratsam, dass jemand in ihrem Motelzimmer blieb, falls Sam zurückkommen sollte. Aber Bobby hätte sich nur schwer dazu überreden lassen, allein zurückzubleiben, wenn er keine sinnvolle Beschäftigung gehabt hätte.
 

„Bevor ihr aber geht“, meinte Bobby, „solltet ihr euch vielleicht noch verarzten.“

Dean runzelte die Stirn und begriff im ersten Moment überhaupt nicht, worauf sein Freund hinauswollte, doch als er Bobbys Blick in Richtung Castiel folgte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.

Dean richtete seine Aufmerksamkeit auf die rechte Hand des Engels, die von den Scherben aufgeschlitzt worden war. Nach der Eliminierung der Geister hatte Dean bloß ein Stück einer Gardine abgeschnitten und den Stoff provisorisch um Castiels Hand gewickelt. Dean war viel zu erpicht darauf gewesen, wieder zurück zum Motel zu kommen und seinen Bruder zu sehen, dass er nicht unbedingt Zeit damit hatte verschwenden wollen, nach einem Erste-Hilfe-Kasten zu suchen. Zumal der Engel sowieso keinen besonderen Wert darauf gelegt hatte. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er die Wunde einfach unbeachtet weiterbluten lassen.

Nun aber befanden sie sich wieder im Motel und der Verbandskasten stand für jedermann sichtbar in der Ecke. Zu ihrem Glück hatten sie ihn noch aus dem Wagen herausgeholt, bevor einen Tag später die schwere Schneedecke den Impala begraben hatte.

„Okay, Cas.“ Dean konnte sich eines Lächelns nicht erwehren, als er den Engel am Ärmel packte und ihn zu einem Stuhl dirigierte. Castiel legte keinen Widerspruch ein, wirkte aber ein wenig argwöhnisch.

„Ich schätze mal, einen Verband musstest du noch nie tragen, nicht wahr?“, fragte Dean, während er den Erste-Hilfe-Kasten auf den Tisch stellte und darin herumkramte.

„Wir Engel heilen uns selbst“, erwiderte Castiel daraufhin. „Die menschlichen Methoden der Wundheilung sind überflüssig.“

„Tja, im Moment aber nicht“, entgegnete Dean und entfernte das Stück Gardine. Nun, im hellen Licht der Taschenlampe, sah er erst, wie tief die Verletzung war. Castiel hatte mehrere tiefe Kratzer an der Hand und zum Teil auch am Oberarm. Jeder normale Mensch hätte sicher schon vor Schmerzen laut aufgeschrien.

„Tut das nicht weh?“, fragte Dean, während er die blutverschmierten Wunden betrachtete und bloß mehr als froh war, dass ihn die gefährlichen Glassplitter nicht auch dermaßen übel erwischt hatten. Als Castiels Antwort aber auf sich warten ließ, meinte der Winchester mit einem schiefen Lächeln: „Ah, ich versteh schon. Ein Indianer kennt keinen Schmerz, nicht wahr?“

Castiel betrachtete sein Gegenüber daraufhin skeptisch, als würde er dessen Urteilsvermögen anzweifeln. „Ich bin kein Indianer, Dean.“

Dean schmunzelte kurz, ehe er dazu überging, die Verletzung zu versorgen. Schon unzählige Male hatte er dies gemacht – bei sich selbst und Sam –, allerdings noch nie bei einem Engel. Eine Premiere, die sich bestimmt nicht so schnell wiederholen würde.

Sorgfältig wusch und desinfizierte er die Wunde, bevor er sie schließlich verband. Castiel verzog während der Prozedur keine Miene, aber man sah ihm dennoch an, dass die Behandlung nicht gerade angenehm war. Wahrscheinlich wünschte er sich in diesem Augenblick mehr denn je seine Regenerationsfähigkeiten zurück.
 

„Hat Sam eigentlich irgendwas gesagt, das uns vielleicht weiterhelfen könnte?“, fragte Dean währenddessen Bobby.

Dieser schüttelte den Kopf. „Nein, nicht Besonderes. Nur, dass er weg müsste. Und dann hat mich dieser Mistkerl einfach niedergeschlagen und ist mit deiner Waffe abgehauen.“

Dean hob verwundert den Blick und wandte seine Aufmerksamkeit zur Kommode. Dort, wo er seine 45er hingelegt hatte, die nun verschwunden war.

„Er hat eine Waffe mitgenommen?“, hakte Dean nach. Er spürte, wie sich sein Magen unangenehm zusammenzog. „Wofür?“

„Ich hoffe, zur Selbstverteidigung“, antwortete Bobby.

Dean schloss die Augen und atmete einige Male tief durch. Das alles wurde langsam wirklich zu viel.

Als er seine Lider wieder aufschlug, merkte er, dass Castiel ihn intensiv musterte. „Wir werden Sam finden“, sagte er.

Dean nickte. Der Engel war sicherlich niemand, der einfach etwas daher sagte, um einen anderen zu beruhigen. Immerhin hatte er keinen blassen Schimmer davon, wie man jemanden aufmunterte.

Nein, er war davon überzeugt.

Und Dean wünschte sich, auch eine solche Zuversicht zu besitzen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  DoctorMcCoy
2010-03-24T11:36:08+00:00 24.03.2010 12:36
Unser kleiner süßer Indianer mit seinem hervorragenden Sinn für Optimismus ist einfach der Beste. Naja, er ist einfach Cas, nicht wahr?
Und ich möchte mich jetzt mal an dieser Stelle loben. Denn die Kette hat eine bedeutende Rolle, nicht? Habe ich es nicht schon von Anfang an geahnt? Selbst, wenn sie jetzt nichts mit Sams Amnesie zu tun hat, so hat sie doch für die Story an sich eine wichtige Rolle. Zumindest denkt sogar Castiel, dass irgendetwas mit dieser Kette ist. Nun ist ja nur die Frage, ob sie die Amnesie ausgelöst hat oder im Nachhinein irgendetwas damit zu tun hat.
Auf jeden Fall ist es sehr verdächtig, wenn die Kette aus Athen stammt und Sam auf Alt-Ägyptisch schreibt, oder nicht? Ich hätte da auch vielleicht eine Theorie, aber noch zu unausgefeilt, um sie dir hier präsentieren zu können.
Okay, hast mich überzeugt. Nein, oder auch nicht, weil das ja alles nicht stimmen kann. Werde mich nochmal damit beschäftigen.

Bobby tut mir wirklich leid. Sein Stolz muss doch sehr verletzt sein.
Aber ich finde den Plan von den Dreien doch sehr gut. Einfach, simpel, leicht zu merken. Da kann doch gar nichts schief gehen. Und wenn der Engel sagt, dass sie Sam finden, ist das ja schon fast eine hunderprozentige Tatsache.
Also, zum Schluss sollte ich vielleicht noch diese Gegenteil-Geschichte erwähnen. Eigentlich total logisch. Dass ich darauf nicht früher gekommen bin. Und weißt du, vielleicht sollten Dean und Cas noch bis Einbruch der Nacht warten. Da könnten sie zumindest besser sehen und Sam bestimmt leichter finden. Aber sie haben ja auch noch das Rest-Mojo von Cas.

So, bis zum nächsten Kapitel dann.
LG Lady_Sharif


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