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Amnesie

von

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Schwere Suche

Die Suche nach Sam gestaltete sich hart. Wie auch nicht anders erwartet.

Dean war ausgezehrt, über alle Maßen frustriert und völlig durchgefroren. Anfangs spürte er bloß seine Füße nicht mehr, die sich dauernd tapfer durch den Schnee wühlen mussten, dann waren aber schließlich auch die Beine, die Finger, die Nase und letztlich das ganze Gesicht dran gewesen. Er fühlte inzwischen so gut wie gar nichts mehr. Wahrscheinlich hätte er nicht mal etwas mitbekommen, wenn ihn ein Bus überfahren hätte.

So verstrich Stunde um Stunde. Und Sam war nirgends in Sicht.

Zunächst hatten sie sich wahllos eine Richtung ausgesucht und waren einigermaßen strategisch vorgegangen, aber nach einiger Zeit hatte Dean den Überblick verloren. Ganz im Gegensatz zu Castiel, der entschlossenen Schrittes voranging und nicht mal ansatzweise den Eindruck erweckte, als würde er umherirren. Er hatte Sam zwar noch nicht aufspüren können, verfolgte aber offensichtlich einen Plan, um nicht orientierungslos im Kreis zu laufen.

Wenigstens machte es den Anschein.

Immerhin war es ebenso möglich, dass der Engel sich bloß nach außen hin so gelassen und kontrolliert gab, aber inzwischen auch nicht mehr genau wusste, wo sie sich eigentlich befanden.

„Sind wir an diesem Laternenpfahl nicht schon mal vorbeigekommen?“, hakte Dean nach.

Castiel machte sich gar nicht erst die Mühe, einen Blick über die Schulter zu werfen und sich den besagten Pfahl näher anzusehen, als er erwiderte: „Nein, Dean. Dein angeschlagener Geist spielt dir nur etwas vor.“

Dean zog die Mundwinkel nach unten. Es missfiel ihm ausgesprochen, dass er dermaßen ausgelaugt war, Castiel aber keinerlei Anzeichen von Müdigkeit und Schwäche zeigte. Unermüdlich ging er seines Weges und ließ sich von der Kälte augenscheinlich nicht beeindrucken. Nur ab und zu zupfte er an seiner bandagierten Hand herum und musterte sie eingehend. Ob die Verletzung schmerzte oder er einfach nur den weißen Verband interessant fand, wusste Dean jedoch nicht zu sagen.

In solch einem Moment war es vielleicht ganz praktisch, ein übermenschlicher Engel zu sein.
 

„Wir werden Sam nie finden, oder?“, fragte er schließlich nach weiteren zwanzig Minuten hoffnungslos nach. Sie hatten nicht die leiseste Spur entdecken können und Dean bestürmte allmählich die schreckliche Gewissheit, dass er hier in einer Kleinstadt in der Wüste mitten im Hochsommer als gekühlte Leiche enden würde.

„Irgendwann werden wir ihn finden“, entgegnete Castiel. „Tot oder lebendig.“

Dean schnaubte. Dieser Kerl verstand wirklich nicht sonderlich viel davon, jemanden aufzumuntern!

Aber anstatt sich zu beschweren, stapfte er weiter durch den Schnee und versuchte mühevoll, nicht an den nahenden Tod zu denken und ebenso seine nagende Sorge um Sam zu unterdrücken.

„Vielleicht sollten wir mal zur Stadtgrenze“, schlug Dean nach einer Weile vor. „Unter Umständen war es Sam ebenfalls zu blöd, sich durch den Schnee zu kämpfen und er ist in die Wüste gegangen.“

Ein Gedanke, der Dean ein wenig aufwärmte. Sand, Sonne und Hitze – was konnte man mehr vom Leben verlangen?

„Wenn du in deinem Zustand die Grenze überschreitest, wirst du auf der Stelle zusammenbrechen“, prophezeite ihm Castiel. „Eure Körper sind für solch drastische Temperaturschwankungen von einer Sekunde zur anderen nicht geschaffen.“

Dean schnaubte. „Danke, Dr. House.“

Castiel reagierte auf diese Aussage gar nicht mehr. Stattdessen blieb er ohne jede Vorankündigung stehen, sodass Dean hart abbremsen musste, um ihm nicht hinten reinzulaufen.

„Verdammt, Cas!“, knurrte Dean übellaunig.

Der Engel aber beachtete ihn nicht. Stattdessen hatte er seinen Blick auf eine dunkle Seitenstraße gerichtet. „Ich glaube, ich habe eine Spur.“

Dean spürte, wie ihn Erleichterung packte. Und wäre sein Gesicht nicht eingefroren gewesen, hätte er sogar gelächelt.

„Wirklich?“, fragte er voller Hoffnung.

„Folge mir.“
 

Es dauerte eine weitere Viertelstunde, bis Castiel erneut innehielt und auf ein größeres Gebäude deutete, das aus dem Schnee emporragte. Deans Blick glitt sofort zu dem Schild an der Eingangstür.

„Das ist die hiesige Bücherei“, meinte Dean. „Und Sam ist wirklich hier? Will er sich etwa ein Buch ausleihen?“

„Ich denke nicht, dass das seine vordergründige Absicht ist“, entgegnete Castiel ernst.

Dean bedachte den Engel kurz mit einem frustrierten Blick, ehe er sich zur Vordertür begab. Wie nicht anders an solch einem Tag – oder vielmehr in solch einer Nacht – zu erwarten war, war die Bücherei nicht geöffnet worden. Doch nach ein paar geübten Handgriffen seitens Deans verschafften sie sich Zutritt.

Der Winchester atmete erleichtert ein, als er endlich wieder ebenen Boden unter den Füßen spürte und auch die Kälte sich aus seinem Körper allmählich zurückzog. Zwar war in der Bücherei wie überall sonst in der Stadt der Strom ausgefallen, sodass die Heizungen nicht funktionierten, dennoch war es im Inneren tausendmal wärmer als draußen bei Kälte, Wind und Schnee.

Castiel hingegen nahm sich keine Zeit, die neue Umgebungstemperatur zu genießen. Unbeirrt ging er den langen Flur entlang, bis sie schließlich zum großen Hauptraum gelangten, der über und über mit Regalen vollgestopft war und den typischen Büchergeruch vorzuweisen hatte.

Dean ließ suchend das Licht seiner Taschenlampe umherwandern. Er spürte, wie Aufregung ihn bestürmte. Endlich hatten sie Sam gefunden!

Blieb nur die Frage, in welchem Zustand er war. Ging es ihm gut, war er genauso durchgefroren wie Dean oder war er möglicherweise von den Dämonen hierhin verschleppt worden? Automatisch zückte der Winchester Rubys Messer und machte sich auf alles gefasst – Dämonen, Zombies, Geister, sogar Aliens.

Er wollte nur seinen Bruder zurück.
 

Und dann entdeckte er Sam!

Dieser saß zwischen den Bücherregalen im Schneidersitz auf dem Teppichboden und starrte ins Nichts. Vollkommen allein und augenscheinlich völlig unversehrt. Erst als sich Dean und Castiel ihm näherten, schien er überhaupt zu bemerken, dass er Gesellschaft bekommen hatte.

Sam warf einen Blick über die Schulter direkt auf seinen Bruder und lächelte. „Hallo, Dean.“

Hallo, Dean?“, empörte sich dieser. „Ist das alles, was du zu deiner Verteidigung zu sagen hast?“

„Verteidigung?“

„Du bist einfach abgehauen!“, rief Dean ihm ins Gedächtnis. „Du hast Bobby niedergeschlagen – was der dir übrigens ausgesprochen übel nimmt; er wird dir noch die Hölle heiß machen – und bist verschwunden. Cas und ich suchen dich schon seit Stunden. Und draußen ist nicht gerade das angenehmste Wetter, um jemanden stundenlang zu suchen.“

„Es liegt Schnee“, meinte Sam bloß, ehe er sich wieder umdrehte.

Und schwieg.

Dean war inzwischen kurz davor, auszurasten. Die Sorge um seinen kleinen Bruder hatte ihn schier wahnsinnig gemacht und nun das? Keine Erklärung, keine Entschuldigung? Nicht mal eine einigermaßen annehmbare Begrüßung?

Wutschnaubend trat Dean zu Sam und wollte ihn an der Schulter packen, doch dieser entzog sich dem Griff, sprang hastig auf und wich einige Schritte zurück.

„Tu das besser nicht“, sagte Sam kopfschüttelnd. Seine Augen huschten dabei einen Moment unruhig hin und her, wie Dean es auch im Museum bei Barbara Woods gesehen hatte. „Ich bin gefährlich.“

„Gefährlich?“ Dean lachte spöttisch auf, verstummte aber wieder, als er die Waffe in Sams Hand registrierte. Sam hielt sie locker und machte nicht den Anschein, als hätte er in nächster Zeit vor, sie zu benutzen, dennoch beunruhigte Dean ihr Anblick. Jemand, der an Amnesie litt und offenbar allmählich verrückt wurde, sollte nicht unbedingt bewaffnet sein.

Nicht, wenn man es verhindern konnte.

Dean dachte darüber nach, ihm schnell die Pistole zu entreißen, war aber unsicher, ob er es wirklich wagen sollte. Sam wirkte irgendwie nervös und hätte es übel missverstehen können.
 

„Warum denkst du, dass du gefährlich bist?“, erkundigte sich Castiel. Er hielt einen gebührenden Abstand ein und blieb völlig ruhig.

„Ich … ich … es ist meine Schuld“, murmelte Sam.

„Was ist deine Schuld?“

Alles!“, erklärte Sam mit Nachdruck. „Der Schnee, die Nacht … Einfach alles!“

Dean runzelte verwundert die Stirn, während sich Castiel weiterhin völlig gelassen gab. „Und wie kommst du darauf?“, hakte der Engel nach.

Er hat es gesagt“, flüsterte Sam und tippte sehr zu Deans Entsetzen mit der Mündung der Kanone gegen seine Schläfe. „Er ist dort drin.“

Dean war für eine Sekunde buchstäblich das Herz stehengeblieben. Mit weitaufgerissenen Augen starrte er seinen Bruder an, der verwirrt und verzweifelt wirkte und offenbar überhaupt nicht wusste, was er tun sollte.

Alles in Dean schrie danach, Sam die Waffe aus den Händen zu reißen. Aber er konnte sich einfach nicht bewegen. Zu groß war die Angst, dass irgendwas Schlimmes passierte, sollte er überreagieren.

„Weißt du denn, wer er ist?“, fragte Castiel. Sams Verhalten schien ihn in keinster Weise zu stören, nicht mal ein Muskelzucken ließ er erkennen. Zunächst nahm Dean ihm dieses Fehlen jeglicher Emotionen ausgesprochen übel, dann aber realisierte er, dass dies wahrscheinlich das Beste war, was man tun konnte. Wenn man selbst ruhig und gelassen blieb, würde sich das möglicherweise auch automatisch auf Sam übertragen.

„Er … er ist … ich weiß nicht“, gab Sam zerknirscht zu. „Ich höre nur seine Stimme. Seinen Namen kenne ich nicht. Vielleicht hat er sogar gar keinen.“
 

Dean atmete einmal tief durch und versuchte, Ruhe zu bewahren. Hektik würde Sam nicht helfen.

„Er sagt, ich muss sterben.“ Sam zielte erneut mit der Mündung auf seine Stirn. „Dann wird alles wieder gut.“

Nun war es mit Deans Ruhe endgültig vorbei!

Er wollte zu Sam stürzen, ihn zu Fall bringen und die Waffe ganz weit wegwerfen. So weit weg wie nur möglich.

Aber Dean erhielt gar nicht die Chance dazu. Kaum, dass er losstürmen wollte, packte Castiel ihm am Arm und hielt ihn zurück.

„Was soll das, Cas?“, fuhr der Winchester ihn an.

„Keine Angst“, wisperte der Engel. „Siehst du nicht die Zweifel in Sams Augen? Er wird nicht abdrücken. Zumindest nicht, wenn du deine Beherrschung behältst.“

Dean konnte es einfach nicht fassen. „Ausgerechnet du willst plötzlich ein Menschenkenner sein? Ich sag’s dir echt ungern, Cas, aber du hast keine Ahnung, was in uns vorgeht.“

Castiel ließ sich davon nicht beeindrucken. Er verstärkte kurz den Griff um Deans Arm und meinte beschwichtigend: „Lass mich das machen. Vertrau mir.“

Dean hätte sich liebend gern losgerissen und den Engel links liegenlassen, aber Castiels durchdringenden Blick vermochte man einfach nicht zu entkommen. Wenn man in seine Augen schaute, musste man zwangläufig glauben, dass er die Sache regeln würde. Dass alles wieder gut werden würde.

Und somit nickte Dean.

Wenn auch sehr widerwillig.
 

Castiel wirkte zufrieden, als er sich wieder Sam zuwandte. „Du willst aber nicht sterben, oder?“

„Ich … ich …“, meinte Sam, eindeutig völlig überfordert. Offenbar schien die Stimme in seinem Kopf ihn unglaublich zu verwirren. „Ich … denke nicht.“

„Warum legst du dann nicht einfach die Waffe nieder und lässt uns über alles reden?“

Sam aber schüttelte den Kopf. „Ich will nicht sterben“, sagte er entschieden. „Ich will aber auch nicht, dass andere meinetwegen leiden. Die Menschen in der Stadt sterben. Und es wird nicht eher aufhören, bis alle tot sind.“

Dean spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. Es tat weh, diese Worte aus dem Mund seines Bruders zu hören.

Aber gleichzeitig konnte er es auch verstehen. Wenn Dean ebenfalls geglaubt hätte, er selbst wäre für die Situation in Willcox verantwortlich und nur sein Tod könnte die unzähligen Menschen retten, hätte er es auch in Erwägung gezogen, sich selbst zu erschießen, um alle anderen zu schützen.

Was war schon ein Menschenleben im Vergleich zu tausenden?

Mochte Sams Gedächtnis auch gelöscht sein, so besaß er doch immer noch die Einstellung eines Jägers. Ein Umstand, der Dean trotz der ausgesprochen heiklen Lage irgendwie wie ein kleiner Hoffnungsschimmer erschien.

„Und wie bist du für das Ganze verantwortlich?“, hakte Castiel in bester Therapeuten-Manier nach. „Wie hast du es geschafft, es im Sommer schneien zu lassen? Oder die Toten aus ihren Gräbern zu holen?“

Auf diese Fragen hatte Sam offenbar keine Antwort. Er schaute bloß hilflos drein und war vollkommen irritiert.

„Bist du schon mal auf den Gedanken gekommen, dass diese Stimme dich anlügt?“, wollte Castiel wissen. „Dich in den Selbstmord treiben will?“

Dean erkannte mit wachsender Erleichterung, dass Castiels Worte bei Sam anzukommen schienen. Er runzelte die Stirn und dachte intensiv über das nach, was der Engel ihm sagte. Die Hand mit der Pistole begann langsam zu sinken.
 

„Du meinst … er lügt?“, fragte Sam verblüfft.

„Du bist nur ein Mensch, Sam“, entgegnete Castiel. „Zwar ein außergewöhnlicher, aber letztendlich immer noch ein Mensch. Du könntest die Veränderungen in dieser Stadt überhaupt nicht verursacht haben. Nicht mal ich wäre dazu imstande.“

Sam zögerte. Sah von einem zum anderen und war sich nicht sicher, was er glauben sollte.

„Wer sagt mir, dass … ihr nicht lügt?“, fragte er schließlich. „Und zwar schon von Anfang an. Woher soll ich denn wissen, ob ihr wirklich das seid, was ihr vorgebt, zu sein?“

Dean knirschte wütend mit den Zähnen. Das ging nun echt zu weit!

„Du bist schon dein ganzes Leben mein kleiner Bruder, Sammy, und daran wird sich nie etwas ändern“, sagte Dean bestimmend. „Sieh mir in die Augen und dann weißt du es! Denkst du wirklich, wir würden uns deinetwegen die ganze Mühe machen, wenn du uns nichts bedeutest?“

Sam wirkte ziemlich zerknirscht, als er antwortete: „Tut mir leid. Es ist nur …“

„Die Stimme in deinem Kopf verwirrt dich“, vollendete Castiel den Satz, woraufhin der Winchester bestätigend nickte. „Soll ich mal mit ihm reden?“

„Das kannst du?“, hakte Sam erstaunt nach. Ebenso Dean warf dem Engel daraufhin einen skeptischen Blick zu.

„Sicher“, meinte Castiel fast schon eine Spur zu selbstsicher.

Dean verstand nicht so recht, was der Engel vorhatte. Anstatt Sam in seinen Wahnvorstellung auch noch zu unterstützen, hätten sie ihn lieber davon überzeugen sollen, dass er sich das alles nur einbildete.

Castiel aber schien dies gar nicht in Erwägung zu ziehen. Stattdessen trat er zu Sam, hob seinen Arm und meinte beruhigend, als dieser argwöhnisch zurückwich: „Keine Sorge. Dir passiert nichts.“

Sam wirkte zwar immer noch etwas skeptisch, entschied dann aber schließlich, dass er vor einem Engel wohl nichts zu befürchten hatte. Somit protestierte er auch nicht, als Castiel zwei Finger sanft auf seine Stirn legte und die Augen schloss.

Er schien zu lauschen.

Nach der Stimme in Sams Kopf, die nicht existierte.

Sam verharrte währenddessen regungslos und musterte Castiel gespannt. Man sah die große Erwartung in seinem Blick. Er erhoffte sich endlich eine klare Antwort, was nun eigentlich genau los war.

Und im nächsten Augenblick verdrehte er die Augen und sackte bewusstlos zu Boden.
 

Dean zuckte im ersten Moment vor Überraschung zusammen, dann aber erlaubte er sich ein erleichtertes Aufatmen. „Oh Mann, Cas, hättest du mich nicht vorwarnen können?“

Castiel blickte auf den ohnmächtigen Sam hinab und zeigte keinerlei Regung. „Ich hielt es so für angebrachter“, meinte er. „Auf diese Weise haben wir wenigstens keinen Verdacht erregt.“

Dean nickte, während er sich hinhockte und die Waffe aus Sams Hand an sich nahm. Sofort steckte er sie sich an den Gürtel, außer Reichweite seines Bruders. Es war zwar unwahrscheinlich, dass Sam in der nächsten Sekunde seine Augen aufschlagen und Dean wieder die Kanone entreißen würde, aber der Winchester wollte kein Risiko eingehen.

„Wie lange wird er weggetreten sein?“, erkundigte er sich beim Engel, während er seinen bewusstlosen Bruder musterte. Sam wirkte nun vollkommen friedlich und mit sich und der Welt im Reinen.

„Nicht sehr lange“, erklärte Castiel. „Ich verfüge nur über einen Bruchteil meiner Kraft. Jemanden für mehrere Stunden das Bewusstsein zu rauben, ist nicht möglich. Es hat im Grunde auch nur funktioniert, weil Sam sich nicht dagegen gewehrt hat.“

„Verstehe“, meinte Dean. „Ist eigentlich auch sehr viel besser, dass Sam nicht zu lange schläft. Ich habe keinen Bock, ihn durch den Schnee zu tragen.“

Das war eine Mühe, die er einfach nicht auf sich nehmen wollte. Schon ohne schwere Last auf den Schultern war es eine Tortur, sich durch den Schnee zu kämpfen. Da brauchte er keinen riesigen und tonnenschweren Sam, der ihn noch tiefer in den weißen Massen versinken ließ.
 

Castiel betrachtete derweil den am Boden liegenden Winchester dermaßen intensiv, dass es Dean etwas mulmig wurde. Irgendetwas am Blick des Engels wollte ihm einfach nicht gefallen.

„Was ist?“, erkundigte er sich daraufhin.

„Ich weiß es nicht“, antwortete Castiel ehrlich. „Es ist nur … etwas stimmt mit Sam nicht.“

Dean hob eine Augenbraue. „Wow, du bist echt ein Blitzmerker, Cas! Sam verliert sein Gedächtnis und will sich schließlich selbst erschießen und du ziehst daraus den Schluss, dass etwas mit ihm nicht stimmt? Du bist ein Genie!“

Castiel warf ihm daraufhin bloß einen kurzen Blick zu und schien zu überlegen, ob Dean es tatsächlich ernst meinte. Schließlich aber entschied er sich dafür, nicht weiter darauf einzugehen. „Es geht hier nicht um die Amnesie“, meinte der Engel. „Sam gibt … seltsame Energie ab. Ähnlich der der Kette aus dem Museum.“

Nun wurde Dean hellhörig. „Und … was bedeutet das?“

Castiel schien darauf keine direkte Antwort geben zu können. Stattdessen sagte er: „Ich muss Sam gründlicher untersuchen, um das herauszufinden.“

Dean nickte, während es in seinem Inneren unangenehm rumorte. Nicht nur, dass Sam aufgrund einer Geisterattacke seine Erinnerungen verloren hatte, darüber hinaus stand auch noch eine merkwürdige antike Kette aus Griechenland damit irgendwie in Verbindung.

Aber wie?

Dean hatte keinen blassen Schimmer, wo der Zusammenhang war. Hatte das Schmuckstück womöglich irgendeinen Einfluss auf Sam gehabt? Etwas, das wegen der Amnesie überhaupt noch nicht aufgefallen war? Unter Umständen rührten Sams neues Maltalent und seine Sprachkenntnisse in Alt-Ägyptisch nicht von Barbara Woods. Vielleicht hatte die Kette etwas damit zu tun.

Doch was?

Dean wusste es nicht und spürte bloß Kopfschmerzen, wenn er zu lange darüber nachdachte. Das alles war viel zu verwirrend.

Es blieb nur zu hoffen, dass Castiel des Rätsels Lösung fand.
 

* * * * *
 

Mica war kalt.

Eiskalt.

Ihre Zähne klapperten, ihr ganzer Körper zitterte und ihr Verstand schrie sie die ganze Zeit an, endlich wärmere Gefilde aufzusuchen.

Sie warf einen Blick zur Seite und musterte Cormin. Dieser zeigte keinerlei Anzeichen, ob die furchtbare Kälte ihn überhaupt störte. Stattdessen starrte er mit eiserner Konzentration auf die Rückseite des Motels und kümmerte sich dabei in keinster Weise, dass ihm der Schnee bis zu den Hüften reichte.

„Sie sind noch nicht zurück“, lautete schließlich sein Bericht. Eine Erkenntnis, die er alle fünf Minuten wiederholte, obwohl Mica das Fenster zum Zimmer der Jäger ebenfalls bestens im Blick hatte. „Bloß der alte Mann sitzt dort allein.“

„Das sehe ich auch, Cormin“, zischte Mica angefressen. „Hältst du mich etwa für blind?“

Cormin musterte sie kurz mit einem angedeuteten Grinsen. „Nein, nur für unaufmerksam.“

Mica schnaubte, sah aber darüber hinweg, ihm einen warnenden Klaps zu verpassen. Ihre Glieder waren dermaßen eingefroren, dass wahrscheinlich bloß ihre Hand abgefallen wäre, hätte sie Cormin damit berührt.

„Okay, gehen wir das Ganze nochmal durch“, meinte Mica. Zum großen Teil deshalb, um sich von den niedrigen Temperaturen abzulenken. „Wir warten hier draußen in der Antarktis, bis die Winchesters zurückkommen. Und dann überwältigen wir sie mit deinem tollen Schlafzauber, den dir einst irgendeine Schlampe von Hexe beigebracht hat.“

„Ganz recht“, sagte Cormin und klopfte auf seine Jackentasche. Dort hatte er ein kleines Säckchen samt bestimmter Zutaten versteckt, die er zuvor aus einem verlassenen Supermarkt hatte mitgehen lassen. Bloß die letzte Zutat hatte er noch nicht hinzugegeben, um den Zauber nicht frühzeitig zu aktivieren.

„Und wir werden nicht einschlafen?“, hakte Mica vorsichtig nach. Es brachte ihnen immerhin nichts, die Winchesters ins Land der Träume zu schicken, wenn sie selbst ebenfalls vom Schlaf übermannt wurden, kaum dass sie das Zimmer betraten.

„Solange du das Gegenmittel zu dir nimmst, nicht.“

Das ‚Gegenmittel‘ hatte sich sehr zu Micas Argwohn als Kaugummi herausgestellt, das Cormin ebenfalls im Supermarkt eingesteckt hatte. Seiner Aussage nach sorgte das Pfefferminz dafür, dass sie vom Zauber unbehelligt blieben.

Mica konnte es nicht so recht glauben, war aber gleichzeitig in der Hexenkunst zu wenig bewandert, um Cormins Worte abzustreiten. Somit vertraute sie einfach darauf, dass er wusste, was er tat. Und sollte es dennoch schiefgehen, würde sie ihm ordentlich die Hölle heiß machen.
 

Schließlich richtete sie ihren Blick wieder auf das Zimmerfenster. Bis vor fünf Minuten hatte der ältere Jäger noch telefoniert und sich dabei Notizen gemacht, nun saß er vor dem Laptop und schien intensiv nach etwas zu suchen. Was auch immer es war, es war ihm offenbar ziemlich wichtig.

„Meinst du, sie haben vielleicht eine Ahnung, was in der Stadt los ist?“, fragte Mica, nachdem sie den Mann noch eine Weile beobachtet hatte.

„Allerhöchstens eine Vermutung“, meinte Cormin abwinkend. Er wollte sich wohl nicht eingestehen, dass Jäger mehr wissen konnten als er.

„Ich habe auch gründlich darüber nachgedacht“, sagte Mica. „Theorien sind mir einige eingefallen, aber sie waren alle ziemlich haltlos. Dämonische Kräfte können wir sicherlich ausschließen, ich habe nichts dergleichen bemerkt. Aber vielleicht himmlische? Ich habe Gerüchte gehört, dass in diesen Tagen vermehrt Engel gesichtet wurden.“

Cormin brummte. „Bei dem, was Lilith vorhat, auch kein Wunder.“ Er selbst schien nicht genau zu wissen, wie er das Ganze einordnen sollte. Auch Mica war unschlüssig, ob die Sache mit Lucifer solch eine glorreiche Idee war.

Es würde auf jeden Fall die ganze Welt auf den Kopf stellen. War Willcox vielleicht der Anfang?

Mica hatte keine Ahnung und sie erschauerte bei dem Gedanken, welche Kräfte in letzter Zeit freigesetzt worden waren. Und wenn sie ehrlich zu sich war, wollte sie mit dem auch nicht unbedingt etwas zu tun haben. Sie konnte sehr gut weiterleben, ohne jemals einen Engel zu Gesicht zu bekommen.
 

„Es kommt Bewegung ins Spiel!“, sagte Cormin plötzlich alarmiert.

Mica richtete ihren Blick wieder aufs Motelzimmer. Der ältere Jäger, der zuvor noch konzentriert auf den Computerbildschirm geschaut hatte, war aufgestanden, um die Zurückkehrenden zu begrüßen. Mica entdeckte Sam, Dean und noch eine weitere Gestalt.

„Wer ist der Typ im Trenchcoat?“, fragte sie verwundert. Irgendwie gefiel es ihr nicht, dass sich immer mehr und mehr versammelten.

„Columbo vielleicht?“ Cormin schnaubte. „Es ist eh egal. Wenn er bei den Winchesters ist, muss er ihr Schicksal mittragen. Pech gehabt.“

Er holte das Säckchen hervor und grinste breit. Er war mehr als erpicht, es Sam heimzuzahlen. Und auch Mica war froh, ihre eingefrorenen Glieder mal etwas bewegen zu können.

Blieb nur zu hoffen, dass der Schlafzauber wirklich funktionierte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  DoctorMcCoy
2010-04-04T10:49:57+00:00 04.04.2010 12:49
Komme ich erst einmal zu den Dämonen, damit der Kommi ernsthaft anfängt. Die beiden sind einfach genial. Wie es scheint, sind sie wohl nicht hundertprozentig auf Liliths Seite. Kann ich gut verstehen. Diese Frau ist ja auch verrückt.
Ein Kaugummi als Gegenmittel für einen Schlafzauber? Einfach genial. Da können sie nur hoffen, dass die Jäger nicht auch gerne Kaugummi kauen. Und ich frage mich, ob dieser Zauber auch bei Engeln wirkt, sonst erleben sie eine böse Überraschung.

So, und jetzt zum besten Teil. Cas ist einfach cool. Wie er da durch den Schnee stapft, immer wissen, wohin. Als ob, der hatte wahrscheinlich selbst keine Ahnung, wo sie sich gerade befanden. Dass sie nachher überhaupt wieder zum Hotel zurück gefunden haben, erstaunt mich ja immer noch.
Der arme Sam scheint ja sehr verwirrt zu sein. Naja, du hättest wahrscheinlich auch nicht gerne eine Stimme im Kopf, die dir sagt, dass du dich umbringen sollst.
Und Cas hat das Ganze ja sehr professionell gemeistert. Er kann einfach in den richtigen Situationen total ruhig bleiben. Naja, der ist sowieso immer ruhig. Er hatte aber gute Argumente. Die Stimme könnte lügen. Wenn Dämonen lügen, lügen auch bestimmt Stimmen, die in deinem Kopf sind. Alte Jäger-Weisheit.
Und der Trick von Cas war ja mal sehr gerissen. Classy.
Dean tat mir auch sehr leid. Er muss sich total hilflos gefühlt haben, als er seinen Bruder da mit der Waffe gesehen hat. Gut, dass er seinen Engel dabei hatte^^ Aber auch, wie er meinte, dass Cas ihn hätte vowarnen können. Naja, dann hätte der Trick doch nicht funktioniert. Dean kann auch nicht immer nachdenken.

So, bin dann schon sehr gespannt, wie es weitergeht. *hihi*
HDL
Becky
Von: abgemeldet
2010-04-03T21:20:58+00:00 03.04.2010 23:20
So, jetzt will ich auch mal wieder, hab ja schon ein schlechtes Gewissen, weil ich mich bei den anderen Chaps rar gemacht habe.
Und das, obwohl ich Deine FF so liebe ^^
Aber nun los:

Holla die Waldfee, der Anfang hatte es ja schon tüchtig in sich, ein offensichtlich verwirrter Sam mit einer geladenen Knarre in der Hand, nicht gut, gar nicht gut. Ich hab richtig mit Dean um seinen Bruder mitgezittert und konnte seine Machtlosigkeit sehr gut nachvollziehen. Daneben zu stehen und zuzusehen, wie der eigene kleine Bruder sich vermutlich ernsthaft schaden oder sogar töten könnte, was für eine Alptraumsituation.
Zuerst hab ich Castiels Methode auch nicht so recht getraut, aber als er sagte, ob er mit der Stimme mal sprechen sollte, hab ich mir da schon was bei gedacht. Und siehe da, ich hatte recht! Gut, dass Cas diese Fähigkeit besitzt, einen ins Reich der Träume zu schicken.
Aber aus der Gefahrenzone ist Sam ja noch lange nicht, nachdem man von den dämonischen Plänen hörte.
Hehe, aber ich muss zugeben, diese beiden Dämonen sind mir sehr sympathisch, Deine Art, sie darzustellen, ist sehr amüsant und gefällt mir.
Dennoch bleibt nun die Frage offen, wieviel von dem, was Sam von sich gegeben hat, tatsächlich stimmt. Ist er wirklich für all das, was sich in der Stadt abspielt, verantwortlich? Und was hat es mit dieser Kette auf sich, welche die selbe Aura verstrahlt wie Sam?
Fragen über Fragen, auf deren Antworten ich supergespannt bin ^^
Weiterhin eine sehr schöne und von den Charakteren immer sehr gut getroffene Story.

Liebe Grüße und frohe Ostern von Tasha
*Dir einen großen Schokoosterhasen hinstellt*


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