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Lauter Einzelteile

26 Teile des Lebens, die sich Sterben nennen
von

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Daneben

Man kann auf die Familie verzichten, dachte ich am Ende des Jahres. Wie sich schnell für mich herausstellte, hat es hervorragend funktioniert.

Am vorneujährlichen Tag entschieden wir uns dazu, nicht bei der Familie zu bleiben, sondern zu meinen Freunden zu gehen. Verstehen Sie mich nicht falsch. Freunde sind nicht nur Bekannte. So fremd man ihnen ist, so nah steht man ihnen auch. Blut ist dicker als Wasser? Das sollte man überdenken.

Natürlich ließen meine Partnerin und ich nicht davon ab, schon im Voraus ein wenig intus zu haben und darüber hinaus nicht allzu früh auf der Feier zu erscheinen. Wir beide kommen lieber stilvoll zu spät. Endlich angekommen, nur ein wenig angetrunken, starrten uns unbekannte Gesichter entgegen, ein paar Typen, die es schick fanden, sich mit einem Bier in der Hand auf der Treppe zu versammeln, wie ein paar Obdachlose vor der Armenspeisung. Wortlos gingen wir an ihnen vorüber, ignorierten die Blicke und wurden bald von der Gastgeberin mit den Worten begrüßt: "Gott, ich bin schon so betrunken. Ich habe mit deiner besten Freundin rumgeknutscht."

Zur näheren Erläuterung: Meine beste Freundin sieht aus wie das komplette Gegenteil von mir, steht auf Oldies, trägt die dementsprechenden Klamotten und mag ansonsten Tiere und Pflanzen. Desweiteren sagte sie mir einst, sie würde nicht auf Titten stehen. So viel dazu.

Frau Anders, die Gastgeberin, ließ es sich nicht nehmen, das Gesagte noch in der Tür zu demonstrieren und in der Mundhöhle meiner Hippie-Freundin herumzulecken. Ich hoffte bloß, dass es bei dem einen Loch bleiben würde. Das war also unser Einstieg.

Durch die Wohnung dröhnte Rammstein und an einigen Stellen saßen suspekte jugendliche Männer, die ich nie zuvor gesehen hatte und die wirkten, als seien sie von der Straße aufgelesen worden. Waren sie vermutlich auch. Uns dreien – also meiner nicht anwesenden Schwester, meiner Partnerin und mir – ist das auch schon mal passiert, als meine Mutter uns ausgesperrt und den Schlüssel von innen in die Tür geschoben hatte. In derselben Nacht landeten wir auf einer Feier irgendeines Fremden. Seine hell erleuchtete Wohnung in einem Mietshaus hatte uns angelockt.

Doch zurück zur Neujahrsparty. Wir betraten das Zimmer der Gastgeberin. Nicht ohne Schwierigkeiten, da einer der Jugendlichen direkt vor der Tür lag. Sein Mund war von etwas Rotem verschmiert, als er sich schwerfällig erhob und mit einem anderen Kerl aus dem Zimmer verschwand. Keine Sorge, das dient nicht zu Ihrer Beunruhigung. Mir schien es nur eben erwähnenswert. Oder erinnerungswert, immerhin habe ich es aus unerfindlichen Gründen nicht vergessen.

Frau Anders lag mittlerweile auf dem Bett und war damit beschäftigt, einem Mädchen die Zunge in den Hals zu schieben. Wie? Meine Retrofreundin? Nein, dies wiederum war eine rothaarige und selbsternannte Gruftschlampe, die ich eher als Gruftschönheit bezeichnet hätte, und nebenbei die beste Freundin unserer Gastgeberin. Oder feste Freundin? Sie waren halt sehr, sehr gut miteinander befreundet. Wie auch immer.

Wir sahen uns um. Das einzige Licht in dem vollständig weißen Zimmer ging von Kerzen aus. Eine Menge Fotos von Bands und Leadsängern hingen in schwarzweiß an den Wänden, Poster von den Murderdolls, Bilder von Luis Royo. Ein Seil hing von der Decke. Falls es Sie interessiert: Die Frage, ob sie schon einmal versucht hätte, sich damit zu erhängen, verneinte Frau Anders. Ich wusste nicht, ob ich ihr glauben sollte, aber immerhin lebte sie noch.

Wir setzten uns auf das Bett, sodass die Gastgeberin und erwähnte Gruftschönheit ihr Spiel bald auf den Schoß meiner Partnerin verlegten. Nun gibt es erst einmal nur Belanglosigkeiten zu erzählen. An dem Bett waren übrigens ebenfalls Seile befestigt, an dem man bequem jemanden festbinden konnte, sodass meine Partnerin und ich... aber lassen wir das.

In den wenigen Atempausen erzählte uns Frau Anders, sie besäße seit der Hochzeit nicht mehr ihren alten, hier nicht aufgeführten Namen, an den ich mich, ehrlich gesagt, sowieso nicht erinnere. Stattdessen habe sie nun, welch Überraschung, einen neuen Nachnamen, doch wenn man sie fragte, wie sie jetzt hieße, antwortete sie stets, sie würde nun Anders heißen. Bei ihren Gesprächspartnern rief dies meist Unverständnis und weitere Fragen hervor, bei unserer überforderten Partygesellschaft hingegen sorgte diese Geschichte auch nach der dritten Wiederholung noch für betrunkenes Gelächter.

Richtig interessant wurde es erst, als Frau Anders nach dem stumpfen Messer auf ihrer Kommode griff und es über ihren Arm zog. Die Schnitte waren normal, bluteten den Erwartungen gemäß, sodass man damit auf ihrer schneeweißen Haut malen konnte, was sich meine Partnerin und ich nicht entgehen ließen. Jedoch konnte man mit solch einem stumpfen Messer nicht mehr als Malerei erwarten. Also gab ich ihr das meinige, welches sich zufälligerweise in meiner Tasche befand. Ein wirkungsvolleres Resultat stellte sich heraus. Der Abend schien nett zu werden, noch bevor es zehn Uhr wurde. Ich musste feststellen, dass sich das binnen kurzer Zeit verstärkt bestätigte. Frau Anders kam nämlich auf die geniale Idee, gleich ihre Rasierklinge zu benutzen, damit es mehr brächte. Das hat es auch.

Meine Partnerin war im Nachhinein der Meinung, dass die Wunde, die sich unsere Gastgeberin am Oberarm zufügte, nicht breiter offen stand als ein bis zwei Zentimeter. Für mich sah es bereits nach drei Zentimetern aus, aber ich denke, diese Täuschung stellte sich nur durch den Alkohol ein. Wer kann so etwas später noch beurteilen? Wir hätten ein Lineal benutzen sollen. Das Blut suppte noch nicht einmal heraus, nur das Fleisch wölbte sich nach oben, sodass unappetitlich weise Fettzellen die Wunde gänzlich ausfüllten. Sah im ersten Moment wie ein aufgerissenes Sitzpolster aus, aber lange würde der Körper wohl nicht brauchen, bis er schnallte, was passiert war. Meine Partnerin und ich blickten uns fragend an, während die Verletzte beteuerte, es sei nicht so schlimm, nur die Haut sei angekratzt. Ihre Stimme klang dabei sehr hysterisch. Als ihr Arm endlich das unvorhergesehene Loch bemerkte, wollte Frau Anders unbedingt das heraustretende Blut ablecken, woran ich sie natürlich hindert. Mir wurde klar, dass die Sache schlecht so bleiben konnte. Frau Anders jedoch entschloss sich bereits vor uns dazu, aufzustehen und ins Bad zu gehen, nicht ohne Blut auf der Kommode, dem Boden, dem Türrahmen und dem Albinohasen zu verteilen.

Meine Hippiefreundin, die als einzig andere Anwesende neben uns saß, sagte kurz, das Ganze sei ja wohl widerlich, es würde sie aber nicht weiter interessieren oder tangieren. Damit war das also auch erledigt und meine Partnerin und ich konnten der Verletzten ins Bad folgen.

Dort hatte Frau Anders bereits das Wasser aufgedreht, um ihren Arm darunter zu halten. Ich brauche die Gründe sicher nicht zu erklären, weshalb wir sie resolut daran hindern mussten. Wundverschließung kann eben nur schwerlich einsetzen, wenn Blut im Kontakt mit Wasser nicht gerinnt. Wollte Frau Anders sich umbringen, wäre das sicher eine gute Methode gewesen, obwohl der Erfolg dennoch fraglich blieb.

Im nächsten Augenblick rannte sie wie ein aufgeschrecktes Huhn aus dem Bad zurück in ihr Zimmer und fing an eine Mullbinde um ihren Arm zu wickeln. Ich nahm ihr die Arbeit ab, da sie sich nicht davon abbringen ließ. Eigentlich hätte man warten müssen, vielleicht hätten meine Partnerin und ich es sogar in Erwägung gezogen, die Wunde mit einem Tacker zu schließen, das wäre am sichersten gewesen. Möglicherweise fand ich diese Option auch nur wegen meines Alkoholpegels in diesem Moment so sinn- und reizvoll. Nach meiner Vorstellung wäre hierauf ein Druckverband über die Wunde gekommen und letztlich die Mullbinde. Stattdessen fingen wir mit der Mullbinde an. Den Druckverband holte meine Partnerin aus dem Verbandskasten im Zimmer, der übrigens nicht ohne Grund dort stand, und das Tackern ließen wir ganz bleiben. Nun war der Arm notdürftig abgeschnürt, auch wenn sich der Verband vom Blut bereits rot färbte.

"Irgendwie ist es lustig", sagte meine Partnerin zu mir, "dass ich Blut an den Händen habe, das weder von dir noch von mir stammt."

Als die anderen Anwesenden im Haus, darunter der Bruder von Frau Anders, das Geschehen endlich bemerkten, ging das Gehetze erst richtig los. Irgendwelche Besserwisser meinten, eine Hauptschlagader könnte getroffen worden sein und Frau Anders müsse unverzüglich ins Krankenhaus. Selbstredend wollte Frau Anders das nicht. Nichts lag ihr ferner. Verständlich.

Man schrie sie an, sie schrie zurück, einige Freundinnen von ihr weinten und meine Partnerin und ich tauschten debil grinsend amüsierte Blicke. Unter der dröhnenden Musik hörte ich um einiges lauter Einzelteile einer offenbar häufig geführten familiären Diskussion, der ich in meiner Trunkenheitsumnachtung nicht mehr folgen konnte oder wollte. Irgendwann wurde Frau Anders ins Bad gezerrt. Drei Männer, darunter ihr Bruder und der Bruder ihrer Freundin, redeten auf sie ein. Verbale Massenvergewaltigung. Moralapostel bei der Arbeit. Frau Anders wusste sich nicht mehr zu helfen, kauerte sich zusammen, schaukelte wie ein Geistesgestörter aus einem dieser klischeebeladenen Hollywoodfilm vor und zurück und hörte irgendwann mit der Gegenwehr auf, um sich berieseln zu lassen. Leider ohne Erfolg für die Apostel.

Während diverse Freundinnen heulend im Zimmer saßen und die Jungs sich mit Frau Anders im Bad eingeschlossen hatten, standen meine Partnerin und ich im Flur zwischen beiden Zimmern. Mittlerweile hallte dumpf die Stimme von Ville Valo durch die Holztür. Er sang 'Gone with the Sin', während wir an der Wand lehnten und müde belustigte Blicke austauschten. Lachen musste meinereiner jedoch erst, als ich auf das Schild an der Tür sah. Ein Bild hing dort von Samsas Traum, unter dem groß die Worte standen: "Heute Nacht sterben wir!"

Wir? Nicht ganz.

Zeitsprung. Nach dem vielen Gerede, Geschrei und Blut saßen wir alle erneut gemütlich zusammen im Zimmer. Noch immer dröhnte Musik von HIM durch den Raum. Sehr passend.

Der Gastgeberin ging es soweit wieder gut und ich schloss kurzerhand die Wette ab, sie würde bis zum Jahreswechsel bestimmt überleben. Das tat sie dann auch. Sie überlebte.

Mühelos und nur wenig schwankend konnte sie von ihrem Bett aufstehen, als ich sie kurz nach Mitternacht mit einigen anderen in die Küche schleifte. Gut, wir hatten den Wechsel verpasst, aber was machte das schon? Alle standen halb oder komplett betrunken in der Küche, wir hoben die Gläser und wünschten ohne Countdown, da das ein wenig zu spät gekommen wäre, ein schönes neues Jahr. Jeder goss sich das Billiggetränk in den Rachen und seltsamerweise schmeckte es gar nicht so schlecht, zumindest für mich. Der Alkohol in meinem Blut tat fleißig seine Arbeit und hieß jeden brüderlichen Neuzugang willkommen.

Was gibt es sonst noch zu erzählen? Das Feuerwerk war schön von drinnen anzuhören, als wir uns kurzentschlossen zu fünft ins Bett legten, welches eigentlich selbst für zwei schon zu klein war. Die Handschellen in meinem Rucksack fanden in dieser Nacht leider keine Verwendung mehr, aber es war trotzdem nett.

Am nächsten Morgen war der Arm von Frau Anders bereits ein wenig blau und eiskalt geworden, aber es ging, wie sie selbst versicherte. Das erfuhr ich jedoch nur per Telefon, da meine Partnerin und ich uns bereits vorher dazu entschieden hatten, den Rest der Nacht besser zu Hause zu verbringen. Was mittlerweile mit ihrem Arm ist, weiß ich nicht. Ihr Bruder wird sie verpfiffen haben und dann muss Frau Anders wahrscheinlich, wenn sie sich nicht zu wehren weiß, wieder ins Sanatorium. Geht mich ja eigentlich nichts mehr an. Ich hatte mein schönes Silvester. Schönes Silvester? Das letzte Jahr klebt mir noch wie Scheiße unterm Schuh. Im nächsten Jahr werde ich mich erst einmal damit beschäftigen, diesen Mist aus den Rillen herauszukratzen, bevor ich mir solch tiefschürfende Fragen beantworten kann.

Alles in allem, wenn ich rückblickend darüber nachdenke, war der Abend wohl ziemlich daneben.



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