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D.Gray-Man

Die unbekannte Geschichte
von

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Prolog

Prolog
 

Wir befinden uns am Ende des 19. Jahrhunderts, einer Zeit, die vom Umbruch, von Veränderungen geprägt ist. Es ist ein stetiger Wandel der Gegebenheiten. Immer mehr und neues strömt auf die Menschheit ein, doch eine dieser Veränderungen versucht sie krampfhaft an ihrer Realisierung zu hindern. Die Auslöschung eben jenes Geschlechts, ihrer eigenen fragwürdigen Existenz.

Aus der Dunkelheit längst vergessener Geschichte war vor einigen Jahren eine Gestalt aufgetaucht, wie der Advokat des Teufels und hatte mit seinem Erscheinen den Krieg gegen die lebende, atmende Welt erklärt. Die teuflische Bedrohung, die die Menschheit entgegenzutreten versucht, nennt sich Graf Millenium. Zusammen mit seinen Verbündeten, der so genannten Noah-Familie und den von ihm erschaffenen Dämonen, den Akumas, trachtet er den Mensch nach dem Leben. Wo immer der Advokat des Teufels wandelt, dort halten Verderben und Tod Einzug.

Einzig und allein eine kleine Schar Auserwählter kann sich gegen den wahnsinnigen Grafen und sein Gefolge zur Wehr setzen. Diese Apostel Gottes, wie sie oft genannt werden, sind Exorzisten des schwarzen Ordens. Nur zusammen mit einer göttlichen Macht, der Innocence, können sie die unzähligen Kämpfe gegen die Scharen des Grafen bestreiten, stetig auf der Suche nach mehr Bruchstücken dieser geheiligten Substanz, die zur Zeit der biblischen Flut in 109 Bruchstücke zersprang und sich über die ganze Erde verteilte.

Unter diesen 109 Bruchstücken befindet sich eines, dass sowohl große Hoffnung als auch nagende Angst verkörpert, das Herz. Von allen Splittern ist dieses das mächtigste. Wären die Exorzisten erfolgreich sich dieses Bruchstück anzueignen und einen passenden Träger dafür zu finden, so wäre der Sieg über den Grafen gewiss. Gelänge es jedoch dem Grafen oder seinen Schergen das begehrte Bruchstück an sich zu bringen und zu zerstören, so würden mit dem Herzen auch alle anderen Innocencen vernichtet. Denn wie der Name schon impliziert, kann der Rest nicht ohne Herz bestehen.

Und so hält sich der Kampf um das Überleben der Menschheit noch die Waage, während beide Seiten fieberhaft versuchen mehr Mitglieder um sich zu scharen und so einen kleinen Vorteil für sich zu erringen.

An diesem Punkt beginnt unsere Geschichte….

Aufbruch

Aufbruch
 

Ein böiger Wind trieb dunkle, schwere Regenwolken dicht aneinander gedrängt über die englische Insel. Wie ein schweres Leichentuch verhüllten sie die blasse Sonne, die zu dieser Jahreszeit sowieso schon nur spärlich am Himmel erstrahlte. Immer stärker riss der Wind an den Wolken, trieb sie unbarmherzig voran, bis diese ihre schwere Last auf das grüne Land und die grauen Städte abließ, damit sie schneller weitereilen konnten. Wütend prasselten die schweren Regentropfen auf die Schieferdächer der Häuser, wie sie es schon die letzten Tage getan hatten. Auch an die Fenster klopften sie beharrlich, vor allem da der Wind stark aus westlicher Richtung blies, dass der Wetterhahn auf der Zinne der ausgedehnten Klosteranlage nicht stillhalten wollte bzw. konnte.

Das gotisch anmutende, kirchliche Gebäude, das im anfänglichen Blick unserer Geschichte steht, trotzte beharrlich der um sie herum wütenden Naturgewalt. Die mächtigen Steinquader, die auf der Nordseite verputzt waren, hatten schon viele Jahre diesem Regen getrotzt und würden es auch weiterhin tun. Wie selbstverständlich taten sie ihren Dienst, dienten treu dieser kirchlichen Einrichtung, die allerdings nicht mehr nur ein schlichtes Kloster war.

Vor einem knappen Jahr hatte der schwarze Orden hier seine englische Abteilung untergebracht, nachdem die alte Behausung zerstört worden war. Seitdem schwärmten von diesem sicheren Hort die kleine Schar Auserwählter aus, um dem Grafen das Handwerk zu legen.

Hoch oben, fast an der Spitze eines Turmes, der mit einem Zwillingsbruder das Südtor der weitläufigen Klosteranlage flankierte, war das Quartier eines dieser Auserwählten gelegen.

Gelangweilt und deprimiert starrte sein Inhaber durch das dicke Bleiglas des kleinen Turmfensters hinaus in die regenverhangenen Welt. Sein ernstes Gesicht spiegelte sich im Halbdunkel seines Zimmers an der Fensterfront. Trostlos dreinblickende Augen starrten ihm von dort entgegen und spiegelten seinen Gemütszustand wieder, den ihm das lang anhaltende Regenwetter beschert hatte. Nein, nicht allein der Regen drückte ihm auf das Gemüt. Da war noch mehr, was den weißhaarigen Jungen beschäftigte und ihn älter erscheinen ließ, als er war. Gerade einmal 16 Jahre zählte er, doch das verhärmte Gesicht, das ihm da entgegenstarrte, war nicht das eines 16 Jährigen. Er seufzte, wie schon so oft die letzten Stunden über. So vieles schwirrte durch seinen Kopf, ohne dass er wirklich danach greifen und ihm Ordnung aufzwingen konnte. Es war einfach zu viel geschehen in der letzten Zeit, zu vieles, was ihn in seinen Grundfesten erschüttert hatte.

//Mana….// dachte er und wandte den Blick von seinem trostlosen Spiegelbild ab, wandte seinen Blick von der regenverschleierten Welt ab, um seine eigenen kleine Welt in Augenschein zu nehmen. Das Zimmer, das er sich ausgesucht hatte, maß gerade einmal 6 mal 3 Meter, doch das war für seine Ansprüche vollkommen ausreichend, schließlich brauchte er es nur zum Schlafen. Die restliche Zeit war er auf Achse, entweder hier im Kloster, oder draußen, wenn er auf einer der unzähligen Missionen war. Ein weiteres Seufzen drang über seine trockenen Lippen und er ließ seinen Blick hinüber zu seinem Bett schweifen und dann ein Stück die Wand hinaufklettern, bis er das große Ölbild erfasste, das dort hing. Es war ein sehr expressionistisch bis surrealistisches Motiv, das einen Clown zeigte. Dieser Clown wanderte mit einem traurigen Lächeln einen geschwungenen Weg entlang. Wenn nicht schon dieses traurige Lächeln und die dunklen Farben mit den dicken, schwarzen Umrandungen eine düstere Atmosphäre heraufbeschworen, dann aber der schwarze Sarg, den der Clown trug.

Dieses Bild passte zu ihm. Es verkörperte seine momentane Situation nur zu gut. Der Clown, das war er, er als Exorzist, wenn er seine Innocence heraufbeschwor.

//Crowned Clown…// erinnerte er sich an den Namen, den seine Innocence erhalten hatte, nachdem diese endlich ihre wahre Form angenommen hatte.

Der Junge hob die rechte, behandschuhte Hand und berührte mit seinen Fingern ganz sachte sein gemaltes und gefühltes Ebenbild. Der schwarze Sarg. Er verkörperte all seine Last, die er mit sich führte. All seine Zweifel, seine Ängste, seine Sorgen, seine Verantwortung, seine Aufgabe. Die Finger rollten sich ein, als die Hand sich zur Faust umformte und er den Kopf senkte, dass das mittellange, weiße Haar sein Gesicht verdeckte und den Schmerz, der sich darauf wiederspiegelte. Ein-, zweimal atmete er schwer ein und aus, die Lippen fest aufeinander gepresst. Ja, der Schmerz saß tief und er war frisch, doch er war auch stark. Trotzig hob er den Kopf wieder an und fokussierte seinen Leidensbruder auf dem Ölbild, bevor der geschlungene Weg seine Aufmerksamkeit in Beschlag nahm.

//Das ist mein Weg. Der Weg, den ich gewählt habe, ich allein. Es ist der Weg, den ich gehen werde, weil ich mich dazu entschieden habe ihn zu gehen. Ich werde nicht zurücksehen und auch nicht stehen bleiben. So habe ich es versprochen. Dir versprochen, Mana…// dachte er und in seine Gedanken klangen diese Worte trotzig, aufsässig, doch sie besaßen eine innere Kraft, die ihn vorwärts bewegte. Immer weiter auf seinem Weg, bis er sein Ziel erreicht hatte, welches dies auch konkret war, oder bis der Tod ihn würde holen kommen.

Ein Geräusch ließ den Jungen aus seiner dunklen Gedankenwelt aufschrecken. Wieder ertönte es, diesmal etwas lauter. Es war ein Klopfen an seiner Tür. Das schwere Holt dämpfte den Ton stark ab, sodass er es nur dank der fast völligen Stille gehört hatte. Den Regen hatte er schon lange als Hintergrundgeräusch ausgeblendet. Wieder ein Seufzen seinerseits, doch dann riss er sich zusammen, strafte die Schultern und versuchte die dunkle Stimmung, die ihn umgab, zu vertreiben. Nur ein paar Schritte braucht er bis zur Tür. Die Klinge war frisch geölt worden, sodass sie sich leicht herabdrücken ließ und er die Tür nach Innen öffnen konnte, um zu sehen, wer ihn um die noch frühe Morgenzeit aufsuchte.

„Guten Morgen, Allen. Komui erwartet uns in seinem Büro…“, begrüßte ihn eine muntere, weibliche Stimme, kaum dass er die Tür geöffnet hatte. Vor seiner Tür stand ein japanisches Mädchen von fast gleicher Größe. Ihr grünschwarzes Haar, das so langsam wieder nachwuchs, schimmerte im diffusen Licht der Korridorlampen. Sie trug einen langen, dicken Reiseumhang mit Kapuze, den Allen kurz prüfend betrachtete.

Sachte schloss er die Tür seines Zimmers hinter sich und trat zu seiner Kollegin auf den Flur, wobei er ihr freundliches Lächeln, in einer etwas abgemilderten Version erwiederte.

„Was gibt es denn, Linalee? Eine neue Mission…?“ erkundigte er sich und räusperte sich kurz darauf, da seine Stimme noch heiser von seiner depressiven Stimmung klang. Er wollte nicht, dass sie sich unnötig Sorgen wegen ihm machte. Linalee schien keine Notiz von der etwas angekratzten Stimme zu nehmen und bestätigte seine Frage mit einem Nicken.

„Ja, allerdings weiß ich auch noch nichts Genaueres. Ich habe auch erst gerade davon erfahren…“, erklärte sie, als sie zügig durch die Korridore und über Treppen durch das noch fast leere Gebäude schritten. Es war noch zu früh, als dass man ernsthaft jemandem auf den Fluren begegnen würde. Sie kamen an eine Kreuzung, die Allen irgendwie vertraut, aber doch auch fremd erschien. Trotz der Zeit, die sie bereits hier verbrachten, verlief er sich immer noch in den Gängen des Klosters, da sie alle recht ähnlich aufgebaut waren. Zu seinem Glück hatte er Linalee an seiner Seite, die immer irgendwie zu wissen schien, wo man abbiegen musste. Allen war in diesem Sinne wohl ein hoffnungsloser Fall.

Dank Linalee’s professioneller Führung erreichten die Beiden rasch ihr Ziel, das Büro von Komui Lee, dem Leiter der englischen Abteilung des schwarzen Ordens.

Das erste, was man an Komui’s heimlichen Reich bemerkte, wenn man es betrat, war der einzigartige Fußbodenbelag. Unzählige Datenblätter und Akten bedeckten in einem chaotischen Durcheinander den altrömischen Mosaikfußboden. Es war fast unmöglich durch dieses Zettelmeer zu waten, ohne eines dieser durchaus wichtigen Dokumente zu berühren oder gar zu beschädigen.

Auf dem eleganten, alten Holztisch des Supervisors sah es nicht viel besser aus, auch wenn dort wenigstens ein Hauch von Ordnung Einzug gehalten hatte. Den größten Teil der ausladenden Arbeitsfläche nahmen gewaltige Papiertürme ein, die wie drohende Wächter ihren Bearbeiter von seiner Außenwelt abriegelten und ob ihrer doch recht beachtlichen, vielleicht auch beängstigenden Größe dazu neigten auf besagte Peson niederzustürzen und ihn dabei lebendig unter sich zu begraben. Häufig genug mussten seine engsten Mitarbeiter ihn unter solch einen Trümmerhaufen hervorziehen, sofern sie es überhaupt schafften diesen Mann ans Arbeiten zu bekommen.

Er war ein Mann mit unterschiedlichen Persönlichkeiten. Das war die beste Beschreibung für Komui Lee. Tief in seinem Herzen war er ein verantwortungsvoller Mensch, der seine Position sehr ernst nahm und sein möglichstes tat, um die Exorzisten zu unterstützen, wo es nur möglich war. Nur schweren Herzens schickte er sie auf die gefährlichen Missionen, bangte um ihre sichere Heimkehr und plagte sich mit den Verlusten, die sie nichtsdestotrotz immer häufiger erlitten.

Neben diesem ernsthaften Charakter, der hauptsächlich durch seine Arbeit geprägt worden war, war der gebürtige Japaner auch ein Tunichtgut, der sich nur zu oft vor seiner Arbeit zu drücken pflegte und seine jüngere Schwester, Linalee, abgöttisch liebte. Er hatte einen wahren Schwester-Komplex entwickelt, von dem Tag an, als Mitglieder des schwarzen Ordens zu ihnen nach Hause gekommen waren und seine Schwester fortgebracht hatten, da sie ein kompatibler Träger für eine Innocence war. Verzweifelt hatte er ihren Namen geschrieen und sich gegen die Arme gewehrt, die ihn fest- und zurückgehalten hatten. Linalee, seine jüngere Schwester und einzigstes verbliebenes Familiemitglied, war von dem Tag an aus seinem Leben verschwunden. Seine kleine Linalee war ihm genommen worden. Trotz all seiner Bemühungen hatte es drei Jahre gedauert, drei lange Jahre, bis er es selber in den schwarzen Orden geschafft hatte. Als brillanter Kopf hatte er schnell eine höhere Position erreich und hatte bald den Posten des Supervisors der englischen Abteilung erhalten. Es war sein persönliches Opfer, das er bringen musste und auch freiwillig brachte, um wieder mit seiner geliebten Schwester vereint zu sein. Für jeden Tag, den er zusammen mit ihr verbringen konnte, war er unendlich dankbar.

So erhellte auch jetzt ein strahlendes Lächeln sein müdes, überarbeitetes Gesicht. Mit einer erstaunlich schwungvollen Bewegung schob er den hohen Lehnenstuhl zurück, als er sich leicht streckend erhob, den Tisch umrundete und zur Begrüßung seine Schwester kurz aber kräftig in die Arme schloss. Dieser kurze, familiäre Kontakt gab ihm Kraft weiterzumachen.

„Guten Morgen, ihr zwei. Gut, dass ihr so schnell gekommen seid. Ich möchte, dass ihr euch umgehend nach Lyon begebt und dort Lavi und Bookman bei der Suche nach einer Innocence assistiert. Wie es scheint brauchen sie dringen Unterstützung. Näheres könnt ihr dem Missionsbericht entnehmen. Bei Unklarheiten wendet euch am besten an die beiden. Seid vorsichtig“, gab Komui schließlich Einsicht in die bevorstehenden Mission und entließ die beiden Exorzisten aus seinem Büro, nachdem er innen den entsprechenden Missionsbericht ausgehändigt hatte.

„Ich hoffe es geht ihnen gut…“, murmelte Linalee besorgt, die Stirn leicht gerunzelt. Die junge Japanerin war ein herzensguter Mensch von angenehmen Charakter. Zu ihren Freunden, die sie nicht als reine Arbeitskollegen betrachtete, wie manch andere, hatte sie ein besonders enges Verhältnis, vor allem zu Allen und Lavi. Dementsprechend machte sie sich aber auch Sorgen, wenn sie irgendwelche schlechten Nachrichten vernahm.

„Mach dir bitte keine Sorgen, Linalee. Die beiden können gut auf sich selber aufpassen. Sie erkennen früh genug, wann sie Hilfe brauchen. Deshalb sind wir ja auch unterwegs, um sie bei ihrer Arbeit zu entlasten“, versuchte der weißhaarige Exorzist das Mädchen zu beruhigen. Sie waren bereits wieder in dem Flügel, der zusammen mit Allen’s Turm die Exorzistenquartiere beherbergte.

„Ja, du hast vermutlich Recht. Lavi langweilt sich sicherlich nur übermäßig“, stimmte sie leicht lachend zu, doch ihr scheinbar fröhliches Lachen klang angespannt. Es war ihr nicht zu verdenken angesichts der gefährlichen Arbeit, der sie nachgingen. Schon zu viele unschuldige Opfer hatte sie gefordert. Auch sie beide wären beinahe dieser Gefahr zum Opfer gefallen. Das gerade mal kinnlange, etwas strubbelige haar der Japanerin war nur ein Indiz für den Kampf, den sie ausgefochten hatte.

Sie hatte alles in die Waagschale geworfen gehabt, all ihre Kraft, all ihren Mut, all ihre Hoffnung, doch am Ende hätte sie mit ihrem Leben büßen müssen. Sie hatte ihre Innocence über das Maximum hinaus aktiviert, ihr und sich selbst das letzte bisschen Kraft abverlangt, ein Unterfangen, das die Lebenskraft des Trägers aufzehrte. Ihr Leben hätte verlöschen müssen, wie eine ausgebrannte Kerze, doch das Schicksal hatte den glimmenden Docht ihrer Existenz neues Leben eingehaucht. Anstatt sie zu verzehren, hatte ihre Innocence sie beschützt. Eingeschlossen in einen riesigen, grünen Kristall hatte sie Linalee konserviert, wie Baumharz ein Insekt. Der Preis für ihr Überleben war ein Großteil ihrer Haarpracht, die durch die freigesetzte Energie der maximalen Aktivierung konsumiert worden war. Doch auch an ihrer Innocence war dieser Kraftakt nicht spurlos vorbeigegangen. Es hatte einige Zeit gedauert, bis Linalee wieder in der Lage gewesen war, Kontakt zu ihrer Innocence aufzunehmen. Sie beide hatten sich verändert, körperlich wie geistig, sodass ihre Annäherung an einander etwas Zeit gebraucht hatte und einen tiefen Entschluss.

//Bitte, Innocence. Schenk mir Kraft, Kraft zum Kämpfen. Aber wenn die Zeit gekommen ist, lass mich bitte zu meinem Bruder zurückkehren….//

„Ich pack schnell meinen Sachen zusammen. Wir sehen uns dann unten in der Eingangshalle“, drifteten Allens Worte in ihre abdriftenden Gedanken. Schuldbewusst blickte sie zu ihrem Freund auf, der allerdings schon die nächste Treppe in Angriff nahm, die ihn weiter hinauf in sein Turmzimmer leiten würde.

Linalee schaute ihm noch kurz nach, bis er hinter einer Biegung verschwunden war und machte sich dann selber eiligst auf den Weg, um alle nötigen Vorbereitungen für einen zügigen Aufbruch zu treffen.

Lyon

Lyon
 

Die Eingangshalle war ein großer, mehrstöckiger Raum, um genau zu sein, handelte es sich dabei um das ehemalige Kirchenschiff der an das Kloster angebauten und angeschlossenen Kirche. Die Bänke hatte man entfernt. Es waren eh zu viele für die doch überschaubare Belegschaft an Exorzisten und Zivilpersonen. Die gähnende Leere dieses Raumes war stattdessen zur An- und Abreisezone für die Apostel Gottes geworden. Hier verließen sie ihr sicheres Heim, um es gegen eines von vielen Schlachtfeldern einzutauschen, oder aber um erschöpft aber glücklich heimzukehren.

Im ersten Moment mochte es einen außenstehenden Beobachter verwundern, wie man von solch einem zentralen Ort aus in alle Herren Länder ausziehen konnte. Doch der eben beschriebene, scheinbare leere Raum beherbergte ein großes Mysterium. Fast im Zentrum des gewaltigen Raumes leuchteten zwei konzentrische Kreise auf den Fußbodenplatten, die von tausenden von Stiefelpaaren über die Jahrhunderte hin glatt geschliffen worden waren. Aus diesen um einander angeordneten Kreisen ragten Scherben aus Licht, die sich zu einem zickzackartigen Mosaik zusammensetzten. Dieses seltsame, schwach leuchtende Gebilde bezeichnete das Tor zur Welt. Wer durch solch ein Tor schritt, befand sich im nächsten Moment innerhalb der Arche Noah.

Die Arche Noah hatte nichts mit ihrem biblischen Sinnbild gemeinsam. Sie war kein hölzernes Schiff, das auf Gottes Geheiß hin erbaut worden war. Nein, sie war ein magisches Gebilde, das jeden ort der Welt miteinander verband. Von dort aus konnte man überall hingelangen. Ein eher unglücklicher Umstand hatte die Arche in den Besitz des schwarzen Ordens gebracht. Damals hatte sie noch dem Millenniums Grafen und der Noah-Familie gehört, doch durch schicksalhafte, wie auch tragische Ereignisse war es den Exorzisten gelungen sie an sich zu bringen und für sich zu Nutze zu machen.

Das gedämpfte Geräusch von Stiefeln und das rascheln von Stoff erregten die Aufmerksamkeit einer Person, die bereits vor dem Tor Stellung bezogen hatte. Der junge Mann ließ gerade eine alte Taschenuhr zurück in die Brusttasche seiner schwarzen Weste gleiten. Über seinem linken Arm hing lässig ein schwarzer Reiseumhang, wie ihn die beiden Exorzisten trugen, die auf das Tor zusteuerten.

„Allen Walker und Linalee Lee melden sich bereit zum Aufbruch nach Lyon“, kündigte der weißhaarige Junge sie mit fester Stimme an.

„Pünktlich auf die Minute, sehr gut“, war alles, was von dem jungen Mann zu vernehmen war, der sich nun neben Allen gesellte. Seine Kleidung, ein weißes Hemd, eine schwarze, englische Weste und eine elegante, schwarze Hose, wiesen ihn als wichtige Person aus, allerdings war er kein Exorzist. Howard Link war seines Zeichens Inspektor des schwarzen Ordens und rechte Hand von Malcolm C. Leverrier, dem Leiter des schwarzen Ordens. Allen fühlte sich immer noch etwas unwohl in seiner Haut, wann immer Leverrier’s Wachhund wie ein zweiter Schatten an ihm klebte. Akribisch hielt dieser all seine Bewegungen und Gespräche fest, denn er, Allen Walker, stand immer noch unter Beobachtung.

Der weißhaarige Junge seufzte leise und durchschritt als erster das Tor, dicht gefolgt von seinen beiden Begleitern. Die drückende Stimmung, die Allen versucht hatte in die hintersten Winkel seins Geistes zu verbannen, brach wieder über ihn herein, als er des Inneren der Arche ansichtig wurde. Sie standen in mitten einer ausgedehnten, mediterranen Stadt mit weiß getünchten Häusern. Diese Stadt war allerdings unbelebt und unbewohnt, vielmehr dienten die Häuser dazu mit ihren Türen den vielen Toren Form zu geben und den Reisenden mit einer sommerlichen, angenehmen Atmosphäre zu gefallen. Von der hier herrschenden Sommersonne spürte der junge Engländer jedoch nichts, denn die Arche hatte für ihn eine andere, unangenehme Bedeutung. Sie und ihr mystisches Geheimnis waren die ersten Dynamitstangen gewesen, die sein jahrelanges Selbst- und Weltbild zertrümmert hatten. Vor ihm lag nur noch ein Scherbenhaufen, den er mit Mühe und Not begonnen hatte zu flicken. Es war keine angenehme Arbeit die alten, rückblickend meist schmerzhaften Erinnerungen erneut in die Hand zu nehmen, zu drehen und zu wenden und aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten.

//Mana…was immer du auch in mir gesehen haben magst…ob du mich um meinetwillen geliebt hast, oder nur weil ich ihm zur Reinkarnation verhelfen soll…Ich werde nie vergessen, was du mich gelehrt hast! Ich werde nicht stillstehen, sondern immer weitergehen auf meinem Weg, bis zum bitteren Ende. Das habe ICH dir versprochen…// dachte er mit ausdrucksloser Miene, die nichts von den inneren Seelenqualen preisgab, als er seine kleine Gruppe durch die schmalen Gassen der illusionären Stadt führte, bis sie ein Haus erreichten, dessen Tür das gesuchte Tor nach Lyon markierte.

Wieder folgte ein überraschender Ortswechsel, als sie durch das Tor traten. Die gleißenden Strahlen der Morgensonne blendeten die drei Reisenden, während ein sanfter Wind über ihre Haut streichelte, sie liebkoste, als wollte er sie willkommen heißen. Es war ein scharfer Kontrast zum verregneten England, irgendwie idyllischer, friedlicher. Doch dieser Frieden trog, wie so oft. Kaum hatte Allen Fuß auf französischen Boden gesetzt, schlug sein Gefahrensinn auch schon aus. Adrenalin schoss in Sekundenbruchteilen durch seine Adern und seinen ganzen Körper, schärfte seine Sinne, als sein verfluchtes, linkes Auge auf die Gefahr reagierte und erwachte. Die dunkle, rötliche Narbe, die sich von einem umgekehrten Pentagramm über seiner Augenbraue aus durch sein Auge bis über seine Wange zog, dunkelte etwas nach, während sich das verfluchte Auge zu verändern begann. Das harmlos und normal erscheinende Auge verfärbte sich nachtschwarz. Dort wo sich zuvor noch die Iris samt Pupille befunden hatte, traten nun drei blutrote, konzentrische Kreise hervor und eine Art Sucher bildete sich vor seinem Auge, der ihm erlaubte, wie ein automatisches Fernrohr, scharf über weite Entfernungen zu blicken und dabei gleichzeitig versteckte Akumas aufzuspüren.

Jetzt reagierte der Sucher auf die in der Nähe befindlichen Dämonen. Das Tor hatte sie in ein kleines Waldgebiet nahe Lyon teleportiert. Die noch kahlen Laubbäume, die nicht allzu dich bei einander standen, boten keinen wirklichen Schutz gegen die heranschwebende Dämonenschar. Obwohl es eigentlich kaum etwas gab, dass der dunklen Macht dieser Monster widerstehen konnte.

„Wir haben Besuch….“, warnte Allen seine beiden Begleiter und aktivierte umgehend seine Innocence. Sein linker Arm, der gänzlich aus dieser geheiligten Substanz bestand, veränderte seine Beschaffenheit und sprengte dabei den Reisverschluss, der sich am linken Ärmel seiner Unform befand. Das ratschende Geräusch, das diesen Umwandlungsvorgang begleitete, hallte unheil verkündend durch den trostlosen, kleinen Wald. Als die Verwandlung abgeschlossen war, hatte sich das Aussehen des jungen Exorzisten gravierend verändert. Die linke Hand hatte sich zu einer Klaue verformt, jeder einzelne Finger eine Miniatursichel, bereit die gefangene Seele der Akumas von ihren Qualen zu befreien, sodass sie zurück zu ihrem Frieden finden konnte.

Der weiße Pelzkragen, ebenfalls ein Teil seiner Innocence, bewegte sich schwach im Wind, wie es auch die schalartigen Verlängerungen des Kragens taten. Als der Wind für einen kurzen Augenblick aussetzte, war dies wie ein Startschuss. Der junge Engländer schnellte vor und holte mit seiner Klaue aus, um den ersten der Dämonen von seiner unheiligen Existenz zu befreien. Mehr Level eins Akumas schwärmten auf sie zu. Über Allen detonierte ein weiterer Dämon, ein Zeichen dafür, dass Linalee nun ebenfalls an dem Kampf teilnahm.

Sie hatte ihre eigene Innocence, ihre Dark Boots, aktiviert. Die schwarzen Stiefel, die zu ihrer Uniform gehörten, veränderten ihr Aussehen und bildeten an der Hacke schwarze, grünlich glänzende Schmetterlingsflügel aus. In dieser Form erlaubte ihr ihre Innocence zu fliegen, schneller als der Wind und schneller als das menschliche Auge ihr folgen konnte. Das, zusammen mit der unglaublichen Kraft, die sie in ihren Füßen fokussieren konnte, um verheerende Tritte auszuteilen, waren ihre Fähigkeit, ihre Spezialität.

Der junge Inspektor hielt sich unbeeindruckt im Hintergrund. Es war nicht nötig, dass er sich in den Kampf einmischte, auch wenn er den Eindruck einer Zivilperson machte, so war er durchaus im Kampf geschult worden und konnte gegen Akumas vorgehen, auch wenn nicht so effektiv, wie es nur den Aposteln Gottes vorbehalten war. Außerdem waren die beiden Exorzisten dieser Akumaart mehr als nur gewachsen. Level eins Akumas waren die schwächste Dämonenart, die der Millenniums Graf erschaffen konnte.

Mit einem unschuldigen Lächeln offerierte er trauernden Menschen die Möglichkeit die geliebten Verstorbenen wieder zu beleben. Dazu musste der Trauernde nur den Namen des Verstorben laut genug rufen, um dessen Seele in das bereitgestellte, schwarze Skelett zu bannen. Was die Menschen nicht wussten, war, dass sie so die Seele des Verstorbenen dem Advokaten des Teufels überantworteten. Dieser hatte nun die Seele und den künstlichen Körper in seiner Hand und unter seiner perfiden Kontrolle. Der erste Befehl, den der Graf an solch ein erschaffenes Wesen richtete, war seinen Herbeirufer zu töten und dessen sterbliche Überreste wie eine zweite Haut zu tragen, um die eigene dämonische Erscheinungsform dahinter zu verbergen.

Um an Stärke zu gewinnen, heranzuwachsen und höhere Level zu erreichen, mussten Akumas töten. Ganze Dörfer konnten sie auslöschen, wenn die Exorzisten ihnen nicht vorher Einhalt gebieten konnten.

Asche und Staub, die Überreste der Akumas, die Linalee und Allen bekämpft hatten, wehten dem Inspektor entgegen, als der Wind drehte. Etwas genervt klopfte er seinen vormalig schwarzen Reiseumhang wieder sauber, denn er legte viel Wert auf ein gepflegtes Erscheinungsbild. So hatte er sein blondes, rückenlanges Haar auch mit einem geflochtenen Zopf gebändigt.

„Anscheinend hat die Akumaaktivität seit dem letzten Bericht deutlich zu genommen. Umso mehr ein Indiz dafür, dass sich hier in der Nähe eine Innocence befinden muss“, stellte Link nüchtern fest und schritt wie selbstverständlich neben seiner zu observierenden Person einher. Er wich Allen Walker nie von der Seite, außer um bei seinem Vorgesetzten Bericht über seine Aktivitäten zu erstatten. Sein persönlicher Eindruck von dem jungen Engländer hielt er jedoch aus seinen Berichten heraus, da zählten nur Fakten, Bewertungen trafen andere. Doch insgeheim hatte er den für sein Alter erstaunlich reifen Jungen mit der Zeit schätzen gelernt. Er war von verantwortungsvoller und rechtschaffener Natur, übte Rücksicht und Mitgefühl seiner Umgebung gegenüber und war nebenbei ein loyaler Exorzist.

Um seine menschliche Seite brauchte sich der Inspektor nicht zu sorgen. Was ihn allerdings wirklich beunruhigte, waren die Hinweise, dass Allen Walker vom 14ten Noah besessen war. Wie General Marian Cross, Allen’s Lehrmeister, es ausgedrückt hatte, waren die Erinnerungen des 14ten Noah in den noch sehr jungen Allen implantiert worden und würden ihn vermutlich mit fortschreitender Zeit in diesen verwandeln. Ob diese Verwandlung auf die psychische Ebene beschränkt blieb, war nicht absehbar und so fürchtete man, dass der unentbehrliche Kämpfer aus den eigenen Reihen sich gegen den schwarzen Orden wenden könnte.

Hier runzelte Link nachdenklich die Stirn. Es war ein zentraler Streitpunkt, ob der 14te Noah wirklich so gefährlich war, wie sein Vorgesetzter, Malcolm C. Leverrier, nur zu gerne deklarierte und bei jeder sich bietender Gelegenheit betonte. Die nebulöse Geschichte um die Noah-Familie berichtete von 13 Mitgliedern, tatsächlich bestand sie aber eigentlich aus 14. Das 14te Familienmitglied war nach dessen Verrat aus der Geschichte gelöscht worden. Kurz vor seinem Tod aber hatte der 14te Noah es geschafft seinen Willen weiterzugeben und gerade Allen Walker war zum Gefäß dieses letzten Willens geworden. Annähernd 16 Jahre hatte der Junge mit den implantierten Erinnerungen gelebt, ohne, dass er sich dieser bewusst gewesen war, noch dass sich diese irgendwie negativ bemerkbar gemacht hatten. Er mit dem Vorfall der Arche war der Noah in ihm aus seinem langen Schlummer erwacht. Eine andere Erklärung gab es nicht dafür, dass Allen als einzigster in der Lage war, die Arche zu steuern, jene Arche, die dem Grafen und der Noah-Familie gehört hatte.

Jetzt war es an Link den jungen Engländer zu beobachten und hatte den Auftrag ihn unschädlich zu machen, sollte sich herausstellten, dass dieser nicht mehr Herr seiner Selbst war und dabei drohte den Orden auszulöschen.

„Wir sollten und beeilen. Je eher wir zu Lavi und Bookman aufgeschlossen haben, desto besser…“, drangen Linalee’s besorgte Worte an das Ohr des Inspektors, der zustimmend nickte. Je eher sie diese Mission zum Abschluss bringen konnten, desto eher konnte er seine geregelte Observation von Allen Walker wieder aufnehmen.

Allen nickte seinen beiden Begleitern mit ausdrucksloser Mimik zu, bevor er wieder die Führungsposition übernahm. Anders als Linalee behielt er seine Innocence aktiviert, um für alle Fälle gewappnet zu sein und blitzschnell reagieren zu können. Außerdem scannte sein verfluchtes Auge wachsam und misstrauisch die Umgebung nach weitern Akumas Ausschau haltend, sodass er seine Kameraden rechtzeitig warnen konnte, doch sie erreichten unbehelligt den Außenbezirk der französischen Stadt.

Am begrünten Seitenstreifen der Straße hockten zwei Gestalten in schwarzen Umhängen auf einer kleinen Felsformation. Einer von ihnen, der größere, hob die linke, behandschuhte Hand und winkte der kleinen Gruppe zu.

„Hoi, schön euch zu sehen!“ rief ihnen eine bekannte Stimme entgegen. Sie gehörte zu der größeren Gestalt, die nun die Kapuze des schwarzen Reiseumhanges zurück schob und ihr rotbraunes, stacheliges Haar der morgendlichen Sonne präsentierte. Diese unverkennbare, feuerrote Haarpracht gehörte zu Lavi, einem überaus fröhlichen und stets gut gelaunten Exorzisten.

„Ihr habt da eben aber ganz schön Furore gemacht. Jetzt sind die Stadtbewohner bestimmt wach“, begrüßte er seine Freunde und verschränkte gelassen die Arme hinter dem Kopf, als wenn nichts weltbewegendes geschehen wäre.

„Es hat nicht gerade den Anschein, als wäre unsere Unterstützung wirklich von Nöten“, meldete sich Link missbilligend räuspernd zu Wort und erhielt nur ein unschuldiges Grinsen seinerseits des Rotschopfes.

„Wir haben die Innocence fast dingfest gemacht, doch immer wieder funken uns Massen von Akumas dazwischen. Wir kommen einfach nicht näher an sie heran“, erklärte Lavi nun die aktuelle Lage und zuckte etwas genervt die Schultern, ob ihrer derzeitigen Machtlosigkeit.

„Wie es scheint, hat sich die Innocence bereits mit einem kompatiblen Träger verbunden und hält sich derzeitig in einem ausgedehnten Waldgebiet nördlich der Stadt versteckt“, klingte sich die etwas heisere Stimme der zweiten, kleineren Gestalt in das Gespräch ein. Wie man bereits von der Stimmlage erahnen konnte, handelte er sich bei der Person um einen alten Mann, Bookman um genau zu sein.

„Jetzt sind wir ja da, um euch bei der Lösung dieses Problems zu helfen…“, bekannte Linalee mit einem leichten Lächeln. Sie war unendlich erleichtert ihre Kameraden unversehrt und bei bester Gesundheit anzutreffen. Das japanische Mädchen erhielt ein strahlendes, leicht spitzbübisches Lächeln von Lavi. Er war der immer energiereiche und ausgeglichene Pol ihrer kleinen Exorzistengemeinschaft. Obwohl er sich vorrangig mitten in der Ausbildung zum Bookman der nächsten Generation befand, war er nicht umhin gekommen sein leben als Exorzist schätzen zu lernen. Obwohl er eigentlich nur ein außenstehender Beobachter hätte sein sollen, hatte er sein Herz und seine Gefühle nicht verleugnen können und recht schnell seine Freunde im schwarzen Orden in eben dieses Herz geschlossen.

Er war sich bewusst, dass er damit ein großes Risiko einging, denn die enge Freundschaft, die er mit Allen und den anderen pflegte, konnte sich schnell in ein zweischneidiges Schwert verwandeln. Zu gut konnte er sich noch an den Schock erinnern, aller er mit Linalee nach Allen gesucht hatte, als dieser versucht hatte den gefallenen Exorzisten Suman Dark zu retten. Fieberhaft hatten sie die Gegend nach einem Zeichnen ihres Freundes abgesucht gehabt, Stunden des Bangens, der quälenden Angst und Ungewissheit. Erst der treue, kleine Golem des jungen Engländers hatte sie zu der Stelle geführt, die zum blutigen Schauplatz geworden war. Allen hatte den Gefallenen Suman von seiner in Raserei verfallenen Innocence trennen können, doch diese hatte den Verräter bereits soweit verzehrt gehabt, dass kein lebensfähiges Wesen mehr übrig geblieben war. In Trauer versunken war Allen von einem Noah aus heiterem Himmel überrascht worden.

Als Linalee und Lavi schließlich den Ort des Geschehens erreicht hatten, hatten sie nur eine dunkle Blutlache vorgefunden gehabt, über die Allen’s geliebtes Kartenspiel verstreut gewesen war. Von den sterblichen Überresten des Freundes war nichts zu sehen gewesen.

Der Schock hatte tief gesessen, ungläubig hatte Lavi auf den dunkelroten Fleck im Gras gestarrt und benommen eine der Karten aufgehoben gehabt. Der Schmerz in seiner Brust war unbeschreiblich gewesen, war er doch der festen Überzeugung erlegen gewesen, einen seiner engsten Freunde verloren zu haben. Wütend hatte der Schmerz in ihm gewühlt, dass er Linalee nur halbherzig hatte trösten können. Vorwürfe hatten seine düsteren Gedanken wie sprichwörtliche Dolche durchdrungen und die seelischen Schmerzen weiter gemehrt. Ein dunkles, deprimierendes und schmerzhaftes Kapitel seiner Erinnerungen.

Diese Erinnerungen drängte Lavi zurück in sein Unterbewusstsein. Jetzt war es nur unnötige Zeitverschwendung der Vergangenheit nachzuhängen. Munter und als ob kein Wässerchen seine gute Laune trüben konnte, ging er neben Allen und Linalee her, während sie einer kleinen Landstraße, die um Lyon herum führte, folgten und zum nördlichen Waldgebiet führen würde, von dem Bookman gesprochen hatte.

Was würde sie dort erwarten? Würden sie nun endlich in der Lage sein die Innocence und seinen kompatiblen Träger zu bergen, oder würden die Akumas erneut ihren Plan vereiteln?

Wer suchet, der findet!

Wer suchet, der findet!
 

Die morgendliche Sonne wanderte langsam aber beharrlich vom Horizont weiter das Himmelszelt hinauf und verkürzte dabei allmählich die Schatten, die die kleine, fünfköpfige Gruppe neben die Straße warf. Es war ein friedlicher, ruhiger Tagesbeginn, zu ruhig für Allen’s Geschmack. Diese idyllische Friedlichkeit war so unnatürlich, dass er jeden Moment einen Hinterhalt erwartete. Misstrauisch scannte er mit seinem verfluchten, linken Auge gründlich die Umgebung, doch er konnte nirgends einen Hinweis für unmittelbare Gefahr entdecken. Irritiert runzelte er die Stirn. Bei seinem instinktiven Gefahrensinn schrillten bereits alle Alarmglocken und auch seine Innocence-Hand kribbelte in Erwartung eines Kampfes, der sich allerdings weit und breit nicht abzeichnen wollte.

Was war nur los? War er inzwischen so misstrauische, gar paranoid geworden, dass ihm seine Sinne überall Gefahr suggerierten, auch da, wo eigentlich gar keine war? Das wäre ein gravierendes Problem. In der Hitze des Gefechtes musste er sich auf seine Instinkte blind verlassen können, das war überlebenswichtig! Ein leiser, bedrückter Seufzer entwich erneut seinen blassen Lippen und veranlasste Lavi ihn mit einem fragenden Ausdruck zu mustern. Falls Lavi auf eine Erklärung für sein Gebaren wartete, so würde er warten müssen, bis er ihn ehrwürdiger Weisheit ergraut war, so wie sein Lehrmeister Bookman. Der junge Engländer fühlte sich momentan nicht in der Verfassung sich dem älteren Jungen anzuvertrauen.

Lavi war der deprimierte Seufzer seines Freundes nicht entgangen und hatte ihm den Kopf halb zugewandt, um zu sehen, was die Ursache für diese Unmutsäußerung gewesen sein mochte. Das linke, grüne Auge, das andere lag hinter einer schwarzen Augenklappe verborgen, musterte mit aufgewecktem Glanz das Gesicht seines engsten Freundes. Erneut fiel ihm die Angespanntheit und Verhärmung daran auf, Indizien für die Sorgen, die den jungen Engländer plagten. Er konnte es ihm nicht verdecken. Als angehender Bookman war er bei dem entscheidenden Gespräch zwischen General Marian Cross und dessen Schüler dabei gewesen. Unter der Aufsicht von „Krähen“, Mitgliedern einer speziellen Eingreiftruppe des schwarzen Ordens, hatte er aus nächster Nähe die Enthüllungen des Generals mitbekommen, dem größten Teil seines Wissens über den 14ten Noah und seiner Relation zu Allen.

Bei einigen Bemerkungen hatte selbst Lavi schlucken müssen. Wie war es dann erst Allen selbst ergangen, der mitten drin steckte? Lavi mochte wohl nur am Rande erahnen, was für eine schwierige Phase sein Freund zurzeit durchmachen musste. Lavi konnte ihn nur mit Worten gut zureden und aufbauen. Es bekümmerte ihn jedoch zu sehen, dass seine gute Laune, die meist ansteckend wirkte, nicht bis zum weißhaarigen Jungen durchzudringen vermochte. So konnte Lavi nur hoffen, dass Allen stark genug war diese schwere Zeit allein zu meistern und nicht in der Dunkelheit seiner Ängste und Sorgen verloren zu gehen.

Inzwischen kam das nördliche Waldgebiet in Sicht, von dem der alte Mann gesprochen hatte. Dieser Wald bestand hauptsächlich aus dicht bei einander stehenden, begrünten Tannen. Dumpfe Kampfgeräusche, der Aufprall von Stahl auf Stahl, wurden aus dem Inneren des Waldes von einer frischen Windböe zu ihnen getragen. Sofort ruckten die Köpfe der Gruppe in die etwaige Richtung, aus der die Geräusche zu kommen schienen. Allen visierte umgehend den Wald an, doch überraschender Weise reagiert sein verfluchtes Auge nicht bzw. deckte es keine Akumas auf. Verwirrt runzelte er die Stirn und hielt sich eine Hand vor den Sucher, diesen kurzzeitig verdeckend und dann wieder freigebend, doch es blieb bei dem gleichen Ergebnis. Er konnte keine Akumas entdecken, dabei war er sich absolut sicher, dass die Kampfgeräusche eindeutig von den Dämonen verursacht wurden, während sie gegen den unerfahrenen Träger kämpften.

„Wie viele…?“ erkundigte sich Linalee, die wie alle übrigen inzwischen auf den Wald zu rannte, ihre Innocence beim Laufen aktivierend.

„Keine Ahnung, ich kann nichts sehen…“, presste Allen missmutig zwischen seinen Zähnen hervor und versuchte weiterhin fieberhaft die Präsenz der Akumas ausfindig zu machen, doch es war und blieb zwecklos. Erst als ihnen ein Level zwei Akuma von einer Tanne herab entgegensprang und für jedermann sichtbar war, nahm auch sein verfluchtes Auge die Präsenz dieses Akumas war.

//Was ist nur los? Warum funktioniert mein Auge nicht…?“// dachte Allen verbissen. Es war zum verrückt werden. Linalee, die mit ihren Dark Boots an vorderster Front der Gruppe flog, verpasste dem Akuma einen gezielten Tritt gegen den gepanzerten Brustkorb. Die von ihrer Innocence dabei freigesetzten Energien ließen nur Asche und Staub von dem Dämon übrig. Die Kampfgeräusche wurden lauter, je weiter sie sich ihren Weg vorbei an den dämonischen Wachposten tiefer in den Wald erkämpften. Ein kurzer, spitzer Aufschrei, der abrupt endete, ließ die junge Japanerin erschrocken zusammenzucken.

//Nein, bitte nicht!// flechte sie stumm in Gedanken und hoffte, dass sie nicht zu spät kommen würden. Ein einziger Gedanke reichte und ihre Dark Boots beschleunigten sie weiter, trieben sie weiter voran, den Rest der Gruppe hinter sich lassend, dem Ort des Geschehens entgegen. Die bisherigen Akumaarten hatten sich auf Massen von Level eins und Level zwei Akumas beschränkt, doch als Linalee eine kleine Lichtung erreichte, die von den erst kürzlichen Kämpfen künstlich erweitert worden war, wurde sie auch einiger Level drei Akumas gewahr.

Diese Level drei Akumas hatten gewisse Ähnlichkeiten mit dämonischen Rittern. Ihre blaugrauen, metallisch glänzenden Körper waren mit Rüstungselementen gepanzert, die entfernt an ihre mittelalterlichen Genossen erinnerten. Der menschlich anmutende Kopf, der durch ein haifischähnliches Gebiss verunstaltet wurde, wurde zum größten Teil von einem angepassten Helm geschützt. Bis zu drei Augenpaaren schauten aus dessen Oberseite hervor. Das lange, dunkelblaue Haar fiel in langen Strähnen die Schultern herab und wurde gelegentlich zum Spielzeug schwacher Windböen. Die breiten Schultern wurden von Platten geschützt, ebenso die Arme, Hände, Beine und Füße. Über den schmächtigeren Brustkorb spannte sich zum Schutz ein dicker Brustpanzer. Alles zusammen genommen, machten sie durchaus den Eindruck schwer zu bekämpfender Gegner, aufgrund dieser ausgeprägten Defensive.

Fünf dieser gepanzerten Monster umringten eine am Boden liegende Gestalt und stritten sich gerade, wer von ihnen den finalen Schlag gegen den unerfahrenen Träger ausführen durfte. Mit einem wilden Kampfschrei powerte Linalee ihre Dark Boots, mit denen sie die restliche Distanz bis zu den Akumas in Sekundenbruchteilen überwand und dann diese mit raschen Trittfolgen eindeckte. Die überraschten Dämonen wussten gar nicht, wie ihnen geschah, war die Exorzistin quasi wie aus dem Nichts erschienen. Sie hatten nicht damit gerechnet gehabt, dass noch mehr Exorzisten in der Gegend unterwegs waren und es ihnen gelingen würde diesen bewachten Abschnitt des dichten Tannenwaldes zu betreten.

Kurz darauf erhielt die junge Exorzisten auch schon Unterstützung von ihren Kollegen, die sich beeilt hatten zu ihr aufzuschließen. Gemeinsam überwältigen sie die fünf Level drei Akumas und befreiten deren gefangene, ratslose Seelen, dass diese ihren ewigen Frieden wieder finden konnten.

Lavi eilte zu der reglos am Boden liegenden Person. Es handelte sich um ein Mädchen von etwa Linalee’s Alter mit rostbraunem, langem Haar, das sich in Naturkrause um ihren Kopf wand. Das Gesicht war von ihm abgewandt und größtenteils unter ihrer prächtigen Mähne verborgen, doch die Verletzungen, die sie während des Kampfes gegen die Level drei Akumas davongetragen hatten, sahen schlimm genug aus, um ihn befürchten zu lassen, dass sie zu spät gekommen waren. Mit leicht zitternder Hand tastete er an ihrem Hals nach dem lebenswichtigen Puls und stieß einen erleichterten, aber dennoch besorgten Seufzer aus, als er den schwachen Rhythmus unter seinen Fingerspitzen spürte.

„Sie lebt noch…“, teilte er seinen Freunden mit, die in etwas Abstand zu einander Wachposten bezogen hatten, bereit weitere Akumas abzublocken, die sich ihnen nähern sollten. Lavi’s Lehrmeister hatte sich zu ihm gesellt und unterzog die Verletzte schnell und sachkundig einer kurzen Untersuchung.

„Die Verletzungen sind nicht allzu ernst, hauptsächlich kleinere Fleischwunden, allerdings macht mir die Kopfverletzung Sorgen“, diagnostizierte der alte Mann mit fachkundiger Stimme und machte sich bereits daran die tiefe Verletzung auf der Stirn des Mädchens mit frischem Wasser aus seiner Trinkflasche zu reinigen. Danach nahm er aus dem kleinen, schwarzen Lederbeutel an seinem Gürtel, der als provisorischer Erste-Hilfe-Koffer diente, zwei Wattestäbchen und eine kleines, braunes Fläschchen heraus. Der Aufkleber auf der Flasche identifizierte die darin enthaltene klare Flüssigkeit als alkoholische Jodlösung zur Desinfektion.

Sorgsam tauchte er beide Stäbchen hinein und fuhr mit ihnen über die Wunde, um eine Infektion mit Bakterien zu verhindern, die zu schmerzhafte Entzündungen oder gar Wundbrand führen konnten. Anschließend entnahm er seinem Beutel eine Kompresse und Mullverband. Die Rückseite der Kompresse beträufelte er mit der alkoholischen Jodlösung und legte sie dann auf die verletzte Stirn, der Mullverband, der er mit Lavi’s Hilfe straff darum anlegte, würde diese an Ort und Stelle halten und mit dem Druck, den er ausübte die starke Blutung allmählich zum Erliegen bringen. Die kleineren Kratzer und Wunden behandelte er ähnliche mit Jodlösung und Pflastern, bis sie vollständig versorgt war.

„Ist ihr Zustand stabil genug, dass wir sie transportieren können?“ erkundigte sich der junge Inspektor mit nüchterner Stimme, nachdem er beobachtet hatte, wie der alte Bookman die kompatible Trägerin mit seinem medizinischen Wissen fachmännisch versorgt hatte. Bookman nickte bestätigend.

„Es sind keine Knochen gebrochen, noch besteht der Verdacht auf innere Blutungen, zudem ist ihr Zustand stabil. Sie ist lediglich bewusstlos“, erklärte er, während sein Schüler vorsichtig seinen linken Arm unter die Kniekehlen des Mädchens schob, während sein rechter Arm sich stützend um ihren schmalen Rücken legte. Als er sich sicher war sie richtig im griff zu haben, hob er sie behutsam vom Boden auf.

//Sie sieht fast so aus, als würde sie nur friedlich schlummern…// dachte Lavi und kam nicht umhin sachte zu Lächeln, doch er war sich durchaus bewusst, das dem nicht so was. Die Anstrengungen des Kampfes, wie auch immer sie diesen gegen solch eine dämonische Übermacht bestritten hatte, hatten ihr die letzten Kräfte abverlangt und sie zusammen mit der schweren Kopfverletzung in die Bewusstlosigkeit getrieben. Das schmale Lächeln auf Lavi’s Lippen verflüchtigte sich wieder, so schnell wie es gekommen war und machte einem nachdenklichen, besorgten Ausdruck Platz. Die Kopfverletzung, die das Mädchen bei der gefährlichen Auseinandersetzung davongetragen hatte, hatte nicht den Eindruck einer normalen Fleischwunde gemacht.

Seinem aufmerksamen Auge waren die schwachen Indizien für eine starke Krafteinwirkung nicht entgangen. Das komplizierte die Sache doch recht erheblich. Eine reine Fleischwunde verheilte je nach Tiefe nach einigen Wochen, doch bei einer zusätzlichen Krafteinwirkung, wie sie sich hier abzeichnete, war das Auftreten einer schweren Gehirnerschütterung recht wahrscheinlich. Diese konnte in besonders schlimmen Fällen zu Erinnerungsverlusten oder gar Hirnblutungen führen. Die Möglichkeit des Auftretens von Hirnblutungen machte ihm am meisten zu schaffen, da sie schleichend zuschlugen und man sie ohne spezielle Geräte meist erst dann bemerkte, wenn es bereits schon zu spät war.

Bei einer Hirnblutung wären feine Äderchen im Gehirn durch starke Krafteinwirkungen von Außen geplatzt oder gerissen. Das ins Gewebe austretende Blut würde auf dieses Gewebe drücken, bis der Druck so stark war, dass das Gewebe ernsthaften Schaden nahm. Nervenzellen würden absterben, da lebenswichtige Versorgungsleitungen zu ihnen durch den Druck des austretenden Blutes abgeklemmt würden. Je nachdem in welchem Areal des Gehirns dies geschah, hatte es unterschiedlich gravierende Folgen, von keiner Bedeutung bis hinzu lebensbedrohlich, gar tödlich. Einzig und allein eine rasche Punktierung solch einer betroffenen Region konnte den Druck abbauen und weiteren Schaden verhindern, allerdings bedurfte dies spezieller medizinischer Ausrüstung und war für sich allein genommen schon kein leichter Eingriff.

Lavi betete im Stillen, dass sie keine solchen Blutungen erlitten hatte und sonst auch keine anderen inneren Blutungen, die ihr Leben ernsthaft in Gefahr bringen würden.

„Ich nehme an, ich kann gleich hier ein Tor erschaffen, um eine Verbindung zur Arche herzustellen, immerhin handelt es sich um einen Notfall, oder irre ich mich?“ drang Allens entfernte Stimme angespannt durch die Stille. Er wäre froh, wenn sie schnellst möglichst den Ort wechseln könnten, zum einen, um das Wohlergehen der kompatiblen Trägerin zu gewährleisten und zum anderen, um die Gefahrenzone zu verlassen, die er wegen seines scheinbar streikenden Auges nicht einzuschätzen vermochte.

„Erlaubnis erteilt“, stimmte Link nickend zu. Für ihn zählte nur die Sicherstellung der Innocence und der dazugehörigen, kompatiblen Trägerin. Jeder weitere Kämpfer würde ihre schmalen Aussichten auf einen Sieg in diesem Krieg ein wenig erhöhen. Der junge Engländer schloss mit einem stillen Seufzer die Augen und begann den Text jenes Liedes in Gedanken zu rezitieren, mit dem er die Arche steuern konnte. Jedes Mal, wenn er dies tat, oder wenn er sich heimlich in die Arche schlich, um die Melodie im geheimen Raum des 14ten Noah auf dessen Klavier zu spielen, überkam ihn immer öfters eine unbekannte Wehmut, eine schmerzhafte Sehnsucht, die er selber weder richtig begreifen noch zu verstehen vermochte.

Manchmal, wenn er an seinen Ziehvater Mana Walker dachte, überkam ihn ein ähnliches Gefühl. Konnte das etwa die Sehnsucht nach familiären Banden sein? Sehnte sich sein junges Herz vielleicht insgeheim nach der mütterlichen oder väterlichen Zuwendung, wie sie in dem Lied zum Ausdruck kam? Das wäre nur zu verständlich, hatte er doch seine leiblichen Eltern nie kennen gelernt. Als Baby war er vor einem kirchlichen Heim ausgesetzt und von diesem aufgenommen worden, doch schon früh war er mehr Kind als Knabe von dort fortgelaufen.

Wegen seinem damals noch roten, unbeweglichen Innocence-Arms hatte man ihn oft gehänselt und verspottet gehabt. Als ständiger Außenseiter, der gemieden wurde, wo es nur möglich war, hatte er es nicht länger an diesem Ort ausgehalten gehabt. Jung und unerfahren, wie er gewesen war, hatte er die sicheren Wände des Heimes hinter sich gelassen gehabt und war rastlos durch die Gegend gezogen.

Der Direktor eines kleinen Wanderzirkus war auf den halb abgemagerten Jungen aufmerksam geworden und hatte Mitleid mit ihm gehabt. Als Entschädigung für Essen, Kleidung und Schlafplatz hatte er den jungen Allen mit kleinen Aufgaben betraut, die seinem Alter angemessen waren. Kurz darauf hatte Allen seinen Ziehvater kennen gelernt, der als Wanderclown gerade bei diesem Zirkus untergekommen war. Allen’s Lippen verzogen sich zu einem angedeuteten Lächeln, doch dieses erreichte seine traurig dreinblickenden Augen nicht.

//Diese unbeschwerte Zeit hat sich endgültig ausgeträumt…// dachte er wehmütig und sah zu, wie ein Exorzist nach dem anderen durch das Mosaik aus Lichtscherben trat, das das Tor zur Arche markierte, das er soeben erschaffen hatte. Er trat als letzter hindurch und schloss sogleich das gerade eben erschaffene Tor hinter sich, die Verbindung der Arche mit diesem Ort der Welt auflösend, um das Eindringen ungebetener Gäste zu verhindern. Wieder umfing ihn sommerliche Wärme und Sonnenschein, als er die kleine Gruppe wieder durch die Gassen der weißen Geisterstadt lenkte, die inzwischen so was wie sein zweites Zuhause geworden war.

Anstatt bei der üblichen Haustür Halt zu machen, die für gewöhnlich mit der Eingangshalle des Klosters verbunden war, hatte er die Gruppe zu einer anderen, näher gelegenen Tür geführt. Als sie nun durch diese traten, fanden sie sich in einem lang gezogenen Saal mit an einander gereihten, weißen Betten wieder, an denen hin und wieder Krankenschwestern vorbeigingen. Meistens handelte es sich bei den Patienten um Finder, die auf ihren Erkundungs-Missionen die ein oder andere Verletzung davongetragen hatten.

Lavi, der sich des französischen Mädchens angenommen hatte, schritt nun eiligst auf das andere Ende des Saales zu, wo unter anderem ein Untersuchungsraum und zwei Operationssäle lagen. Eine Krankenschwester, die die Ankunft der Exorzisten bemerkt hatte, eilte Lavi voraus, um einen der hiesigen Ärzte von dem Notfall zu unterrichten, während eine zweite Krankenschwester ihn anwies das Mädchen sofort in den Untersuchungsraum zu bringen und dort auf die Liege zu legen. Ganz behutsam ließ der junge Exorzist das Mädchen auf die Liege nieder und wollte eigentlich an ihrer Seite bleiben, um sicher zu gehen, dass auch wirklich keine Lebensgefahr für sie bestand, doch die Krankenschwester schüttelte bestimmt den Kopf und wies ihn hinaus. Er würde wie die anderen draußen warten müssen.

Leise seufzend ließ sich der angehende Bookman auf einem der unbequemen, weißen Plastikstühle im vorgeschalteten Wartezimmer nieder, in dem sich auch die anderen bereits versammelt hatten. Als Lavi herauskam, blickten ihm vier Augenpaare fragend entgegen.

„Sie wollten mich nicht dabei haben…“, erklärte Lavi mit einem schiefen Lächeln, das für ihn so typisch war und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf, wobei er zusätzlich die Augen schloss und den Anschein erweckte er wolle ein kurzes Nickerchen halten, um so die Zeit zu überbrücken, die der Arzt für die Untersuchung und anschließend weitere Versorgung ihres Sorgenkindes benötigen würde. Lavi konnte nur noch hoffen und beten, dass es ihr einigermaßen gut ging, sodass sie sich hier erholen konnte.

//Willkommen im schwarzen Orden…//

(Böses) Erwachen

(Böses) Erwachen
 

Der dunkelblaue Nachthimmel, den die schweren, dunklen Regenwolken endlich annähernd freigegeben hatten, begann sich im Osten bereits rötlich-violett zu verfärben, als die ersten noch weit entfernten Sonnenstrahlen unter einem günstigen Winkel atmosphärische Gase zum Leuchten anregten und so das Morgenrot erzeugten. Nach einer alten Bauernweisheit kündigte solch ein Morgenrot einen Wetterwechsel an, der von vielen nach den langen Wochen des Nebels und Regens sicherlich begrüßt werden würde.

Noch zaghaft kämpfte sich das hellstrahlendste aller Himmelsgestirne über den Horizont, doch schon ergoss sich das erste, frühmorgendliche Licht durch die Fenster des klösterlichen Ostflügels. In der zweiten Etage, direkt über der ausgedehnten und umfangreichen Bibliothek, hatte Lavi ein Quartier bezogen. Er liebte es morgens von den allerersten Sonnenstrahlen geweckt zu werden. Es war ein sanftes Hinübergleiten von Schlagen zu Wachen, ganz anders, als wenn er sich einen Wecker gestellt hätte, der ihn womöglich gerade aus einer seiner Tiefschlafphasen reißen würde. Da war die natürlichere Methode einfach schonender und außerdem gehörte er Rotschopf nicht zu den Langschläfern, die bis zum frühen Mittag noch in den Puppen lagen.

So wurde er auch diesen Morgen sanft von den ersten Sonnenstrahlen geweckt, die allmählich in sein kleines, privates Reich fluteten und es so Stück für Stück zu erhellen begannen. Die langsam zunehmende Helligkeit registrierte sein Körper ganz instinktiv und leitete einen schonende Aufwachphase ein, die den Frühaufsteher mit erfrischtem Geist erwachen ließ.

Ein leises Murmeln war das erste, was Lavi von sich gab, bevor er langsam das linke Auge öffnete, um den neuen, frisch angebrochenen Tag entgegenzublicken. Das rechte, unversehrte Auge ließ er geschlossen, denn wenn er schlief trug er die schützende Augenklappe nicht.

Sein rechtes Auge war vollkommen funktionsfähig, besaß jedoch eine Besonderheit. Wann immer er von besagtem Sinnesorgan Gebrauch machte, konnte er schärfer sehen als ein Adler, doch forderte die erhöhte Datenflut, die sein Auge dabei aufnahm seinem Gehirn eine große Anstrengung ab und ermüdete ihn rasch.

Jedoch vermochte er mit dieser speziellen Fähigkeit einen einzelnen Gegenstand, den er zuvor gesehen hatte, in einer chaotischen Ansammlung ähnlicher Gegenstände wieder zu finden, so wie damals beim Kampf in der Arche Noah. Damals waren sie unfreiwillig in die Arche gezogen worden und hatten an verschiedenen Orten in der Arche, in so genannten Räumen, gegen Mitglieder der Noah-Familie gekämpft. In einem dieser Räume hatte man ihnen den Schlüssel abgeluchst gehabt, der ihnen die Tür zur Heimat hatte öffnen sollen.

Perfide, wie ihre Gegner, Jasdero und David, gewesen waren, hatten sie den einen Schlüssel in einem unendlichen Meer von ähnlichen Schlüsseln versteckt gehabt. Es war ihnen eigentlich unter diesen Bedingungen unmöglich gewesen den einen Schlüssel wieder zu finden, doch Lavi war es dank seiner speziellen Begabung gelungen

Da er allerdings keine richtige Kontrolle über diese außergewöhnliche Fähigkeit besaß, trug er zu seinem eigenen Schutz eine Augenklappe darüber.

Sich langsam aufsetzend rieb er sich den Schlaf aus den Augen und griff neben sich auf den kleinen Holztisch, der als Ablageplatz für seine nächtlichen Lektüren diente. Nach kurzem Tasten fischte er die Augenklappe zwischen zwei dicken Schinken hervor und legte sie sich um. Genüsslich streckt er sich, was von einem herzhaften Gähnen begleitet wurde. Das rotbraune Haar stand ihm mal wieder in unmöglichen Richtungen vom Kopf ab, sodass er befand, das eine Dusche das einzig wirksame Mittel war, um seine widerspenstigen Haarpracht wieder in den Griff zu bekommen. Nur in einen hellblauen Pyjama gekleidet dackelte er mit einem zusätzlichen Handtuch und einem Morgenmantel über dem Arm munter pfeifend über den Flur Richtung Gemeinschaftsbad. Diese frühe Morgenstunde hatte einen zusätzlichen Vorteil, er war alleine im Bad und konnte ungestört die heiße Dusche genießen

Seine ebenfalls blauen Plüschpantinen klapperten munter über den gefliesten Fußboden des Bades, bevor er aus eben diesen schlüpfte, um den Pyjama folgen zu lassen. Sorgsam legte er seine Sachen auf ein Ablagebrett neben der Duschzeile und betrat eine der Duschkabinen, die entfernt an Umkleidekabinen aus Kaufhäusern erinnerten. Wie die Natur ihn geschaffen hatte, stellte er sich unter die Stahlbrause und drehte das warme Wasser auf, bis er eine angenehme Strahlstärke und –temperatur gefunden hatte.

Ein leises, zufriedenes Seufzen entrang sich seinen Lippen, als er die ersten Minuten einfach nur das warme Wasser genoss, das auf seinen Körper hinunterrauschte. Dann griff er nach dem Shampoo, das bereit stand und seifte die durchnässten Haare ein, dass es nur so schäumte. Beim Duschen ließ er sich der junge Exorzist gerne etwas Zeit und diese Zeit nutzt er nun, um an das französische Mädchen zu denken, das sie am vergangenen Tag aus Lyon mitgebracht hatten.

Nachdem sie fachmännisch von einem der hiesigen Ärzte untersucht und weitergehend versorgt worden war, hatte sich Lavi nach dem genauen Zustand der kompatiblen Trägerin erkundigt. Der behandelnde Arzt hatte weitestgehend dasselbe diagnostiziert, wie der alte Bookman zuvor bei der Erstversorgung. Sie hatte weder Knochenbrüche noch innere Blutungen davongetragen, dafür aber eine äußerst schwere Gehirnerschütterung, weswegen sie auch noch unter strengster Beobachtung stand, da Hirnblutungen nicht eindeutig hatten ausgeschlossen werden können. Hätten sich in den letzten paar Stunden ebenfalls keine Anzeichen für die lebensgefährlichen Blutungen ergeben, so wäre sie fast aus dem Schneider, aber eben nur fast.

Sorgsam spülte Lavi das eingeschäumte Haar aus und achtete darauf, dass ihm kein Shampoo in die Augen gelangte, da das ziemlich unangenehm beißen konnte. Als nächstes nahm er sich das Duschgel zur hand. Es duftete nach Orange und Sandelholz, eine Mischung, die er sehr gerne roch. Genüsslich rieb er seinen Körper damit ein und spülte dann die dabei entstandene Seifenlauge ab. Seine rotbraunen Augenbraunen zogen sich besorgt zusammen, als er daran zurückdachte, wie der Arzt ihm zudem erklärt hatte, dass ihr Sorgenkind wohlmöglich unter einer dauerhaften Amnesie leiden werde, sobald sie erwachen würde.

Was mochte das wohl für ein Gefühl sein, an einem völlig fremden Ort aufzuwachen, Menschen mit unbekannter Muttersprache um sich zu haben und sich nicht einmal an seine eigene Existenz erinnern zu können? Sicherlich war es kein angenehmes Gefühl! Das war einer der Gründe, die ihn an diesem Tag so früh aus dem Bett getrieben hatten. In dem Moment, wenn sie erwachen würde, wollte er an ihrem Bett sitzen, ihr das Gefühl vermitteln für sie da zu sein und ihre quälenden Fragen beantworten, schließlich war er mit vielen Sprachen vertraut. Das musste er auch sein, schließlich wollte er einmal irgendwann Bookman werden. Die Aufgabe eines Bookmans war wichtige, geschichtliche Ereignisse mitzuerleben, zu beobachten und festzuhalten, Geschichte, die man in einem gewöhnlichen Geschichtsbuch nicht wieder finden würde. Dafür war das Studium möglichst vieler Sprachen essenziell, um sich auch in dem Land verständigen zu können, das man gerade bei dieser langwierigen Aufgabe bereiste. So geschult, war Lavi’s Französisch fließend und fast makellos bis auf einem schwachen englischen Akzent, den er bisher nicht hatte ausmerzen können.

Ein bisschen widerwillig drehte er den Duschhahn zu, sodass das warme Nass langsam verebbte. Das nasse Haar, das inzwischen etwas mehr als kinnlang gewachsen war, klebte ihm in dichten Strähnen an der Stirn, sodass er sich mit der rechten hand erst einmal freie Sicht verschaffen musste, bevor er die Duschkabine verließ. Die feinen Wassertropfen auf seiner leicht gebräunten Haut funkelten wie kleine Diamanten um Licht der Badezimmerlampen. Lavi warf seinem nackten Spiegelbild ein verschmitztes Lächeln zu, nicht, dass er selbstverliebt war, oder so, doch er fand, dass er nicht schlecht aussah. Für sein Alter war er von durchschnittlicher Größe, etwas 1,80m, seine Statur erinnerte an einem Sportler, da die Muskeln an Waden und Oberarmen etwas ausgeprägter waren, als bei Leuten, die wenig bis gar keinen Sport trieben. Lavi jedoch betrieb einen besonders gefährlichen „Sport“ als Exorzist und bedurfte dabei eines durchtrainierten, agil Körpers. Auf seiner rechten Schulter nahe dem Halsansatz zeichnete sich eine blasse Narbe ab, ein Andenken aus einem seiner zahlreichen Kämpfe.

Mit raschen Bewegungen rubbelte er sich trocken, da die fehlende Wärme des Wassers ihn langsam frösteln ließ und ihm dabei eine Gänsehaut bescherte, die sich über seinen ganzen Körper ausbreitete. Als er trocken war, schlüpfte er wieder in seinen Pyjama und zusätzlich in den mitgebrachten, flauschigen Morgenmantel. Erfrischt und entspannt von der Dusche griff er als nächstes nach seiner Zahnbürste, verteile eine minzige Zahncreme darauf und begann sich die Zähne zu putzen, als sich die Tür zum Gemeinschaftsbad erneut öffnete. Der Rotschopf blickte erstaunt auf, wer noch um diese frühe Uhrzeit schon wach war. Es war Allen Walker und sein zweiter Schatten, Howard Link. Allen sah grässlich aus, wie Lavi fand. Der arme Engländer hatte dunkle Rändern untern den leicht geschwollenen Augen, von denen er, so müde wie er zu sein schien, erst gar keinen Gebrauch machte, sondern einfach blind und schlaftrunken ins Bad an seinen Stammplatz stolperte, um Lavi’s Bespiel zu folgen.

„Morgen…“, murmelte dieser mit der Zahnbürste in der Hand und bedachte die beiden Neuankömmlinge mit hochgezogener Augenbraue. Der junge Inspektor erwiederte den genuschelten Morgengruß und reihte sich in das vorgegebene Schema ein, wobei auch er einen etwas übernächtigen Eindruck erweckte, auch wenn dieser es besser wegzustecken schien. Lavi’s scharfer Verstand kombinierte die auffälligen Beobachtungen und kam zu dem Schluss, dass Link Allen einem weiteren dieser nervenaufreibenden Verhöre unterzogen hatte, die sich inzwischen fast im Drei-Wochen-Takt in seinen Alltag eingefügt hatten.

Die Vertreter der zentralen Abteilung des schwarzen Ordens schienen Allen nach wie vor nicht über den Weg zu trauen und das nur, weil dieser die Erinnerungen des 14ten Noahs hatte implantiert bekommen. Etwas, wofür er nichts konnte.

//Armer Allen…// dachte Lavi mitleidig, als sein Blick den jüngeren Exorzisten von der Seite her erfasste. Mit der Zeit hatte er ihn wirklich sehr ins Herz geschlossen, diesen naiven, herzensguten, verantwortungsvollen Burschen mit trauriger Vergangenheit. Manchmal wurde er von Allen mit dessen tiefgründigen, bewegenden Lebensansichten überrascht, so wie damals, als sie gegen einen vermeintlichen Vampir und dessen Akumabraut gekämpft hatten.

Der besagte Vampir, Arystar Krory, war in Wirklichkeit ein einfacher Mensch mit Innocence-Zähnen. Seine Geliebte Eliade war ein Level zwei Akuma in menschlicher Gestalt gewesen, der im Dorf Level eins Akumas um sich geschart hatte.

Krory, getrieben von seiner Innocence, hatte diese als Menschen getarnten Dämonen zu nächtlicher Stunde gejagt und getötet, indem er sie mit seinen Innocence-Zähnen biss und ihr dämonisches Blut trank. Kein Wunder also, dass die rumänischen Dorfbewohner diesen Mann für einen Vampir gehalten hatten. Im Laufe der Mission hatten Allen und Lavi dem eigentlich herzensguten Mann begreiflich machen können, dass seine Geliebte Eliade in Wirklichkeit ein Monster war, das ihn töten wollte. Am Ende des daraufhin entbrennenden Kampfes hatte Krory seine Geliebte genauso gerichtet, wie die Level eins Akumas im Dorf. Obwohl Eliade ein gefährliches Monster gewesen war, hatte er diese wundervolle Frau geliebt gehabt und umso größer waren der Schmerz und die Trauer um ihren Verlust gewesen, der er mit seinen eigenen Händen herbeigeführt hatte.

Der Schmerz war so überwältigend gewesen, dass er die beiden Exorzisten angebettelt hatte, ihn niederzustrecken, sodass er ihr in die andere Welt nachfolgen konnte, selbst im Tod vereint. Das hatte Allen’s eigentlich friedlichem Gemüt den Rest gegeben gehabt. Wütend hatte er Krory am Kragen gepackt und ihn angeschrieen.

„Du hast die Person, die du so innig geliebt hast mit deinen eigenen Händen gerichtet! Ihr Verlust, der Schmerz, ohne sie leben zu müssen, die Erinnerungen an sie, soll das alles vergebens gewesen sein? Wenn es alles keinen Sinn mehr hat, dann werde Exorzist! Für ihren Tod, den du zu verantworten hast, ergreife das Rosenkreuz und werde Exorzist, werde ein Zerstörer der Leben rettet! Für Eliade, dass ihr Tod nicht vergebens war!“

Das waren damals seine aufgebrachten Worte gewesen, Worte, die der eigenen, schmerzhaften Erfahrung entsprungen waren, war er doch als kleiner Junge kurz nach dem Tod seines Ziehvaters Mana dem Versprechen des Grafen anheim gefallen. In seiner tiefen Trauer hatte er den Handel mit dem Grafen akzeptiert gehabt und die Seele des Verstorbenen in das schwarze Skelett gebannt, um so unwissentlich die Grundfeste für einen Akuma zu schaffen. Wie so üblich hatte der Graf seinen neuen Diener angewiesen den kleinen Jungen zu töten, doch der erste Schlag traf nur Allen’s linkes Auge, das dabei den Fluch erhielt, der ihn von der Zeit an begleitete. Den zweiten Schlag konnte er allerdings nicht mehr ausführen, das in dem Moment Allen’s bis dahin schlummernde Innocence zum ersten Mal erwachte und die Form einer riesigen Metallklaue annahm, auf deren Handrücken ein grünes Kreuz leuchtete.

Völlig eigenständig hatte sich die Innocence bewegt gehabt und die verfluchte Existenz des herbeigerufenen Akumas ausgelöscht. Mit seinen eigenen Händen hatte er eine Person getötet, die ihm in seinem jungen Leben am meisten bedeutet hatte.

Der Graf, seines frisch gebackenen Akumas beraut, hatte den Ort des Geschehens verlassen, nur um einer anderen, bedeutenden Person den Auftritt zu gestatten. Denn Allen’s fordernden Worte an den vermeintlichen Vampir warn durch das Zusammentreffen mit eben dieser Person entstanden. Es war sein erster Zusammentreffen mit seinem zukünftigen Lehrmeister General Marian Cross gewesen. Eben jene Person hatte ihn mit ähnlichen Worten ermahnt weiterzumachen, weiterzuleben, um den Tod des geliebten Ziehvaters nicht vergebens sein zu lassen.

Lavi hatte sich erst relativ spät diese Gesichte erschlossen gehabt, aber es erfüllte ihn immer wieder mit Bewunderung, mit welcher Beharrlichkeit und Hingabe der junge Engländer dieser Forderung gefolgt war und immer noch folgte. Das zeugte von innerer Charakterstärke, wie er fand. Nachdem er mit seiner Mundhygiene fertig war, nahm sich der Rotschopf einen Fön zur Hand, um seine strubbelige Mähne zu trocknen.

„Wir sehen uns später…“, verabschiedete sich Lavi von den beiden, als er fertig war und machte sich auf den Rückweg zu seinem Zimmer, um sich frische Sachen anzuziehen, einen kurzen Stopp bei der Kantine einzulegen, wo er sich ein schnelles Frühstück gönnen würde, um dann die schlafenden Schönheit im Krankenflügel zu besuchen. Die meisten Punkte dieser gedanklichen Liste waren schnell abgehackt, sodass er mit einem leichten Lächeln auf den Lippen Richtung Krankenflügel schlenderte, dessen gewaltige, hölzerne Doppeltür passierte und die Reihen der vielen, zum Glück annähernd leeren Krankenbetten entlang schritt, bis er das eine erreicht hatte, nach dem er Ausschau gehalten hatte.

//Sieht so aus, als ob sie noch schläft…// stellte Lavi leicht schmunzelnd fest, als er an das Bett trat und sich dann bei der Krankenschwester, die gerade den Tropf wechselte, mit dem das Mädchen versorgt wurde, nach dem Befinden der Patientin erkundigte.

„Glücklicherweise können wir inzwischen Hirnblutungen definitiv ausschließen und ihr Grundzustand ist stabil, allerdings kann es aufgrund der schweren Gehirnerschütterung zu einem ausgeprägten Gedächtnisverlust kommen“, gab ihm die Schwester Auskunft und verschwand dann, um ihrer übrigen Arbeit weiter nachzugehen. Lavi dankte ihr und zog sich vom Nachbarbett einen lehnenlosen Stuhl heran, es war eigentlich mehr ein Hocker, um sich darauf zu setzen.

Am vergangenen Tag hatte er kaum richtig Zeit gehabt, um sich mit der vermeintlich neuen Kollegin vertraut zu machen, sodass er sich jetzt dazu Zeit nahm und sie etwas genauer in Augenschein nahm. Das rostbraune Haar, seinem nicht allzu unähnlich in der Farbgebung, reichte ihr wohl etwa knapp über die Schultern und war sanft gelockt. Die weiche Haut war schwach gebräunt, wie es von einem mediterranen Bewohner zu erwarten war. Ihre dunklen Wimpern waren sanft geschwungen, ebenso die zartroten Lippen.

Lavi schluckte leicht beim Anblick der sanft geschwungenen, leicht geöffneten Lippen und lehnte sich ein Stück zurück. Erst jetzt bemerkte er seinen leicht beschleunigten Herzschlag, der ihm aufgeregt von innen heraus gegen die Brust klopfte. Es verwirrte ihn, dass dieses Mädchen solch eine Wirkung auf ihn ausübte. Nun sie hatte das gewisse Etwas, ohne Zweifel, doch eigentlich war Lavi nicht gerade auf der Suche nach einem romantischen Gegenpart.

Es war so untypisch für seinen eigentlich kühlen Kopf die geregelten Bahnen so plötzlich zu verlassen. Nun er konnte nicht leugnen, dass er ein gewisses Interesse an dem Mädchen hegte, doch das entsprang seiner reinen Neugier, zumindest versuchte er sich das weiß zu machen.

//Wie hat sie es geschafft, gegen die Übermacht an Akumas zu bestehen, vor allem gegen die fünf Level drei Akumas…?// war eine der drängendsten Fragen, die dieser Neugier Nahrung gegeben hatten.

Sachte nahm er ihre linke Hand in seine, spürte ihre Wärme und die Zartheit ihrer Haut. Gedankenversunken streichelte sein Daumen über ihren Handrücken, während sein Blick den frischen Verband um ihren Kopf fixierte. Er konnte sich noch gut an die ausgefransten Wundränder der tiefen Stirnverletzung erinnern, die nach dem Abheilungsprozess wohl als schwache Narbe zurückbleiben würde. Die erste von vielen.

Ein Geräusch riss ihn aus seiner gedankenversunkenen Betrachtung. Das regelmäßige Piepsen des Überwachungsmonitors, an den das Mädchen angeschlossen war, hatte etwas zugelegt. Die Pulsfrequenz, die zuvor einer ruhenden Person entsprochen hatte, war langsam angestiegen und deutete darauf hin, dass sie bald zu sich kommen würde. Etwas verlegen legte er ihre linke Hand wieder zurück an ihren ursprünglichen Platz und wartete geduldig wie neugierig ihr Erwachen ab.

Schwach zuckten ihre Augenlieder, bevor diese flatternd aufflogen um sich daraufhin ob der ungewohnten Helligkeit zusammenzuziehen. Die rechte, leicht bandagierte Hand wanderte zum Schutz vor dem als unangenehm empfundenen Licht hinauf zu den Augen, um diese abzuschirmen. Irritiert und verwirrt blinzelten sie der hohen Decke entgegen, bevor ihre blaugrünen Augen mehr von ihrer fremden Umgebung in sich aufsogen.

„Bon jour…“, sprach Lavi sie von der Seite her mit leiser, angenehmer Stimme an, um sie nicht zu erschrecken und hatte fast sofort ihre vollste Aufmerksamkeit, obgleich diese aufgrund des Schmerzmittels, das sie über den Tropf bekam, noch etwas eingeschränkt zu sein schien. Ihre grünen Augen musterten ihn mit derselben Mischung aus Verwirrung und Unsicherheit, mit der sie bereits ihre Umgebung schon beäugt hatte. Schüchtern erwiederte sie den Gruß und überschüttete den Rotschopf fast augenblicklich mit einem wahren Schwall von Fragen.

Wo war sie hier? Warum lag sie in einem Krankenbett? Was war ihr zugestoßen? Wer war er und wer war eigentlich sie?

Die letzte Frage hatte nur in ihren Gedanken widergehallt, war noch nicht bis zu ihren Lippen vorgedrungen, die sich nun entsetzt schlossen. Wer war sie? Sie konnte sich nicht erinnern! Kein Name, keine vagen Erinnerungen, rein gar nichts war da, nur gähnende, weiße Leere.

Aller Anfang ist schwer

Aller Anfang ist schwer
 

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Vorbemerkung: Da in diesem Kapitel fast ausschließlich französische Dialoge vorkommen werden und ich nun weder die entsprechende Sprachkenntnis habe noch ich vorhabe eine zweisprachige FF zu schreiben, habe ich die entsprechenden Dialoge, die auf Französisch geführt werden, kursiv geschrieben^^

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Befremdung, Unsicherheit, Angst, Verwirrung.

All diese Gemütszustände mischten sich in den Schockzustand ein, in dem sich das französische Mädchen befand. Als sie nach langer Zeit, so kam es ihr zumindest vor, die Augen zum ersten Mal wieder aufgeschlagen hatte, war eine völlig fremde Welt auf sie eingestürzt, eine Welt, die unangenehm hell war, nach der langen Zeit der Dunkelheit, der Bewusstlosigkeit. Unbehaglich hatte sie die Augen gegen die grelle Helligkeit zusammengekniffen und mit der rechten hand beschirmt, um wenigstens etwas von der fremden Umgebung in Erfahrung zu bringen zu können.

Ihre Haut vermittelte ihr, dass sie auf einem weichen Untergrund lag, vermutlich ein Bett. Dieser Untergrund war ebenso weich, wie das Kissen, auf das ihr Kopf gebettet war. Weitere Sinneseindrücke strömten zu ihrem benebelten, trägen Hirn. Ihr Kopf fühlte sich eigenartig an, es war kein richtiger Schmerz, der ihn erfüllte, sondern mehr eine bleierne Schwere, der in ihrer Stirn mündete. Die Hand, die ihre Augen gegen das unangenehm helle Licht abgeschirmt hatte, wanderte ein kleines Stück weiter hinauf zur Stirn, doch diese lag unter einem rauen Stück Stoff verborgen, offensichtlich handelte es sich dabei um einen Verband.

Von irgendwo her mischte sich ein angenehmer, herber, süßlich-fruchtiger Duft unter den sterilen, medizinischen Geruch, der jedem Krankenhaus anhaftete, mal stärker mal schwächer.

Guten Morgen…“, drang von der linken Seite eine angenehme, männliche Stimme leise zu ihr vor. Sie wollte den Kopf zur Seite drehen, um zu sehen, woher diese vertrauten Worte stammten, doch ihre Muskeln reagierten nur träge, auch sie waren von der bleiernen Schwere betroffen, deren Ursprung sich in dem starken Schmerzmittel befand, das ihr über einen Tropf zusammen mit einer kräftigenden Lösung verabreicht wurde. Als ihre Muskeln endlich, wenn auch protestierend, ihr Vorhaben in die Tat umgesetzt hatten, wurde sie ein weiteres Mal überrascht.

Auf einem schmalen Hocker saß ein Junge mit rotbraunem, kinnlangem Haar und lächelte sie aufmunternd an. Das leicht kantige, männliche Gesicht, aus dem ihr ein smaragdgrünes Auge entgegenstrahlte, das andere lag hinter einer schwarzen Augenklappe verborgen, war ihr fremd, zumindest meinte sie sich nicht daran erinnern zu können, so wie an vieles andere. Ihr Gegenüber machte einen freundlichen, harmlosen Eindruck, der sie Vertrauen zu dieser eigentlich fremden Person fassen ließ, sodass sie ihre bewegenden Fragen, die ihr auf der Seele brannten, an ihn richtete.

Wo bin ich hier? Warum bin ich hier? Was ist passiert? Wer bist du?“ sprudelte er aus ihr heraus, wobei sie mehrmals über ihre noch träge Zunge stolperte, die ihr es erschwerte die Fragen richtig zu artikulieren. Ihre eigene Stimme klang in ihren Ohren dabei wie ein heiseres Krächzen, was vermutlich an ihrem trockenen Hals und Rachen lag. Sie schluckte ein paar Mal, vor allem, weil sich eine weitere Frage in ihr aufgetan hatte und mit ihr ein bodenloser Abgrund des Schreckens.

//Wer bin ich…?//

Ihre Stimme war verstummt, die Augen blickten nur noch starr durch ihren Besucher, während sich jenes Entsetzen, jener Schock auf ihrem Gesicht und in ihren blaugrünen Augen abzuzeichnen begann, der sie bei diesem Gedanken sie plötzlich aus dem Abgrund des Schreckens überfiel, wie ein Dämon der Hölle. Sie konnte förmlich spüren, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich und sie von einem Augenblick zum anderen erbleichen ließ, wie die sprichwörtlich weiße Wand.. Schwindel erfasste sie und stürzte ihre kleine, unbekannte Welt erneut ins Chaos. Formen und Farben schienen miteinander verschmelzen zu wollen, während der Druck hinter ihrer Stirn weiter zunahm. Dunkelheit drohte sie erneut zu verschlingen und sie mit sich hinab in die bodenlosen Untiefen der Bewusstlosigkeit zu zerren, doch zum Glück begann sich ihr Blickfeld kurz darauf wieder allmählich zu klären und der Druck hinter ihrer Stirn klang zu einem dumpfen Pochen ab.

Verwundert stellte sie fest, dass ihr rothaariger Besucher verschwunden war, zumindest stand sein Hocker, auf dem er zuvor noch gesessen hatte, nun verwaist da. Hatte es sich bei dem Rotschopf vielleicht um eine Traumgestalt gehandelt, die ihrem malträtiertem Hirn und dem überwältigendem Gefühl der Einsamkeit entsprungen war? Das wäre nur zu bedauerlich, hatte er ihr doch so etwas wie Sicherheit vermittelt, ein ruhender Pol in der völlig fremden, neuen Welt. Enttäuschung machte sich in ihr breit, legte sich wie ein zusätzliches, bleiernes Gewicht auf ihrem Körper nieder. Mit einem stillen, gedanklichen Seufzer drehte sie ihren Kopf wieder zurück in seine Ausgangslage. Da war er wieder, ihr Hirngespinst. Er stand am Fuß ihres Krankenbettes und hielt ihre Bein leicht angewinkelt ein Stück hoch, sodass das plötzlich herabgesackte Blut wieder zurück in den restlichen Körper, vor allem zu ihrem Kopf strömen konnte. Als sich ihre Blicke begegneten, legt er ihre Beine mit einem verlegenen Lächeln wieder zurück an ihren Platz.

Geht es wieder…?“ erkundige er sich mit leicht besorgtem Unterton und nahm wieder auf seinem Hocker an ihrer Seite Platz.

Ja, danke…“, murmelte sie, immer noch ein wenig heiser und schenkte ihm ein zaghaftes, dankbares Lächeln. Er schien es gut mit ihr zu meinen, nahm er sich ihrer an, erhellte ihre Einsamkeit mit seiner Gegenwart und die Trostlosigkeit mit seiner menschlichen Fürsorge.

Um auf deine Fragen von vorhin zurückzukommen…, nun, du befindest sich zurzeit im Krankenflügel einer Institution, die als schwarzer Orden bekannt ist. Um genau zu sein, gehört dieses Gebäude der englischen Abteilung des schwarzen Ordens...“, begann er zu erklären und sprach dabei etwas langsamer, damit sie ihm in ihrem beduselten Zustand folgen konnte.

Warum du hier bist? Also, die Sache ist folgende. Du besitzt etwas sehr wichtiges, wie einzigartiges. Wir nennen es Innocence. Diese Innocence ist eine besondere Substanz, mit der man gegen Dämonen, so genannte Akumas, kämpfen kann. Eben jene Dämonen haben dich angegriffen gehabt, als sie bemerkt hatten, dass du eine Innocence trägst. Die Akumas haben dir ziemlich übel mitgespielt gehabt…“, setzte der Junge seine Erklärung fort und tippte sich gegen die Stirn, um auf ihre Kopfverletzung hinzudeuten, die hinter einem strammen Verband verborgen lag.

…Zum Glück waren wir, meine Kollegen und ich, in der Nähe bzw. waren auf der Suche nach dir, sodass wir in den Kampf eingreifen konnten, der sich beinahe das Leben gekostet hätte…“, schloss er ab, den Kopf auf seine gefalteten Hände abgestützt, während seine Ellebogen auf seinen Knien ruhten.

Zu meiner eignen Person. Ich heiße Lavi und bin meine Zeichen Exorzist des schwarzen Ordens. Zudem befinde ich mich in der Ausbildung zum Bookman der nächsten Generation“, stellte der Rotschopf sich schließlich vor und schenkte ihr dabei ein gutherziges Lächeln, das einem das Herz wärmte, so wie ihr. Diese freundschaftliche Wärme sog sein Herz in sich auf und schloss sie wie ein Schatz dort ein. Lavi war der erste Mensch in ihrem neuen Leben voller Unwägbarkeiten, eine Konstante, an die sie sich halten konnte, wenn die fremde Welt sie zu erdrücken drohte.

Nun, da sie seinen Namen kannte, wollte er ihren wissen, doch was sollte sie ihm antworten? Sie kannte ihn selber nicht! Sie war sich selber fremd geworden, wusste nur, dass sie existierte, weil ihr Körper unterschiedlichste Sinneseindrücke in sich aufnahm und ihr Bewusstsein sich in der schützenden, begrenzenden Hülle dieses Körpers bewegte.

Erneut verschwamm ihre Sicht, doch dieses Mal nicht weil Schwindel sich ihrer bemächtigte, stattdessen brannten ihre Augen mit Tränen der Verzweiflung. Wer war sie schon? Ein Nichts! Ein Niemand ohne Namen, ohne Herkunft! Diese Erkenntnis traf sie wie ein weiterer Schlag und setzte die aufgestauten Tränen frei. In zwei kleinen Rinnsalen bahnten sie sich ihren Weg über ihre Wangen hinab, um dann auf die weiße Decke ihres Krankenbettes zu tropfen, während ihr Körper von leisen Schluchzern geschüttelt wurde.

Zwei starke Arme legten sich sanft um ihren zitternden Körper und daraufhin spürte sie, wie sich ein männlicher Gegenpart tröstend an ihren Oberkörper schmiegte, als sie sich in einer Trost und Geborgenheit spendenden Umarmung wieder fand. Sachte wanderten zwei einfühlsame Hände beruhigend streichelnd über ihren Rücken.

Shhht, es wird ja alles gut. Shhhht, weine nicht…“, murmelte Lavi beschwichtigend an ihr linkes Ohr, das ihm am nächsten war. Er war so nahe, dass sei seinen warmen Atem auf der Haut ihres Halses spüren und den angenehm fruchtig-süßen Duft, den er verströmte, einatmen konnte. Diese Herzlichkeit, die er ausstrahlte, die Selbstverständlichkeit, mit der er sich ihrer annahm, obwohl sie eine völlig Fremde war, erfüllte sie mit Freude, Erleichterung und unendlicher Dankbarkeit. Er schenkte ihr, der Heimatlosen, einen Ort, den sie Heimat nennen konnte, schenkte sich ihr selber als Freund und Stütze, um ihr Halt zu geben in der neuen, fremden Welt, die sie fast so hilflos wie ein Neugeborenes betreten hatte.

Es dauerte etwas, doch schließlich hatte sie sich wieder annährend beruhigt. Langsam gab Lavi sie wieder frei, behielt jedoch ihre linke Hand in seiner, während der Zeigefinger seiner rechten Hand sanft die letzten Tränen fortwischte.

Ich weiß, es ist nicht leicht für dich. Alles ist fremd und ungewohnt, doch hab Mut, es kann nur besser werden. Die Leute, die hier leben und arbeiten, sind gewiss keine Unmenschen und fast genauso herzlich, wie ich. Nur Mut, du bist nicht allein…“, sagte er mit einem begütigenden Lächeln und unterstrich seine ernst gemeinten, aufbauenden Worte zusätzlich mit einem sanften Händedruck.

D-danke. Vielen Dank, Lavi. Das tut so gut zu hören…“, schniefte sie leise und wischte sich die Augen trocken, die erneut in Tränen ausbrechen wollten. Lavi ließ ihr Zeit sich zu sammeln und den Scherbenhaufen zusammenzukehren, der ihre fragwürdige Existenz darstellte. Gemeinsam mit seinen Freunden würde sie ihr altes Selbst neu formen. Ein neues Leben erwartete sie, ein neuer Anfang, eine neue Chance. Die wollte sie sich nicht entgehen lassen, schließlich konnte es wirklich nur besser werden.

Ein dezentes Räuspern zerstörte die vertrauliche Zweisamkeit der beiden und kündigte die Anwesenheit von mindestens einer weiteren Person an. Seitlich hinter Lavi war ein Mann in weißem Kittel getreten. Der Arzt war in Begleitung einer Krankenschwester und bat Lavi Platz zu machen, damit er sich um seine neueste Patientin kümmern konnte. Lavi nickte dem Arzt zu und schenkte ihr noch ein aufmunterndes Lächeln, als er aufstand, damit der Arzt seinen Platz an ihrem Bett einnehmen konnte, jedoch blieb er in der Nähe um zu dolmetschen, immerhin verstand das Mädchen nur französisch.

Der Arzt, ein Mann mittleren Alters mit kurzem, schwarzen Haar und dunklen, aber freundlichen Augen, erkundigte sich nach dem allgemeinen Befinden seiner Patientin, ob sie Schmerzen, Schwindel oder Übelkeit verspürt. Erstere Frage konnte sie dank des starken Schmerzmittels, das sie über den Tropf bekam, verneinen, allerdings gab sie an vorhin unter einem kurzen Schwindelanfall gelitten zu haben. Auch die Frage nach der Übelkeit konnte sie glücklicherweise verneinen. Der Arzt schien einigermaßen zufrieden zu sein und zückte aus seiner linken Brusttasche eine kleine Taschenlampe mit Metallummantelung. Mit dieser wollte er als erstes ihr rechtes Auge beleuchten, um anhand des Pupillenreflexes auf die Verfassung des Gehirns schließen zu können. Würde sich die Pupille auf Grund der erhöhten Lichteinstrahlung nur langsam bis gar nicht zusammenziehen, lag eine ernste Beeinträchtigung des Hirns zugrunde, doch so weit kam der Arzt gar nicht. Kaum hatte er das milde Licht der Lampe auf das rechte Auge gelenkt, kniff sie dieses zusammen und wandte den Kopf zur Seite.

Zu hell…“, klagte sie, was sofort von Lavi übersetzt wurde, sodass der Mediziner keinen weiteren Versuch starten würde.

Hmm…sieht so aus, als wäre ihre Lichtempfindlichkeit durch die Gehirnerschütterung ebenfalls beeinträchtigt worden. Nun ja, Sehstörungen sind nicht ungewöhnlich bei Kopfverletzungen dieser Art, allerdings sollte der Effekt nur kurzfristiger Natur sein…“, meinte der Arzt darauf hin, steckte die kleine Taschenlampe wieder fort und wies die Krankenschwester an den Verband abzunehmen, sodass er die genähte Stirnwunde kontrollieren konnte. Mit geübten Griffen folgte die Schwester der ärztlichen Anweisung und kurz darauf streifte kühle Luft die freigelegte Stirn.

Das Mädchen wollte nach der Verletzung tasten, doch der Arzt nahm rasch ihre Hand bei Seite und schüttelte den Kopf. Es war am besten der noch frischen Operationsnaht ihre Ruhe zu lassen. Mit zwölf Stichen waren die bereinigten Wundränder wieder einander angenähert worden, sodass sich die Haut regenerieren und die Wunde schließen konnte. Frischer Schorf bedeckte den größten Teil der Naht, war aber an manchen Stellen etwas dünner und damit empfindlicher. Zufrieden mit dem Aussehen der Naht und dem eingesetzten Heilungsprozess gab er der Schwester zu verstehen einen frischen Verband anzulegen, dann entfernte er sich und überließ die beiden wieder ihrer annährenden Privatsphäre.

Wie es aussieht, hast du die Anstrengungen des Kampfes ganz gut weggesteckt, wenn man mal von gewissen Erinnerungslücken und der Lichtempfindlichkeit einmal absieht. Das ist wirklich schon beeindruckend. A propos beeindruckend, wenn du erst einmal wieder fit bist, werde ich dir eine Führung durch dein neues Heim geben, damit du dich hier möglichst schnell wie zu Hause fühlen kannst. Das ist doch mal was, nicht?“ schwatzte der Rotschopf wieder munter drauf los, als sie wieder völlig alleine waren, verstummte jedoch plötzlich, als er mehrere, schwere Stiefelpaare über den marmornen Fußboden des Krankensaales stapfen hörte.

Das Lächeln, das sein Gesicht erhellt hatte, wich einem wachsamen, angespannten Ausdruck, als er sich umwandte, um die neuen Besucher in Augenschein zu nehmen. Zweimal schwarz, einmal weiß. An vorderster Front der kleinen Dreiergruppe stolzierte ein Mann in schwarzer Uniform und vorgerecktem Kinn einher. Die straffen Schultern und der aufrechte, selbstsichere Gang wiesen ihn als Führungspersönlichkeit aus.

Das Mädchen schluckte mit Unbehagen, als der Mann seinen stählernen Blick auf sie richtete und sie taxierte, wie ein Raubtier seine gestellte Beute. Sie konnte seinem bohrenden Blick nicht standhalten, sodass ihre blaugrünen Augen bei seinem linken Begleiter zuflucht suchten, dem Mann in weiß.

Hinter der Halbmondbrille dieses jüngeren Mannes funkelten ihr zwei aufgeweckte, blaugraue Augen entgegen, die mehr Wärme ausstrahlten, als die vorherigen. Dieser Mann, dessen dunkelblaues, schulterlanges Haar unter einer weißen, barettähnlichen Mütze verborgen war, war ihr auf Anhieb sympathisch. Der zweite Mann in schwarz deckte die rechte Flanke der Gruppe ab und war eine eigenartige Mischung aus den vorher genannten Personen.

Seine Miene verriet absolute Neutralität und sein Gebaren wirkte distanziert, als wäre er nur ein Schatten, ein Beobachter, kaum wirklich anwesend, psychisch vielleicht, aber kaum physisch.

Lavi drückte ihre linke Hand erneut, wollte sie ermutigen, ihr versichern, dass kein Grund zur Besorgnis bestand, doch der Körper des jungen Exorzisten sprach eine ganz andere Sprache.

Sein Kopf hatte sich etwas geduckt, mehr den Schultern angenähert, während der Oberkörper leicht nach vorne geneigt und die Beine parallel ausgerichtet waren, bereit um aufzuspringen und anzugreifen. Es war eine eindeutige, Abneigung ausdrückende, angespannte Haltung, die allein durch das Erscheinen der vordersten Person ausgelöst worden war.

Der kurze, zackige, militärisch anmutende Haarschnitt und die kalten, kleinen Augen unter den dünnen Augenbrauen dieser Person waren gleichfalls wie eine Kampfansage. Wer würde sich in diesem alten, natürlichen Duell der Urzeit behaupten können? Der junge, kraftstrotzende Verteidiger, oder das ältere, erfahrenere Alphatier? Die Atmosphäre war mit einem mal so angespannt, so geladen, dass man fast meinte die elektrischen Entladungen in der Luft hören zu können, wie knallende Gerten- oder Peitschenhiebe.

Endlich hatte die kleine Gruppe das Krankenbett erreicht, an dem Lavi wie ein abgerichteter Wachhund sorgsam Wache hielt. Dieser hatte im übertragenen Sinne bereits drohend die Zähne gefletscht und versucht den unwillkommenen Eindringling mit warnenden Blicken auf Distanz zu halten, doch es war vergebens. Mit absoluter Selbstsicherheit ignorierte der Anführer der kleinen Gruppe den selbsternannten Beschützer und wandte sich mit einem selbstzufriedenen Lächeln direkt an das eingeschüchterte Mädchen.

Willkommen im schwarzen Orden. Mein Name ist Malcolm C. Leverrier. Ich bin der Leiter der Leiter dieses Ordens und heiße dich auch im Namen meiner Untergebenen hier in der englischen Abteilung willkommen. Ich wurde über deinen gegenwärtigen Zustand bereits informiert, weswegen ich mich für dieses Zusammentreffen kurz fassen werde. Als kompatible Trägerin einer Innocence ist es deine gottgegebene Pflicht dem schwarzen Orden und somit der Gemeinschaft der Exorzisten beizutreten. Nur so kannst du dich dem Zugriff des Grafen und seiner dämonischen Diener entziehen. Wir setzen große Hoffnungen in dich, immerhin hast du einen Kampf überlebt, der unter gewöhnlichen Umständen den Tod bedeutet hätte. Sei Gott dankbar, dass er durch deine Innocence eine schützende Hand über dich gehalten hat…“, sprach der Leiter des Ordens sie an und machte mit seiner Wortwahl, wie auch der Autorität seiner Stimme klar, welche Erwartungen er in sie setzte und welche Forderungen er an sie stellte. Sie war sich sofort klar, dass ein „Nein“ nicht akzeptiert werden würde, nicht von diesem Besitz ergreifenden Mann.

Geschickt hatte er seine Worte formuliert, forderte sie über den göttlichen Auftrag, den man seiner Meinung nach mit einer Innocence erhielt, lockte sie mit dem Versprechen von Schutz, um erneut ihre gottgegebene Pflichtschuldigkeit zu unterstreichen. Sie wusste sofort, dass dieser Mann sein Handwerk, Zuckerbrot und Peitsche, mühelos beherrschte und sich so seine Untergebene gefügig machte und hielt. Jetzt konnte die Lavi’s abneigende Reaktion durch aus verstehen. Dieser Mann war eindeutig gefährlich.

Ein leises Räuspern durchbrach die einsetzende Still und wandte ihre Aufmerksamkeit hinüber zu dem jungen Mann in weiß.

Auch von meiner Seite her heiße ich dich herzlich hier willkommen. Mein Name ist Komui Lee und ich bin der Leiter der englischen Abteilung des schwarzen Ordens, quasi der Hausherr hier. Wir werden unser möglichstes tun, damit du dich hier rasch wie zu Hause fühlst, aber zuerst solltest du wieder zu Kräften kommen….Nun, meine Herren, die Arbeit ruft…“, stellte sich nun auch der zweite Mann im Bunde vor, wobei sich der erste Eindruck des Mädchens sofort bestätigte. Komui war aus einem ganz anderen Holz geschnitzt, mehr eine väterliche Figur, offenherzig, mitfühlend, liebend, ganz anders als sein kaltschnäuziger Vorgesetzter, der ob seiner letzten Worte nur eine Augenbraue leicht anhob. Die indirekte Aufforderung seines Untergebenen missfiel ihm anscheinend, doch er äußerte sich nicht weiter dazu.

Bis zum nächsten Mal. Dann werde ich mir ausführlich Zeit für dich nehmen“, verabschiedete sich Leverrier von dem namenlosen Mädchen, wobei seine Worte, wie ein unheilvolles Versprechen in ihren Ohren nachhallte und einen eigenartigen Nachgeschmack auf ihrer Zunge hinterließen. Das dritte Mitglied der kleinen Runde nickte ihr leicht zu, bevor er mit wippenden, blonden Pferdeschwanz hinter den beiden herschritt, wie ein treuherziger Hund.

Puh, wurde aber auch Zeit, dass sie verschwinden. Ich habe nichts gegen Komui. Er ist ein super Chef, auch wenn er manchmal etwas seltsam ist. Aber dieser Teufel von der Zentrale, Leverrier und sein Schatten, Howard Link, kann ich auf den Tod nicht ausstehen. So eine Show hier abzuziehen, war absolut nicht nötig gewesen, aber er muss ja sein zu groß geratenes Ego streicheln, dieser Tyrann…“, wetterte Lavi sogleich los, als die drei außer Sicht- und vor allem außer Hörweite waren. Lavi ereiferte sich noch ein wenig, bevor er all seiner Wut gegen „diesen Kerl“ Luft gemacht hatte.

Tut mir Leid, normalerweise geht mein Temperament nicht so mit mir durch, aber bei diesem Kerl brennt mir jedes mal aufs neue die Sicherung durch“, schnaufte der Rotschopf und fuhr sich aufgeregt ein paar Mal durch das rotbraune Haar. Sie lächelte schwach auf Lavi’s Worte hin, doch die Worte Leverrier’s ließen ihr keine Ruhe.

Was genau war eigentlich dieser schwarze Orden, in den sich hineingeraten war? Was zeichnete einen Exorzisten aus, zu dem sie werden sollte? Und was war eigentlich diese ominöse Substanz, die Innocence? Noch mehr Fragen, die sie beschäftigen würden.

Schritt für Schritt

Schritt für Schritt

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Vorbemerkung: Auch für dieses Kapitel gilt, wie im vorangegangenen, dass kursive Schrift bei Dialogen darauf hinweist, dass diese auf Französisch geführt werden^^

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Tag um Tag und Nacht um Nacht reihten sich mehr oder weniger friedlich an einander an. Alles ging seinen geregelten Tagesablauf nach, so wie bei einem Bühnenstück, dessen Text und Handlung schon lange aufgeschrieben war und nur noch abgespielt werden musste, Akt um Akt, Szene um Szene.

Für das namenlose Mädchen bedeutete dies einen rhythmischen, gleichförmigen Ablauf aus Schlafen, Wachen, Visite, Kontrolluntersuchungen, Essen und wieder Schlafen. Stets gleich, stets eintönig. So war sie jedes Mal begeistert, wenn sich nur eine Kleinigkeit änderte, selbst bei banalen Dingen, wenn zum Beispiel der behandelnde Arzt eine andere Krawatte unter seinem weißen Kittel trug, oder ein paar anderer Schuhe angezogen hatte. Am meisten jedoch erfreute sie sich der Momente, in denen Lavi sie besuchen kam, um sie aus ihrer lethargischen Starre zu reißen und ihr die Welt jenseits der schweren, hölzernen Flügeltüren näher zu bringen.

Manchmal kam er morgens, kaum, dass sie aufgewacht war, mittags, nachdem sie gegessen hatte, oder nahm sich auch ab und zu zu den frühen Abendstunden für sie Zeit. Doch so oft er sie auch besuchen kam, gab es auch Tage, so wie die jetzigen, an denen er verhindert war, immerhin war er nach wie vor Exorzist im aktiven Dienst und musste dementsprechend an Missionen teilnehmen. Der gut gelaunte Rotschopf hatte ihr erklärt gehabt, dass es das vorrangige Ziel des schwarzen Ordens war, möglichst alle 109 Bruchstücke der „Mutter“-Innocence und entsprechende, kompatible Träger dazu zu finden. Die zivilen Finder, die über die ganze Welt verstreut arbeiteten, halfen ihnen dabei, in dem sie die Innocencen aufspürten und lokalisierten.

Bis sie sich allerdings ihren Kollegen würde anschließen können, würde, wenn es nach ihrem Kopf und der Oberschwester ging, dies noch lange dauern und das nur wegen eines kleinen, fast unbedeutenden Schwächeanfalls, den sie vor ein paar Tagen erlitten hatte. Zu besagtem Zeitpunkt war sie der ärztlich verordneten Bettruhe zum Trotz aufgestanden, um sich ihre Beine zu vertreten, die ihr nach dem vielen Liegen wie abgestorben erschienen waren. Sie hatte sich eigentlich gut genug für dieses Vorhaben gefühlt gehabt, doch kaum hatte sie ihre Beine über die Bettkante geschwungen und ihren schmächtigen Körper in eine stehende Position gestemmt gehabt, war es auch schon passiert. Ihre Beine waren einfach unter der eigentlich unerheblichen Last ihres Körpers weggeknickt, während die Welt dramatisch zu Seite gekippt bzw. sie auf die rechte Seite gefallen war, wie eine Marionett, deren Fäden man durchgeschnitten hatte. Zum Glück hatte sie sich noch mit ihren Armen abfangen können, sodass ihr kurzweiliges Abenteuer nur mit ein paar blauen Flecken an den Unterarmen und einer belehrenden Zurechtweisung durch die Oberschwester geendet hatte.

Es war einfach zum Heulen, was so ein Schlag auf den Kopf alles auslösen konnte. Mit ihrer ausgeprägten Amnesie hatte sie sich bereits resigniert abgefunden gehabt, jedoch hegte sie etwaige Hoffnungen, dass sie wenigstens ein paar Erinnerungen würde rekonstruieren können. Komui, der junge Leiter der englischen Abteilung des schwarzen Ordens, hatte ihr bei einem überraschenden wie kurzweiligen Besuch mitgeteilt, dass er ein paar seiner Leute darauf angesetzt hatte, Informationen über sie herauszufinden. Er sah dieses unterfangen gewohnt optimistisch.

„All zu schwer kann so was ja nicht sein…“, hatte er mit einem aufmunternden Lächeln erklärt und sich die herab gerutschte Halbmondbrille wieder zurück an ihren üblichen Platz geschoben, bevor eine Hundertschaft seiner Mitarbeiter ihren Chef wieder zurück zu seiner Arbeit gezerrt hatten. Offensichtlich hatte er sich mal wieder vor dieser fort geschlichen gehabt.

So war sie wieder zum Warten verdammt. Ohne besondere Ablenkungen zog sich der Tag wie ein zähes Kaugummi dahin, doch sie war viel zu wach, ihr Kopf zu klar, als dass sie die unliebsamen Stunden der Langeweile einfach so verschlafen könnte. Irgendwann fing sie aus lauter Langeweile an, die Schritte zu zählen, die eine der Aufsicht führenden Krankenschwestern benötigte, um vom ersten Bett bis zum letzten zu gehen. Wenn sie doch wenigstens jemand gehabt hätte, mit dem sie sich auf Französisch hätte unterhalten könnte, doch die wenigen Personen, die dafür in Betracht gekommen wären, waren entweder verhindert, so wie Lavi und Komui, oder rangierten auf ihrer Beliebtheitsskala ganz weit unten, so wie Leverrier.

Bei dem Gedanken an den kaltschnäuzigen Leiter des schwarzen Ordens überkam sie ein grausiges Frösteln, das ihr vom Nacken den Rücken hinablief.

//Hoffentlich ist er sehr beschäftigt, zu beschäftigt, um mich aufzusuchen und den Plausch vom letzten Mal fortzuführen…// dachte sie beunruhigt und schlang sich die weiße, wärmende Bettdecke noch etwas mehr um sich. Erschrocken zuckte sie zusammen, als sie plötzlich das Rascheln von Stoff und das Knarzen von Leder vernahm. Es war fast so, als wären ihre Gedanken, ihre Befürchtungen von der phantastischen Welt ihres Kopfes hinüber in die greifbare Welt der Realität gewandert, doch zum Glück nur fast.

Zwar trug die Person, die soeben den Krankenflügel betreten hatte, eine ähnliche, schwarze Uniform, die mit roten Streifen abgesetzt war, jedoch war sie eine weitaus angenehmere Erscheinung. Ein erleichtertes Lächeln erhellte ihre angespannten Züge, als Lavi auf ihr Krankenbett zuhielt. Der stets gut gelaunte Rotschopf war zu einem festen Bestandteil ihres noch neuen, eingeschränkten Lebens geworden. Er teilte mit ihr seine Freundschaft, wie eine Selbstverständlichkeit, akzeptierte sie vorbehaltlos, so wie sie war, mit einer Offenheit und Freundlichkeit, die schon fast beschämend war. Schon des Öfteren hatte sie sich gefragt gehabt, womit sie dies alles verdient hatte, sie hatte nichts geleistet, nichts gegeben und war nichts.

Der junge Bookman mochte Mitleid mit ihr empfinden, mit ihr, die sich selbst und alles verloren hatte, doch sie glaubte nicht, dass Mitleid allein der Grund für sein Verhalten ihr gegenüber war. Es schien vielmehr seine grundlegende, offenherzige Art zu sein, die ihm diese Art von Toleranz und Akzeptanz anderen gegenüber, vor allem völlig Fremden, verlieh. Sie bewunderte diesen Charakterzug an ihm und war dankbar dafür, unendlich dankbar, denn durch ihn hatte sie einen Anknüpfungspunkt, einen Startpunkt für ihr neues Leben erhalten.

Ihr Kopf wandte sich in seine Richtung, während ihre Lippen ihm ein herzliches Lächeln schenkten.

„Willkommen zurück, Lavi. Wie ist es gelaufen? Seid ihr gerade erst zurückgekommen?“ erkundigte sie sich neugierig, während ihre blaugrünen Augen verfolgten, wie er sich einen Hocker vom unbelegten Nachbarbett heranzog, um sich darauf an ihr Bett zu setzen. Er trug von seiner Reise noch den typischen, schwarzen Reiseumhang, auf dem linksseitig in Brusthöhe ein silbernes rosenkreuz gestickt war, das Emblem des schwarzen Ordens.

„Haha, immer langsam mit den jungen Pferden. Lass mich doch erst mal ein bisschen verschnaufen…“, lachte Lavi leise und freute sich das Mädchen in guter Stimmung anzutreffen. Er hatte befürchtet gehabt, dass sie in seiner mehrtägigen Abwesenheit wieder in die lethargische Depression verfallen könnte, die er während ihrer ersten Tage hier an ihr beobachtet hatte. Jedoch machte sie zu seiner Freude einen gelasseneren Eindruck, da sie sich scheinbar mit ihrer neuen Umgebung und Situation gewöhnt hatte.

Lavi hatte sein möglichstes getan, um ihr die eintönige Zeit im Krankenflügel erträglicher zu machen, doch er konnte nicht immer bei ihr sein. Deshalb hatte er sich vorgenommen ihr die englische Sprache nähr zu bringen, sodass sie nicht aufgrund einer Sprachbarriere in Langeweile ertrinken musste.

„Nun, wir sind gerade erst aus Sydney zurückgekommen, wie du zweifelsohne schon bemerkt hast…“, gab Lavi zur Antwort und sein verschwitztes, mit rotem Staub bedecktes Gesicht, sowie der rötlich bestäubte Reisemantel unterstrichen seine Aussage eindeutig.

„Ich bin froh, wieder zurück zu sein. Hier ist es schön kühl, ganz anders als in Sydney, wo wir von der strahlenden Sonne gegrillt wurden. Wirklich, warum müssen wir auch ausgerechnet schwarze Uniformen tragen…?“ jammerte der Rotschopf theatralisch und fächelte sich mit der linken Hand frische Luft zu.

„Geh und zieh dir was Warmes an, bevor du dir hier noch eine Erkältung einfängst, so verschwitzt, wie du bist. Und so mal ganz unter uns, du könntest auch eine warme Dusche vertragen…“, meinte sie lächelnd und ließ demonstrativ ihren kritischen Blick an seiner staubbedeckten Erscheinung entlanggleiten. Auch die ehemals schwarzen Lederstiefel waren von dem rötlichen Staub bedeckt, noch mehr als der Rest. Lavi folgte ihrem Blick und musste ihr insgeheim zustimmen. Er war wirklich ein kleiner Dreckspatz.

„Mach dich vom Acker. Ich gebe dir eine Stunde Zeit, um dich frisch gestriegelt zu präsentieren, andernfalls gebe ich deinem alten Herrn Bescheid. Er wird dir sicherlich liebend gerne zur Hand gehen…“, zog sie ihn freundschaftlich auf. Der Rotschopf streckte ihr zur Antwort spitzbübisch grinsend die Zunge raus, bevor er sich artig von seinem Hocker erhob und mit einer galanten Verbeugung den Krankenflügel verließ, um sich nach einer knappen Stunde frisch gestriegelt wieder bei ihr zu melden. Die staubigen Klamotten hatte er gegen einfache Alltagskleidung eingetauscht, ein langärmliges, schwarzes Poloshirt, eine hellbraune Hose, sowie ein sauberes Paar halbhoher, schwarzer Stiefel. Das türkisfarbene Stirnband, das seine rotbraune Mähne normalerweise bändigte, hing ihm locker wie ein Halstuch um den Hals. So hatte sie ihn bisher noch gar nicht gesehen gehabt, weder in zivil, noch mit der Frisur.

Schon viel besser. Jetzt erkennt man dich wenigstens wieder…“, meinte sie, nachdem sie den ersten Moment der Überraschung überwunden hatte, wobei in ihren Worten zweierlei Bedeutung mitschwang. Zum einen wies sie damit auf sein reinlicheres, zum anderen auf sein ziviles Erscheinungsbild hin. Mit einem herzlichen Lächeln klopfte sie neben sich auf die Bettkante und forderte ihn damit auf es sich dort gemütlich zu machen. Der junge Exorzist ließ sich nicht lange bitten und hockte sich zu ihr auf die Bettkante. Sie selbst saß fast mittig im Schneidersitz6 auf ihrem Bett, den Kopf auf ihre Hände gestützt.

„Weißt du, schon ziemlich bald wirst du den Krankenflügel verlassen und dein eigenes Zimmer beziehen können. Hevlaska wird deine Innocence testen und anschließend wird entschieden, welchem Team du zugeteilt wirst. Bevor es jedoch so weit ist, wäre es sicher nicht schlecht, ein wenig deine englische Sprachkenntnis aufzupäppeln, nicht…?“ setzte Lavi an, wurde aber kurz darauf von ihr unterbrochen.

„Genau darüber wollte ich mit dir reden! Kannst du mich nicht unterrichten? Immerhin spricht du beide Sprachen fließend…“, fiel sie ihm aufgeregt ins Wort, ihre Worte überschlugen sich fast. Mit einem bittenden Blick und gekonntem Wimpernaufschlag unterstrich sie ihre Bitte. Lavi schluckte schwer und wandte den Blick von diesen hypnotisierenden Augen ab, fixierte stattdessen den gefliesten Marmorboden. Er räusperte sich leicht, um seiner Stimme den gewohnten, unbekümmerten Klang zurückzugeben und seine plötzlich einsetzende Nervosität zu überspielen.

„Haha, zwei Dumme, ein Gedanke. Ja, ich unterrichte dich gerne. Das wird ein Kinderspiel“, erklärte er sich bereit und lächelte sie zuversichtlich an. Somit war dieses Problem annähernd aus der Welt geschafft.

„Vorhin meintest du, Hevlaska müsste meine Innocence testen. Weshalb?“ fragte das namelose Mädchen, wobei sich ihr Lächeln in einen nachdenklichen Ausdruck gewandelt hatte. Offensichtlich sah sie diesem Unterfangen mit Sorge entgegen, doch das brauchte sie eigentlich nicht. Es war nur eine einfache Routinemaßnahme, um mehr über die jeweilige Innocence des kompatiblen Trägers herauszufinden.

„Du brauchst dir deswegen keine Sorgen zu machen, wirklich nicht. Der Test dient lediglich dazu den Typ deiner Innocence und die Synchronisationsrate mit dieser herauszufinden. Das geht ganz schnell…“, erklärte er, merkte aber an ihrem leicht fragend dreinblickenden Gesicht, dass noch Erklärungsbedarf bestand.

„Also, es gibt unterschiedliche Typen von Innocencen. Bisher sind drei Typen bekannt. Da wäre zum Beispiel der Equipe-Typ. Eine Innocence dieses Typs ist in ihrem Rohzustand sehr stark, zu stark, um von ihr Gebrauch zu machen, sodass ihr eine passende Form, meist die einer Waffe, gegeben wird. Mein Hammer ist zum Beispiel von diesem Typ…“, begann Lavi mit seiner Erklärung und zog seinen schwarzen, kleinen Hammer aus seinem Beingurt hervor, an dem er ihn immer bei sich trug. Der handlange, fingerdicke Stiel mündete in einem kricketähnlichen Kopfstück. Weiße Streifen wechselten sich dort mit schwarzen ab.

„Etwas unscheinbar, deine Innocence…“, meinte sie ein wenig enttäuscht über die harmlose Erscheinung und betrachtete skeptisch den kleinen Hammer in seiner Hand, der angeblich aus dieser dämonenbekämpfenden Substanz bestand, die von allen so hoch gerühmt wurde.

„Haha, beurteile niemals eine Innocence nur nach ihrem Aussehen. Sie stecken voller Potential und beachtlicher Möglichkeiten“, meinte Lavi schmunzelnd und murmelte ein Wort, das sie nicht ganz verstehen konnte, woraufhin sich der kleine Stiel scheinbar bis ins Unendliche ausdehnte und dabei einmal die ganze Länge des Krankensaales durchmaß. Natürlich war dieser Ausdehnung nahezu keine Grenze gesetzt, jedoch wollte er nicht schon wieder eine zertrümmerte Mauer von seinem Gehalt bezahlen müssen.

Langsam zog sich der Stiel wieder zurück, bis der Hammer wieder so war, wie sie ihn zu Beginn gesehne hatte, klein und unscheinbar.

„Beeindruckend, nicht wahr? Nun, dann gibt es noch den Kristall-Typ, er ist der neueste von den dreien und bisher weiß man nur wenig über ihn. Wie es scheint, ist er eine Weiterentwicklung des Equipe-Typs. Linalee ist bisher die einzigste, die solch eine Innocence besitzt…“.

Kurzfristig blitzten Erinnerungsbruchstücke durch den Kopf des jungen Bookmans. Leverrier, wie er Linalee aus dem Krankenflügel „entführte“, er selbst, wie er versuchte den Leiter des schwarzen Ordens zu stoppen, Hevlaska, wie sie versuchte Linalee wieder mit ihrer veränderten, regenerierten Innocence zu koppeln, der Angriff des Level vier Akumas, Linalee, wie sie mit ihrer neuen, stärkeren Innocence gegen den Akuma kämpfte.

Er schüttelte leicht den Kopf, um diesen plötzlichen Flashback an Erinnerungen zurückzuschieben.

„Ah, wo war ich? Genau, die Innocence-Typen. Als drittes im Bunde hätten wir da noch den Parasit-Typen. Er zeichnet sich dadurch aus, dass ein Teil des Körpers, vorzugsweise ein Arm, vollständig aus der Innocence besteht. Die Innocence verbindet sich quasi im Rohzustand mit dem Träger und formt so eine Antiakuma-Waffe aus. Allen zum Beispiel ist ein Präzendensfall für einen Parasit-Typ…“, setzte Lavi seine ausführliche Erklärung fort und streckte sich leicht, da er lange Zeit in ein und derselben Haltung gesessen hatte.

„Also wird meine Innocence höchst wahrscheinlich ein Equipe-Typ sein, schließlich habe ich keine körperlichen Auffälligkeiten an mir bemerkt, die auf einen Parasit-Typ schließen lässt“, fasste sie seine Erklärungen zusammen und erhielt ein zustimmendes Nicken von ihm.

„Es ist jedoch durchaus möglich, dass du auch einem völlig neuen Typ angehörst, der bisher noch nicht bekannt ist…“, schränkte er ihre Einschätzung leicht ein und zuckte mit den Schultern.

„Wir werden es erst wissen, wenn du bei Hevlaska gewesen bist…“, meinte er mit einem Schmunzeln und wuschelte durch ihre rostbraune Naturkrause, um sie auf anderen Gedanken zu bringen. Von dem vielen Nachdenken würde sie nur Falten bekommen. Es reichte, wenn man diese bekam je weiter der Zahn der Zeit an einem nagte.

„Nun, da ich schon mal hier bin, können wir ja auch gleich mit unserem kleinen Sprach-Crashkurs beginnen, nicht wahr?“ wechselte Lavi das Thema nun endgültig und überlegte, wie er am besten beginnen könnte.

„Grammatik ist erstmal zweitrangig. Die Leute werden dich schon verstehen, solange der Satzbau und die Vokabeln stimmen. Nun, beim Satzbau ändert sich eigentlich nichts. Das Subjekt steht immer noch an erster Stelle, es folgen Verb und Objekt. Nehmen wir folgendes Beispiel: ‚J'ai six antes’. Im englischen würde das heißen: ‚I am six years old’ “, begann Lavi und ließ sie den Satz wiederholen, wobei ihr französischer Akzent die englischen Worte jedoch so verzerrte, dass sie kaum noch als solche wieder zu erkennen waren.

„Sieht so aus, als müssten wir uns besonders auch noch um die Aussprache kümmern. Man versteht dich kaum mit deinem französischen Akzent, aber keine Bange, das kriegen wir schon in den Griff“, stellte er leicht lächelnd fest, wobei er sich sehr beherrschen musste, um bei ihrer recht eigenartigen, wie komischen Aussprache nicht laut loszulachen. Das hätte sie nur entmutigt und das wollte er auf keinen Fall. Mit einem leichten Räuspern ging er dann dazu über Vokabeln mit ihr zu üben, indem er ihr alltägliche Wörter erst auf französisch nannte und sie dann ins englische übersetzte.

So flogen die vorher mit Langeweile angefüllten Stunden rasch an ihr vorbei. Hungrig saugte ihr Hirn die neuen Informationen in sich auf und speicherte sie ab, schließlich war dank de ausgeprägten Amnesie der Speicherplatz hinreichend freigestellt worden. So hatte die Sache auch eine gute Seite an sich und wenn es etwas war, was sie von dem lebenswürdigen Rotschopf gelernt hatte, dann war es die Dinge möglichst positiv bzw. optimistisch zu betrachten. So ließen sich Probleme einfacher lösen, behauptete er zumindest und es musste wohl etwas daran sein, wenn er diese These so erfolgreich praktizierte.

Überraschung der etwas anderen (dritten) Art

Endlich war der Tag gekommen, jener Tag, auf den sie mit wachsender Erregung, wie auch Nervosität hingefiebert hatte, jener Tag, an dem sich ihre kleine Welt dramatisch erweitern und sie von ihrer quälenden Langeweile erlösen würde. Heute war ihr großer Tag, an dem sie offiziell dem schwarzen Orden und damit der kleinen Gemeinschaft von Exorzisten beitreten würde. Endlich hatte sie sich soweit erholt, dass sie die ärztliche Erlaubnis erhalten hatte, ihr kleines Reich, den Krankenflügel zu verlassen.

Das Beste an der Sache war, dass Komuis spezielle „Spürhunde“, die er auf ihre Identität angesetzt hatte, hatten bei ihrer mageren Ausbeute wenigstens ihren Namen herausgefunden. Somit würde sie nicht wie befürchtet als Namenlose in die Ränge der Exorzisten eingehen. Prüfend betrachtete sie ihr Spiegelbild in der kleinen, gemütlichen Stube des Schneiders. Schon früh hatte man ihr die nötigen Maße für ihre Exorzistenuniform abgenommen, sodass dieses unique Stück rechtzeitig für diesen Tag fertig gestellt werden konnte. Kritisch glitten ihre blaugrünen Augen über ihren „Zwilling“ und betrachtete das vollendete Werk des Schneidermeisters. Über einem schwarzen Pulli, von dem man nur den schwarzen Rollkragen sehen konnte, trug sie die schwarze, jackenähnliche Uniform, die ihr bis knapp über die Hüfte reichte. Auf der rechten Seite wurde sie mit roten, glänzenden Knöpfen zugeknöpft. Rote Streifen setzten sich elegant wie zackig von dem schwarzen Untergrund ab und zogen den Schnitt der Uniform nach. Militärisch thronten die Schulterklappen zu beiden Seiten auf den Schulterstücken, ebenso majestätisch, einem Orden nicht unähnlich, prangte das silberne Emblem des schwarzen Ordens, das Rosenkreuz, über ihrer linken Brust. Vervollständigt wurde ihr beeindruckendes Erscheinungsbild durch einen knielangen, rot-schwarz gestreiften Rock, schwarze Strumpfhose und halbhohe, schwarze Lederstiefel.

„Sitzt wie angegossen, nicht wahr, Sam?“ meinte Lavi, wobei es mehr eine Feststellung seinerseits als eine wirkliche Frage war. Der junge Exorzist hatte es sich natürlich nicht nehmen lassen, sie an ihrem denkwürdigen Tag zu begleiten. Zwar hatte sich ihr Englisch dank seiner Bemühungen erheblich verbessert, jedoch war er immer noch ihre unangefochtene Vertrauensperson, was ihm bei weitem nicht unangenehm war, ganz im Gegenteil.

Sam, die eigentlich Samantha Rieux hieß, war nach der anfänglichen Schüchternheit und Zurückhaltung zu einer wahren, gesellschaftlichen Bereicherung herangewachsen. Sie war sehr offen, mitteilsam und belebend, sofern sie erst einmal Vertrauen zu anderen gefasst hatte.

„Ist ein so kurzer Rock nicht etwas zu frisch für diese regnerischen Gefilde…?“ brachte sie ihren leichten Unmut über das knappe Kleidungsstück zum Ausdruck, sowie ihre Vorliebe für bequeme, vor allem lange Hosen. Der Schneider versicherte ihr rasch, dass natürlich auch Hosen zu der militärischen Kollektion gehörten, hatte sich jedoch gedacht, dass sie den Rock bevorzugen würde, immerhin betonte er bei dem zackigen Schnitt der Uniform ihre feminine Seite.

„Eigentlich nicht. Du hast ja noch die Strumpfhose und trägst meistens noch den dicken Reiseumhang. Da merkst du nicht viel von dem frischen, englischen Wind“, versuchte Lavi ihr zu versichern, denn er musste dem Schneider zustimmen, dass der Rock ihr gut stand und bei dem etwas windigen Wetter, das zur Zeit vorherrschte, war so ein kurzer Rock alle mal ein echter Hingucker. Der Rotschopf lächelte still in sich hinein und frönte heimlich seiner Frauen anbetenden Seite. Die schlanken Beine des Mädchens kamen durch den kurzen Rock und die schwarze Strumpfhose voll zur Geltung, während der Hauptteil der Uniform den Brustbereich leider benachteiligend abflachte. Alles in allem machte sie jedoch eine gute Figur, vielleicht etwas zu gut, wie Lavi befürchtete, immerhin gab es neben ihm im Orden noch eine Person, die einen erheblich ausgeprägteren und schlimmeren Ruf als Weiberheld hatte. Diese Person war niemand anderes als General Marian Cross, Allens gefürchteter Lehrmeister. Bei dem Gedanken an den möglichen Rivalen wurde dem jungen Exorzisten gar nicht wohl. Wenn er selber wirklich ernste Gefühle für das französische Mädchen hegen sollte, dann würde er sich beeilen müssen, sie zu erobern, bevor es jemand anderes tat, doch zuvor war diese entscheidende Frage noch zu klären. Empfand er für Samantha tiefer gehende Gefühle, die über ihre bisherige Freundschaft hinausgingen?

//…//

Er kam zu keinem befriedigendem Ergebnis, weder ein eindeutiges Ja, noch ein völlig klares Nein. Er war sich einfach nicht sicher, wie er die Gefühle zu ihr einordnen sollte. Als er das erste Mal von ihr gehört hatte, lange bevor er sie das erste Mal zu Gesicht bekommen hatte, war sie für ihn nur eine kompatible Trägerin gewesen, jemand völlig fremdes, den s zu bergen galt, wie einen raren Fund. Da war keine emotionale, höchstens eine rationale Bindung gewesen, doch kaum hatte er ihre Stimme vernommen, ihren schrillen Schmerzensschrei, der Ausdruck ihres Leidens war, hatte dies etwas in ihm geweckt, seinen Beschützerinstinkt.

Von einer völlig Fremden war sie rasch zu einer Gleichgesinnten geworden, jemand aus den eigenen Reihen. Je näher er ihr gekommen war, desto stärker war dieser Instinkt geworden, umso übermächtiger der Drang sie vor weiterem Unheil zu bewahren. Er hatte ihn mit nagender Sorge, wie hilfloser Ohnmacht erfüllt, als er neben ihrem niedergestreckten, reglosen Körper gekniet hatte, um sich davon zu überzeugen, dass sie noch lebte und sie nicht zu spät gekommen waren. Er erinnerte sich noch gestochen scharf an diesen Moment, wo er seine Hand ausgestreckt hatte, um an ihrer Halsschlagader nach ihrem Puls zu fühlen. Seine Hand hatte leicht gezittert, für einige Sekunden gezögert, bevor sie das warme und lebendige Fleisch berührt hatte und er erleichtert ihren Pulsschlag unter seinen Fingerspitzen gefühlt hatte.

Im ersten Moment hatte sein Innerstes jubiliert, erleichtert und erfreut sie lebend anzutreffen. Allerdings waren Nüchternheit und Sorge rasch wieder zurückgekehrt, sie war noch nicht in sicherer, ärztlicher Obhut, konnte immer noch in Lebensgefahr schweben. Auch wenn er in den folgenden Tagen die Sorge um das französische Mädchen in den Hintergrund seiner Gedanken zurückgedrängt hatte, so war sie stets präsent gewesen. Vor allem kurz vor dem Einschlafen hatte sein letzter Gedanke ihr und ihrem Wohlbefinden gegolten. Bald darauf hatte es die ärztliche Entwarnung gegeben. Sie war über den Berg gewesen, hatte das Schlimmste hinter sich gehabt.

Ab da hatten Freude und Erleichterung endlich ihren Einzug bei ihm halten können. Er hatte viel Zeit damit aufgewendet Kontakt zu ihr zu knüpfen, ihr das Leben in der eingeschränkten Welt des Krankenflügels mit seiner Gesellschaft zu versüßen. Als Belohnung erhielt er ihr Lächeln, wie auch ihr Vertrauen, beides wichtige Basiselemente für eine Freundschaft, doch war das wirklich alles, was sie beide verband? Der junge Bookman ließ einige weitere Erinnerungen an die vergangenen Tage in seinem Geist Revue passieren und beleuchtete sie unter dem Gesichtspunkt ihrer aufgebauten Freundschaft.

Manchmal hatte sie ihn mit einer kecken, frechen Antwort überrascht, ihm das Gefühl vermittelt, als würden sie sich schon länger kennen, als bloß ein paar Wochen. Dieses Gefühl der gedanklichen Nähe verwirrte ihn etwas und stimmte ihn nachdenklich, da er normalerweise nicht ganz so schnell solche eine enge Bindung zu anderen knüpfte. Die zwischen ihm und dem französischen Mädchen war ja fast wie über Nacht aus dem Boden gesprossen. War es wirklich gut, dass er sich so abhängig von ihr machte? Als angehender Bookman sollte er sich eigentlich als neutraler, außenstehender Beobachter betrachten, an statt so enge Banden zu seinen zeitweiligen Kollegen zu pflegen.

„Kommst du, Lavi? Ohne dich finde ich den Weg zu Komuis Büro nicht…“, riss ihn Samantha aus seinem grüblerischen Gedanken, sodass er ebendiese Gedanken und Fragen vorerst würde zurückstellen müssen. Es gab jetzt wichtigeres zu erledigen.

„Komme schon…“, meinte er mit seinem üblichen, fröhlichen Lächeln, das so gar nicht zu dem nachdenklichen Ausdruck, den er vorhin zu Schau getragen hatte, passen sollte. Samantha kam es ein wenig seltsam vor, es wirkte irgendwie deplaziert, wie eine Maske, hinter der er sich, seine wahren Gedanken und Gefühle verbarg. Ihm fiel ihr fragender, besorgter Gesichtsausdruck auf, als er zu ihr aufschloss, nachdem sie sich von dem Schneider-Meister verabschiedet hatten.

„Es ist nichts….Na ja, ich habe mir nut Gedanken gemacht, wegen Leverrier…“, meinte er ausweichend und nannte damit einen weiteren Grund, warum er beunruhigt gewirkt hatte. Sie nahm es ihm mit einem leichten Seufzer ab, kaufte ihm diesen vorgeschobenen, wenn auch realen Grund ohne Misstrauen ab. Er hatte sie nicht gerne anlügen wollen, sodass er bei einer Halbwahrheit geblieben war, eine lästige Angewohnheit, die er sich während seiner Ausbildung zum nächsten Bookman angeeignet hatte. Er machte sich wirklich Sorgen um Samantha und ihr offizielles Zusammentreffen mit dem tyrannischen Leiter des schwarzen Ordens.

„Das wird schon werden. Du bist ja dabei…“, meinte sie und versuchte seine Sorgen mit einem sachten Lächeln zu zerstreuen. Eigentlich war sie es, die solch eine Zerstreuung gut gebrauchen könnte, da sich ihre Nervosität mit jedem Schritt steigerte.

//Was, wenn ich den hohen Erwartungen, die sie in mich setzen, nicht gerecht werden kann, ich nicht zum Exorzisten tauge? Werde ich den schwarzen Orden verlassen müssen und für mich alleine leben müssen?// dachte sie sorgenvoll und der Gedanke ihr neues Heim und vor allem dem jungen Rotschopf verlassen zu müssen, versetzte ihr einen unangenehmen Stich im Herzen. Sie spürte, wie Lavi ihre rechte Hand ergriff und sachte drückte, ein Zeichen der Ermutigung, eine Versicherung, dass er zu ihr halten würde, egal was auf sie zukommen, sie erwarten würde.

Sie erwiederte mit nervös klopfendem Herzen seinen sanften Händedruck und blickte mit einem zaghaften Lächeln zu ihm auf, bevor sie die dicke Holztür fixierte, neben der ein kleines, vergoldetes Schild darauf hinwies, dass dies ihr vorläufiges Ziel war, Komuis offizielles Büro, das er nur für solche und ähnliche Anlässe benutzte. Nochmals ein sanfter Händedruck, der ihr Mut einflößen sollte, bevor Lavi ihre rechte Hand wieder freigab und nach kurzem Anklopfen für sie die Tür öffnete, sodass sie zuerst eintreten konnte, dicht gefolgt von ihrem Begleiter. Das kleine Büro des Supervisors war fast so behaglich, wie die kleine Stube des Schneiders. Am anderen Ende des Raumes stand ein einfacher, eleganter Tisch aus dunklem Kirschholz, hinter dem bereits Komui mit einem väterlichen Lächeln sitzend gewartet hatte. Der Boden war mit einem roten Fliesteppich ausgelegt worden, der ihre Schritte nun fast bis zur Lautlosigkeit dämpfte. Bücherregale füllten schwer beladen jede Wand aus, außer der schmalen, seitlichen Fensterfront, an der ein kleiner, mit braunem Leder bezogener Zweisitzer stand.

„So trifft man sich wieder.“

Anders als erwartet, hatte nicht Komui diese begrüßenden Worte an die beiden Besucher gerichtet, sondern eine Person, die gerade genüsslich an einer heißen Tasse englischen Tees nippte und es sich auf dem Zweisitzer bequem gemacht hatte, während zu seiner Linken sein verlässlicher Begleiter Posten bezogen hatte, der stille, junge Mann mit dem blonden, geflochtenen Pferdeschwanz. Samantha war annähernd in der Mitte des Raumes wie angewurzelt stehen geblieben, als sie des Mannes gewahr wurde, den sie am wenigsten innerhalb des Ordens leiden konnte und als letztes hatte sehen wollen, Malcolm C. Leverrier. Lavi wäre beinahe in das Mädchen hineingerannt, als sie so plötzlich und unvermittelt stehen geblieben war. Fast wie ein Leibwächter hatte er nun dicht hinter ihr Stellung bezogen und machte mit seinem unfreundlichen Blick klar, dass er eine intensive Abneigung gegen diese hohe Führungspersönlichkeit hegte.

Begütigend und unbeeindruckt lächelnd stellte Leverrier die leere Teetasse bei Seite und erhob sich.

„Nun, da wir ja alle versammelt sind, können wir endlich los. Hevlaska wartet bereits…“, sagte er immer noch lächelnd, doch es war nur eine aufgesetzte Mimik. Seine kleinen Augen brannten sich nach wie vor abschätzig und arrogant durch sie hindurch. Erst als er an ihr vorbei schritt, unterbrach er den intensiven, wie einschüchternden Blickkontakt. Dieser Mann liebte es mit seiner Macht, seiner Autorität und seiner erdrückenden Persönlichkeit andere einzuschüchtern. Er hielt Furcht, wie Ehrfurcht für die besten Mittel, um sich seine Leute gefügig und unter Kontrolle zu halten. Selbstsicher schritt er voran, an seiner Seite sein stille Begleiter, seine rechte Hand. Hinter ihnen gingen in gebührendem Sicherheitsabstand Samantha und Lavi, während Komui das Schlusslicht bildete. Es war eine schweigsame Prozession, die mehr an einen Trauerzug erinnerte. Fast alle trugen Schwarz, nur der japanische Supervisor stach mit seiner weißen Uniform wie eine himmlische Erscheinung aus der Gruppe hervor.

Die Stimmung war düster, während die kleine Gruppe durch spärlich beleuchtete Korridore in die Tiefen der klösterlichen Anlage hinab stieg. Niemand sprach ein Wort, nur die Geräusche ihrer Schritte hallten gespenstisch von den dicken Steinwänden wieder, bevor sie schließlich an ein großes Eisentor kamen, in das ein riesiges Rosenkreuz eingraviert war. Hinter diesem Tor lag Hevlaskas unterirdisches Reich. Sie war die Hüterin der Innocencen.

Das Tor schwang wie von Geisterhand bewegt nach innen auf und gab den Blick auf einen langen Stahlsteg mit Geländer frei. Der Raum, in den der Steg hineinragte, war gewaltig in seinen Dimensionen. Er umfasste mindestens vier, wenn nicht sogar fünf Stockwerke war so breit wie die nördliche Flanke der klösterlichen Anlage. Was Samantha jedoch neben diesen beeindruckenden, räumlichen Dimensionen am meisten überraschte, war das, was sie am Ende des Steges erwartete. Dort ragte eine gruselige, bleiche Erscheinung über den Steg hinaus.

//Was in aller Welt ist das?// dachte das französische Mädchen erschrocken und starrte von Angst gelähmt das seltsame, leicht durchscheinende und doch substanzielle Wesen an, das dort auf sie zu warten schien. Die Gestalt wirkte wie ein dämonischer Geist eines riesigen, schlangenähnlichen Geschöpfes, dem man sie zum Opfer darbrachte. Zwei starke Hände legten sich auf Samanthas Schultern und schoben das geschockte Mädchen mit sanfter Gewalt weiter bis zum Ende des Steges. Das einzige, was sie von dem seltsamen Wesen erkennen konnte, war der weibliche, menschlich anmutende Kopf, der in den langen schlangenähnlichen Körper überging, von dem sie einige, geschuppte Segmente erkennen konnte. Der Rest des Körpers lag tiefer verborgen und sie hegte nun weiß Gott keine Neugier mehr von ihm zu sehen.

„Wir bringen dir unser jüngstes Mitglied, Hevlaska…“, begann Komui, doch kaum hatte er den Mund aufgemacht, hatte die Hüterin der Innocencen bereits ihre vielen, tentakelähnlichen Arme um das entsetzte Mädchen gewunden und sie vom Steg gehoben.

//Ich werde bei lebendigem Leib gefressen…!// dachte sie panisch und versuchte sich dem festen Griff dieser unheimlichen Erscheinung zu entwinden, doch es gab kein Entkommen, dieses Etwas hatte sie fest im und zog sie immer näher zu sich. Nur noch ein kleines Stück, dann würde sie im grässlichen Schlund dieser Monstrosität verschwinden.

„Lavi…!“ schrie Samantha verzweifelt, wie panisch. Wie konnte er sie nur solch einer schrecklichen Gefahr aussetzen? Warum hatte er sich so um sie bemüht, wenn er in Wirklichkeit keinen Pfifferling um ihr Leben gab? War das alles nur gespielt gewesen, um sich an ihren letzten, panischen Sekunden ihres Lebens zu ergötzen? Hatte sie ihn so falsch eingeschätzt? Tränen der Verzweiflung, der Todesangst und des Alleingelassenseins strömten heiß ihre Wangen hinab.

„Shhhht, habe keine Angst. Ich tue dir nichts…“, sprach das befremdliche Wesen mit ruhiger, weiblicher Stimme beruhigend auf das verängstigte Mädchen ein. Es war doch immer das Selbe. Wieso konnte Komui die Exorzistenanwärter nicht darüber aufklären, was sie in diesen Hallen erwarten würde? Es tat ihr weh die verängstigten Anwärter an sich zu nehmen, glaubten diese doch, dass sie ihnen weiß Gott was antun würde. Die Hüterin seufzte in Gedanken. Sie würde ein ernstes Wort mit Komui sprechen müssen, so konnte das einfach nicht weitergehen. Bei Allen Walker und Arystar Krory war es damals nicht viel anders gelaufen, alles nur ein großes Missverständnis.

Behutsam zog sie das immer noch verschreckte Mädchen näher zu sich heran, bis sie sich an der Stirn berührten. Ein eigenartiges Gefühl durchströmte Samantha, als sie dem seltsamen Wesen so nahe war. Erstaunlicherweise verflog ihre Angst augenblicklich und innere Ruhe kehrte bei ihr ein, so als wüsste sie mit Bestimmtheit, dass von Hevlaska keine Bedrohung ausging. Nach wenigen Augenblicken wurde sie wieder auf den Steg herabgelassen, wo sie sich an das Geländer klammerte, da ihre Beine von dem schockenden Erlebnisse noch leicht zitterten und sie sich nicht sicher war, ob sie sich aus eigener Kraft auf diesen würde halten können. Lavi war sofort wieder an ihrer Seite und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, erhielt von ihr aber nur einen gekränkten, anklagenden Blick. Sie war eindeutig sauer auf ihn.

„Und wie sieht es aus, Hevlaska?“ erkundigte sich Leverrier mit selbstzufriedenem und heimlich amüsiertem Ausdruck.

„Solch eine Innocence, wie die ihrige habe ich zuvor noch nie gesehen. Ein völlig neuer Typ, ganz anders als die bisher bekannten. Die Innocence befindet sich nicht wie üblich ihrem Körper, noch hat sie eine feste Form angenommen, viel mehr umgibt sie sie wie eine Art Aura, eine zweite Haut“, erklärte Hevlaska, was sie über die Innocence des französischen Mädchens hatte herausfinden können.

„Was ist mit der Synchronisationsrate?“ hakte Komui aufgeregt nach. Die Entdeckung eines neuen Innocence-Typen stimmte ihn als Wissenschaftler besonders euphorisch.

„Dazu kann ich leider nichts sagen. Da sich ihre Innocence in so einer Art von dematrialisiertem Zustand befindet, habe ich keinen genauen Zugriff auf sie…“, gab die Hüterin fast entschuldigend zu Antwort und zog sich dann zurück. Sie hatte ihren Teil getan, was nun aus dem Mädchen werden würde, war Sache der Führung.

„Ist das nicht ein wundervoller Anfang?“ fragt Komui und schaute erwartungsvoll zu der jungen Exorzistin, die alles andere als beigeistert zu sein schien, dafür saß der Schock ihr noch zu tief in den Knochen.

„Nun, da diese Formalitäten geklärt sind, müssen wir nur noch die Teameinteilung vornehmen. Da die Einheit um General Cross bereits sehr groß ist und General Cloud Nine, sowie General Zokalo Winter keine Schüler mehr haben, noch welche annehmen wollen, bleibt nur noch die Einheit um General Froi Tiedoll…“, spann der Supervisor elanvoll das Gespräch weiter und ignorierte dabei mögliche Anmerkungen durch seinen Vorgesetzten. Der würde ihm in dieser Sache nicht dazwischenreden. Die Dinge lagen eben so, wie er selbst gesagt hatte. Nur allein das Team rund um den künstlerisch begabten General kam in Frage, um die frisch gebackene Exorzistin aufzunehmen. Gut gelaunt bildete er wieder das Schlusslicht der kleinen Gruppe, als diese wieder gen Oberfläche und Tageslicht strebte. Nun galt es die freudige Nachricht auch den anderen Teammitgliedern mitzuteilen.

Leverrier verließ die Gruppe zur Erleichterung aller relativ rasch, immerhin war er als Führungsperson ein viel beschäftigter Mann. Auch der Supervisor machte sich vom Acker, gab Lavi aber vorher noch die Anweisung Samantha herumzuführen, wobei er dem Rotschopf ein verräterisches Zwinkern zuwarf, bevor er dann summend durch einen der vielen Korridore verschwand. Jetzt waren sie nur noch zu dritt.

„ich hatte bisher noch nicht die Gelegenheit mich gebührend vorzustellen. Mein Name ist Howard Link. Ich bin Leverriers Assistent“, stellte sich ihr stiller Begleiter unvermittelt vor. Seine Stimme klang neutral, distanziert, ganz so wie seine Persönlichkeit. Samantha nickte nur düster. Sie war immer noch sauer und verschmähte Lavis Hand, die er nach ihr ausgestreckt hielt, um ihr gentlemanmäßig stützend unter die Arme zu greifen, da sie immer noch etwas wacklig auf den Beinen unterwegs war. Mit Nichtbeachtung strafte sie ihn, IHN, der sie so gemein ins sprichwörtlich offene Messer hatte laufen lassen. Mit keinem Wort hatte er erwähnt, was sie dort unten in der Halle der Hüterin erwarten würde. Eigentlich war sie nicht besonders nachtragend, doch dieser „Verrat“ ging tief, hatte das Vertrauen zu ihrem „Anker“, ihrem persönlichen Halt tief erschüttert. Am liebsten hätte sie ihn geohrfeigt, oder zumindest verbal ihren Zorn an ihm ausgelassen, doch dazu fühlte sie sich zurzeit nicht in der Lage.

Sie war froh, wenigstens einigermaßen sicher auf ihren Beinen dahin staksen zu könne, fragte sich allerdings wohin er sie dieses Mal führen würde.

//Schlimmer kann es eigentlich ja nicht mehr werden…// dachte sie immer noch in Rage und belegte ihren treulosen Kameraden in Gedanken mit allen nur erdenklichen Flüchen. Das würde sie ihm noch heimzahlen!

Die Willkommens-Party

Unangenehmes, anklagendes Schweigen, kaum ein Laut, der diese Grabesstille zu durchbrechen wagte.. Da waren nur das gespenstische Rascheln von Stoff und das dumpfe Auftreten dreier Stiefelpaare, als die schweigsame Dreiergruppe bestehend aus Link, Lavi und Samantha ohne große Eile sich ihren Weg durch das Gewirr aus Treppenaufgängen, katakombischen Bogengängen und irreführenden Korridoren bahnte.

Samantha hatte schon gleich zu Beginn ihrer außergewöhnlichen, wie erschreckenden Reise die Orientierung innerhalb dieses gewaltigen Gebäudekomplexes verloren. Wie konnte es auch anders sein, schließlich war ihr diese Welt jenseits des Krankenflügels völlig unbekannt und erschloss sich ihr nun selbst beim Umherwandern nicht. Eigentlich hätte sie beim Anblick jedes neuen Zentimeters, der ihre kleine Welt erweiterte, jauchzen und frohlocken müssen, doch sie fühlte sich im Moment nicht gerade in Feierlaune und das hatte einen bitteren Grund.

Lavi, der still und sichtlich geknickt an ihrer rechten Seite neben ihr herging, war die unliebsame Ursache ihrer derzeitigen, miserablen Stimmung. Mehrmals auf ihrem angespannten Rückweg hatte er versucht ein versöhnliches, entschuldigendes Wort an sie zu richten, doch wann immer er versucht hatte den Mund aufzumachen, war er durch einen finsteren, eiskalten Blick ihrerseits zum Schweigen gebracht worden. Ihre sonst grünen, lebendigen Augen, die voller Wärme strahlten, waren zu kalten Smaragden erstarrt, strahlten nun eine feindselige Kälte aus, die ihm jedes Mal eine kalte Schauer über den Rücken laufen ließ, wann immer sich dieser Blick auf ihn richtete.

Normalerweise konnte ihn nicht so leicht aus der Bahn werfen, noch war es so einfach ihm den Mund zu verbieten, doch der eiskalte Blick, den sie ihm dann zuwarf. Ließ all seine Versuche trostlos im Keim ersticken. Nun er konnte irgendwo verstehen, dass sie verletzt, gekränkt war, doch er hatte es nicht mit Absicht getan. Nie würde ihm so was auch nur im Traum einfallen! Niemals! Er hatte schlichtweg vergessen, welch erschreckende Erscheinung Hevlaska für jene sein konnte, die sie noch nicht kannten. Für ihn gehörte die Hüterin der Innocencen genauso selbstverständlich zu ihrer kleinen Gemeinschaft von Exorzisten, wie Allen oder Linalee.

Er seufzte leise und deprimiert, ein ziemlich untypischer Gemütszustand für den sonst so fröhlichen, lebenslustigen Rotschopf. Er hatte sie wirklicht nicht so verletzen, so enttäuschen wollen! Er erschauderte leicht, als ihm sein erstaunliches, detailgetreues Gedächtnis ihren verzweifelten, panischen Hilfeschrei wieder in Erinnerung rief. Sie hatte SEINEN Namen geschrieen, IHN um Hilfe angefleht, doch er hatte in ihren Augen NICHTS getan, sie einfach sich selbst überlassen, sie alleine und im Stich gelassen. Das hatte natürlich ihr noch frisches, kaum gefestigtes Vertrauen in ihm schwer schüttert, auch wenn das im Nachhinein betrachtet gar nicht so gewesen war.

Sie hatte zu KEINEM Zeitpunkt ernsthaft in Gefahr geschwebt. Als wenn ER sie einfach so irgendeiner lebensbedrohlichen Gefahr aussetzen würde. NIEMALS! Sie hatte bereits genug durchmachen müssen, als dass er ihr auch nur ansatzweise etwas zumuten würde, das ihre noch nicht wieder völlig wiederhergestellten Kräfte übersteigen würde. Hatte sie in ihrer gemeinsamen Zeit nicht gelernt, ihn einzuschätzen? Er war nun wirklich nicht der Typ, der seine Freunde auf dem Trockenen sitzen ließ. Nein, ganz im Gegenteil, er würde für sie durchs Feuer gehen und sogar sein eigenes Leben riskieren, um sie zu retten. Die Freundschaften, die er zu den anderen pflegte, waren keine Heucheleien, kein Lügengerüst, noch war es ein schnöder Zeitvertreib gegen nagende Lageweile. Er nahm diese freundschaftlichen Banden sehr ernst. Umso mehr schmerzte es ihn, dass Samantha ihm diese Freundschaft, die er über diese gemeinsame, fürsorgliche Zeit aufgebaut hatte, auf solch eine Art und Weise ihm entzog. Das nagte doch schon an ihm, vor allem, da dieses ganze, schreckliche Missverständnis, denn mehr war es eigentlich nicht, größtenteils wirklich sein eigenes Verschulden gewesen war.

Wie hatte er so etwas Wichtiges einfach übersehen können? Ihm entging doch sonst nichts, wieso ausgerechnet dieses Mal, in solch einer Situation? Konnte es etwa sein, dass sie sein klares, rationales Denken ein wenig beeinträchtigte? Sie hatte es schon einmal geschafft seinen kühlen Kopf überhitzt aus dem Ruder laufen zu lassen. War das dort unten in den Hallen der Hüterin wieder geschehen? Hatte seine nur zu menschliche bzw. männliche Schwäche für das schöne Geschlecht sich so bitter an ihm gerächt? Es machte fast den Anschein, als wäre dem so gewesen.

Wieder seufzte er deprimiert. Eigentlich hasste er es zu warten, Dinge vor sich her- und aufzuschieben, doch in diesem präkeren Fall würde er sich wohl in Geduld üben müssen, bis der erste Ärger verraucht war. Dann war es vielleicht möglich, das auf ihn zielende Kriegsbeil zu begraben, das hoffte und darum betete er. Lavi hatte das französische Mädchen wirklich sehr ins Herz geschlossen und seine Freundschaft zu ihr, stand den anderen in nichts nach. Er wollte sie nicht wegen seines so banalen Missverständnisses verlieren.

„Nach der ganzen Aufregung bist du bestimmt hungrig, zumal du heute Morgen auch dein Frühstück versäumt hast…Die große Tür dort hinten am Gang markiert den Eingang zur Kantine. Im Zweifelsfall immer nur der Nase nach…Die Köche verwöhnen uns mit einem Gaumenschmaus nach dem anderen und bieten dabei eine reichhaltige, internationale Küche an, immerhin arbeiten hier in der englischen Abteilung rund vierzig Prozent Leute aus aller Herren Länder…Man kann aus mehreren Tagesmenüs wählen, oder persönliche Wünsche äußern, das ist gar kein Problem…“, setzte sich Lavi schließlich mit aufgesetzter, unbekümmerter Stimme durch und schaffte es sogar sein typisches Lächeln auf seine Lippen zu zwingen, obwohl im gerade nun wirklich nicht zum Lachen zu Mute war, doch er musste gute Miene zum „bösen“ Spiel machen.

Hinter der untypischerweise geschlossenen, großen Doppeltür verbarg sich eine weitere Überraschung, doch in diesem Fall war sie von wesentlich angenehmerer Natur. Lavi war immer wieder erstaunt, wie schnell die Sterneköche solche eine Willkommens-Party aus dem Boden stampfen konnten. Im Nu war nicht nur das Essen aufgestellt, sondern auch die Dekoration entsprechend platziert.

„Hat die Kantine überhaupt offen, immerhin ist es noch etwas früh fürs Mittagessen…“, meinte Samantha unterkühlt und betrachtete skeptisch die große Doppeltür, auf die sie zuhielten. Sie war misstrauisch, dass konnte er ohne Schwierigkeiten aus ihrer angespannten, eiskalten Stimme heraushören, doch er wertete es als gutes Zeichen, immerhin sprach sie wieder mit ihm. Licht am Endes des stockfinsteren Tunnels.

Seine abgestürzte Laune hob sich ein wenig, während er ihr versicherte, dass die Kantine annährend rund um die Uhr geöffnet hatte. Unschlüssig verharrte sie vor der geschlossenen Tür, starrte anschätzend auf die zisilisierten Metallgriffe und warf ihm dann einen giftigen Blick aus ihren eiskalten Smaragden zu, doch auch ein fragendes Funkeln lag darin. Er war also doch noch nicht ganz bei ihr unten durch. Das gab ihm Hoffnung und Zuversicht, dass er schon bald dieses unglückliche Missverständnis aus der Welt schaffen könnte. Er nickte aufmunternd lächelnd und ermutige sie voranzugehen, die Metallgriffe zu ergreifen und die Tür aufzustoßen.

Kaum, dass sie über die Schwelle getreten war, erstarrte sie auch schon wieder, doch es war kein angsteinflößender Anblick, die sie dieses Mal so überraschte, nein, ganz im Gegenteil.

„Herzlich Willkommen!!!“ schallte es ihr aus dutzenden, wenn nicht gar hunderten von Kehlen und flatterte auf mindestens drei großen, weißen Bannern entgegen, während bunte Luftschlangen und Konfetti auf sie herabregneten. Das arme Mädchen war völlig überfordert mit der Situation. Sie hatte wohl einiges erwartet, doch dieses Szenario hatte anscheinend nicht zu ihrem Reportoir gehört.

„Herzlich Willkommen…“, hauchte ihr von der rechten Seite eine wohl bekannte Stimme ins Ohr und löste sie aus ihrer Starre, bevor sie in der Masse der Gratulanten unterging. Der Erste in der Gratulantenschar war ein junger Exorzist mit weißem Haar, das er locker, aber elegant zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden trug. Eine auffällige, blutrote Narbe zog sich von einem Pentagramm über seiner linken Augenbraue hinab über seine Wange bis zum Kinn. Er lächelte freundlich und stellte sich als Allen Walker vor, doch sie bemerkte, dass das freundlich gemeinte Lächeln nicht die traurigen, melancholischen, himmelblauen Augen erreichte. Bevor sie sich jedoch mehr Gedanken darüber machen konnte, war schon der nächste Gratulant heran, ein aufgewecktes Mädchen mit asiatischen Gesichtszügen, sowie schulterlangem, schwarzgrünem Haar. Ihr Name war Linalee Lee.

//Das ist also Komuis Schwester, von der Lavi mir erzählt hat…sieht ihm gar nicht so ähnlich….// bevor sie such schon vom nächsten Gratulanten okkupiert wurde.

Wie viele Hände die am Ende geschüttelt und wie viele Personen sie kennen gelernt hatte, konnte sie nachher gar nicht mehr sagen. Ihr schwirrte der Kopf von den vielen Namen und Gesichtern, sodass sie ganz froh war, als sich der Trubel endlich verzog und der gemütliche Teil anstand. Lavi hatte nicht übertrieben, als er die heimische Küche so überschwänglich gelobt hatte. Das Essen war himmlisch! Wie selbstverständlich hatte Lavi ihr einen Platz an den lang gezogenen Holztischen freigehalten, bester Laune und mit einem strahlenden Lächeln, als hätte der Vorfall tief unten in den Katakomben der klösterlichen Anlage nie existiert. Eigentlich war sie immer noch sauer auf ihn, doch die allgemeine fröhliche Stimmung hatte auch sie erwischt, vorerst zumindest.

„Welcher Einheit gehörst du an?“, fragte Samantha neugierig. Die Frage war an Linalee gewandt, die rechts neben ihr mit einer Schüssel dampfender Miso-Suppe Platz genommen hatte.

„Ich gehöre zu General Cross’s Team, genauso wie Allen, Lavi, Miranda und Arystar…“, antwortete sie mit einem ironischen Lächeln, auf das Samantha verständlicherweise mit einer fragend hochgezogenen Augenbraue reagierte.

„Es ist besser einen gehörigen Sicherheitsabstand zu ihm zu bewahren. Er ist ein berüchtigter Frauenheld und Schürzenjäger…“, beantwortete Allen mit einem eigenartigen Gesichtsausdruck ihre unausgesprochene Frage, heulte dann aber auf, als zwei große, behandschuhte Fäuste sich an seine Schläfen legten und ihn in die Mangel nahmen.

„Hast du mich etwa damit gemeint, dämlicher Schüler?“

Die tiefe, samtweiche Stimme der Person, von der Allen gerade so übel malträtiert wurde, hatte diese Worte mit zuckersüßem Sadismus hervorgebracht. Der Mann, General Marian Cross wie es den Anschein hatte, war annähernd 1.90m groß, wobei seine schwarze Exorzisten-Kluft ihn nur noch größer erscheinen ließ. Unter dem ausladenden, schwarzen Schlapphut ragten bordauxrote, schulterlange Haare hervor, die leicht im Licht der Lampen schimmerten, offenbar ein Schöngeist. Diese Einschätzung bestätigte sich gleich darauf.

„Solch ein dreckiger Nichtsnutz wie du hat nichts an einem Tisch hübscher Damen verloren…“, knurrte der General und ließ die Hände rasch hinabwandern, wo sie sich an den Schultern in den Stoff der schwarzen Uniform vergruben.

Anscheinend wollte er seinen bedauernswerten Schüler über seine Schulter wuchten und bis zum anderen Ende der Kantine werfen, um sich dann auf den „zufällig“ freigewordenen Platz zu setzen.

„Ich habe lieber einen dummen Nichtsnutz am Tisch sitze, als einen grobschlächtigen Kerl ohne Manieren…“, wandte sich Samantha mit deutlicher Missbilligung an Allens Lehrmeister, der von seinem Schüler abließ und galant um den Tisch herum schritt. Lavi hatte sich schon halb erhoben, die Hand am Beingurt, wo sein Innocence-Hammer befestig war und war bereit den aufdringlichen Freier abzublocken. Dieser manövrierte den jungen Rotschopf jedoch geschickt aus und ergriff, ganz der Gentleman, Samanthas linke Hand, auf der er sanft einen Handkuss platzierte, zum allgemeinen Entsetzen der näheren Anwesenden.

„Ich bitte vielmals um Verzeihung, doch so eine blendende Schönheit sollte sich nicht mit solchem Abschaum umgeben…“, hauchte er mit leicht rauer Stimme und bannte sie mit seinem sichtbaren, grauen Auge, das andere lag hinter einer weißen Maske mit eingraviertem Kreuz verborgen.

Dieser hypnotische Blick wurde aber kurz darauf von Lavi unterbrochen, der einem eifersüchtigen Freund gleich seine „heimliche“ Liebe vor dem unwillkommen Freier abschirmte und dabei bereits Unheil verkündend seine Innocence aktiviert hatte. Mit einem charmanten Lächeln, das einfach durch Lavi hindurchstrahlte, als bestünde er nur aus Luft, verabschiedet sich der General und tauchte wieder in der Masse der Feiernden unter, aus der er so plötzlich erschienen war. Noch etwas von dem plötzlichen Ereignis übermannt, starrte sie relativ geistlos in die Menge, aus der der seltsame, wie berüchtigte General so plötzlich aufgetaucht und ebenso plötzlich wieder hin verschwunden war, um ein anderes, willigeres Frauenherz zu erobern.

Eine Bewegung neben sich ließ das französische Mädchen leicht zusammenzucken. Lavi hatte seinen vergrößerten Hammer wieder schrumpfen lassen, steckte ihn zurück an seinen Beingurt und nahm mit einem Seufzen wieder Platz.

„Argh…, dieser vermaledeite Aufreißer…“, grollte Lavi und fuhr sich aufgeregt durch das rotbraune Haar. Dieser unerwartete Auftritt des vermeintlichen Rivalen ließ ihn innerlich vor Wut kochen, zumal er zurzeit mehr denn je um Samanthas Gunst bangen musste, jetzt wo ihr Verhältnis zueinander derartig getrübt war. Er seufzte wieder leise und schloss mit vor der Brust verschränkten Armen die Augen. Wenn er die äußere Welt ausblendete, konnte er sich in aller Ruhe seinen sprudelnden Gedankengängen widmen. Er war eifersüchtig gewesen. Kaum, dass Cross sich Samantha genährt hatte, war er von seinem Stuhl aufgesprungen, um den Übeltäter aufzuhalten. Was das etwa kein Indiz dafür, dass sein Herz für sie schlug?

//Es war mehr als gesunder Menschenverstand, oder reiner Beschützerinstinkt…// stelle er nüchtern fest und erinnert sich an das flatternde, flaue Gefühl in seiner Magengegend zurück und dem unheimlichen, unkontrollierbarem Zwang sie gegenüber dem unliebsamen Freier zu verteidigen. Er erhob also eindeutig Ansprüche auf sie, wie es schien, doch war das bis jetzt leiser eine sehr einseitige Beziehung. Wieder wurde ihm aufs schmerzlichste bewusst, wie sehr er sie enttäuscht hatte.

Er konnte nicht länger warten! Er musste dieses lächerliche Missverständnis endlich aus der Welt schaffen. HIER, JETZT und SOFORT! Wenn alles wieder im Lot war, konnte er unbesorgt die verwirrenden, unbewussten Gefühle zu ihr aufklären. Voller Elan öffnete er wieder die Augen und wandte sich zu ihr um, doch ihr Platz war leer, der Stuhl, auf dem sie bis vor kurzem noch gesessen hatte, verwaist. Verwirrt blinzelte er in die Leere, bevor er sich abrupt erhob und den Kopf hastig hin- und herwendete, während er versuchte ihr feuriges, kupferfarbenes Haar in der Menge der Feiernden zu erspähen, doch von nirgends woher strahlte ihm ihre leuchtende Mähne entgegen.

Wohin mochte sie nur so plötzlich verschwunden sein? Das flaue Gefühl von vorhin kehrte wieder in seine Magengegend zurück und er merkte wie ihm heiß und kalt zugleich wurde.

„Linalee, weißt du, wohin Samantha gegangen ist…?“ fragte Lavi das japanische Mädchen, wobei rastlose Ungeduld in seiner angespannten Stimme mitschwang.

„Sie wollte wissen, wer alles zu General Tiedolls Einheit gehört und ist dann zu ihm gegangen, als wir ihn in der Menge erspäht haben…“, gab die Japanerin etwas überrascht blinzelnd Auskunft. Sie wunderte sich, warum der rothaarige Exorzist so angespannt auf die Abwesenheit der jüngeren Kollegin reagierte.

//Wohlmöglich ist er einfach nur besorgt, dass sie General Cross nochmals in die Arme laufen könnte…// überlegte sie und sah sich ich ihrer Vermutung auf Grund der jüngsten Ereignisse bestätigt. Sie wusste nichts von den tiefer greifenden Gefühlen, die der junge Exorzist für seine französische Kollegin insgeheim hegte.

Sofort ließ Lavi alles stehen und liegen und verschwand, wie Samantha zuvor, in der Masse der Feiernden. Es war kaum zu glauben, wie viele Leute für diese Willkommens-Party zusammengekommen waren. Es musste fast die komplette Belegschaft sein, durch die er sich nun versuchte mühsam einen Weg mehr oder minder freundlich zu bahnen, doch die Leute standen einfach zu dicht gedrängt, als dass er wirklich vorankam noch entsprechende Sicht für seine Suche hatte. Er sah schnell ein, dass er sie so niemals würde finden können. Wieder musste seine Innocence herhalten.

„Großer Hammer, kleiner Hammer….streck dich!“ befahl Lavi und ergriff geübt den sich verlängernden Stiel seines Innocecnce-Hammers, der ihn über die Köpfe der großen Menschenansammlung beförderte. Von dort oben hatte er einen bedeutend besseren Über- und Ausblick. Schon nach kurzem hatte er sie etwas abseits der Menge entdeckt. Sie unterhielt sich mit einem etwas älteren Mann Anfang Vierzig. Sein ehemals mittelbraunes, krauses Haar begann bereits zu ergrauen, doch seine blaugrauen Augen strahlten immer noch mit jugendlicher Intensität, auch wenn er schon eine Brille wegen einer angeborenen Sehschwäche trug. Der schwarze Exorzisten-Mantel, der mit goldenen Streifen und Knöpfen abgesetzt war, wies ihn ohne Zweifel als einen der vier noch lebenden Generäle aus.

„Es freut mich sehr, Sie kennen zu lernen. Bitte geben Sie gut auf mich Acht…“, fuhr Samantha fort, nachdem sie sich ihrem zukünftigen Lehrmeister gebühren vorgestellt hatte.

„Die Freude ist ganz meinerseits. Ich bin sicher, dass di Jungs sich gut um dich kümmern werden…“, versicherte ihr Tiedoll mit einem gutherzigen Lächeln und schaute sich suchend nach den beiden Angesprochenen um. Wie gerufen lösten sich zwei Gestalten aus der Menschenmenge und kamen auf sie zu. Der Erste war von recht großer, muskulöser Statur. Er hatte breite Schultern, die noch etwas ausladender wirkten, da sein kahler Kopf auf einem recht kurzen Hals auf diesen ruhte. Seine starren Augen ließen ihn bei dieser bulligen Erscheinung noch abweisender, gar grimmig erscheinen, doch dieser Eindruck änderte sich, als er das Wort an Samantha richtete.

„Willkommen im Team. Ich habe gerade erst die freudige Nachricht gehört, dass du von nun an Teil unserer Einheit sein wirst. Mein Name ist Marie Noise…“,

Der glatzköpfige Hüne reichte ihr freundlich die große Hand, welche sie etwas zögerlich ergriff und schüttelt. In seiner riesigen Pranke ging sie fast unter, doch er hatte einen angenehmen, nicht zu festen Händedruck. Er mochte vielleicht von außen klobig und brutal wirken, doch schien er sehr einfühlsam und gutmütig zu sein. Offenbar hatte sie sich total in ihm getäuscht, denn Marie schien wirklich ein ganz umgänglicher Kerl zu sein, trotzdem machte sie sein starrer, fast lebloser Blick sie etwas nervös. Hinter Marie trottete ein gelangweilter, schwarzhaariger Junge einher, nicht viel älter als sie oder Lavi. Die eigentümliche Frisur, sowie das am Gürtel befestigte Schwert gaben ihm das Aussehen eines modernen Samurais, allerdings hatte er charaktermäßig nicht viel mit den höflichen, zuvorkommenden und wohlerzogenen Schwerkämpfern gemein.

„Was gibt es da zu glotzen…?“ grollte dieser unhöflich und musterte das schmale Mädchen abfällig.

„Yuu, sag hallo zu Samantha. Sie wird von heute an Teil dieses Teams sein….“, begrüßte ihn sein Lehrmeister mit unbekümmerter und ungetrübter Freundlichkeit, die dem schwarzhaarigen Exorzisten die heiße Wut bescherte. Er konnte es auf den Tod nicht ausstehen beim Vornamen genannt zu werden, immerhin implizierte so etwas einen sehr engen Kontakt zueinander, etwas das Kanda absolut nicht pflegte. Er war ein Einzelgänger und zwar ein Einzelgänger mit überaus schlechter Laune, die schon seit mehreren Tagen anhielt. Die Unbekümmertheit seines Lehrmeisters verspottete ihn und seine derzeitige Stimmungslage gerade zu, sodass sein Gemütszustand ein neues Wochentief erreichte.

„Seid wann sind Dummköpfe und suizidgefährdete Psychopathen im Orden erlaubt…?“ knurrte Kanda giftig und machte einen bedrohlichen Schritt auf das Mädchen zu, das er damit meinte.

Samantha schürzte pikiert die Lippen. Sie war selber nicht gerade in der besten Stimmung, auch wenn sie diese in Anbetracht der fröhlichen Feier im Zaum gehalten hatte. Kandas mutwillige Provokation bot ihr nun eine exzellente Möglichkeit etwas von der angestauten Wut abzulassen, die sich im Grunde genommen eigentlich gegen jemanden ganz anderes wandte. Mit trotzig vorgerecktem Kinn machte sie unerschrocken einen Schritt auf den angriffslustigen Japaner zu. Kur darauf sprangen bereits tödliche Funken zwischen den beiden Teamkameraden hin und her, als diese sich in einem stillen Blickduell maßen.

„Und ich wusste nicht, dass Crossdressen als Junge hier erlaubt ist, aber bei so einem flachbusigen, schmalen Ding wie dir fällt das ja kaum auf. Sicherlich praktisch sich nicht dauernd die Beinhaare rasieren zu müssen…Selbst General Cross würde an solch einer schlappen Latte wie dir kein Interesse finden…“, setzte sie knallhart, eiskalt und mit einem süffisanten Grinsen hinterher.

In Sekundenbruchteilen raste Kandas Wutbarometer in die Höhe, hatte die 180 schnell hinter sich gelassen, während das sonst so blasse Gesicht des Japaners puterrot anlief. Mit einer einzigen eleganten, wie schwungvollen Bewegung hatte er sein katanaähnliches Schwert aus seiner schwarzen Scheide gezogen und hätte das freche, französische Mädchen noch im selben Atemzug einen Kopf kürzer gemacht, doch ein harter, metallener Gegenstand blockte den eindeutig tödlichen Schlag ab. Diese abrupte Erschütterung pflanzte sich über die Klinge in den Schwertarm des Japaners fort und hinterließ ein kurzes Gefühl der Taubheit.

„Na, na, wer wird sich denn gleich streiten? Immer mit der Ruhe…“, ging nun auch General Tiedoll mit begütigender, väterlicher Stimme dazwischen, offensichtlich unterschätzte er das Gefahrenpotential und den Stolz des Japaners, denn er wagte sich gefährlich nahe an diesen zornigen Bewaffneten heran. Wie eine strenge Mutter zog er nun Kanda am Ohr und verschwand mit dem protestierenden Exorzisten in der Menge der Feiernden, offensichtlich würde er sich wieder eine gutherzige Rüge durch seinen Lehrmeister über sich ergehen lassen müssen.

„Mach das bitte nicht noch einmal. Halte dich einfach von ihm fern und ignorier ihn…“, seufzte Lavi angespannt, doch der ernste Blick, mit der er das zur ihr sagte sprach wahre Bände. Missbilligung, Sorge, Angst, Wut, Erleichterung und noch vieles mehr funkelte ihr aus seinem grünen Auge entgegen.

„Yuu ist alles andere als eine Frohnatur. Er ist kalt, stolz, unnahbar und vor allem jähzornig. Lass dich nicht noch einmal auf so ein waghalsiges Duell ein. Es wäre wirklich dein letztes. Wäre ich eben nicht eingeschritten, wärst du jetzt tot…!“ setzte Lavi mit Nachdruck nach und der intensive Blick seines grünen Auges bohrte sich in sie, als wollte er sich und die eben gesprochenen Worte in ihr verankern, dass sie diese zukünftig beherzigen möge.

„Ich habe dich nicht darum gebeten. Außerdem kümmere du dich lieber um deinen eigenen Kram, als dauernd seine aufdringliche Nase in anderer Leute Privatangelegenheiten zu stecken…“, schnappte sie erhitzt zurück. Samantha war noch immer geladen, ihre Gedanken, ihr Handeln stand immer noch auf Angriff, so konnte sie nicht anders als ihren angestauten Zorn an ihm auszulassen, obwohl sie ihm eigentlich dankbar sein sollte. Ohne ihn wäre sie jetzt höchstwahrscheinlich wirklich tot, doch diese Rationalität war total aus ihrem wutentbrannten, zerstörerischen Gedankengut gebrannt. Nur allein Lavis rascher Auffassungsgabe und Reaktion war es zu verdanken, dass sich ihre Willkommens-Party nicht in einen Leichenschmaus verwandelt hatte.

In dieser dramatischen Situation hatte sie mehr Glück als Verstand besessen. Hätte ihr persönlicher Schutzengel nicht eifersüchtig über sie gewacht, so hätte ihre Laufbahn als Exorzist bereits ein jähes Ende genommen.

Angriff des Level 4 Akumas

Heldenmut hatte er bewiesen, Aufopferungsbereitschaft und guten Willen, doch was war sein Dank? Verachtung, Feindseligkeit und Ignoranz! Natürlich war er böse überrascht, sein eigener Stolz gekränkt, seine spärliche, gute Laune verflogen. Solche Undankbarkeit löste in ihm mehr als nur Verständnislosigkeit aus. Sein Puls jagte immer noch rasant pochend durch seine Adern, doch die Sorge hatte sich inzwischen in verständnislosen Zorn gewandelt. Schwer ließ er ihn atmen, überflutete seine Gedanken und bestimmte sein Handeln. Mehr grob als zärtlich legten sich Lavis bloße Hände auf die Schultern des halben Kopf kleineren Mädchens, gruben, nein krallten sich dort in die schwarze Uniform und das darunter liegende Fleisch hinein. Unsanft schüttelte er sie durch, brüllte sie an, ob sie noch ganz getrost, bei Sinnen war. Seine Unbekümmertheit war wie fortgewischt, die aufgesetzte Maske zu Boden gefallen und zerbrochen, das fröhliche Gesicht zu einer Fratze der Wut verzerrt.

Das linke, grüne Auge war im Zorn weit aufgerissen, ebenso der wütende Mund, der sie immerzu beschimpfte, sie einen Dummkopf nannte, an ihrem Verstand zweifelte. Es war still um sie herum geworden, verwirrt und entgeistert betrachteten die Umstehenden den Wutausbruch des eigentlich so ausgeglichenen und ruhigen Rotschopfes. Den Hintergrund für diesen Streit hatten sie nicht mitbekommen, das sich anbahnende Drama nicht erkannt, sodass die ganze Situation in einem ganz anderen, missverständlichen Licht erschien.

Ein zorniges Wort gab sich das nächste, dann folgte plötzliche Stille, nachdem sich eine zierliche Hand erhoben hatte und mit zorniger Macht niedergefahren war. Ein roter Handabdruck leuchtete auf Lavis linker Wange, dann war es auch schon vorbei. Das Letzte, was er von ihr sah, war ihre flammende Mähne, die wie ein stolzes Kriegsbanner durch die Menge eilte, von einem Schlachtfeld zum nächsten. Zurück ließ sie ihren „Feind“, ihren „Widersacher“, den „Verräter“.

Perplex hielt Lavi sich die schmerzende Wange, doch er registrierte den feurigen Schmerz nicht, mit dem sie ihren Handabdruck rot leuchtend auf seine linke Wange gebrannt hatte. Ein ganz anderer, viel tieferer Schmerz durchbohrte ihn, durchbohrte seine Brust und sein Herz. Er fühlte sich verraten, verkauft und verspottet. Sie hatte seine Freundschaft, dann seine Fürsorge und Freundlichkeit mit Füßen getreten. All das, was er war, hatte sie mit einem Atemzug, in einem Augenblick eingerissen und zertrümmert. Wäre sein Stolz nicht, so wäre er ihr nachgelaufen, hätte sie um Vergebung gebeten, sich vor ihre Füße geworfen und sie angefleht ihn nicht zu hassen, sondern zu verstehen und zu lieben, doch ER sah sich hier nicht als Schuldigen. Hier war nun eindeutig SIE über die Stränge geschlagen, SIE würde sich bei IHM entschuldigen müssen. Hunderte von Augenpaaren starrten ihm nach, als nun auch er aus der Kantine stürmte.

„So habe ich ihn noch nie erlebt. Das ist so gar nicht seine Art…“, murmelte Linalee geschockt über das unbegreifbare Ereignis. Es war ziemlich untypisch für den jungen Bookman so aus der Haut zu fahren. Nur ein einziges Mal hatte sie ansatzweise so etwas Ähnliches erlebt, das war damals auf ihrem Weg nach Edo gewesen. Sie war völlig am Boden gewesen, hatte sich schrecklichste Sorgen um Allen gemacht, der in der asiatischen Abteilung versorgt wurde und wohlmöglich mit dem Tode rang. Ihre Aussichten Edo, welches vom Grafen und seinen Dienern besetzt gehalten wurde, heil zu erreichen waren schwindend gering gewesen. Sie war zu dem Zeitpunkt einfach nervlich am Ende gewesen und hatte sich wirklich gehen lassen. Da war Lavi ausgerastet, hatte die Scheibe der Schiffskabine vor lauter Wut eingeschlagen und sie angeschrieen sie sollte sich gefälligst am Riemen reißen, schließlich wären sie hier um für die zu kämpfen, die bereits auf dem Schlachtfeld gefallen waren. Sein Zorn, der sie damals auf sie entladen hatte, war aber nur zum Teil gegen sie gerichtet gewesen, da er selber mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hatte, immerhin hatte er kein Herz aus Stein.

„Ja…“, stimmte ihr Allen nicht minder geschockt zu und starrte dem jungen Bookman hinterher, bis dieser verschwunden war. Er war ein sehr enger Freund des Rotschopfes und behauptete von sich selbst diesen doch recht gut zu kennen, sodass auch für ihn dieser Wutausbruch absolut überraschend gekommen war. Soweit er es mitbekommen hatte, hatte Lavi sich immer blendend mit dem französischen Mädchen verstanden, nichts hatte auf einen schwelenden Streit hingedeutet.

//Fast nichts…// korrigierte er sich in Gedanken. Erst war es ihm nicht aufgefallen, bzw. hatte er dem keine Bedeutung beigemessen, doch die Stimmung der beiden, ihre Interaktion mit einander war distanzierter gewesen seit sie die Kantine betreten hatten. Dies bedeutete, dass irgendetwas zwischen den beiden vorgefallen sein musste, was die Grundlage für diesen spektakulären Streit gelegt haben musste.

So in seine Grüblereien vertieft, merkte er erst gar nicht, wie sich die Atmosphäre veränderte, sich wandelte, verdüsterte. Sie tat es auf eine Weise, die nur er auf seine spezielle Art und Weise registrieren und begreifen konnte. Es schien plötzlich um einige Grade kühler geworden zu sein, so kühl, dass sich seine Haare am ganzen Körper in einer Gänsehaut aufstellten, doch es war nicht nur eine instinktive Reaktion auf die unbewusst wahrgenommene Kälte, sondern auch auf dessen sehr reale, gefährliche Quelle. Sein Herz pochte schneller hinter seiner Brust, verteilte das ausgeschüttete Adrenalin rasch in seinem Körper und schärfte damit seine Sinne, sodass er das leise, unschuldige Kinderlachen, das von dutzendhaften Stöhnen, Ächzen und gelegentlichen Schmerzensschreien begleitet wurde, nicht überhörte. Sofort war er hellwach, elektrisiert. Sein verfluchtes, linkes Auge raste über die Menge der immer noch peinlich verstummten Feiernden, doch auch dieses Mal streikte es. So wie bereits auf ihrer Mission in Lyon verweigerte es ihm auch dieses Mal seinen wichtigen Dienst. Panisch ruckte sein Kopf herum, versuchte nach dem unschuldigen, bösartigen Kinderlachen zu lauschen, doch ohne sein verfluchtes Auge war er blind für die tödliche Bedrohung.

Link, der ihm gegenübersaß und mit seiner üblichen, professionellen Distanziertheit das Geschehen verfolgt hatte, wandte nun dem beunruhigten, jungen Engländer wieder seine Aufmerksamkeit zu, wobei beunruhigt noch eine gelinde Untertreibung war. Allen wirkte panisch. Wie ein gehetztes Reh auf der Flucht vor einer Meute Wölfe waren seine Augen erschrocken geweitet, ruckte sein Kopf herum, um seine Feinde, seine Verfolger im Blick zu haben. Allen bedurfte nur eines kurzen Gedankens, dann erwachte seine Innocence zum Leben, gab seiner linken Hand die Form seiner speziellen Anti-Akuma-Waffe. Ein weißes, knöchellanges Cape legte sich um seine Uniform und wurde am Hals von einer Art venezianischen Ballmaske, einer Brosche gleich, zusammengehalten.

„Allen…?“ hörte er Linalees erschrockenes Aufkeuchen an seiner linken Seite, offenbar hatte sie die Gefahr noch nicht erkannt, in der sie und die gesamte Belegschaft des Klosters schwebten

„Level 4 Akuma...!“ riefen Allen und Marie gleichzeitig. Der große, kahlköpfige Hüne hatte Dank seiner eigenen Innocence die Gefahr ebenfalls bemerkt. Die schwarzen Kopfhörer, die er unablässig, meist um den Hals, trug und ihm die erblindeten Augen ersetzten, verliehen ihm ein gesteigertes, sensibleres Hörvermögen. So war ihm das leise, gehässige Kinderlachen des Dämons nicht entgangen. Kaum waren ihre warnenden Worte verklungen, standen die verbliebenen Exorzisten parat, ihre aktivierten Innocencen im Anschlag.

„Wo…?“ fragte die Stimme des Supervisors aus der Menge heraus, die einer Panik nahe war. Als einfache Wissenschaftler und Finder konnten sie sich nur mit Talismanen gegen die Dämonen des Grafen verteidigen. Wie die Schutzschilde der Straßenpolizisten muteten diese Talismane an und waren in der Lage einen energetischen Schutzschild um einen befreundeten Kameraden zu bilden, oder eine feindliche Kreatur in solch einer Energiebarriere einzuschließen. Zwar waren diese Geräte schon weit entwickelt und die Technologie, die dahinter steckte weit fortgeschritten, doch hatten sie einem Level 4 Akuma kaum etwas entgegen zu setzen, ganz anders als die Exorzisten. Sie waren die einzigen, die aktiv gegen die Akumas kämpfen konnten.

„Die Eingangshalle…Es bewegt sich schnell Richtung Untergeschoss…Hevlaska und die Innocencen sind sein Ziel…!“ gab Marie sichtlich besorgt Auskunft, doch Allen handelte bereits. Normalerweise musste er vorher die Erlaubnis des jungen Inspektors oder dessen kaltschnäuzigen Vorgesetzten einholen, um ein Portal errichten zu dürfen, doch jetzt war keine Zeit zum betteln, sie mussten handeln und zwar schleunigst.

Ein kurzer Gedanke, mehr bedurfte es nicht, um die Verbindung zu der Arche herzustellen und ein Portal zu dieser zu erschaffen. Wie aus dem Nichts materialisierten sich die gleißenden Lichtscherben, die das entstandenen Tor zur Arche markierten.

„Beeilung…!“

Mit diesem drängenden Aufruf an seine Kameraden war der weißhaarige Junge auch schon durch das Portal getreten, um im Inneren der friedlich daliegenden Arche ein weiteres Tor zu erschaffen, das sie in Hevlaskas unterirdisches Reich teleportieren würde. Howard Link war der Erste, der Allen durch das Tor in die Arche gefolgt war. Missbilligung über diese unerlaubte Aktivierung eines Portals glomm in seinen blaugrauen Augen, doch er wusste nur zu gut, dass dies ein Notfall war und im Notfall galten eben anderen Regeln, Regeln, die die Handlungsweise des jungen Engländers billigten.

Wenige Augenblicke darauf hatten sie schon übergesetzt, befanden sich nun auf dem stählernen Laufsteg, an dessen Ende die riesige Gestalt der Hüterin angespannt verharrte. So wie die anderen konnte auch sie sich noch sehr lebhaft an den Tag erinnern, an dem sie zum ersten Mal Bekanntschaft mit einem Level 4 Akuma gemacht hatten. Damals in der alten, europäischen Basis hatten sie im Siegestaumel geschwelgt. Sie hatten sich gerade erst die Arche angeeignet und waren dabei gewesen diese und das „Ei“ in ihr zu untersuchen. Bei dem „Ei“ hatte es sich um einen essenziellen Teil einer Akumafabrik gehandelt. Mit der Erforschung dieser gegnerischen Technologie hatte man gehofft mehr über Akumas und ihre Schwachstellen in Erfahrung bringen zu können.

Völlig unerwartet waren dann die Dämonen unter der Führung eines weiblichen Noahs eingefallen, um das „Ei“ zu bergen. Im Zuge des darauf entbrennenden Kampfes hatten einige Exorzisten der „unheiligen“ Geburt eines Level 4 Akumas beigewohnt. Dieses menschlich anmutenden, dämonische Wesen war jenseits von Gut und Böse, überaus stark und mächtig, ohne Rücksicht, ohne Gnade wollte es nur eines, Verderben über sie alle bringen. Der verzweifelte Kampf war entbehrungsreich gewesen, vor allem unter den Zivilisten hatte es zahlreiche Opfer gegeben. Solche Verluste wollten sie Hier und Jetzt um jeden Preis verhindern, doch schien der Akuma ein anderes, verheerenderes Ziel zu verfolgen. Sein Ziel war es die Hüterin und mit ihr all die Innocencen zu beseitigen, die sie beherbergte. Ohne diese Innocencen war die Gemeinschaft der Exorzisten ihrer grundlegenden Waffe gegen die Heerscharen des Grafen beraubt, ohne diese Innocencen würde es kaum noch neue Exorzisten geben, da es ja nur maximal 109 dieser heiligen Bruchstücke gab, von denen bereits einige durch den Tod vorausgegangener Exorzisten teilweise unwiederbringlich verloren gegangen waren.

Einer nach dem anderen landete auf dem schmalen Laufsteg, der keinen besonders guten Kampfplatz darstellte, da er zu schmal war, um wirklich darauf kämpfen zu können. Nur wenige Exorzisten konnten kurz- oder längerweilig ohne festen Boden unter den Füßen kämpfen. Linalee hatte es am einfachsten, da sie sich dank ihrer Dark Boots frei wie ein Vogel in die Lüfte erheben konnte, ungebunden an festen Untergrund. Allen hingegen brauchte mindestens Kontakt zu fester Materie, die über ihm lag, denn nur um solche, erhöhten Gegenstände, wie Balken oder Geländern konnte er seinen Clown Belt schlingen, eine praktische Verlängerung seines weißen Capes. Ganz von alleine dehnte sich das „lebendige, intelligente“ Gewebe seiner so geformten Innocence aus, schlang sich in langen, stabilen, wie belastbaren Bändern um die jeweiligen Objekte und gab ihrem Besitzer Halt und Sicherheit, so wie die Sicherheitsleine den Hochseilartisten.

Anderer Exorzisten so wie Lavi oder General Cross konnten in dieser Lage nur auf ihre Distanzangriffe zurückgreifen. Wenn der junge Bookman erstmal eine seiner gefährlichen Reisenschlange, sei es Feuerschlange oder Blitzschlange, heraufbeschworen hatte, streckte sie sich genährt von der Innocence immer weiter aus, wand sich durch die Luft, bis sich das gewaltige Maul um den Dämon geschlossen hatte und dieser quasi durch den nachfolgenden Körper gewandert war. Allerdings hatten solche Distanzangriffe auch ihre Nachteile, zu früh ausgelöst, oder aus zu großer Entfernung abgefeuert, war es für einen so mächtigen Dämon wie einen Level 4 Akuma nicht schwierig ihnen auszuweichen.

Der größte Vorteil den sie im Augenblick hatten, war, dass sie in der Überzahl waren. Zu mehreren war es einfacher den überaus starken Dämon beschäftigt zu halten, bis es den Generälen gelang den einen entscheidenden Treffer zu landen, der dieses bemitleidenswerte Wesen von seinen infernalen Qualen erlösen würde. Es war allgemeiner Konsens, dass die in den Akumas gefangenen Seelenhöllische Qualen litten, so lange sie an diesen unheiligen Körper gefesselt waren, doch eine wirkliche Bestätigung für diese allgemeine Theorie gab es nicht. Nur für Allen war es kein reines Gedankengespinst, sondern pure, bittere Realität. Sein verfluchtes Auge ermöglichte ihm nicht nur Akumas wahrzunehmen und diese zu enttarnen, nein, er sah auch die in ihnen gefangenen, gequälten Seelen, hörte ihre verzweifelten Hilfeschreie, hörte, wie sie ihn anflehten sie von dieser qualvollen Existenz zu befreien.

„Hilf uns…rette uns…gib uns Frieden…“

Das mehrstimmige Wehklagen, das nur Allen allein wahrzunehmen vermochte, wurde immer lauter, immer deutlicher, je näher der Level 4 Akuma dem unterirdischen Reich der Hüterin kam. Noch immer wollte sein verfluchtes Auge nicht so recht auf den herannahenden Dämon reagieren. Das machte ihm natürlich zu schaffen und gab ihm Anlass zur Sorge, schließlich hatte es ihm bisher immer verlässliche Dienste geleistet, wieso streikte es dann jetzt so unerwartet? War es vielleicht dem Grafen und seinen Dienern gelungen die besondere Fähigkeit seines linken Auges zu neutralisieren, auszuschalten? Das wäre ein herber Verlust für ihn und die anderen Exorzisten, war es doch ein effizientes Frühwarnsystem gewesen, das ihnen schon in vielen, brenzligen Situationen die Haut gerettet hatte. Ein flaues Gefühl breitete sich in der Magengegend des jungen Engländers aus bei dem Gedanken vielleicht nun für immer auf diese lebenswichtige und überlebenswichtige Hilfeleistung verzichten zu müssen. Doch wie schon damals in Lyon sprang sein linkes, verfluchtes Auge doch noch an, als der Akuma in Sichtweite kam.

Der Anblick eines Level 4 Akumas war für ihn jedes Mal aufs neue ein Schock, nicht wegen der rein äußerlichen Erscheinungsbildes des Dämons, sondern wegen der unzähligen, gequälten und malträtierten Seelen, die er an sich fesselte. Aufgestiegene Galle hinterließ einen bitteren Geschmack auf seiner Zunge, so schwer war der Anblick zu ertragen. Obwohl er dies schon seit langer Zeit erlebte, war es nichts, woran man sich gewöhnen konnte, nicht, sofern man ein fühlendes, vor allem mitfühlendes Herz besaß. Einen Teil ihres entsetzlichen Leidens konnte er körperlich nachempfinden, schnürte der Anblick ihm doch die Kehle zu, ließ ihn kaum atmen, klammerte sich wie eine unsichtbare, gnadenlose Hand um sein Herz.

Allerdings ermöglichte ihm diese Art der Sympathie bzw. Empathie zu den Leidenden all seine Kräfte, psychisch wie physisch, zu mobilisieren und dafür einzusetzen, dieses unnötige, grausame Leiden zu beenden.

Er war Exorzist und als solcher hatte er sich in den Dienst der Dämonen gestellt, war für sie da, um auf ihre Flehen, auf ihr Wehklagen zu antworten.

„Habt keine Angst, wir werden euch euren Frieden zurückgeben…“, murmelte Allen mit heiserer Stimme, doch seine Worte waren so leise gewesen, dass sie in dem Krach untergegangen waren, die der Level 4 Akuma erzeugt hatte, als er mit einem Schnippen seiner linken Hand das schwere Eisentor weggesprengt hatte, das den Eingang zu Hevlaskas Reich markierte. Die Trümmerteile fielen heiß glühend und sogar teilweise brennend an den Exorzisten vorbei in die Tiefe des mehrstöckigen Raumes. Es war wie ein vereinbartes Zeichen zum Auftakt einer großen, epischen Schlacht, wie der sich steigernde Trommelwirbel vor dem Salto Mortale.

Würde ihnen dieses gefährliche Kunststück gelingen? Würden sie diese Schlacht für sich entscheiden können? Zwar sprach ihre Truppenstärke und –größe, sowie ihre Kampferfahrung für sie, doch annähernd gleiches konnte der mächtige Dämon ebenfalls von sich behaupten, das hatte schon die beeindruckende Zerstörung des eisernen Schutztores bewiesen, von dem jetzt nur noch ein paar glimmende Trümmer übrig geblieben waren.

„Klopf, klopf…der Scharfrichter ist da…“, kicherte der Dämon mit völlig unschuldiger Stimme, während er lässig, wie selbstsicher über den stählernen Laufsteg auf die kampfbereiten Exorzisten zuschlenderte. Über dem kahlen, weißen, puppenähnlichen Kopf des Level 4 Akumas schwebten wie zwei unheilige Heiligenscheine zwei lilane Lichtscheiben, die untere Scheibe kleiner als die obere. Auf seiner Stirn prangte das Zeichen des Grafen, das er all seinen Dienern aufprägte, das schwarzem umgekehrte Pentagramm. Von seinem Rücken gingen drei, lila leuchtende Flügelpaare aus, die entfernt an die Form von Rotorblättern erinnerten. Der Rest des puppenähnlichen Körpers erinnerte an ein hässliches, missgebildetes Kind mit schlaffen, weiblichen Brüsten, hervortretenden Rippen und dem breiten, knochigen Becken einer verwelkten Frau.

„Heute wird euer letzter Tag sein und Morgen schon hat der Graf die Welt von der schändlichen Existenz eurer Rasse getilgt…“, prophezeite der Akuma mit einem unschuldigen Lächeln, das so gar nicht zu seiner bösartigen Existenz passte.

„Nicht so lange noch wenigstens ein Exorzist lebt und atmet!“ warf Allen ihm entgegen und fasste sich mit der rechten, normalen Hand an sein linkes Handgelenk seines Innocence-Armes, der sich daraufhin in ein riesiges, schwarzes Breitschwert mit weißer Umrandung und einem weißen Kreuz auf der breiten Klinge verwandelte. Es war ein eigenartiges Gefühl, das er verspürte, wann immer sich sein linker Arm bis zum Schulteransatz auflöste, um das große Breitschwert zu formen. Der Verwandlungsprozess tat nicht wirklich weh, jedoch war es auch kein allzu angenehmes Gefühl dieser kurzfristigen Amputation beizuwohnen.

Zusammen mit Linalee machte Allen nun die erste Angriffswelle aus, machten so Platz für die anderen auf dem Laufsteg. Wie ein eigenständiges, lebendiges und denkendes Wesen streckte sich Allens weißes Cape aus, ließ weiße Bänder in die Höhe schießen, wo sich diese rasant um Balken oder Geländer wanden, sodass sie ihrem Besitzer absolute Mobilität, Halt und Flexibilität gewährleisten konnten. Eine heiße Welle aus Luft schoss an der rechten Seite des jungen Engländers vorbei, als dieser auf den Dämon zustürmte, dicht gefolgt von der Quelle dieses heißen Luftstoßes, Lavis gewaltiger Feuerschlange. Allen war froh in seinen weißen Innocence-Umhang gehüllt zu sein, da er ihm wie eine sehr stabile und belastbare Rüstung schützte, sowohl vor den Angriffen der Akumas, wie auch vor fehlgeleiteten Angriffen seiner Kameraden. Allerdings war diesem Schutz auch gewisse Grenzen gesetzt, war die Belastung zu groß für das Gewebe, wurde dieses zerstört und gab damit auch das verletzliche Fleisch seines Besitzers Preis.

Der Level 4 Akuma ballte die seitlich ausgestreckten Hände zu Fäusten, während er dunkle Energie in diesen fokussierte, die er dann die Arme vor sich überkreuzend in zwei Energiekugeln freigab, als Allen und Linalee nahe genug heran waren. Der junge Engländer versuchte die heranfliegende, konzentrierte Energiekugel abzublocken, indem er sein gewaltiges Breitschwert zwischen sich und die herannahende Gefahrenquelle brachte. Normalerweise hätte er so den Angriff relativ gut abblocken können, doch erstaunlicherweise schlug die Energiekugel nicht wie erwartet in das Breitschwert ein, sondern umflog dieses in einer engen Kurve und traf ihn unerwartet im Rücken. Von der gewaltigen Explosion, die die freiwerdende, konzentrierte Energie auslöste und der damit verbundenen Druckwelle wurde er auf den Akuma zugeschleudert, direkt auf dessen rechte Hand zu, in der er erneut dunkle Energie fokussiert hatte. Linalee hatte mehr Glück gehabt. Dank ihrer flexiblen und schnellen Innocence hatte sie dem Angriff und der anschließenden Explosion ausweichen können, doch die Erleichterung über ihr geschicktes Entkommen währte nicht lange. Ein markerschütternder Schmerzensschrei ließ ihr Herz ein paar Schläge aussetzen und Drang ihr durch Mark und Bein.

„ALLEN!!!“

Der sich vor höllischen Schmerzen windende, junge Engländer bekam sofort, wenn auch verspätet Unterstützung. Lavis Feuerschlange, die im ersten Anlauf ihr Ziel verfehlt hatte, rauschte nur wenige Zentimeter über den unbeschreibliche Qualen Leidenden hinweg, zusätzlich nahm auch Allens Lehrmeister den Dämon aufs Korn, doch es wollte ihnen nicht gelingen diesen wirklich zu treffen, so flink und so mächtig wie dieser war.

Link, der junge Inspektor, kam über den Laufsteg geeilt, um nach dem Verwundeten zu sehen und wenn möglich ärztliche Hilfe zu leisten. Er musste seine ganze, enorme Kraft aufwenden, um den schreienden und sich windenden Exorzisten soweit ruhig zu stellen, um sehen zu können, wo und wie schwer dieser verletzt war. Die Maske aus Distanziertheit, Disziplin und Professionalität verrutschte bei dem grässlichen Anblick der schwerwiegenden Verletzung.

Der Geruch von verbranntem Fleisch und der süßliche, metallische Geruch von Blut stieg ihm stechend in die Nase, so stark, dass er all seine Willenskraft aufbringen musste, um dem aufkommenden Brechreiz entgegenzuwirken.

Fast die komplette, linke Gesichtshälfte war schwarz verbrannt. Die Haut war völlig verkohlt bzw. gar nicht mehr vorhanden, nur an den Wundrändern warf sie hässliche Brandblasen, oder schälte sich in dünnen, ausgefransten Streifen von dem darunter liegenden Gewebe. Blut strömte aus einigen, größeren Blutgefäßen aus, die von der Hitzeeinwirkung, die er offensichtlich erfahren hatte, nicht verödet worden waren.

Allen schrie immer noch wie von Sinnen, doch dann brach seine heisere Stimme als gnadenvolle Bewusstlosigkeit den Schmerz, den sein Gehirn nicht mehr handhaben konnte, mit sich in tiefe Dunkelheit riss. Der gnadenlose Kampf um die Existenz der Menschheit ging indes weiter, während Link zusammen mit dem eingetroffenen Bookman den Schwerverletzten provisorisch versorgte. Ihnen beiden war klar, dass Allen sofort eine dringende, medizinische Rundumversorgung brauchte. Deshalb verfrachtete Link den erschlafften Körper des jungen Exorzisten auf seine Arme und hastete von der hutzeligen Gestalt des alten Bookmans gefolgt auf das Portal zu, das sie zurück in die Arche bringen würde.

Gut, dass sie in weiser Voraussicht bereits am Anfang der regelmäßigen Benutzung der Arche bestimmte Standardverbindungen etabliert hatten. So blieb es ihnen erspart sich den gefährlichen Weg an dem Akuma vorbei zu kämpfen und die doch recht beträchtliche Strecke bis zum Krankenflügel zurückzulegen. Auf diese Art und Weise sparten sie kostbare Zeit, Zeit, die über das Überleben des jungen Engländers entscheiden konnte.

„Ein Notfall! Schnell, eine Trage…!“ rief Link, kaum, dass er einen Fuß auf die marmornen Steinplatten des Krankensaales gesetzt hatte. Das Personal der internen Krankenstation befand sich, seit der allgemeine Alarm ausgelöst worden war, in Bereitschaft, sodass fast Augenblicklich zwei Ärzte und zwei Krankenschwestern mit einer fahrbaren Trage heran waren, um den schwerverletzten Patienten zu übernehmen. Eine mit einem Ballon versehene Atemmaske wurde dem bewusstlosen Jungen aufgesetzt, um diesen künstlich beatmen zu können, während man ihn hastig in den OP verfrachtete, damit die schwere Brandverletzung versorgt werden konnte. Während die Ärzte dort um das Leben des jungen Engländers kämpfen, kämpften seine Kollegen weiter verbissen gegen den übermächtigen Level 4 Akuma.

//Verdammt! Er ist einfach zu agil, zu schnell. Er wicht all unseren Attacken aus und selbst Linalee hat es nicht leicht mit ihm mit zu halten, obwohl sie mit ihren verbesserten Dark Boots schon schneller als der Schall ist…// fluchte Lavi grimmig. Er war nahezu machtlos gegen diese Art von Akuma, da seine heraufbeschworene Feuerschlange einfach zu langsam im Vergleich zu ihrem dämonischen Gegner war.

//Wenn wir ihn doch nur irgendwie fesseln, fixieren könnten…Maries Stahlseile sind nicht stark genug, um ihn ganz alleine halten zu können, bis wir den finalen Schlag ausführen können…// überlegte er fieberhaft, während er nach einer praktikablen Lösung für ihr gefährliches Problem suchte. Sein grüblerischer Blick fiel auf Allens Lehrmeister, der eine Patrone nach der anderen aus seinem Innocence-Revolver abfeuerte, doch keine davon drang bis zu seinem Ziel vor. Die plötzliche Eingebung traf Lavi wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel. General Marian Cross besaß neben seinem Equipe-Typ Revolver, der Judgement, noch eine weitere Innocence, Marias Grab. Bei Marias Grab handelte es sich um einen menschlichen Frauenkörper, der durch Cross’s magisches Wissen in gewisser Weise wieder zum Leben erweckt worden war. Er hatte dieser „Marionette“ den Namen Maria gegeben. Dieser wieder belebt und doch marionettenhafte Körper trug eine parasitäre Innocence, mit der Maria das Gehirn jeder beliebigen Zielperson, die ihr ihr „Meister“ vorgab, beeinflussen konnte.

„General, nutzt Carte Garde, dann haben wir vielleicht eine Chance…!“ rief er dem älteren Exorzisten zu, der daraufhin das eh nutzlose Feuer einstellte und sich stattdessen dem schwarzen, quaderähnlichen Gegenstand zuwandte, der aufrecht hinter ihm stand. Eine riesige, goldene Metallkette versiegelte diesen Gegenstand, doch es bedurfte nur einer einzigen, schwungvollen Bewegung um diese schwere Metallkette zu entfernen.

„On abata ura masaragato on gatar…“, murmelte Cross die magischen Worte, die das seltsame Behältnis öffnen und dessen Inhalt freigeben würde. Von ihrem „Meister“ herbeigerufen, entstieg Maria ihrem „Grab“ und gesellte sich an die Seite ihres Erschaffers.

„Marias Grab ist aktiviert. Carte Garde…!“

Kaum hatte Cross diese Worte ausgesprochen, öffnete Maria auch schon ihre roten, vollen Lippen, um einen magischen Gesang ertönen zu lassen, der jede Opernsängerin hätte vor Neid erblassen lassen. Der Gesang hatte auf niemanden außer das Zielobjekt Einfluss. Die bei dem Gesang freigesetzten Schwingungen manipulierten gezielt das Gehirn des Akumas und unterbanden dabei jede seiner Bewegungen, sodass der Dämon gezwungenermaßen bewegungslos in der Luft verharrte, während er versuchte gegen diesen von außen aufgelegten Zwang anzukämpfen.

Das war jetzt ihre Chance, um all ihre Kräfte zu mobilisieren und im finalen Schlag zu vereinen, um den schutzlosen Dämon zu überwältigen und den entbehrungsreichen Kampf zu beenden.

„Verflucht seid ihr!!!“ schrie der Level 4 Akuma, bevor sein unheiliger Körper zu Asche und Staub zerfiel, als der gemeinsame, finale Schlag das Ende des Kampfes einläutete.

„Asche zu Asche, Staub zu Staub…“

Der Junge mit der eisernen Maske

Tiefe, abgrundtiefe Dunkelheit umfing ihn, während er immer tiefer stürzte, immer tiefer in die namenlose Schwärze, die kein Ende zu nehmen schien. Stunden dauerte sein freier Fall schon an, zumindest hatte er das Gefühl, das dem so war, aber ohne eine Uhr oder dergleichen konnte er sich nicht absolut sicher sein. Zumal ein einziger Gedanke, ein einziges Gefühl die meiste seiner Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, das Gefühl der Angst, das ihn zurzeit umklammert hielt. Er fürchtete sich vor dem Moment, in dem sein rasanter Fall durch die namenlose Schwärze abrupt enden würde, wenn er endlich auf dem Grund dieser dunklen Tiefe aufschlagen würde.

Weitere Minuten strichen an ihm vorbei, doch nichts änderte sich, der Fallwind, den er während seines Sturzes spürte, war nach wie vor kalt und unangenehm. Ob er wohl gleich sterben würde, oder doch erst nach ein paar weitern, endlosen Stunden?

//Bin ich nicht vielleicht schon tot...?// fragte er sich und die lähmende Angst vor dem möglichen, unsanften Aufprall wich ein kleines Stück aus seinen Gedanken, um Erinnerungen Platz zu machen.

//Wir haben gegen einen Level 4 Akuma gekämpft, der den Orden infiltriert hatte…// erinnerte er sich vage zurück. Bilderfetzen durchströmten seinen Geist, doch er konnte sie kaum fassen, so schnell huschten sie vor seinem inneren Auge vorbei. Gleich darauf schoss ihm ein brennend heißer Schmerz durch den Kopf, der von seiner linken Gesichtshälfte ausging. Es fühlte sich an, als würde diese in Flammen stehen und verbrennen, sich das Feuer in seinen Kopf hineinfressen wollen, doch das war nur der unbeschreibliche Schmerz, der ihm das suggerierte.

//Der Akuma hat mich verwundet. Eine tödliche Wunde…?// fragte er sich, als der Schmerz Gott sei Dank abflaute und dann ganz verschwand.

„Du bist nicht tot, Allen, zumindest noch nicht…“, flüsterte ihm eine erschreckend bekannte Stimme aus der absoluten Dunkelheit zu. Es war die Stimme des geliebten, verstorbenen Ziehvaters Manna Walker. Befand sich Allen etwas wieder auf der Schwelle des Todes? Einer Schwelle, die er in seinem jungen Leben schon einige Male zu Gesicht bekommen hatte. An dieser Schwelle, so nahe dem Reich der Toten, konnte er die Stimme seines Ziehvaters ganz deutlich hören.

„Es ist noch zu früh diese Schwelle zu überschreiten, Allen. Du hast dein Ziel noch nicht erreicht, deine Aufgabe noch nicht erfüllt. Hörst du mich, Allen? Geh zurück, zurück zu deinen Freunden. Sie warten auf dich…“, hörte er ihn eindringlich auf ihn einreden, so wie damals kurz vor seinem Tod, als er Allem aufgefordert hatte seinen Weg weiterzugehen, alleine, ohne seinen Ziehvater weiterzuleben, weiterzumachen, auch und obwohl es ihm schwer fallen würde.

Mana hatte Recht, er konnte jetzt noch nicht Halt machen, seine begonnene Reise noch nicht beenden. Er war noch lange nicht am Ziel seines gewundenen, verschlungenen, wie unübersichtlichen Weges angekommen. Es MUSSTE weitermachen, weiterkämpfen, mit ALLER Kraft!

Der freie fall endete, jedoch nicht auf die dramatische Art und Weise, die Allen befürchtet hatte. Stattdessen schwebte er sanft nach oben, immer weiter hinauf von einem warmen Luftstrom getragen, als wäre er nicht mehr als eine leichte Feder. Die undurchdringliche Dunkelheit blieb in den schwarzen Untiefen zurück, während immer mehr Licht, immer mehr Helligkeit ihn umstrahlte. Blinzend hob er die rechte Hand um seine Augen gegen das gleißende, warme Licht abzuschirmen, das kurz darauf ein wenig nachließ, vor allem dann, als sich ein Schatten über ihn beugte.

„Allen? Allen?“ drang eine ruhige und doch angespannte Männerstimme an sein Ohr.

„Ist er wach?“ folgte eine Zweite mit etwas tieferer Stimmlage und leicht rauem Unterton. Es dauerte ein paar Augenblicke bis Allen die Verwirrung überwunden und die beiden Stimmen zugeordnet hatte.

„Link…, Meister…?“ krächzte er, da sein Hals schrecklich trocken war. Da war kaum Speichel, der seine Mundhöhle feucht halten konnte und dem entsprechend war alles rau und unangenehm. Das lag wohl auch zum Teil an dem seltsamen Ding, das man ihm über Mund und Nase gespannt hatte. Genervt von diesem hinderlichen wie unbequemen Gegenstand nahm er die Atemmaske ab, zumal er ja jetzt wieder bei Bewusstsein war und selbstständig atmen konnte. Seine Zunge war in der Zwischenzeit zu einem pelzigen Tier mutiert, zumindest fühlte sie sich im Augenblick in seinem Mund wie ein solches an. Er brauchte dringend etwas zu trinken, um dem ein Ende zu bereiten.

„Mach mal halb lang. Du bist gerade erst aufgewacht, nachdem du vier ganze Tage bewusstlos gewesen bist, kein günstiger Zeitpunkt sich jetzt schon wieder aus dem Bett zu stehlen…“, redete Cross mäßigend auf seinen Schüler ein und musterte ihn kritisch mit seinem sichtbaren, grauen Auge. Der Junge machte einen munteren Eindruck, doch das konnte bei dessen schwerwiegender Verletzung rasch ins Gegenteil umschlagen. Es war besser ihn zu zügeln, damit er seine wenigen, noch verbliebenen Kräfte schonte.

Währenddessen war der junge Inspektor Allens Bitte nachgekommen und hatte ein Glas mit Wasser gefüllt, das er vorerst auf dem kleinen Nachttisch an Allens Krankenbett abstellte, um ihn dann mit einigen wenigen Handgriffen aufzusetzen und zu stützen, während er ihm das Glas an die Lippen setzte, sodass dieser seinen Durst stillen konnte. In nur einem einzigen Zug hatte Allen das Glas geleert und bat sogleich um ein Zweites, das ihm stillschweigend gewährt wurde.

„Wie sind die Schmerzen? Erträglich, nehme ich an…“, erkundigte sich Cross, der scheinbar an seinem Krankenbett zusammen mit dem jungen Inspektor Krankenwache gehalten hatte.

„Ja, ich habe keine Schmerzen…“, gab Allen schwer atmend von sich, als er auch das zweite Glas in einem Zug ausgetrunken hatte. Erst jetzt viel ihm bewusst das etwas eingeschränkte Sichtfeld auf und die Erinnerung an seine schmerzhafte Verletzung kehrte siedendheiß in sein Gedächtnis zurück. Sichtlich beunruhigt tastete seine rechte Hand über seine linke Gesichtshälfte, doch die lag unter einem dicken Verband verborgen.

„W-Wie schlimm ist es?“ wollte Allen wissen und fixierte mit seinem gesunden, intakten Auge erst seinen Lehrmeister, dann den Inspektor, Letzterer antwortete ihm nach kurzem Zögern.

„Die linke Gesichtshälfte hat schwerste Verbrennungen erlitten. Die einwirkende Hitze hat das Fleisch fast vollständig bis zum Schädelknochen heruntergebrannt. Die Ärzte haben nicht mehr viel tun können und den Knochen mit einer Metallglasur geschützt…Ob sich das linke Auge wieder erholen wird, wissen wir nicht. Zwar haben wir gehört, dass es über eine erstaunliche, regenerative Fähigkeit verfügt, doch ob es auch diese schwere Verletzung überwinden kann, bleibt offen…“, erklärte Link, wobei seine üblicherweise gefasste, ruhige Stimme leicht schwankte und er sichtliche Mühe hatte die schwer wiegenden Worte ruhig zu formulieren, um sie dem jungen Engländer möglichst schonend beizubringen. Es folgte ein kurzes Schweigen.

„Hey, sehen wir es mal von der positiven Seite. Wir können demnächst im Partnerlook auftreten. Ich mit meiner rechtsseitig maskierten Gesichtshälfte, du mit seiner linksseitigen. Wie heißt es doch so schön? Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, hahaha…“, versuchte der General die düstere Stimmung mit seiner etwas eigenartigen Art von Humor aufzulockern, doch schien er damit nicht den richtigen Nerv getroffen zu haben, sodass er sich in gewisser Weise der etwas makaberen Situation gegenüber verlegen eine seiner Lieblingszigaretten aus einer seiner Manteltaschen hervorholte und diese mit einem Feuerzeug anzünden wollte. Bevor er allerdings den Anzünder betätigen konnte, handelte er sich einen gehörigen Schlag auf den Hinterkopf ein. Der Schlag war mit soviel Schwung ausgeführt worden, dass es den schwarzen Schlapphut, den der General fast unablässig trug wie ein Papierflieger zu Boden segelte.

„Rauchen ist hier strikt verboten! Das hier ist immer noch ein Krankensaal. Gehen Sie anderswo die Luft verpesten…!“ grollte eine resolute, stämmige Krankenschwester wütend über diese ignorante Unverschämtheit den anwesenden Patienten gegenüber und drohte dem gescholtenen Mann mit geballter Faust nochmals von dieser Gebrauch zu machen, sollte er sich ihrer Anweisung widersetzen.

„Nur weil er ein General ist, muss er sich nicht einbilden, dass er sich alles erlauben könnte“, keifte sei weiter, bevor sie sich dann Allen, bzw. dessen Überwachungsmonitor, an den er über mehrere Elektroden angeschlossen war, zuwandte.

„Hm, sieht ja ganz gut aus, Atmung und Herzschlag liegen im vertretbaren Rahmen. Keine Bange, du kommst schon wieder auf die Beine. Ich geh eben den Doktor holen, damit er nach dir sehen und den Verband wechseln kann…“, flötete die Krankenschwester mit einem mütterlichen Lächeln und watschelte schon davon, um ihre Worte in die Tat umzusetzen. Das Quietschen eines Plastikstuhles lenkte Allens Aufmerksamkeit wieder seinem Lehrmeister zu, der es anscheinend recht eilig hatte dem Krankenflügel, aber vor allem dieser Krankenschwester zu entfliehen.

„Mach’s gut…“, nuschelte er die Zigarette bereits wieder an ihrem Stammplatz auf der rechten Seite zwischen die Lippen gepresst und hielt seine beiden Hände davor, um sie mit dem Feuerzeug anzuzünden. Er sah ein, dass es sinnvoller war einen anderen Ort aufzusuchen, um ungestört seiner Nikotinsucht zu frönen. Hier war er ja nicht mehr erwünscht. Nach einem tiefen Zug, den er, wie um die Krankenschwester zu ärgern, lässig in einer hellen Rauchwolke dahin blies, verließ er mit wehendem, schwarzen Exorzistenmantel, sein Hut trohnte dabei wieder auf seiner bordeaux-farbenen Haarpracht.

„Wie geht es den anderen?“ fragte Allen nach einer kurzen Pause nach. Wie es schien hatten sie den Kampf gegen den Level 4 Akuma gewonnen, ansonsten wäre keiner mehr von ihnen am Leben und könnte sich um den Ausgang der Schlacht Gedanken machen.

„Wir konnten den Kampf ohne Verluste für uns entscheiden. Neben deiner Verletzung hat es nur kleiner Schnitt- oder Brandwunden gegeben…“, gab Link, sich leicht räuspernd, ihm zur Antwort. Das tragische Schicksal des jungen Engländers ging ihm nahe, vor allem da er fast 24 Stunden nonstop mit ihm verbrachte, um ihn zu observieren. Bei so viel Nähe, so viel Kontakt zu einander kam er nicht umhin den Jungen kennen und verstehen zu lernen. Je länger er mit ihm unterwegs war, desto mehr lernte er über den ruhigen, freundlichen Engländer. Er war Fremden gegenüber höflich, einfühlsam und großherzig. Mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn strebte er für edle, wie auch ein wenig naive Ideale. In seinem Herzen bewahrte er die starken Banden zu seinen Freunden und die etwas eigenartige Liebe zu den Akumas.

„Meine rechte Hand ist für die Menschen, meine linke Hand für die Akumas. Beide sind mir wichtig, beide will ich retten…“

Das war das Lebensmotto des gerade mal 16-Jährigen. Wieder einmal musste der Inspektor feststellen, wie erwachsen Allen wirkte, trotz seines jungen Alters, doch diesen Umstand hatte er wohl den widrigen Lebensumständen zu verdanken, mit denen er schon von klein auf hatte kämpfen müssen. Als Säugling war bereits aus seiner eigenen Familie verstoßen, im Heim als Außenseiter gemieden worden, alleine auf sich gestellt seinen Weg gegangen, bis er die erste liebende Hand nach so langer Zeit getroffen hatte, Mana Walker. Eben jener ominöse Wanderclown und Bruder des 14ten Noahs hatte den verwaisten Jungen in seine Obhut genommen. Gewiss kein Zufall im Hinblick darauf. Dass dieser Junge dem 14ten zur Reinkarnation verhelfen sollte. Ein bedauernswerter Umstand, da Link den starken, markanten Charakter des jungen Exorzisten schätzen gelernt hatte, vor allem diese ausgeprägte Aufopferungsbereitschaft und bindende Entschlussfähigkeit, die Allen trotz des Misstrauens gegen ihn an den Tag legte.

Vielleicht ertrug er das nagende, schleichende Gift des Misstrauens gerade nur deswegen, weil er schon so lange allein, auf sich gestellt gewesen war. Link konnte nicht genau sagen, woher der junge Engländer ansonsten die Kraft zog, um gegen all diese Widrigkeiten zu bestehen. Er konnte ihn für dieses Standvermögen nur bewundern.

Herannahende Schritte lenkten die geteilte Aufmerksamkeit des jungen Inspektors wieder zurück in die Gegenwart, an das Krankenbett des jungen Exorzisten, den er so bewunderte.

Wie von der Krankenschwester angekündigt war einer der diensthabenden Ärzte gekommen, um nach dem jungen Patienten zu sehen.

„Schön, dass du wach bist. Hast du irgendwelche Schmerzen? Eigentlich unwahrscheinlich bei dem ganzen Zeug, das man dir verabreicht hat. Ein Wunder, dass du überhaupt klar da bist, der Cocktail hätte selbst einen ausgewachsenen Elefanten aus den Socken gehauen…“, meinte der Arzt mit einem leichten Lächeln, während er mit seinem Stethoskop Allens Herz und Lunge abhörte, um sicher zu gehen, dass die starken Medikamente keines der beiden lebenswichtigen Organe nachteilig beeinträchtigen, doch er konnte nichts auffälliges feststellen.

„Schmerzen habe ich in der Tat keine, allerdings fühle ich auch sonst nicht viel. Alles fühlt sich irgendwie kalt und taub an…“, klagte Allem mit einem ironischen Lächeln, das wohl die Worte des Arztes bezüglich des „Cocktails“ bestätigte.

„Hm, gut möglich, dass das an der Dosierung liegt…“, meinte der Arzt mit gerunzelter Stirn und machte ein paar Schmerzempfindlichkeitstests am ganzen Körper des Jungen, in dem er sich ein Stück Haut schnappte und dieses zwischen Daumen und Zeigefinger eingeklemmt zwirbelte. Allen schüttelte jedes Mal den Kopf auf die Frage des Arztes hin, ob er Schmerzen verspüre.

„Ich denke wir können einige Mittel gefahrlos absetzten, jedoch ist es dabei gut möglich, dass der Schmerz von der linken Gesichtsverletzung sich dann wieder bemerkbar macht. Natürlich handelt es sich dabei nur um einen Phantomschmerz, da dort nun wirklich nichts mehr ist, was den eigentlichen Schmerz signalisieren und weiterleiten könnte…“, meinte der Arzt schließlich und blätterte die doch recht umfangreichen Krankenakte des jungen Exorzisten durch, bis er die aktuellen Daten gefunden hatte.

„Sollten die Schmerzen zu schlimm werden, können wir jederzeit die übliche Dosierung der Medikamente wieder aufnehmen…Jetzt schauen wir uns doch mal die Sache genauer an…“, erklärte der Mediziner und rückte mit dem Rollhocker noch etwas näher heran, sodass er nahe genug war, um den Verband abnehmen zu können. Sorgfältig wickelte er den Verband Lage für Lage ab, bis die verwundete Gesichtshälfte freigelegt worden war.

Einer Gussfigur gleich mutete der mit sterilem Metall glasierte Schädelteil an. Von der linken Stirnfront bis hinab zum Kinn lag nun eine metallene Haut über dem Knochen und schützte ihn. Die verbrannte Haut an dem Wundrand, dem Übergang von Metall zu gesunder Haut, hatte Blasen geworfen und pellte sich an manchen Stellen bereits von den unteren Gewebeschichten ab.

„Das wird jetzt etwas kühl…“, warnte der Arzt den Jungen vor. Dieser verspürte vielleicht keinen Schmerz mehr, doch das musste nicht auch für das Wärme- bzw. Kälteempfinden gelten, sodass er verhindern wollte, dass sein Patient vor der überraschenden Kälte zurückzuckte. Vorsichtig tränkte er einen Tupfer mit alkoholischer Jodlösung und tupfte damit die gebeutelte Haut ab, anschließend folgte eine Wund- und Heilsalbe, die extra für Verbrennungen konzipiert worden war, bevor abschleißend ein frischer Verband stramm angelegt wurde.

„Sieht schon ganz gut aus. Das Metall wird glücklicherweise nicht vom umliegenden Gewebe abgestoßen, sodass wir uns deswegen keine Sorgen machen brauchen…“, gab der Mediziner seine Einschätzung zum Fortschritt des Heilungsprozesses und verabschiedete sich dann mit einem Nicken, um die geänderte Medikamentengabe seinen Kollegen mitzuteilen.

Jetzt konnte man nur warten und hoffen, dass alles gut verheilte. Allen gehörte zwar nicht zu der eitlen Sorte von Männern, so wie sein Lehrmeister General Cross, doch für den Rest seines Lebens auf diese grausige Art und Weise gezeichnet zu sein, machte ihm doch schon zu schaffen, doch da war nichts mehr dran zu ändern. In einem kurzen Augenblick der Unachtsamkeit hatte er sein linkes, verfluchtes Auge, sowie seine gesamte linke Gesichtshälfte eingebüßt. Es war sein eigenes Verschulden, sein eigenes Unvermögen, das ihm dies eingebracht, ihn so entstellt hatte.

Nichtsdestotrotz war er immer noch am leben und das allein zählte, oder etwa nicht? Er hatte immerhin eine Aufgabe zu erledigen, ein Ziel zu erreichen und dafür brauchte er nur seine Innocence, wenngleich sein verfluchtes Auge ihm bisher immer gute Dienste geleistet hatte. Jetzt musste er eben irgendwie ohne es auskommen müssen. Er hatte in seinem bewegenden Leben bereits andere, schlimmere Schicksalsschläge überwunden, da würde er damit auch zurecht kommen, oder etwa nicht? So schnell war er nicht klein zu kriegen, oder vielleicht doch? Unkraut wie er verging nicht so schnell, außer man brannte es vollkommen aus.

Wieder raschelte Stoff, wieder erklang das vertraute Geräusch lederner Stiefelpaare. Allen musste den Kopf leicht zur rechten Seite drehen, um die beiden Besucher in Augenschein nehmen zu können. Linalee und Lavi hatten sich Zeit genommen, um ihren verletzten Kameraden im Krankenflügel besuchen zu kommen. Beide wirkten erleichtert ihn wach und bei Bewusstsein anzutreffen.

„Du siehst gut aus…Ich bin ja so froh…Wir haben all die Stunden gebangt, die du bewusstlos warst. Wir wussten ja nicht, wie schlimm es dich tatsächlich erwischt hatte, niemand wollte uns Genaueres sagen…“, sprudelte es aus der sichtlich aufgekratzten Japanerin hervor. Sie musste sich schreckliche Sorgen um ihn gemacht haben, das bezeugten zumindest die roten, leicht geschwollenen Augen, sowie die angespannten Mundwinkel. Zudem war sie jemand, der sich immer Sorgen machte, wenn irgendetwas auf einer Mission schief gelaufen war. Neben den Sorgen plagten sie aber auch noch und vor allem anderen Selbstwürfe.

„Es tut mir so Leid, Allen. Ich hätte dich besser unterstützen müssen…“, schniefte sie und erneut brannten ihr Tränen in den dunkelbraunen Augen.

„Dich trifft keine Schuld, Linalee. Wir haben alle unser Möglichstes, unser Bestes gegeben. Niemand konnte ahnen, dass der Akuma die Energiekugeln hatte lenken können. Das war wirklich nicht vorhersehbar…“, versuchte Allen ihr schwer lastendes Gewissen zu erleichtern, zu beruhigen. Ihre Anteilnahme an seinem Leid rührte ihn, doch zugleich nervte es ihn, dass sie sich für das, was geschehen war, grundlos die Schuld gab. Es war eben so, wie er gesagt hatte. Niemand hätte sagen können, was sie erwarten würde, wenn sie auf den Akuma treffen würden.

„Weiß man schon wie der Akuma hier eindringen konnte?“ wechselte Allen das Thema und lenkte damit bewusst von seinem Gesundheitszustand und seiner seelischen Verfassung ab. Er wollte jetzt darüber nicht reden. Er war froh, dass der dicke Verband seine schwere Verletzung und darunter liegende Entstellung verbarg, sodass sie nicht noch mehr Nahrung für Sorgen und Schuldgefühle gab.

„Die Leute von der Zentrale ermitteln noch, aber es ist gut möglich, dass sie das unausgereifte Sicherheitssystem einfach umgehen und den Dämon einschleusen konnten. Das Sicherheitssystem ist noch ein Provisorium, da sich das eigentliche noch in Entwicklung befindet, deswegen bekommt Komui vor lauter Arbeit kaum noch ein Auge zu. Nach diesem Vorfall wohl gar nicht mehr, wenn man bedenkt, das Akumas hier vielleicht nach Lust und Laune ein- und ausgehen können. Kein besonders beruhigender Gedanke, deswegen hat Leverrier übrigens einen Bereitschaftsdienst für Exorzisten einberufen. Ab sofort sollen wir, sofern wir uns nicht auf Missionen befinden, rund um die Uhr das Gebäude patrouillieren, zusammen mit einigen Crow-Mitgliedern…“, gab Lavi nachdenklich zur Antwort. Er war eindeutig beunruhigt über den überraschenden Angriff des Level 4 Akumas, hatten sie sich doch in ihrem neuen Heim eigentlich relativ sicher gewähnt.

„Ah,…hoffentlich beeilen sich Komui und seine Leute mit der Entwicklung des neuen Sicherheitssystems…Ich kann euch leider nicht mehr aushelfen…“, meinte Allen den Kopf beschämt gesenkt und auf seine weiße Bettdecke starrend.

„Hm? Dein linkes Auge erholt sich bestimmt wieder, das hat damals selbst Roads Wachskerzen ausgehalten. In ein paar Tagen wird es bestimmt wieder so gut wie neu sein…“, versuchte Lavi seinen jüngeren, deprimierten Freund aufzumuntern, doch schien er anders als sonst seine ansteckende Fröhlichkeit nicht auf ihn übertragen zu können. Lag das vielleicht daran, dass diese Unbekümmertheit, die se Fröhlichkeit nicht echt, sondern nur aufgesetzt war? Er seufzte still und bekümmert in Gedanken. Sein Streit mit Samantha lastete immer noch schwer auf seinem Gemüt, ebenso wie die Sorge um seinen verletzten Kameraden.

Seine Freundschaft zu dem jungen Engländer war im Hinblick auf die anderen die längste und stärkste. Deshalb machte er sich natürlich besonders Sorgen um ihn und sein Wohlbefinden, psychisch, wie physisch.

„Selbst wenn dem so sein sollte, fürchte ich wird es nicht mehr so sein, wie früher…Ich war mir erst nicht ganz sicher, aber es hat den Anschein, als würde es nicht mehr richtig funktionieren. Schon in Lyon wollte es nicht so richtig auf die Akumas anspringen. Erst wenn sie schon in Sichtweite waren, reagierte es auf sie…Auf der Feier war es noch gravierender, noch ausgeprägter…Ich war blind für die Gefahr! Hätte ich nicht zufällig das Lachen des Akumas gehört, ich hätte ihn nicht bemerkt und dann wäre alles zu spät gewesen…“, presste Allen zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, während sich seine Hände in die Bettdecke krallten.

Er fühlte sich hilflos, so verdammt hilflos. Ohne sein linkes, verfluchtes Auge fühlte er sich nur wie ein halber Mensch, ein Krüppel. Sein Kopf sackte deprimiert auf die angezogenen Knie, um die sich zusätzlich seine Arme schlangen.

„Allen-kun…“, murmelte Linalee und streckte eine Hand nach ihm aus, doch Allen schüttelte nur den Kopf. Er wollte jetzt allein sein, allein in seinem Elend. Niemand sollte ihn so sehen, so abgewrackt, so zerbrochen, so nutzlos.

„Er braucht jetzt Ruhe…“, mischte sich Link erbarmend ein und verschaffte dem jungen Engländer damit die ersehnte Einsamkeit, außerdem musste der Inspektor noch seinen Bericht über den Kampf im Reich der Hüterin bei seinem Vorgesetzten abgeben. Nachdem die drei Allen und damit den Krankenflügel verlassen hatten, konnte er sich in aller Stille seiner Verzweiflung, seinem elend dahingeben. Heiße, bittere Tränen rannen seine rechte Wange hinab und tropften wie beständiger, englischer Regen auf die Bettdecke nieder, während stille Schluchzer seinen jungen Körper schüttelten.

Er war ein jämmerlicher Anblick, ein Junge, der sich als Versager wähnte, als Nichtsnutz. Wie sollte er seine Mission, seine große Aufgabe erfüllen können, wenn ihn nun sein verfluchtes Auge auf diese Art und Weise im Stich ließ? Anders als die anderen hatte er nie gelernt ohne besondere Hilfe auf Dämonen aufmerksam zu werden. In den ersten, oft entscheidenden Momenten eines Kampfes würde er nun immer den Kürzeren ziehen

Es war seine EIGENE Schuld, sein EIGNES Unvermögen.

Fester gruben sich seine Finger in die Bettdecke, stärker hielten seine Arme seinen Körper umschlungen, denn ansonsten würde der seelische Scherbenhaufen, der er war, endgültig auseinander brechen.

//Mana…! Mana…! Was soll jetzt nur werden?// dachte er betrübt und rief sich die Worte seines geliebten Ziehvaters in Erinnerung. Er hatte Allen die Verpflichtung abgenommen seinen eigenen Weg weiterzugehen, sein Leben trotz der vielen Widrigkeiten weiterzuleben, auch wenn es wehtat, so wie jetzt. Aber woher sollte er die Kraft nehmen, um sich nach diesem „Sturz“ wieder aufzurichten? Sein eigentlicher Antrieb, Akumas von ihrem Leid zu erlösen, hatte jetzt einen schmerzlichen Dämpfer versetzt bekommen. Er fühlte sich insignifikant, bedeutungslos…

Das leise Rascheln zweier Flügel drang in sein privates Elend. Kurz darauf spürte er, wie etwas Schweres vor seinen Füßen landete. Es war Timcanpy, sein goldener, treuer Golem. Sein metallener, kugelförmiger Körper war inzwischen auf Volleyball-Größe angewachsen und das schimmernde Flügelpaar an seiner Rückseite hatte eine erstaunliche Spannweite von einem Meter erreicht, jedoch waren sie bei seinem massigen Körper kaum noch in der Lage diesen über längere Strecken zu tragen, sodass er sich immer häufiger auf Allens Schulter oder Kopf niederließ, um sich von seinem „Herrchen“ tragen zu lassen.

„Sag, Tim, was soll jetzt werden…?“ murmelte Allen mit tränenerstickter Stimme. Er war erneut an einen Wendepunkt angelangt, an eine schicksalhafte Wegkreuzung, die er aus Unsicherheit, aus Angst nicht zu überschreiten wagte.

Wo führte ihn sein Weg hin? Wo war der Pfad, den er ging? Er hatte ihn aus den Augen verloren, war blind für ihn geworden. Zu verschlungen, zu verwirrend waren die Wegweiser, als dass er ihnen noch weiter folgen konnte. Er brauchte dringend eine Hand, die ihn führte, so wie damals, als Mana Walker seine Hand ausgestreckt hatte, um die seinige zu ergreifen. Sicher und mit festem Griff hatte er ihn an sich genommen, hatte ihn selbst angenommen.

„Mana…“, schniefte Allen und weitere Tränen bahnten sich ihren Weg hinab, Tränen, die ungeweint geblieben waren, bis jetzt.

Tim stupste sein „Herrchen“ sachte an, als wollte es ihn trösten, ihm sagen, dass alles gut werden würde und er sich keine Sorgen machen bräuchte.

Irgendwann übermannte dann die seelische Erschöpfung den jungen Engländer und schenkte ihm gnadenvollen Schlaf, de von seinen quälenden Ängsten unbeeinflusst blieb.

Banden der Freundschaft

Die Tage zogen sich endlos, wie die Perlen auf einer unendlich langen Schnur, dahin. Träge und öde zogen sie an ihm vorbei, ihm, der dem Dahinscheiden der Zeit eh keine große Beachtung mehr zumaß. Er war stehen, stecken geblieben auf seinem verschlungenen, unübersichtlichem Lebenspfad. Er hatte die Orientierung in dm Wirrwarr von Kreuzungen, Abzweigungen und Abkürzungen verloren, war in eine Sackgasse geraten, die ihn nun von allen Seiten erdrückte.

Es war kaum zum Aushalten, die Erkenntnis ohne Ausweg gefangen zu sein, lähmte seinen Körper und seine Gedanken, füllte sie nur mit Schrecken und Hoffnungslosigkeit. Er wusste nicht mehr weiter, wusste weder aus noch ein. Wieder einmal war er so hilflos, wie damals, als er als Außenseiter, als Freak gemieden, aus dem Heim fortgelaufen war. Jenes Gift, das ihn schon damals heimgesucht hatte, strömte auch jetzt wieder durch seine Adern, das Gift der Einsamkeit, das sich schleichend durch seinen Körper fraß und ihm dabei seelische Schmerzen bereitete. Es war nicht unbedingt die Einsamkeit im personellen Sinne, sondern vielmehr der Mangel an Unterstützung und Rückhalt, der ihn so tief schmerzte. Seit man befürchten musste, dass er irgendwann zum 14ten Noah werden würde, begegnete er selbst bei den engeren Freunden auf Zurückhaltung oder Misstrauen. Er konnte es an ihren Augen sehen, jene Augen die nur flackernd seinen Blick standhielten, wo sie früher ihn geradezu gesucht hatten.

Er seufzte traurig, bekümmert über diese Art der Entwicklung, doch vor allem trauerte er seinem verfluchten Auge hinterher. Nie hätte er für möglich gehalten, dass er sich einmal an den Fluch klammern würde, der auf ihm bzw. seinem linken Auge lastete. Jedes mal die stöhnenden, wehklagenden Seelen zu sehen, die an die unheiligen Körper der Akumas gefesselt waren, war nichts Erhebendes oder Erstrebenswertes und doch sehnte er sich sein linkes Auge zurück, jenes Auge, das ihm diese gequälten Seelen vor Augen führte, ihn jedes Mal beim Anblick dieser erschaudern ließ. Seine ungewöhnliche Liebe zu diesen bemitleidenswerten Kreaturen gab seiner Sehnsucht, seinem Verlangen Nahrung, doch es war und blieb ein unerreichbarer Traum, eine gemeine Illusion, der er verzweifelt nachzujagen versuchte. Sein linkes Auge war für immer verloren, sowie fast seine gesamte, linke Gesichtshälfte.

Wie von selbst hob sich seine rechte Hand in gespenstisch unbeteiligter Bewegung an, um prüfend über den frisch angelegten Verband zu streichen, sich zu vergewissern, dass dieser auch da war und nicht zufällig doch gesundes, unversehrtes Fleisch, wie er sich erträumte. Stramm spannte sich der Verband um Kopf und Gesicht und ließ damit keinen Zweifel an seiner Verwundung. Immer wieder kreiste ihm dabei diese eine Frage durch den Kopf, geisterte darin herum, wie ein rastloser Geist, der nach seinem gewaltvollen Ableben keine Ruhe mehr finden konnte.

Wie sollte er jetzt weitermachen? Wäre er trotz alle dem in der Lage erfolgreich als Exorzist arbeiten zu können, ohne den anderen zur Last zu fallen? Oder würde er seine Existenz als Exorzist an den Nagel hängen und sich vielleicht eine zivile Anstellung im Orden suchen müssen? In irgendeine Richtung würde er jedenfalls gehen müssen, wenn er nicht verrückt werden wollte, doch wo war er am Besten aufgehoben? Wo war er von Nutzen?

So viele Fragen kreisten durch seinen Kopf, bereiteten ihm sorgenvolle Kopfschmerzen, die kein Schmerzmittel der Welt vertreiben konnte. Wo würde er die Antworten auf seine nagenden, quälenden Fragen finden können? Wer konnte ihm bei der Problemlösung mir Rat und Tat beistehen?

//Lavi…// dämmerte e ihm schließlich in seinen trägen, wie trübsinnigen Gedanken. Wenn es jemanden mit ausgereiften Intellekt und besonderem Scharfsinn gab, dann war es der junge Bookman. Wer, wenn nicht er, sein bester Freund, könnte ihn aus seinen Qualen erlösen? Ihm konnte er sein Leiden anvertrauen, vor ihm brauchte er keine Geheimnisse haben, denn sie beide verband eine enge Freundschaft, eine starke Bande, auf die Verlass war, die durch viele gemeinsame Abenteuer gefestigt worden war und sich nicht so leicht erschüttern ließ. Relativ regelmäßig hatte Lavi bei ihm vorbeigeschaut, auch wenn es meist nur kurze Besuche gewesen waren, schließlich ging sein Alltag weiter wie regulär. Wenn der junge Bookman nicht gerade auf einer Mission war, hockte er in der großen, umfangreichen, klösterlichen Bibliothek oder auf seinem Zimmer und brütete über alten, dicken Schinken. Sein letzter Besuch lag nun schon einige Tage zurück.

//Vermutlich ist er zurzeit irgendwo auf einer Mission unterwegs…// dachte Allen und seine anfänglich leicht gehobene Stimmung sackte wieder auf das vorherige Stimmungstief hinab. Wer wusste schon, wann sein Freund wieder zurückkehren würde? Allen seufzte leise und streichelte seinen treuen, goldenen Golem, der ihm in diesen öden, wie quälenden Stunden einzige Gesellschaft war. Selbst Link, der junge Inspektor und sein Aufpasser, erschien nur noch selten, kam jeweils kurz nach den Mahlzeiten, vergewisserte sich, dass er noch da war, noch lebte und verließ kurz darauf auch schon wieder den Krankenflügel, offensichtlich war er auch für den eingeführten Bereitschaftsdienst abberufen worden.

Seit dem überraschenden Akumaangriff, bei dem Allen sich seine schwerwiegende Gesichtsverletzung zugezogen hatte, waren nun schon ca. drei Wochen vergangen und seither hatte es zum Glück keine weiteren Angriff mehr gegeben, doch man konnte nie wissen. Erst wenn das noch in der Entwicklung befindliche Sicherheitssystem installiert worden war, konnten sie wieder etwas ruhiger schlafen, ohne befürchten zu müssen nach einem langen, arbeitsreichen Tag ins Bett zu fallen und am nächsten Tag nicht mehr aufzuwachen.

Wieder entwich seinen missmutig nach unten gezogenen Lippen ein seelisch erschöpftes Seufzen. Einerseits hasste er es warten zu müssen, sich in Geduld üben zu müssen bis seine Verletzung soweit verheilt und seine Kräfte soweit zurückgekehrt waren, dass er den Krankenflügel endlich wieder verlassen konnte, andererseits fürchtete er sich davor die schützende Umarmung dieses Ortes aufzugeben, um in die Welt der Unsicherheit, der Angst zurückzukehren.

Er fühlte sich noch nicht reif, noch nicht stark genug für dieses schicksalhafte Vorhaben, denn es würde bedeuten eine schwerwiegende, schicksalsträchtige Entscheidung zu treffen. Jetzt, so wie er war, so uneins mit sich selbst, war nicht der richtige Zeitpunkt, um bereits über diese, seine bange Zukunft zu entscheiden, jedoch stand es außer Frage, dass diese Entscheidung bald anstehen würde. Er hoffte, dass er einen klaren, vernünftigen Gedanken zu diesem heiklen Thema fassen konnte, nachdem er sich von Lavi Rat eingeholt hatte.

//Lavi…wärst du doch jetzt nur hier…// dachte Allen betrübt und schloss seinen treuen Golem, der es sich auf seinem Schoss gemütlich gemacht hatte, fest in seine Arme, als wäre er sein letzter Halt, sein letzter Anker, bevor ihn seine Sorgen, seine Ängste, die er Tag um Tag und selbst in den langen Nächten ausstand, in den Wahnsinn trieben.

Es mutete fast wie die göttliche Erhörung seines innigen Flehens an, als er hinüber zu der schweren Doppeltür starrte, die den Eingang zum Krankenflügel markierte. Wie eine himmlische Erscheinung mutete die Gestalt an, die soeben eingetreten war und nun direkt auf sein Krankenbett zuhielt, ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen. Nach all den Widrigkeiten, mit denen das Schicksal den jungen Engländer geschlagen hatte, schien Gott endlich nachsichtig mit ihm zu sein und schenkte ihm in seinen dunklen Stunden ein kleines Licht, ein Licht, das vielleicht hell genug strahlte, um ihm, dem „Erblindeten“, den Weg zu weisen. Die Andeutung eines Lächelns hob seine missmutigen Lippen leicht an und gab seinen traurigen Augen wenigstens einen kleinen Hauch ihres alten, magischen Glanzes zurück.

„Willkommen zurück, Lavi. Ist alles gut gegangen?“ begrüßte er den Rotschopf, der sich mit einem müden, wie erleichterten Seufzer auf den gepolsterten Stuhl an Allens Krankenbett fallen ließ.

„Ah, es tut gut wieder daheim zu sein. Ja, wir hatten zum Glück keine großartigen Probleme mit Akumas. Eigentlich ein gemütlicher Spaziergang, Innocence ausfindig machen, einpacken und abreisen, mehr nicht…Und, gibt es hier was Neues? Irgendetwas an Klatsch und Tratsch?“ gab Lavi mit einem gelangweilten Achselzucken Auskunft, lehnte sich allerdings in Erwartung besonderer Neuigkeiten zu seinem Freund vor.

„Ah, nein, nicht wirklich. Die Krankenschwestern hier sind zwar ganz nett, aber auf keinen Fall mit tratschenden Waschweibern zu vergleichen. Tut mir Leid…“, verneinte Allen mit einem schwachen, ironischen Lächeln die Frage des jungen Bookmans.

„Zu schade…Wie steht es mit dir? Du siehst aus, als wärst du seekrank. Haben sie dir wieder einen anderen „Cocktail“ verschrieben?“ erkundigte sich Lavi und musterte dabei den blassen, jungen Engländer eingehender. Er machte einen abgezehrten, seelisch ausgemergelten Eindruck. Die blaugrauen Augen starrten unfokussiert in die Gegend, während ihr Besitzer Mal wieder über irgendetwas Unerfreulichem brütete.

„Du isst doch auch ordentlich, oder?“ hakte Lavi mit eindeutig besorgtem Unterton in der scheinbar ruhigen Stimme nach, als er keinen Antwort auf seine erste Frage erhielt.

„Hm? Oh, eh, ja, tut mir Leid, ich war mal wieder in Gedanken. Nein, die Medikamentation haben sie nicht großartig geändert, aber inzwischen komme ich ganz gut mit weniger Schmerzmitteln aus…Ach, essen tu ich gut, aber jetzt ist der Hunger natürlich geringer, wo ich von meiner Innocence keinen Gebrauch machen muss…“, gab Allen schließlich, nachdem er aus seinen grüblerischen Gedanken aufgeschreckt war, zur Antwort.

Lavi runzelte leicht ungläubig die Stirn, während er nochmals einen recht aussagekräftigen Blick über die abgewrackte Gestalt des jungen Engländers wandern ließ.

„Weißt du….es ist gut, dass du da bist…Ich brauche deinen weitsichtigen, ungetrübten Intellekt...“, begann Allen zögerlich sein Anliegen zu formulieren. Er wusste nicht genau, wie und wo er anfangen sollte. Wie sollte er Lavi sein persönliches Dilemma begreiflich machen? Nach den passenden Worten ringend leckte er sich über die trockenen Lippen, versuchte seine trägen, paralysierten Gedanken zu ordnen.

„Keine Sorge, ich habe immer ein offenes Ohr für dich, Allen. Was immer dich auch zwickt, du kannst es mir anvertrauen. Selbst ein Blinder würde bemerken, dass dich etwas belastet…Was ist es? Was liegt dir so scher auf dem Herzen? Ist es wegen deinem Auge? Befürchtest du ohne es deinen Dienst als Exorzist nicht mehr ausführen zu können?“ versicherte ihm der rothaarige Exorzist und ergriff ermutigend die rechte Hand seines Freundes, sodass dieser seine Nähe, seine Anteilnahme und seinen Willen zur Unterstützung spüren konnte.

Ein trauriges Lächeln stahl sich für einen flüchtigen Augenblick auf Allens Lippen, untermalte den Ausdruck seines traurigen Auges mit melancholischer Perfektion. Für diesen einen kurzen Augenblick spiegelte sich das ganze Leid, der ganze Gram auf dem erschlafften Gesicht des weißhaarigen Jungen wieder.

„Du kennst mich einfach zu gut, Lavi…besser, als ich mich selbst…Ja, ich mache mir in der Tat dahingehend Sorgen. Seit jenem Tag, an dem ich Mana von den Toten zurückgeholt, seine Seele in das Akuma-Skelett gebannt und ihn anschließend mit meiner erwachten Innocence getötet habe, bin ich ein Exorzist gewesen, habe als solcher gelebt und gekämpfte, um die gefangenen Seelen in den Akumas zu befreien und ihnen Frieden zu schenken…Jetzt allerdings, ohne mein verfluchtes Auge, ohne meine Verbindung zu den Dämonen fühlte ich mich dieser Aufgabe nicht mehr gewachsen. Unsicherheit hält mich gefangen, gelähmt, sodass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen kann…..Ich weiß einfach nicht mehr weiter….“, sprudelte es aus dem weißhaarigen Jungen heraus, wie aus einem frischen Bergquell.

Er schien irgendwie erleichtert zu sein diese seelische Last endlich mit jemandem teilen zu können. Lavi hörte sich stillschweigend an, was seinen jüngeren Kameraden plagte und atmete dann einmal tief ein und dann wieder aus.

„Allen, du selbst betrachtest dich als Exorzist und sehnst dich danach das Leben als solcher weiterführen zu können. Damals, als du deine Innocence verloren hattest, sie bis zu ihren Grundteilchen reduziert worden war, damals hattest du nicht die geringsten Bedenken. Du hattest ein Ziel fest vor Augen, nämlich auf das Schlachtfeld dieses Krieges zurückzukehren, als nichts anderes als ein Exorzist. Damals ging es um deine Innocence, jene Waffe, die dir erst erlaubt, dich als Exorzisten zu definieren und als solcher zu kämpfen. Sag mir also, Allen, wovor du dich jetzt eigentlich fürchtest? Deine Innocence ist nach wie vor intakt, du kannst jederzeit von ihr Gebrauch machen…Dein verfluchtes Auge hingegen ist kein essentieller Teil deines Exorzisten-Daseins, es ist jediglich eine zusätzliche Hilfestellung, mehr nicht. Allen, auch wenn du ein Auge verloren hast und sich deine Sichtweise von der Welt in manchen Punkten verändert hat, so hast du immer noch das Zeug, um diesen Job zu machen. Du bist niemand, der sich scheut noch so große Mühen auf sich zu nehmen, um sein Ziel zu erreichen…Also verdammt noch mal, reiß dich endlich zusammen. Du kämmst nicht allein an vorderster Front, du hast uns, deine Freunde. Wir halten dir den Rücken frei. Du brauchst deine Last nicht ganz alleine schultern…“, redete er nun eindringlich auf seinen bekümmerten Kameraden ein und führte ihm die wesentlichen, die wichtigen Dinge vor Augen, jene Dinge, die Allen bestärken sollten weiterzumachen, weiterzuleben, als Exorzist, als sein Kamerad, auf den er zählen und bauen konnte, so wie umgekehrt.

Es blieb einige Augenblicke still zwischen den beiden Jungen, nur das monotone Piepen des Überwachungsmonitors erklang in dieser Stille, in der Lavis Worte in Allens Kopf nachhallten und sich dort einhämmerten. Er hatte den Kopf leicht gesenkt, wie ein Verurteilter, ein Abgeurteilter, sodass es Lavi nicht möglich war sein Gesicht bzw. den Rest, der davon noch übrig war, zu erkennen. Ein leichtes Zucken ging durch den schmächtigen Körper des Jüngeren, ließ die schmalen Schultern leicht erbeben, so wie die hand, die Lavi immer noch fest umschlossen hielt.

Fast befürchtete er schon genau das Gegenteil von dem erreicht zu haben, was er beabsichtig hatte und so den Jüngeren zum Weinen gebracht hatte. In Erwartung dieser Situation hatte er von seiner hand abgelassen und sich zu ihm gebeugt, ihn vorsichtig umarmt, um ihn zu trösten, das Missverständnis zu begleichen, doch statt der erwarteten Schluchzer drang ein leises aber erleichtertes Lachen an sein Ohr. Etwas verdutzt nahm er von dem jungen Engländer Abstand, hielt ihn ein wenig von sich, um ihn misstrauisch zu betrachten, doch er erblickte nur eine kleine Freudenträne, die sich Allen von seinem rechten, verbliebenen Auge fortwischte.

„Wie hältst du es nur mit so einem Jammerlappen, wie mir aus, Lavi?“ fragte Allen, während sein blaugraues Auge ihn mit einem dankbaren Funkeln bedachte. Erleichtert darüber, dass Allen seine Worte richtig verstanden und diese auch begriffen hatte, lehnte er sich mit einem zufriedenen Lächeln zurück. Es war ein beruhigender, wie auch erfüllender Gedanke seinem geplagten Freund geholfen, ihn wachgerüttelt zu haben, sodass dieser von seinen Sorgen befreit war und keine Angst mehr vor der ungewissen Zukunft haben brauchte. Es war nur zu natürlich in mach einer Situation verunsichert, verängstigt und besorgt zu sein, vor allem unter solchen, schwerwiegenden Bedingungen.

„Ich bin dein Freund, Allen, und als solcher akzeptiere ich dich vorbehaltlos ganz genauso, wie du bist, mit all deinen Stärken, Schwächen und Macken…“, sagte Lavi schlicht, doch er meinte diese Worte genauso, wie er sie gesagt hatte.

„Danke, Lavi, danke…“, murmelte Allen und beugte sich nun seinerseits zu dem Rotschopf, um ihn zu umarmen, ihm so seine Dankbarkeit, seine Freude und all die anderen Gefühle zum Ausdruck zu bringen, die er im Hinblick auf ihre Freundschaft zu ihm empfand. Der junge Bookman erwiederte ein wenig verlegen die Umarmung seines Freundes und bekundete, dass es für ihn eine Selbstverständlichkeit war, für seinen Freund, seinen Kameraden da zu sein.

//Schade, dass nicht jeder solch eine Auffassung hat…// seufzte Lavi still in Gedanken, die in diesem kurzen, bewegenden Moment seinem zweiten Sorgenkind, Samantha, gewidmet waren. Schnell jedoch schob er diese Gedanken in eine besonders große und tiefe Schublade seines Hinterstübchens und schloss diese ab, damit sie nicht sein ganzes Denken vereinnahmten, so wie sie es die vergangenen Wochen versucht hatten.

„Wie geht es Samantha?“ fragte Allen nach, da das Letzte, was er von den beiden mitbekommen hatte, ihr heftiger, wie spektakulärer Streit in der Kantine gewesen war. Mit dieser ungeschickt gewählten Nachfrage bezüglich des jüngsten Mitgliedes ihrer kleinen Exorzistengemeinschaft machte der junge Engländer unwissentlich, wie unabsichtlich Lavis Bemühungen zu Nichte das französische Mädchen aus seinen Gedanken zu verbannen.

„Gut nehme ich an…Ich habe sie schon länger nicht mehr gesehen. Sie ist ja bei Tiedolls Einheit, da sieht man sich kaum, da wir ja unterschiedliche Missionen bestreiten. Auch im Bereitschaftsdienst habe ich sie bisher noch nicht angetroffen, aber ich habe keinerlei Bedenken, dass sie sich inzwischen gut bei uns eingelebt hat…“, meinte Lavi und versuchte möglichst beiläufig und unbeteiligt zu klingen, obwohl ihr Streit insgeheim immer noch an ihm nagte, doch sein Stolz und sein Rechtempfinden verweigerten ihm eine Aussöhnung mit der Franzosin.

Allen merkte, dass er einen wunden Punkt bei seinem Freund offen gelegt hatte und schwieg deshalb etwas betreten, fasste sich jedoch ein Herz und erkundigte sich nach der Ursache ihrer Auseinandersetzung, da sie ja zuvor eigentlich wunderbar auszukommen schienen. Der Rotschopf seufzte leise und stützte seinen Kopf auf die ineinander verschränkten Hände ab.

„Die ganze Sache ist einfach nur ein sehr großes, und sehr blödes Missverständnis. Sie hat total überreagiert…“, begann Lavi leise, während besonders unangenehme Erinnerungsbruchstücke an jenen Vorfall durch seine Gedanken flackerten.

„Samantha hatte sich endlich soweit erholt, dass sie den Krankenflügel verlassen und Hevlaska aufsuchen konnte…Ich hatte es versäumt sie darauf vorzubereiten, was sie dort unten erwarten würde. Dem entsprechend ist sie ziemlich in Panik geraten…Du kennst das ja aus eigener Erfahrung…Jedenfalls hat sie mir das ziemlich übel genommen, als hätte ich das absichtlich getan. Als ob ich so was jemals machen würde! Den Rest kennst du ja…“, setzte Lavi seine Schilderung der Ereignisse, die den Ausschlag zu ihrem Streit gegeben hatte, deprimiert fort.

„Das ist in der Tat ein gravierendes Missverständnis. Jeder, der Hevlaska nicht kennt und nicht weiß, was ihre Aufgabe ist, bekommt es mit der Angst zu tun…Hevlaska war sicherlich auch nicht sonderlich von den Vorfall dort unten begeistert…“, murmelte Allen und hatte seine rechte Hand nachdenklich an sein Kinn gelegt.

„Du solltest versuchen Samantha die Situation verständlich zu machen und das Missverständnis so schnell wie möglich aus der Welt schaffen…“, schlug Allen vor, da eine direkte Konfrontation, wo die Ereignisse noch relativ frisch waren, seiner Ansicht nach am besten war.

„Ehrlich gesagt, hänge ich noch an meinem Leben. Wenn das so ausartet, wie beim letzten Mal, dann reißt sie mir gleich zu Beginn den Kopf von den Schultern oder kratzt mit die Augen aus, da habe ich nun wirklich keine Lust drauf…“, schüttelte Lavi den Kopf und bedachte seinen Ratgeber mit einem gequälten, ironischen Lächeln.

„Willst du etwa den Kopf in den Sand stecken und die ganze Zeit mit Scheuklappen durch die Gegend laufen, Lavi? Willst du das wirklich? Das sieht dir gar nicht ähnlich. Du hast dich doch vorher auch nicht vor größeren Konfrontationen gescheut. Was ist dieses Mal anders?“ wollte Allen von ihm wissen, als er ihm nun seinerseits freundschaftlich ins Gewissen redete.

„Dieses Mal stecke dich selber voll drin…“, gab ihm Lavi deprimiert zur Antwort und lehnte sich mit einem schweren Seufzer auf seinem Stuhl zurück sich mit den Händen unglücklich durch das rote Haar fahrend.

//Warum kann Samantha nicht wenigstens etwas von Allens Einfühlsamkeit und Verständnis haben?// klagte er in Gedanken und starrte den Kopf in den Nacken gelegt zur hohen Decke des Krankenflügels hinauf.

„Mehr kann ich dir leider nicht raten, Lavi, aber du solltest es nicht weiter so dahinschleifen lassen. Das tut weder dir noch ihr gut…“, meinte Allen eindringlich, wobei er jedoch ein wenig nachvollziehen konnte, wie Lavis persönliches Dilemma aussah.

„Nur Mut, du schaffst das schon…“, bekräftigte der junge Engländer seinen Freund nochmals und ergriff nun seinerseits dessen rechte Hand, um sie sanft zu drücken und ihm damit zusätzlich Mut zuzusprechen. Lavi würde das schon schaffen, sofern er von seinen Freunden, auf die er vertraute, genügend Rückhalt bekam.

„Vielleicht solltest du Linalee ebenfalls um ihre Einschätzung der Situation bitten. Als Mädchen weiß sie vielleicht eher wie Samantha tickt…“, schlug Allen letztendlich vor, doch mehr wusste er auch nicht zu der verzwickten Problemlösung beizutragen. Der junge Bookman nickte leicht und signalisierte damit seine Zustimmung zu dem Vorschlag des jungen Engländers. Vielleicht würde ihm die zusätzliche, andere Sichtweise der Dinge helfen das Konfliktpotential wenigstens abzumildern, das sich bei seinem Zusammentreffen mit Samantha auf jeden fall entwickeln würde. Wieder konnte er nur hoffen und beten.

Schwert und Lanze

Es war doch immer wieder erstaunlich, wie schnell der Alltag in das Kloster Einzug halten konnte. Vielleicht lag das aber auch daran, dass die gewohnte Routine in den Zeiten der Unsicherheit, des Bangens und der Sorge Halt und Zuversicht gab. Wie dem auch war, für die Mitarbeiter des schwarzen Ordens bedeutete dies, wie auch an jedem anderen Tag eine Menge Arbeit. Den größten Teil der Belegschaft machten die Wissenschaftler aus, die unentwegt forschten, analysierten und auswerteten. Woher sonst kam der Papierteppich, mit dem Komuis wissenschaftliches Labor zentimeterdick gepflastert war, her?

Für die Exorzisten hingegen bestand der Alltag aus Training, Missionen, Bereitschaftsdienst und einem kleinen, luxuriösen Quäntchen Freizeit. Für das wichtige Training, das neben der regulären Grundausbildung auch zur Weiterentwicklung der eigenen Kampffähigkeiten beitrug, stand eigens eine geräumige Trainingshalle zur Verfügung. Diese war in mehrere Areale bzw. Arenen unterteilt und simulierte mit ihren unterschiedlichen Topographien möglichst viele verschiedene Arten von Kampfplätzen. Neben den Arenen, in denen Exorzisten gegeneinander oder gegen einen Trainingsroboter antreten konnten, gab es natürlich auch noch zwei lange Schießstände, einen mit unbeweglichen und einen mit mobilen Zielscheiben. Somit war für jeden etwas dabei, vom Anfänger bis hin zum Profi, vom Nahkämpfer bis hin zu denen, die nur aus der Distanz angreifen konnten. Jeder konnte dort nach seinen gegebenen Möglichkeiten und Fähigkeiten trainieren.

Diese Möglichkeit nahm an diesem Morgen auch die kleine Gruppe rund um General Tiedoll wahr, da das jüngste Mitglied möglichst rasch den sicheren Umgang mit ihrer Innocence erlernen konnte. Von General Tiedoll angeführt betraten sie die noch um diese frühe Stunde leere Trainingshalle und suchten sich eine der leichteren, ebenen Arenen aus, sodass sich die Trainingspartner vorerst keine Gedanken um ihre Umgebung machen brauchten.. Die Anregung des strategischen Denkens, wenn man auf schwierigem Gelände kämpfen musste, würde erst um einiges später im Lehrplan folgen.

„Ich will ja nicht unhöflich sein, aber wäre es nicht besser, wenn ich erstmal alleine trainiere, um überhaupt ein Gespür für meine Innocence zu bekommen…? Ich habe nämlich noch gar keine Ahnung, wie ich eigentlich von ihr Gebrauch machen soll…“, merkte die Franzosin mit unsicherem Blick auf die Kampfarena an, während ihr ein mulmiges Gefühl im Magen bereits jetzt schon etwas zu schaffen machte. Dieses Problem erhielt im Hinblick auf ihren Trainingspartner noch zusätzliches Gewicht. Marie, der große, dunkelhäutige Hüne war ihr auf Grund seiner Innocence eindeutig überlegen und ein eher ungeeigneter Trainingspartner, da er sie in sekundenschnelle mit seinen Stahlfäden „eingefangen“ hätte.

Der murrende Samurai, so wie Samantha Kanda hinter dessen Rücken zu nennen pflegte, war da schon eher geeignet, da sein Innocence-Katana Mugen ihrer Lanze in punkto Kampftechnik entgegenkam.

„Tch, macht sich schon in die Hosen…“, hörte sie Kanda abfällig murmeln und schenkte dem französischen Mädchen ein hämisches Grinsen, das Samantha ihm gerne aus dem hässlichen Gesicht geschlagen hätte.

Mit Kanda als Trainingspartner hatte sie sich das perfekte Opfer ausgesucht, um ihre Wut, die sie nun schon mehrere Wochen mit sich herumschleppte, an ihm auszulassen. Sie scherte sich nicht wirklich darum, ob sie ihm im Zuge ihrer „Auseinandersetzung“ ein paar Schnittwunden oder Presslungen zufügte.

„Das ist nicht nötig. Das kommt während des Trainings ganz von alleine. Versuch möglichst locker und entspannt zu sein, zwing es nicht herbei, sondern warte geduldig ab, bis sie ganz von alleine erscheint…“, meinte Tiedoll leichthin und setzte sich mit Marie an den Rand der Arena auf eine von mehrere Steinbänken, die für Zuschauer oder Teamkameraden bereitstanden. Der General hatte gut reden. Er musste ja nicht völlig unbewaffnet mit einem unberechenbaren, jähzornigen Samurai in den Ring steigen, um sich mit ihm zu messen.

Wenig begeistert stiefelte sie mit etwas Abstand zu eben jenem zu der steinigen Arena. Der Boden bestand aus braunem, solidem Felsgestein, das nahezu eben war. Nur hier und da zeugten kleinere Vertiefungen von vorangegangenen Kämpfen. Mit einigen Metern Abstand von einander bezogen die beiden Kontrahenten Position, als wollten sie sich ein altes Westernduell liefern, nur, dass sie von keinen Revolvern Gebrauch machten, sondern von nicht minder gefährlichen Nahkampfwaffen.

„Ach und Kanda, halt dich bitte etwas zurück. Samantha kommt gerade erst aus dem Krankenflügel, du brauchst die nicht gleich wieder dort einzuliefern…“, merkte der General vorher noch unbekümmert an, als würde er jediglich über das Wetter reden. Er schien sich überhaupt keine Sorgen um das Leben seines neuesten Schützlings zu machen, obwohl Kanda noch eine Rechnung mit dem Mädchen offen hatte. Normalerweise lag Kandas persönliches Niveau einfach zu hoch, als das ihn eine Beleidigung so einfach treffen konnte, doch das, was ihm Samantha auf der Feier an den Kopf geworfen hatte, war nicht ohne gewesen und hatte seinen Stolz schwer gekränkt.

Jetzt sann er natürlich auf Rache, um seinen Stolz, seine Person wiederherzustellen. Ob er dafür auch über Leichen gehen würde? Nun, die Franzosin schien es jedenfalls auf einen Versuch drauf ankommen zu lassen, da sie trotz ihrer geäußerten Zweifel mit ihm in den Ring stieg. Entweder war sie verdammt mutig, oder verdammt dumm. Letzteres schien nach seiner Ansicht wahrscheinlicher zu sein. Er würde jedenfalls keine Rücksicht auf sie nehmen, nur weil sie ein Mädchen war. Es war gegenüber dem entwaffnenden Scharm des anderen Geschlechts, anders als manche seiner Kollegen, immun.

Kanda taxierte seine ungeliebte Teamkollegin mit einem finsteren Blick, der auf Grund seiner hervorragenden Schulung sofort etliche offene Schachstellen an der Haltung seiner Kontrahentin feststellte. Sie stand ihm frontal gegenüber, bot ihm so die größtmöglichste Angriffsfläche, während sie sich selbst unwissentlich in der Bewegungsfreiheit einschränkte. Aus ihrer Position heraus würde sie ihre Füße erst noch in eine Ausweichstellung bringen müssen, bevor sie sich dann mit einem Sprung zur Seite aus dem Gefahrenbereich bringen konnte. Kanda hingegen fokussierte sie seitlich, den Körper so positioniert, dass seine linke Schulter zu ihr zeigte. Derartig aufgestellt, bot er am wenigsten Angriffsfläche dar und konnte durch den zurückgesetzten, rechten Fuß schnell zum Angriff beschleunigen, oder sich nach hinten zurückziehen, was aber hier wohl nicht von Nöten sein würde.

Samantha war kein ernst zu nehmender Gegner für ihn, dennoch ließ er nicht zu, dass seine Konzentration deswegen nachließ, selbst wenn es unwahrscheinlich war, dass sie ihm ernsthaft Probleme bereiten könnte, war er auch für diese Eventualität gewappnet. General Tiedoll würde ihm gewiss angemessen zurechtweisen, sollte er sie bei ihrem Training schwer verletzen. Wäre es da nicht besser gewesen mit Holzschwertern zu kämpfen? Offensichtlich setzte der General auf das Bedrohungsmoment, das eine echte Waffe ausstrahlte, um in dem Mädchen den instinktiven Schutzreflex und damit ihre Innocence hervor zu locken.

Mit relativ extremen Situationen konfrontiert, konnte der Mensch erstaunliche Kräfte mobilisieren, zumindest zielte wohl dahingehend der Plan des Generals.

„Du bist schon tot, nur weißt du es noch nicht…“, murmelte Kanda mit unheilvoller Grabesstimme, bevor er sein gewicht leicht nach vorne verlagerte und dann mit einer unglaublichen Geschwindigkeit auf sie zusprintete. Im Nu hatte er die wenigen Meter bis zu seiner überraschten Kollegin zurückgelegt und ihr mit der Breitseite seines stumpfen, deaktivierten Katanas einen ordentlichen Schlag gegen den linken Oberarm versetzt, der sie mit einem mehr überraschten denn schmerzhaften Aufkeuchen zurücktaumeln ließ.

Sie war gewarnt. Mit eigenen Augen hatte sie gesehen, wie schnell und gezielt er vorgegangen war, hatte am eigenen Körper erfahren, wie real und gefährlich die Bedrohung durch ihn und sein Katana war, auch wenn seine Waffe im Moment noch nicht scharf war. Vor allem das kalte, mörderische Glitzern in seinen nahezu schwarzen Augen vermittelte ihren Sinnen absolute Alarmbereitschaft. Adrenalin rauschte durch ihre Adern, schärfte ihre Sinne und spornte Herz wie Lunge zu Höchstleistungen an, entweder für Angriff oder Flucht.

Im Moment konnte sie allerdings nicht anderes tun, als vor Kandas wütenden Hieben zu fliehen. Wie ein aufgescheuchtes Huhn trieb er sie vor sich her über den gesamten Platz, während sie hin und wieder einige schmerzhafte Schläge von ihm bezog. Es war aussichtslos, dass sie irgendwie gegen den gefährlichen Samurai würde bestehen können, nicht jetzt, nicht so. Das Beste, was sie tun konnte, war eine möglichst große Distanz zwischen sich und ihn zu bringen und seinen Schwerthieben so gut sie es vermochte auszuweichen.

„Mugen wird aktiviert…“, murmelte Kanda mit einem mal und strich mit dem Zeigefinger seiner linken Hand über das noch stumpfe Stichblatt seiner Innocence, das mit einem Mal scharf wurde. Auf der blanken, fast schwarzen Klinge spiegelte sich nun Samanthas entsetzter Gesichtsausdruck wieder.

//Das kann nicht sein Ernst sein…!// dachte sie panisch beim Anblick der blanken Klinge und war Hilfe suchend einen Blick hinüber zu der Steinbank, auf der Marie und Tiedoll saßen. Das ging doch eindeutig zu weit. Sie musste das doch auch so sehen und endlich eingreifen, oder nicht? Marie schien ein wenig beunruhigt über die Entwicklung des Kampfes zu sein. Zwar konnte er wegen seiner Erblindung nicht sehen, was sich auf dem Kampfplatz zutrug, doch dank seiner Innocence-Kopfhörer, konnte er es hören. Nichtsdestotrotz griff keiner von beiden ein, sondern warteten noch ab, ob sich das Blatt nicht vielleicht doch noch zugunsten der Franzosin wenden würde.

Für den einen, kurzen Augenblick, in dem sie fatalerweise ihren gefährlichen Gegner nicht im Blick hatte, musste sie bitter büßen. Ein heißer Schmerz zog sich einmal quer über ihren linken Oberschenkel, dort wo Kandas Schwertklinge sich in kleines Stück in ihr Fleisch gesenkt hatte. Es war keine wirklich schlimme Verletzung, fast so als hätte sie sich an einem Blatt Papier geschnitten, trotzdem, oder gerade wegen dieser eher oberflächlichen Verletzung schmerzte die Wunde mehr, als es ihr eigentlich zustand.

„Drehe niemals deinem Gegner den Rücken zu, noch lass ihn aus den Augen, oder du bist tot…“, zischte ihr Kanda wie eine giftige Viper entgegen, bevor er wieder etwas auf Abstand ging, um sein geschocktes Opfer zu umkreisen. Samantha war ihm völlig hilflos ausgeliefert, hatte keine Chance sich ihm und seinem Schwert zu entziehen, außer indem sie die Flucht nach hinten antrat, um den Kampfplatz wenigstens lebend zu verlassen. Aber was brachte das schon? Das nächste Mal würde es wieder genauso sein, er würde sie wieder auf diese Art und Weise in der Hand haben und wie eine Katze mit ihr spielen. Wollte sie das? Nein! Wollte sie es ändern? Aber ja!

Sie wollte gegen ihn kämpfen, sich ihm gegenüber beweisen, sich selbst beweisen, dass sie stark und unabhängig war. Sie brauchte niemanden, der auf sie aufpasste, sie bemutterte und beschützte. Sie war alt genug, um alleine klar zu kommen, zumindest war sie dieser Ansicht.

//Ich brauche niemanden…// hämmerte sie sich ein und fixierte ihren Kontrahenten mit einem wütenden, angriffslustigen Funkeln. So leicht würde sie jetzt nicht klein beigeben, das verbot ihr ihr eigener Stolz, ihr eigenes Selbstwertgefühl. Sie wollte ihm diesen Triumph nicht gönnen, nicht ihm, diesem arroganten Schwertkämpfer.

Kanda fiel der erstaunlich Wandel, den seine Kontrahentin vollzog, auf. Der verunsicherte, verängstigte Welpe fletschte doch tatsächlich seine Milchzähne vor ihm.

//Ihr Kampfgeist ist erwacht….gut, dann brauche ich mich nicht mehr zurückzuhalten…// dachte Kanda und ein leichtes, morbides Lächeln zierte seine blassen Lippen. Sie war nach wie vor unbewaffnet, somit stellte sie für ihn keine wirkliche Bedrohung dar, nichtsdestotrotz nahm er eine defensive Haltung ein und sah belustig zu, wie sie frontal auf ihn zustürmte.

//Was für eine Idiotin…// dachte Kanda abfällig und konnte nicht glauben, dass er sich wirklich dazu herabgelassen hatte mit ihr zu trainieren. Allein sein Rachewunsch hatte ihn zu dieser dämlichen Idee verleitet.

Der Japaner machte sich bereit, um ihr die etwas stumpfere Breitseite seines Katanas in den Bauch zu rammen und ihr so den Wind aus den Segeln zu nehmen, als das Unerwartete geschah. Wie ein Hase sprang sie kurz vor ihm zur Seite und wich so seinem Schlag gekonnt aus. Jetzt lag seine komplette linke Seite völlig deckungslos offen. Mit einem gezielten Tritt gegen den Oberkörper oder seine Kniekehlen könnte sie ein paar Punkte für sich verbuchen, doch sie tat nichts dergleichen. Stattdessen warf sie die Arme in die Höhe, als wollte sie dort etwas ergreifen und tatsächlich, als sie ihre Arme mit Schwung wieder herabfahren ließ, hielt sie eine gewaltige, rote Lanze , die einer Naginata nicht unähnlich war, in den zierlichen Händen.

Nur ein beherzter Sprung zur Seite bewahrte ihn davor seinen linken Arm zu verlieren. Dort, wo er gerade eben noch gestanden hatte, steckte nun das gebogenen Stichblatt der Innocence-Lanze im felsigen Untergrund, in den es, wie ein Messer durch weiche Butter, geglitten war.

Das Blatt hatte sich mit dem Erscheinen von Samanthas Innocence gewendet, doch Kanda war noch lange davon entfernt sich ernsthaft Sorgen zu machen. Er konnte eindeutig mehr Kampferfahrung und Geschick im Umgang mit seiner Waffe vorweisen, als das französische Mädchen.

„So, die Mücke hat also einen Stachel…dann lass mal sehen, ob du mit diesem auch umgehen kannst…“, höhnte Kanda geringschätzig, was natürlich Samantha rasend machte. Sie war schon zu Beginn des Trainingskampfes nicht gerade bester Laune gewesen, da war es nicht sonderlich verwunderlich, dass es ihr schwer fiel bei solchen Worten ruhig zu bleiben.

„Wir werden ja nachher sehen, wer hier wen verhöhnt…“, konterte sie gereizt und stürzte wieder auf ihn zu.

Mit der großen Lanze hatte Samantha eindeutig die größere Reichweite, allerdings war sie nicht sonderlich gut für den absoluten Nahkampf geeignet. Wenn es Kanda gelänge unter der Lange wegzutauchen, war er dich genug heran, um, sie nahezu defensivlos anzutreffen. Es war ein Leichtes für einen Veteranen wie ihn dieses Vorhaben durchzuführen, da die Handhabung der Lanze den groben, ungelenkigen Bewegungen eines Holzfällers oder Metzgers glich. Wahllos und ungelenk stocherte sie durch die Luft, während Kanda, agil wie er war, durch ihre Defensivlinie brach und schon mit seiner Kling auf ihre rechte Schulter zielte, als er plötzlich einen heftigen Stoß in der rechten Seite verspürte, der ihn ein Stück zur Seite taumeln ließ und dabei den eigentlich nahezu harmlosen Schlag gegen die Oberseite ihrer rechten Schulter soweit ablenkte, dass die Klinge schräg nach unten geneigt in diese eindrang.

Der Aufschrei ließ die beiden Gestalten auf der Steinbank aufschrecken und sofort zum Geschehen eilen. Samantha war zu Boden gestützt und hielt sich die blutende Schulter, während Kanda neben ihr kniete und versuchte sich ein Bild von der Verletzung zu machen. Kaum, dass sein Katana durch ihren Körper geglitten war, hatte er auch schon sofort wieder herausgezogen, um nachsehen zu können, wie schlimm es war. Der Japaner knirschte verärgert mit den Zähnen, als er die Verletzung, entgegen Samanthas Protest, endlich freigelegt hatte und die saubere Stichwunde betrachtete. Er hatte ihr nur einen kleinen Schnitt an der Haut zufügen wollen, so wie am Oberschenkel, doch jetzt hatte er sie ernsthaft erwischt. General Tiedoll würde ihn nachher wieder ins Gebet nehmen, auch wenn es nicht allein sein eignes Verschulden gewesen war. Mit seinem Mugen trennte er ein größeres Stoffstück von seiner Uniform ab, um es auf die Verletzung zu pressen und so die Blutung wenigstens etwas zu stillen.

„Ab zum Krankenflügel…“, war alles was Tiedoll sagte und überließ es Kanda seine Teamkollegin dorthin zu bringen. Immer noch mit den Zähnen knirschend legte er sich ihren linken Arm um seine rechte Schulter während sein rechter Arm sich stützend um ihre Taille schlang. Von den beiden anderen eskortiert machten sie sich zum Krankenflügel auf, der in weiser Voraussicht nicht allzu weit von der Trainingshalle entfernt errichtet worden war. Welch ironisches Bild die beiden boten. Der allzeit jähzornige, genervte Samurai stützte seine verwundete Kameradin und erbitterte Gegnerin.

Ein heftiger Konflikt tobte in dem Japaner. Er konnte das französische Mädchen absolut nicht leiden. Sie war es gewesen, die seinen Stolz auf das Schlimmste gekränkt hatte. Irgendwo in seinem Inneren war diese Lust gewesen, sich an ihr zu rächen, ihr wehzutun, doch er hatte es ihr mit ähnlichen Waffen heimzahlen wollen, mit Worten, nicht mit dem Schwert. Kanda mochte zwar meist jähzornig sein, doch er war nicht brutal. Es ging gegen sein Ehrgefühl seine Waffenstärke gegen jemand schwächeres, unterlegeneres einzusetzen.

So fand er also auch keinen Gefallen an den Schmerzen, die sie offensichtlich durch ihre stark blutende Stichwunde litt. Immer noch zerknirscht gab er sie in die Obhut eines Arztes, der sich um die frische Patientin schon kümmern würde. Ein wenig zwickte ihn sein schlechtes Gewissen. Er musste sich eingestehen, dass er sie unterschätzt, sie auf die leichte Schulter genommen hatte und wegen dieser, seiner Unachtsamkeit war dieser vermeidbare Unfall geschehen. Es seufzte im Stillen und versuchte das Unangenehme auszublenden, während er den Kampf nochmals Revue passieren ließ. Ihr fehlte zwar die Finesse und das Geschick eines trainierten, erfahrenen Kämpfers, doch sie war durchaus in der Lage zu improvisieren und das Beste aus der jeweiligen Situation zu machen. Sie war eine Mücke mit einem Stachel, der ordentlich wehtun konnte, wie ihm seine rechte Seite pochend vor Augen führte.

Kanda bezweifelte nicht, dass sie, sofern man ihr vorhandenes Potential richtig förderte, eine wahre Bereicherung für die Gemeinschaft der Exorzisten werden könnte, die die Frontlinie in diesem Krieg gegen den Milleniumsgrafen ausmachte.

Ungeduldig, wie genervt wartete er mit den anderen auf den Befund des Arztes. Eine knappe, halbe Stunde verging, ehe sie ihn wieder sahen.

„Es besteht kein Grund zur Besorgnis. Sie hat nochmals Glück im Unglück gehabt. Die Klinge hat keine Organe beschädigt, lediglich einige größere Blutgefäße durchtrennt, doch das haben wir ohne Komplikationen wieder hinbekommen. Nichtsdestotrotz muss ich darauf bestehen, dass beim Training mehr Vorsicht geübt wird…“, gab der behandelnde Arzt nüchtern Auskunft und ließ den intensiven Blick seiner dunkelbraunen Augen bei den letzten Worten bedeutungsvoll auf dem Japaner ruhen, der sich mit einem empörten Schnauben abwandte. Es gab für ihn keinen weiteren Anlass mehr länger im Krankenflügel auszuharren. Er würde es den anderen überlassen an ihrem Bett zu wachen und ihre Hand zu halten. Was scherte ihn schon das französische Mädchen?

//Nichts…// war Kandas simple Antwort darauf, als er mit wehenden Uniformrock den Krankenflügel verließ.

Düstere Schatten

Seit dem Unfall in der Trainingshalle waren nun schon zwei Wochen vergangen, zwei Wochen, in denen Samantha wieder die träge, einschläfernde Langeweile verspürt hatte, mit der sie schon während ihres ersten Aufenthaltes im hiesigen Krankenflügel hatte kämpfen müssen. Sie hatte ein wenig versucht mit Allen ins Gespräch zu kommen, der noch immer seine schwere Gesichtsverletzung auskurierte, doch der junge Engländer war nicht gerade sehr gesprächig bzw. hatte sich ihr Gesprächsvorrat rasch erschöpft. Mit Lavi hingegen hatte sie sich Stunden unterhalten können, ohne dass die geringste Langeweile aufkam. Er konnte immer eine Geschichte von seinen zahlreichen Reisen oder ganz alltäglichen Begebenheiten zum Besten geben.

Samantha musste sich eingestehen, dass sie den fröhlichen, stets gutgelaunten Rotschopf auf schmerzlichste vermisste. Seit ihrem unangenehmen Streit, der nun fast einen ganzen, langen Monat zurücklag, hatte sie ihn kein einziges Mal wieder gesehen, fast so als würde er ihr absichtlich aus dem Weg gehen, sie meiden. Dieser Eindruck verstärkte sich noch dadurch, dass er sie anders als zuvor kein einziges Mal im Krankenflügel besucht hatte. Wie es schien, hatte er sie endgültig abgehakt, sie wie ein altes, gelesenes Buch bei Seite gestellt, um es dann mit Nichtachtung zu strafen und verstauben zu lassen. Der Gedanke für ihn völlig gestorben zu sein, ließ den Schmerz in ihrer Brust erneut aufflammen, der sie seit ihrer wochenlangen Trennung unablässig quälte, mal mehr, mal weniger.
 

„Trödel nicht herum…“, knurrte eine wohlbekannte, missmutige Stimme und holte sie aus ihren schmerzlichen Gedanken zurück in die Gegenwart. Kanda wandte sich wieder dem Portal zu, das in Mitten der „Eingangshalle“ wie ein Mosaik aus gleißenden Lichtscherben erstrahlte und schritt wie Marie zuvor völlig unbekümmert durch dieses hindurch. Nur Samantha und General Tiedoll standen noch außen vor.

„Er kann es kaum erwarten die Mission anzutreten…Komm, wir lassen ihn besser nicht warten…“, schwatzte Tiedoll gutgelaunt und schob das etwas verunsicherte, französische Mädchen mit sanfter Gewalt durch das Portal, das ihr nicht sonderlich geheuer war. Es war ihre erste, bewusste Reise mit der Arche, sodass ihr die Vorstellung einfach so durch den Raum teleportiert zu werden, nicht ganz behagte. Was, wenn nicht jeder Teil ihres Körpers an ihrem Bestimmungsort ankam? Was, wenn sie von ihrem Team getrennt an einen ganz anderen ort gelangte?

//Bloß nicht an so etwas denken…!// zwang sie sich, während sie sich blind vorantastete, da sie aus Angst die Augen zusammengekniffen hatte. Erst als warmer Wind über ihre fuchsigen Haare und über ihre helle Haut fuhr und sie festen, gepflasterten Boden wieder unter ihren Füßen spürte, öffnete sie wieder ihre Augen und atmete erleichtert aus, da sie auch unbewusst den Atem angehalten hatte. Sie war heil und in einem Stück in der Arche angelangt.

„Tch, was für ein Angsthase…“, hörte sie Kanda verächtlich murmeln, doch das französische Mädchen war viel zu sehr von der neuen Umgebung vereinnahmt, als dass sie die Beleidigung durch ihren missmutigen Kollegen mitbekommen hätte.

„Beeindruckend, nicht wahr? Es ist immer wieder ein überwältigender Anblick…“, kommentierte Tiedoll ihren Ortswechsel in das Innere der Arche, von wo aus sie über eine festgelegte „Tür“ wieder hinaus in die Welt übersetzen würden. Marie und Kanda waren vor dieser Tür stehen geblieben, die die Nummer „19“ trug. Das war jene Portalnummer, die sie nach Japan bzw. zum Dorf Hajimoto bringen würde. Von diesem Startpunkt aus würden sie nach einer in der Nähe lokalisierten Innocence suchen und diese bergen, um sie in Hevlaskas Obhut zu geben.

Es war Samanthas erste Mission seit sie dem schwarzen Orden beigetreten war und dementsprechend aufgeregt war sie. Die Aura der Innocence konnte früher oder später Akumas auf den plan rufen. Zwar traute sie sich zu gegen einen Level 1 und vielleicht auch gegen einen Level 2 Akuma kämpfen zu können, doch alles, was darüber lag, war für sie nach eigener Einschätzung mindestens eine Nummer zu groß.

//Ich bin ja nicht alleine unterwegs…// versuchte sie sich zu beruhigen, doch ihr Herz schlug nach wie vor schwer und heftig in ihrer Brust. Marie konnte es bestimmt deutlich Pochen hören mit seinen sensiblen Innocence-Kopfhörern, ihm entging ja so gut wie nichts mit ihnen. Fast wie zur Bestätigung dieser Vermutung wandte sich sein nahezu kahler, braungebrannter Kop zu ihr um, während sich seine Lippen zu einem beruhigenden Lächeln formten. Auch wenn diese Geste beruhigend hatte wirken sollen, verstörte sie Samantha eher, was zum Teil wohl auch an den trüben, blicklosen bzw. erblindeten Augen des gutmütigen, stillen Hünen lag. Sie hatte sich immer noch nicht an ihren starren, leblosen Anblick gewöhnt und sehr wahrscheinlich würde das noch ein wenig dauern, aber es war möglich, anders als eine Kameradschaft mit dem griesgrämigen Japaner.

Als sie alle die ihnen zugewiesene Tür erreicht hatten, nahm Kanda die messingfarbene Türklinke in die Hand, drückte sie hinab und öffnete die Tür, um in der selben, fließenden Bewegung durch die entstandene Passage zu treten. Für ihn und die anderen schien es das Natürlichste auf der Welt zu sein, doch Samantha konnte sich nur mit großen Widerwillen und guten Zuspruch durch ihren Lehrmeister dazu bewegen, ebenfalls durch das strahlend weiße Portal zu treten. So tauschte sie behagliche, sommerliche Wärme gegen nächtlich, frostige Kälte, die sie mit der ersten, zugigen Windböe erschaudern ließ.

Stärker mummelte sie sich in den dicken, wollenen Reiseumhang, um den frischen Wind so wenig wie möglich an sich heran zu lassen. Hier fast am anderen Ende der Welt tickte die Uhr etwas anders bzw. herrschte eine andere Tageszeit vor, die Nacht. Zu Hause in England wäre es jetzt noch nach wie vor später Mittag. Dieser krasse Zeitwechsel verwirrte Samantha ziemlich und ließ die kühle Nacht, in die sie hinaustraten, nur noch unnatürlicher wirken als zuvor.

„Nicht weit von hier befindet sich Hajimoto…Heute kümmern wir uns nur noch um unsere Unterkunft und machen uns dann morgen auf die Suche nach der Innocence…“, erklärte Tiedoll und führte die kleine Gruppe wie ein Ortskundiger durch den dicht gewachsenen Bambuswald, in dem sie gelandet waren. Der frische Wind pfiff heulend durch die teilweise nur schmalen Abstände zwischen den dicken, alten Bambusrohren und erzeugte dabei ein gespenstisches Heulen, das in der nächtlichen Umgebung plötzlich zum Wehklagen gesichtsloser Schatten wurde.

Diese Schatten waren jedoch nur Ausgeburten eines überreagierenden Hirns, das aus dem düsteren Zwielicht und den sich bewegenden Bambuszweigen namenlose Gespenster formten.

„Willst du da Wurzeln schlagen, Schisser?“ giftete ihr Kandas ungehaltene Stimme aus einiger Entfernung entgegen. Die Anderen waren schon ein gutes Stück vorausgegangen, bevor sie gemerkt hatten, dass ihr jüngstes Mitglied verängstigt zurückgeblieben war. Etwas Gutes hatte Kandas ungehaltener Tonfall, er machte sie wütend und wenn sie wütend war, dann hatte sie keine Zeit, um sich zu fürchten, zumindest sah das so in der Theorie aus. In der Praxis allerdings jagte ihr Herz in ihrer Brust und diesmal was das durch ihre Adern rauschende Adrenalin, das ihre Sinne schärfte, kein Segen, ganz im Gegenteil. Die scheinbar nach ihr greifenden Schatten scheinen mehr Konsistenz, mehr Festigkeit zu bekommen, während ihr heulen laut in Samanthas Ohren wieder hallte. Wie von Dämonen der Hölle gehetzt rannte sie die kurze Distanz bis zu ihrem Kameraden ohne einen Blick nach links oder rechts, geschweige denn nach unten zu richten, sodass sie zweimal kurz hintereinander über umgeknickte Bambusstämme stolperte.

Ihre blinde Ungeschicklichkeit rächte sich mit einem schmerzhaften Pochen in ihrem linken Knöchel, dessen Sehne sie sich wohl beim letzten Sturz gezerrt hatte.

„Wenn du dir schon bei ein paar Schatten im Buschwerk in die Hosen machst, kannst du gleich wieder nach Hause gehen…“, setzte Kanda noch einen drauf, als sie endlich, schwer atmend ihre Teamkameraden erreicht hatte. Das französische Mädchen hätte sich gerne mit dem arroganten Japaner angelegt, doch sie wusste, dass sie unter diesen Bedingungen nur den Kürzeren ziehen würde, sodass sie es dabei beließ den verhassten Kollegen mit imaginären Dolchen zu spicken, um ihn so in ein menschliches Nadelkissen zu verwandeln.

„Genug jetzt, Kinder…Eine warme Mahlzeit und ein heimeliges Bett rufen…“, wies der alte General die beiden Streithähne väterlich zurecht und übernahm dann wieder die Führung, Samantha hatte sich indes zu Marie gesellt.

Von dem ruhigen Hünen hatte sie bisher kein einziges, schlechtes Wort ihr gegenüber gehört, vielmehr verkörperte er neben dem jähzornigen Japaner und dem etwas zu fürsorglichen General den ruhigen, ausgeglichenen Pol in ihrer Gruppe.

„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Samantha. Wir sind die Einzigen hier draußen…“, sprach Marie leise und beruhigend auf seine verängstige Teamkameradin ein.

//Er hat gut reden…Er sieht ja nicht diese gespenstischen Schatten…// dachte sie unglücklich und hielt sich direkt an seiner Seite, damit er sie vor ihren heimlichen Dämonen beschützen konnte.

Wieder einmal mehr kehrten ihre Gedanken zu jener Person zurück, die ihr vom ersten Tag an nicht mehr hatte aus dem Kopf gehen wollen. Morgens, wenn sie aufwachte, galt ihr erster Gedanke ihm und wenn sie abends erschöpft einschlief, dann war ihr letzter Gedanke an ihn gerichtet, selbst ihre Träume waren von ihm erfüllt.

//Lavi, ach wärst du nur hier…// seufzte sie bedrückt in Gedanken, während erneut der Schmerz ihrer Trennung in ihrer Brust wühlte.

//Wie konnte ich nur? Wie konnte ich ihm das nur antun? Wie konnte ich nur so blind, so blöd sein? Verdammt, was bin ich doch für eine Idiotin…!// schimpfte sie sich aus und war so in ihrer Strafpredigt versunken, dass sie langsamer geworden war. Als sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihrer nächtlichen Umgebung zuwandte, waren die anderen verschwunden.

„Oh nein, bitte nicht…“, jammerte sie leise, als ihr plötzlich bewusst wurde, dass sie völlig alleine durch den dunklen Bambuswald lief.

„Marie? Kanda? General Tiedoll?“ rief sie mit zitternder Stimme die Namen ihrer Teamkameraden, doch der lauter heulende Wind verschluckte ihr Rufen und mögliche Antworten darauf wie eine hungrige Bestie. Der Wind hatte inzwischen aufgefrischt, war stürmisch geworden, sodass die unheimlichen Schatten noch wilder über die hohen, dichten Stämme des Bambus-Buschwerkes waberten. Gierig streckten diese bösen Geister ihre unförmigen Klauen nach ihr aus, um das unvorsichtige Mädchen in ihre dunkle, unheimliche Welt zu ziehen. Blind vor Angst jagte sie voraus in der verzweifelten Hoffnung, dass sie einfach nur zurückgeblieben war und die Anderen gleich wieder in Sicht kommen würden. Gleich würde Kanda sie wieder hämisch verspotten, jetzt gleich, doch niemand kam ihn Sicht.

Etwas Kaltes tropfte auf ihren Kopf und ließ sie erschrocken zusammenzucken, doch es war nur ein Regentropfen gewesen. Ein weiterer folgte sogleich, bis ein wahrer Regenguss auf die Erde und die allein gelassene Exorzistin niederging. Der dichte Regen bahnte sich rasch seinen Weg durch den Wollumhang und den Rest ihrer Kleidung, mischte sich mit den Tränen der Angst, die über ihre Wangen flossen. Sie nahm kaum noch etwas von ihrer Umgebung wahr, als sie blind vor Angst und Tränen allein durch den Bambuswald rannte und sich dabei immer hoffnungsloser verirrte.

Sie konnte nicht mehr sagen, in welche Richtung sie lief, ob sie die kleine Lichtung von vorhin nicht vielleicht schon zum dritten Mal überquerte.

//Wo seid ihr bloß?// schrie sie verzweifelt in Gedanken, da der Wind ihr diese Worte sofort von den zitternden Lippen gerissen hätte. Mächtig und ohrenbetäubend war sein Brüllen mit der Zeit geworden, fast so ohrenbetäubend wie der Donner, der auf die einsetzenden Blitze folgte. Ein wahres Unwetter entlud sich über diesem Fleck der Erde und mehrte ihre Angst noch um ein weiteres Stück. Samantha hasste Gewitter, hasste die gleißenden „Himmelsschlangen“, die sich zur Erde schlängelten, um bei ihrem Aufprall solche Donner auszulösen.

//Lavi…// weinte sie jämmerlich, rutschte auf dem nassen, schlammigen Untergrund aus, strauchelte und kam mit wild rudernden Armen zu Fall. Als sie im Begriff war sich wieder aufzurappeln und aus dem Schlamm zu stemmen, presste sie ein seltsames, ungewohntes Gewischt wieder zurück zu Boden.

„Was haben wir denn da, ein verirrtes Exorzistlein?“ hörte sie eine hämische Stimme sagen, doch es war nicht jene, die sie sich vorgestellt hatte zu hören. Mit Entsetzen wandte sie den Kopf zur Seite, hob ihn leicht an, um festzustellen, was ihr geschockter Geist verweigerte zu erkennen. Ein Level 3 Akuma hielt die gefangen, einen Fuß lässig auf ihren Rücken gestemmt. Jetzt war sie fällig. Diese eigentlich schreckliche Erkenntnis stellte sie mit fast unbeteiligter Nüchternheit fest.

„Was treibt sich jemand wie du so ganz alleine hier draußen herum? Hast du dich vielleicht verlaufen?“ höhnte der Dämon und verstärkte den Druck, den er mit seinem Fuß auf ihren Rücken ausübte. Ein halb unterdrückter Schmerzensschrei entrang sich ihren trockenen Lippen, als sie ihre Wirbelsäule auf Grund dieser Belastung protestieren spürte. Tiefer drückte er sie in den Schlamm, nahm ihr dabei auch die Luft zum atmen, da sie ihren Brustkorb nicht mehr Heben, nicht mehr einatmen konnte.

„Menschliche Kreaturen sind so schwach. Sie gehen so schnell kaputt, wenn man mit ihnen spielt…“, kicherte der Akuma vergnügt und steigerte den Druck wieder. Der Schmerz schien geradezu in ihrem Rücken zu explodieren, fraß sich glühend heiß durch ihren Körper wie eine Feuerwalze und formte einen ohrenbetäubenden Schmerzensschrei, den selbst Wind und Donner nicht zu übertönen vermochten.

„Schrei so viel zu willst. Niemand wird dich hören, niemand wird sich retten…“, säuselte der Level 3 Akuma und war im begriff die Exorzistin wie ein lästiges Insekt unter seinen Füßen zu zerquetschen, doch irgendetwas hinderte ihn daran diese einfache Bewegung auszuführen.

Er konnte sich plötzlich nicht mehr bewegen, als hätte ihn eine Spinne mit ihren klebrigen Fäden eingewickelt. Die „Spinne“ entpuppte sich als 1.89m großer, breitschultriger Hüne mit grimmigen Gesichtsausdruck.

//Marie…// dachte Samantha erleichtert, doch dieses Gefühl hielt nicht lange vor, verschwamm ihre Welt doch schon im Rauschen, Heulen und Donnern, das alles andere verschluckte. Gnadenvolle Schwärze senkte sich auf sie herab, als angstvolle Erschöpfung und brennender Schmerz sie in die erlösende Bewusstlosigkeit hinab zogen.
 

Als Marie aufgefallen war, dass Samantha nicht mehr an seiner Seite war, hatte er sofort versucht sie mit seiner Innocence zu lokalisieren, bevor Kanda wieder einer seiner äußerst gefürchteten Wutanfälle bekam, doch Sturm und Donner, sowie andere Hintergrundgeräusche hatten seine Suche erschwert, bis auch die anderen das Fehlen ihres französischen Schützlings aufgefallen war. Kanda war wie zu erwarten ausfallend geworden.

„Tch, ist doch immer das Gleiche mit ihr…Kaum lässt man sie auch nur für einen Augenblick aus den Augen, schon stellt sie Blödsinn an…“, hatte Kanda zornig geknurrt und auf einen Wink von Marie gewartet, wo sich Samantha aufhielt, damit er ihr gehörig seine Meinung geigen konnte, doch Marie hatte nur schlechte Nachrichten gehabt.

„Ich habe sie gefunden, aber ein Level 3 Akuma ist bei ihr…“, hatte der Hüne alarmiert Auskunft gegeben, bevor sich man sich eiligst auf den Weg gemacht hatte, um der Kameradin in Not beizustehen.
 

„Die werden von Mal zu Mal auch immer hässlicher…“, knurrte Kanda, als er sein Schwert blank zog und es mit einem fast liebevollen Streicheln über die noch stumpfe Klinge aktivierte. Mit einem weit ausholenden Hieb machte er kurzen Prozess mit dem Level 3 Akuma, der für einen erfahrenen Veteranen wie ihn keine große Herausforderung mehr darstellt. Kanda hatte schon gegen weit aus Schlimmeres gekämpft.

„Tch, solch ein Abschaum…“, murmelte Kanda nur verächtlich und ließ die schwarze Klinge wieder zurück in die ebenfalls schwarze Schwertscheide gleiten, bevor er sich zu seinen Teamkameraden umwandte. General Tiedoll hatte das bewusstlose, schlammbespritzte Mädchen auf seine Arme gehoben und wies den anderen wie zuvor wieder den Weg.

„Zeit ins Warme und Trockene zu kommen…“, murmelte er, da sie inzwischen alle bis auf die Knochen durchnässt und durchgefroren waren.

Sowohl Kanda als auch Marie hielten während ihrer weiteren Reise die Augen bzw. Ohren wachsam offen, um für einen weiteren, überraschenden Angriff gewappnet zu sein, doch sie erreichten unbehelligt das kleine, japanische Dorf, in dessen gemütlichen Gasthaus sie dank ihrer Reservierung unterkamen. Die nächste Überraschung ließ jedoch nicht lange auf sich warten.

„Was soll das heißen, es gibt nur zwei Zimmer?“ bellte Kanda wütend, nachdem er seine rechte Hand empört auf den Empfangstresen hatte niederfahren lassen, der nun einige hässliche Risse in dem alten, acht Zentimeter dicken Massivholz aufwies, das die Oberseite des Tresens ausmachte.

„Es tut mir furchtbar Leid, aber so lautet die Reservierung…“, versuchte die eingeschüchterte Empfangsdame die nächtlichen, durchnässten Gäste zu beschwichtigen.

„Dann ändern sie diese eben…“, schnappte Kanda bärbeißig, während eine zornig Ader bedrohlich an seiner Stirn pochte, ein sicheres Zeichen für seine nur mühsam zurückgehaltene Wut.

„Das geht nicht…Wir sind bereits vollkommen belegt…“, piepste die unglückliche Empfangsdame, die vom Tresen bzw. dem wutentbrannten Gast zurückgewichen war.

„Danke, wir nehmen sie. Marie, lass dir die Schlüssel geben…“, mischte sich General Tiedoll mit nüchterner Stimme in den sinn- wie fruchtlosen Streit ein. Seine sonst so väterliche, warmherzige Stimme, ließ eben diese menschliche Wärme nun vermissen, da die Sorge um seinen jüngsten Schützling zurzeit das dominanteste Gefühl in ihm war.

Wortlos begab man sich mit vor Nässe triefenden Umhängen und schlammbespritzten Stiefeln in den zweiten Stock, an dessen linkem Korridorende die beiden, kleinen Doppelzimmer lagen.

„Yuu, du kümmerst dich um Samantha, während ich über Golemfon Bericht erstatten gehe…“, gab General Tiedoll Anweisung, nachdem er das Mädchen im ersten Zimmer behutsam auf eines der beiden Einzelbetten niedergelegt hatte. Mit dieser Anweisung machte der alte General zwei dinge unmissverständlich klar, erstens, Kanda würde sich mit Samantha ein Zimmer teilen müssen und zweitens, er würde für sie sorgen müssen. Natürlich wollte Kanda protestieren, doch der eindringliche, ernste Blick, den Tiedoll seinem japanischen Schüler über den Rand seiner Brille hinweg zuwarf, duldete keinen Widerspruch, sodass sich Kanda widerwillig in sein Schicksal fügen musste.

Mit seiner ungeliebten, bewusstlosen, sowie verletzten Kameradin allein gelassen, hatte Kanda keine andere Wahl, als sich ihrer zu erbarmen, allerdings war er niemand mit großem medizinischen Wissen, wie Lavi oder Bookman, sodass eine medizinisch Versorgung auch schon allein durch den Mangel an entsprechender Ausrüstung auf das Minimum reduziert war. Bevor er sich allerdings darum kümmern konnte, musste er sich und sie erst aus den nassen, triefenden Klamotten schälen.

Mit wenigen, geübten Handgriffen hatte er sich von der tropfenden Kleidung befreit, trocknete sich nur mit einer frischen Shorts bekleidet den regennassen Körper ab und schlang sich dann das Handtuch wie eine exotischen Turban um das nasse, fast nachtschwarze Haar. Ein zweites Handtuch legte er neben Samanthas Bett bereit und machte sich dann daran sie aus ihrer durchnässten Uniform zu zerren, wobei die feuchte Kleidung widerspenstig an ihrer ebenso feuchten Haut kleben blieb.

Gut, dass er nicht so brisant wie andere Männer auf das andere Geschlecht abfuhr, ansonsten wäre diese heikle Aufgabe nichts für ihn gewesen.

//Warum muss ausgerechnet ich mich um sie kümmern? Baka-Usagi ist eindeutig besser für so etwas geeignet…// schmollte Kanda und wünschte sich den frechen Rotschopf herbei, damit er ihn von dieser undankbaren Aufgabe erlösen konnte. Der Japaner war nicht allein mit diesem Anliegen.

„L-Lavi…“, murmelte Samantha schwach, wachte zu Kandas Glück jedoch nicht auf, da er sich gerade daran machte ihr den BH auszuziehen.

//Was ist das für ein Mist?// grollte Kanda, als er sich mit dem Häkchenverschluss des BHs abmühte, schließlich kam es nicht jeden Tag vor, dass er ein Mädchen bis auf die nackte Haut entblößte. Nachdem auch das letzte Kleidungsstück entfernt war, machte er sich daran ihren Körper mit dem bereitgelegten Handtuch zu trocknen. Mehr rasch als wirklich effizient übte er diese Aufgabe aus, da ihm jede Berührung mit ihr zuwider war, als hätte sie eine ansteckende Krankheit. Wenn es nach ihm ginge, dann WAR sie eine Krankheit.

Als er schließlich zu der medizinischen Versorgung überging, fiel ihm auf, wie flach und gequält sie eigentlich atmete. Eine Zeit lang beobachtete er das schwerfällige Heben und Senken ihres Brustkorbes, bevor er dann mit dem Daumen seiner rechten Hand ihren flatternden Puls an ihrem linken Handgelenk erfühlte.

//Sie braucht professionellere Hilfe…// wurde dem Japaner spätestens nach diesem Befund klar. Nachdem er sie mit einer dicken Decke wärmend zugedeckt hatte, stürmte er in frischer, trockener ersatzuniform hinab zum Empfang, wo General Tiedoll immer noch mit der englischen Abteilung des schwarzen Ordens bzw. dessen Leiter, Komui Lee, telefonierte.

„Bestellen sie Lavi und Bookman hierher…“, war alles, was Kanda seinem verdutzten Lehrmeister zu sagen hatte, bevor er auch schon wieder auf dem Absatz kehrt machte, um bis zum Eintreffen der beiden „Sanitäter“ weiter über das verletzte Teammitglied zu wachen. Das war das Mindeste, was er in der Lage war zu tun. Er war Kämpfer, kein Arzt. Er kümmerte sich auf seine Weise um die Verletzten, nämlich indem es nicht zuließ, dass es welche gab.

In diesem speziellen Fall war seine Rechnung leider nicht aufgegangen, was ihn zusätzlich missmutig stimmte. Er hasste es Fehler zu machen.

Wieder oben im Zimmer angekommen, stiefelte er unruhig von einem Ende des kleinen Zimmers zum anderen, bevor ihm das zu dumm wurde und er sich von dem kleinen Tisch, den ihr gemeinsames Zimmer beherbergte, einen Stuhl ans Bett heranzog. Es würde gewiss nicht allzu lange dauern, bis Bookman und sein Schüler in Hajimoto eintreffen würden, immerhin erlaubte die Benutzung der Arche den fast zeitgleichen Wechsel von einem ort zum anderen, egal wie groß die tatsächliche Entfernung zwischen den beiden Punkten war.

//Verdammt, was brauchen die so lange?// knurrte Kanda entnervt, da sich vor allem während des aktiven Wartens die Zeit bis ins Unendliche zu dehnen schien. Grimmig musterten seine nahezu schwarzen Augen das französische Mädchen, das eindeutig Schwierigkeiten beim Atmen hatte. Fieberhaft überlegte er mit zusammengefalteten Händen, ob er etwas tun konnte, um ihr das Atmen zu erleichtern, da sein schlechtes Gewissen ihn bei ihrem verletzlichen Anblick gehörig zwickte. Wenn er besser auf die Acht gegeben hätte, dann wären weder er noch sie Teil dieser dämlichen Situation.

Ungeduldig trommelten die Finger seiner rechten Hand auf die Armlehne des Stuhles, von dem er wie elektrisiert aufsprang, als es plötzlich an der Tür klopfte, die sich auch sogleich daraufhin öffnete.

„Da sied ihr ja endlich, hat auch lange genug gedauert…“, grummelte Kanda ungehalten und schien fast fluchtartig den Raum zu verlassen, als könnte er es nicht länger ertragen mit Samantha in einem Raum zu sein. Vielleicht war es aber auch so, dass er nicht vor der Person an sich, sondern vor der ihm auferlegten Verantwortung für diese entfloh.

Lavi sah dem flüchtenden Japaner für einen Augenblick mit verwundert hochgezogener Augenbraue nach, bevor er sich zu seinem Lehrmeister an das Bett der bewusstlosen Patientin begab. Der alte Bookman hatte bereits die wärmende, schützende Bettdecke ein Stück zurückgeschlagen, um mit der Untersuchung zu beginnen. Lavi, der ihm wie üblich dabei assistierte, hatte seine ganz eigenen Schwierigkeiten zu atmen, steckte ihm beim Anblick der alten Freundin doch ein schwerer, schmerzhafter Kloß im Hals.

Fast einen Monat lang hatte er sie nicht gesehen, hatte sich immer wieder Vorwände gesucht, um ihr nicht begegnen zu müssen, da er trotz Allens und Linalees Zuspruch immer noch vor einer Konfrontation mit ihr zurückschreckte. Als er hier vor Ort den Grund für ihren plötzlichen, fast überstürzten Aufbruch erfahren hatte, hatten so viele unterschiedliche, schmerzhafte Gefühle ihn aufgewühlt und taten es immer noch. Da war seine Sorge um ihr Wohlbefinden, sein schlechtes Gewissen, das ihn nach wie vor plagte, seine heimliche Zuneigung zu der Franzosin und noch vieles andere, das ihm zu schaffen machte.

//Wenn ich sie nur umarmen könnte und alles wäre vergeben und vergessen…//wünschte er sich in Gedanken während er seinem Lehrmeister das Akkupunkthur-Set reichte, das wichtiger Bestandteil der medizinischen Ausrüstung des alten Mannes war.

Lavi erstaunte es immer wieder, welch beachtlichen Wirkungen man mit dem richtigen Setzen dieser feinen Nadeln erreichen konnte. Gezielt piekste Bookman sie an speziellen Knotenpunkten auf Oberkörper und Dekolleté, um die angespannte Muskulatur zu entlasten und so dem Mädchen das Atmen zu erleichtern.

„Richte sie auf, damit ich mir den Rücken ansehen kann…“, wies der alte Mann seinen Schüler mit routinierter Stimme an. Sogleich bezog Lavi gehorsam am Kopfende des Bettes Stellung und schob dem bewusstlosen Mädchen seine Arme unter den Achseln durch, sodass er sie aufrichten und halten konnte. Als er dies tat, fiel ihm der sich inzwischen langsam bläulich-violett verfärbende Abdruck in Höhe der mittleren Brustwirbel auf. Es war ein blauer Fleck von gewaltigem Ausmaß, einem großen Fußabdruck nicht unähnlich, wobei die Konturen jedoch nicht ganz so scharf waren.

„Wie ich vermutet hatte. Die Atembeschwerden kommen vom Rücken her. Der Bluterguss zeigt nur zu deutlich, wie viel Kraft hier einwirkte…“, murmelte Bookman und tastete fachkundig die schmale Wirbelsäule ab, ob diese beschädigt worden war. Einer der unteren Brustwirbel war auf Grund der hohen Belastung die auf den Rücken und seine „Stütze“ eingewirkt hatte, ein Stück aus der regulären Position herausgerutscht, doch das ließ sich zum Glück gleich vor Ort wieder richten. Er gab Lavi Anweisungen wie genau er sie zu halten hatte, damit er den Wirbel wieder zurück an seine ursprüngliche Position rücken konnte.

Ein lautes, hässliches Knacken ertönte, als der Wirbel zurück an seinen Platz sprang und der Körper des bewusstlosen Mädchen bäumte sich leicht in Lavis Griff auf, anscheinend waren die Schmerzen während dieser kurzen Prozedur groß genug, um sie selbst in ihrer Bewusstlosigkeit zu erreichen und veranlasste ihre Muskeln und ihren ganzen Körper sich zu verkrampfen, bevor sie wieder erschlafften, als hätte man einer Marionette die Fäden durchgeschnitten. Um den beanspruchten Rücken zu schonen und zu unterstützen legte der alte Bookman einen strammen Verband um diesen an, achtete aber darauf sie dabei nicht zu sehr in ihrer Atmung einzuschränken. Zufrieden mit der Versorgung packte er die Sachen wieder zusammen und überließ es Lavi die versorgte Patientin zu überwachen, während er selber hinab ins Erdgeschoss ging, um die anderen von dem Zustand ihres Teammitgliedes in Kenntnis zu setzen.

„Wie geht es ihr…?“ fragte General Tiedoll sogleich nach. Kaum, dass er den alten Mann auf der Treppe erspäht hatte, war er von dem Strohsessel aufgesprungen, indem er unruhig auf Neuigkeiten gewartet hatte.

„Ein verrutschter Brustwirbel und leichte Atembeschwerden durch die starke Krafteinwirkung auf den Rücken…jedoch nichts Lebensbedrohliches. Ein paar Tage strenge Bettruhe und die Sache hat sich erledigt…“, gab der alte Mann Auskunft, bevor er sich am Empfang nach zwei Futons erkundigte, da Bookman und Lavi bis zum Abschluss der hiesigen Mission bei ihnen bleiben würden, schon alleine um auf Samantha aufzupassen.

General Tiedoll brach ob der guten Nachrichten in Freudentränen aus, das Gesicht in den Händen geborgen.

„Hör auf rumzuheulen, alter Mann, sie lag ja nicht im Sterben…“, regte sich Kanda über diesen seiner Ansicht nach völlig übertriebenen Gefühlsausbruch seines Lehrmeisters auf, aber das war einfach zu typisch für den gefühlsduseligen General, der seine Schüler liebte, als wären es seine eigenen Kinder, als welche er sie oft zum Verdruss dieser behandelte.

Kurz sprach man noch die neue Raumbelegung ab, bevor man sich allgemein eine gute Nacht wünschte und sich auf die jeweiligen Zimmer zur Ruhe begab, das Ende eines aufregenden Tages.

Zweite Chance

Sie war fällig. Jetzt war es endgültig um sie bestellt. Sie wusste es ganz genau, es gab keinen Zweifel in ihr, keine naive Hoffnung, dass es anders um sie stand, als sie glaubte. Sie war fest davon überzeugt, dass es um sie geschehen war, nach dem, was sie erlebt hatte.

//Welch Ironie…meine erste Mission ist gleich auch meine letzte…// dachte sie verbittert und konnte sich das hämische Gesicht Kandas nur zu gut vorstellen, wie er sie im Sterben verhöhnte.

„Geschieht dir recht so, Dummkopf…“, hörte sie sein Gedankenbild sie verspotten, bevor es einem anderen Gesicht Platz machte. Die dunklen, fast schwarzen, unfreundlichen Augen wurden durch laubgrüne ersetzt, wobei das rechte hinter einer schwarzen Augenklappe verborgen lag. Blauschwarzes Haar leuchte flammend rot auf und wogte in einem sachten, gespenstischen Wind hin und her, als sich das wohlbekannte Traumgesicht ihres Freundes besorgt zu ihr herabbeugte.

//Ja, komm näher, noch ein kleines Stück…versüße mir meine letzten irdischen Augenblicke, bevor ich sterbe…schenke mir noch ein letztes Mal dein bezauberndes, entwaffnendes Lächeln…// bat sie in Gedanken und das Traumgesicht gehorchte ergeben. Seine Lippen formten zwar nicht das ersehnte, unbekümmerte, fröhliche Lächeln, doch zumindest ein Erleichtertes.

„Gott sei Dank, du bist endlich wach. Wie fühlst du sich?“ hörte sie ihn sagen. Was für eine seltsame Frage war das? Was sollte das bedeuten, dass sie „wach“ war? War sie zum Leben nach dem Tod erwacht, meinte er das? Ihr schwirrte der Kopf ein wenig, als sie versuchte sich mehr auf die Erscheinung zu konzentrieren. Angestrengt runzelte sie die Stirn, während ihr „Traum-Lavi“ immer noch auf eine Antwort ihrerseits zu warten schien.

„Samantha, ist dir nicht gut? Hey, du kannst mich doch hören, nicht wahr?“ hörte sie ihn nun fragen. Echte Besorgnis, tief empfundene Beunruhigung schwang in seiner angenehmen, aber auch angespannten Stimme mit. Näher beugte sich sein Kopf zu ihr herab. Sie sah am Rande ihres Blickfeldes, wie er seine rechte Hand erhob und spürte dann, wie seine Finger sanft über ihren Hals glitten. Zärtlich strichen sie ihr über die warme Haut auf der Suche nach der Halsschlagader, um ihren Puls zu erfühlen.

„Wie eigenartig…mein Ableben habe ich mir irgendwie anders vorgestellt…“, murmelte sie verwirrt, wie enttäuscht. Das sichtbare, grüne Auge des Rotschopfes wurde erstaunt aufgerissen, als sein Besitzer in Unglauben ihren Worten lauschte.

„Ich kann dir versichern, dass du hart im Nehmen bist. So schnell bringt dich Nichts zum, weder damals in Lyon noch hier und jetzt in Hajimoto…“, erklärte der überraschte Rotschopf und zählte die Pulsschläge mit, die er unter seinen Fingerkuppen spürte. Das verwirrte sie nur noch mehr. Ihr „Traum-Lavi“, behauptete steif und fest, absolut unerschütterlich, dass sie noch am Leben war, obwohl sie sich sicher war von dem Level drei Akuma wie ein lästiges Insekt zertreten worden zu sein. Einer von ihnen musst logischerweise im Irrtum begriffen sein.

„Wie sind die Schmerzen, ich hoffe erträglich?“ fragte Lavi besorgt nach unumstößlich daran festhaltend, dass sie noch am Leben war.

„Sie sind auszuhalten, sofern ich mich nicht bewege…“, murmelte sie, bevor ihr siedendheiß auffiel, was gerade gesagt worden war. Jemand der tot war, konnte unmöglich Schmerzen empfinden geschweige denn konnte er sich bewegen, doch beides traf auf sie zu, das eine mehr, das andere weniger.

„Ich bin am Leben?!“ wisperte Samantha völlig verdutzt und nahm zum ersten Mal aktiv ihre Umgebung war, die ihr träger Geist zuvor einfach ausgeblendet hatte, um sie beim Aufwachen nicht gleich mit einer riesigen Informationsflut zu überrollen. Sie lag in einem angenehm weichen Bett, das sagte ihr zumindest ihre nackte Haut, die auf einem bequemen Lacken lag und von einer dicken, weißen Steppdecke zugedeckt wurde. Die spärliche Einrichtung des kleinen Doppelzimmers hatte tatsächlich einen japanischen Touch, sodass Lavis Aussage wohl durchaus zuzutreffen schien.

„Was machst du hier?“ kam es nach kurzer Pause über Samanthas nachdenklich zusammengepressten Lippen. Schlagartig hatte sich die vorerst erleichterte Atmosphäre merklich um einige Grade abgekühlt, jetzt wo das französische Mädchen allmählich die Situation begriff. Sofort wurde der Rotschopf, der wachsam und fürsorglich an ihrem Bett Wache gehalten hatte, unruhig und versuchte die langsam entgleisende Situation mit einem verlegenen Lächeln wieder in den Griff zu bekommen.

„General Tiedoll hat angerufen und uns wegen eines Unfalls herbestellt…Ich war ziemlich geschockt, als ich hörte, was vorgefallen war…und äußerst beunruhigt, als ich deine Verletzung gesehen habe, doch glücklicherweise ist es nicht so schlimm, wie es aussieht…“, gab ihr Lavi zögerlich zur Antwort, wobei er viel Wert darauf legte seine Gefühle in Worte zufassen, die er dabei empfunden hatte. Es war ihm sehr wichtig, dass sie verstand, welche Gefühle er ihr gegenüber immer noch hegte, dass sie ihm absolut nicht egal war und dass es ihm Leid tat.

Tatsächlich hatte er es über sich gebracht, sich für sein Versäumnis von damals zu entschuldigen, ohne das es erst gar nicht zu diesem schrecklichen Chaos, dieser schmerzhaften Entzweiung zwischen ihnen beiden gekommen wäre. Unruhe erfüllte Lavi, als er auf eine Reaktion ihrerseits wartete, doch Samantha hatte den Blick ihrer grünen, leicht zusammengekniffen Augen wieder zur Decke über ihr gewandt, die Stirn unschlüssig in Falten gelegt. Wie eigenartig das doch war. Während der Zeit, in der sie sich elend, einsam und im Sterben begriffen gefühlt hatte, hatte sie ihn sich immer sehnlichst herbeigewünscht. In schmerzhafter Sehnsucht hatte sie sich in diesen dunklen Stunden nach seiner Nähe verzehrt, doch kaum, dass ihr flehendliches Hoffen, ihr illusorisches Träumen Realität geworden war, drängte wieder der alte Groll aus seinem dunklen Versteck in ihrem Herzen hervor und wollte es erneut verschlingen.

„Sam?“ fragte Lavi unsicher nach, da er jetzt schon auf glühenden Kohlen ob ihrer Reaktion saß. Was dachte sie wohl gerade? Überlegte sie sich , wie sie ihm noch eine reinwürgen und einen erneuten Streit vom Zaun brechen konnte, oder erwog sie vielleicht sogar seine Entschuldigung anzunehmen und diese Lappalie ein für alle Mal zu begraben und somit aus der Welt zu schaffen? Auf Letztes konnte er nur blind hoffen, denn er spürte instinktiv, dass es um diese Hoffnung nicht zum Besten bestellt war.

„Wofür entschuldigst du dich? Wenn es wegen Hevlaska ist, dann vergiss es. Dich trifft keine Schuld…“, hörte er sie plötzlich in die angespannte, unerträgliche Stille hinein sagen, in jene Stille, die ihn drohte um den Verstand zu bringen. Lavi blinzelte verdutzt. Hatte sie das gerade wirklich gesagt, oder litt er mal wieder an einer Halluzination? Nein, er war sich sicher, dass sie ihn von seiner Schuld an dem ganzen Schlamassel soeben freigesprochen hatte, doch woher kam der plötzliche Sinneswandel?

„Im Grunde genommen muss ich mich doch eigentlich bei dir entschuldigen, schließlich war ich es doch, die aus der Mücke einen Elefanten gemacht hat…“, murmelte sie leise und blickte wieder zu ihm auf, während sich ihre linke Hand unter der wärmenden Decke hervorwühlte, um seine rechte Wange sanft zu streicheln. Es war eine versöhnliche Geste, denn vor gut einem Monat hatte sich eben diese, linke Hand von ihr an ihm schuldig gemacht, als sie einen brennenden, roten leuchtenden Abdruck auf seiner rechten Wange hinterlassen hatte.

„Es tut mir wirklich Leid, dass ich mich wie eine Vollidiotin benommen habe…“

„Ist schon in Ordnung, vergeben und vergessen. Wir hatten jeder für sich unseren Anteil an diesem Debakel…aber jetzt ist es ok…“, redete er beruhigend auf sie ein, linderte ihre eigenen, nagenden Schuldgefühle mit seiner sanften Stimme.

Lavis Herz pochte vor Erleichterung über die schwindende Gewissenslast kräftiger in seiner Brust, stimmte in den Jubel seiner Gedanken mit ein. Er fühlte sich wie von schweren Eisenketten befreit, die ihn nun fast für einen ganzen, endlosen Monat gefangen und mit Angst geknechtet hatten. Mit seinem nur so typischen, verschmitzten Lächeln lehnte er sich wieder zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

„Was ist eigentlich mit Yuu los?“ wechselte Lavi das Thema, jetzt, wo die alte Sache endlich abgehakt und das beständige Missverständnis aus der Welt geschafft war.

„HM? Was meinst du? Was soll mit ihn los sein?“ war es nun an Samantha verwundert zu fragen. Natürlich wusste sie nichts davon, schließlich war sie seit dem Angriff des Level 3 Akumas bewusstlos gewesen.

„Na ja, erstellt sich so an als hättest du die Pest, kommt aber immer passend angeschlichen, um wie rein zufällig einen kurzen Blick ins Zimmer zu werfen, fast als wäre er besorgt um deinen Gesundheitszustand…“, erklärte Lavi leicht nachdenklich, denn das recht sonderbare Verhalten des Japaner gab ihm Rätsel auf, dennoch zierte ein spöttisches grinsen seine Lippen. Allein der Gedanke, dass der kalte, jähzornige, wie einzelgängerische Japaner so etwas wie eine soziale Ader besaß, war schlichtweg absurd. Das Einzige, was in der kleinen Welt des altmodischen Samurais von Bedeutung war, war sein Soba, sein Innocence-Katana Mugen, sowie Stolz und Ehrgefühl. Das war zumindest der Eindruck, den er bei den meisten Leuten hinterließ.

Nur jene, die das zweifelhafte Vergnügen hatten mehr mit ihm zu tun zu haben, so wie seine Teamkollegen, würden schon bald mehr an und in dem engstirnigen Japaner erkennen. Er mochte einen etwas sonderbare Art haben seine wenigen sozialen Kontakte zu pflegen, doch er war bei weitem nicht das kaltherzige Monster, als das er unter den Findern verschrien war.

„Vielleicht hat er ja ein schlechtes Gewissen, wegen dem, was passiert ist, spätestens nachdem General Tiedoll ihm dieses eingeredet hat. Mir scheint fast der arme Yuu wird recht häufig von ihm ins Gebet genommen…“, mutmaßte Samantha und zuckte dabei unbewusst mit den Schultern. Das war keine gute Idee gewesen, wie sie spätestens dann feststellte, als glühende Schmerzimpulse sich über ihren ganzen rücken fraßen und sie schmerzhaft die Luft scharf zwischen den verengten Lippen einsog.

„Merde…“, fluchte sie auf Französisch und atmete flach ein und aus, bis der Schmerz langsam wieder abebbte. Das Grinsen war aus Lavis Gesicht verschwunden und hatte wieder einem besorgten, nachdenklichen Ausdruck Platz gemacht.

„Du solltest dich wirklich nicht viel bewegen. Wir mussten dir einen Wirbel wieder einrenken und das ist immer eine ziemlich belastende Beanspruchung für den ganzen rücken, die Wirbelsäule, sowie die umgebende Muskulatur. Du musst dich daher unbedingt schonen, wenn das rasch abheilen soll…“, erklärte der Rotschopf ihr und streichelte ihr seinerseits nun über die linke Wange, um sie zu trösten und von den Schmerzen abzulenken.

„Falls es mit den Schmerzen zu schlimm ist, kann ich dir etwas dagegen holen gehen. Sie haben hier im Dorf eine ganz gute Apotheke, wie ich gesehen habe…“, bot er fürsorglich an, wollte ihr damit umso deutlicher zeigen, wie wichtig sie ihm war, wie gerne er sich um sie kümmerte, ihr beistand, in guten, wie in schlechten Zeiten.

„So wie ich mich kenne, wäre das vielleicht ratsam. Ich bin nicht gerade jemand, der lange still sitzen oder liegen kann, egal ob es wehtut oder nicht“, meinte sie mit einem ironischen Lächeln. Das hatte Lavi aufs schmerzlichste vermisst, diese lockere, freche, witzige Art des französischen Mädchens, die er in der Zeit ihrer unglücklichen Trennung entbehren musste.

„Gut, ich kümmere mich umgehend darum, nicht weglaufen, ja?“ scherzt er gut gelaunt und erhob sich voller Tatendrang von dem Stuhl, auf dem er die letzten beiden Tage über sie gewacht hatte. Mit einem frechen Zwinkern und einer kleinen Melodie auf den Lippen verließ er das Zimmer, um ein Schmerzmittel aus der Apotheke zu besorgen, dabei wäre er fast in Kanda bzw. das Frühstückstablett, das dieser vor sich trug, hineingerannt.

„Verdammt, pass doch auf, Baka-Usagi“, keifte Kandas übellaunige Stimme, während er um sein Gleichgewicht und die Utensilien auf dem Tablett kämpfte, ein Glück, dass er als durchtrainierter Kämpfer über eine lang geschulte Körperbeherrschung verfügte, sodass nichts zu Bruch ging oder verschüttet wurde.

„Dir auch einen guten Morgen, Yuu…“, grinste Lavi völlig unschuldig und betrachtete dann stirnrunzelnd das Tablett.

„Wenn du so viel isst, bekommst du bald Speckröllchen an den Hüften…“, zog Lavi seinen dunkelhaarigen Kollegen freundschaftlich auf. Er konnte es einfach nicht lassen, es machte einfach zuviel Spaß den heißblütigen Japaner zur Weißglut zu bringen. Lavi unterstrich seine Worte damit, dass er ihn neckisch an der Hüfte zwickte.

Das war nun eindeutig zu viel. Bedrohlich schwoll die heftig pochende Zornesader auf der Stirn des Japaners an, bevor dieser in Sekundenbruchteilen explodierte. Es folgte ein erschrockener Aufschrei, bevor dumpfe Schläge und ein unterdrücktes Stöhnen das schnelle Ende dieses kurzen Gerangels ankündigte.

„Versuch das nicht noch einmal, wenn dir dein Leben lieb ist, Baka-Usagi…“, zischte Kanda eiskalt und ein mörderisches, bluthungriges Funkeln glänzte in den fast schwarzen Augen des Älteren, als er auf den am Boden liegenden Rotschopf hinabblickte, der sich mit einem beschwichtigenden Lächeln die blutende Nase hielt. Kanda war eindeutig nicht in Beststimmung, das hatte Lavi gerade am eigenen Leib zu spüren bekommen. Kanda hatte sich keine Mühe gemacht seine Kraft zu zügeln oder ihn an einer weniger empfindlichen Stelle zu treffen, vielmehr hatte der Japaner mit voller Absicht ihm einen gezielten Tritt in den Magen verpasst, bevor sein rechter Handballen unsanft gegen Lavis Nase gekracht war.

Bei der eingesetzten Kraft war es fast ein Wunder, dass er ihm nicht zusätzlich noch die Nase gebrochen hatte. Der junge Bookman blieb noch ein bisschen auf dem Boden hocken, um wieder zu Atem zu kommen und dabei zu warten bis die Blutung etwas nachgelassen hatte. So war es ihm auch möglich zu sehen, wie Kanda mit dem völlig unversehrten Tablett nun Samanthas Zimmer betrat und dabei versäumte die Tür richtig hinter sich zu schließen, sodass Lavi von seiner Position aus einen guten Blick auf das Bett und den Stuhl, der daran stand, hatte.

„Hm? Kanda, was machst du denn hier?“ hörte er Samanthas Stimme überrascht fragen, während sich der unangemeldete Besucher auf dem Stuhl niederließ, auf dem vor Kurzen noch Lavi gesessen hatte. Das mitgebrachte Tablett ruhte auf seinen Knien.

„General Tiedoll wollte, dass ich dir was zu Essen bringe, sofern du wach bist“, erklärte der Gefragte mit abweisender Stimme und starrte dabei grimmig auf das Tablett. Lavi stutzt leicht. Der General hatte Lavi darum gebeten gehabt, nicht Kanda, zumal Lavi und Bookman sich so wieso um Samantha kümmerten. Wenn er von der Apotheke zurückgekommen wäre, dann hätte er Samantha auch etwas vom Frühstück mitgebracht, aber so war ihm der japanische Exorzist zuvor gekommen.

„Ah, …danke, ich bin wirklich hungrig, doch es gibt da ein kleines Problem…“, hörte er gerade Samantha verlegen lächelnd sagen, was offensichtlich mit einer fragend gerunzelten Stirn seitens des Japaner quittiert wurde.

„Verstehe, ich kümmere mich darum…“, hörte Lavi Kanda brummen und sah mit gelindem Schock zu, wie Kanda Samantha fütterte. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Hatte Lavi vorhin von Kanda so übel Prügel bezogen, dass er schon nicht mehr richtig sehen konnte bzw. halluzinierte? Es war einfach undenkbar. Diese ganze Situation war völlig verdreht.

Er selber müsste dort an Kandas Stelle sitzen und Samantha beim Frühstücken helfen. Das was nichts, was der Japaner je machen würde, nichts, was zu ihm passte. Es war schlichtweg absurd.

Wieder entsann sich Lavi wie Kanda fast wie zufällig an ihrem Zimmer vorbei geschlichen gekommen war und einen kurzen Blick hineingeworfen hatte, wann immer sich die Gelegenheit dazu geboten hatte. Lavi wurde plötzlich ganz anders zumute und das lag nicht an einem einsetzenden Schock, der durch das Nasenbluten verursacht worden war, sondern durch das siedendheiße Gefühl der Eifersucht. Er wusste genau, dass das lächerlich war, doch die beiden jetzt so intim beieinander zu sehen, Kanda an seiner Stelle sitzen zu sehen, machte ihn ganz krank.

Er musste sofort hier weg, etwas gegen das Nasenbluten unternehmen und dann ab an die frische Luft, um sich das überhitzte Hirn abkühlen zu lassen, bevor er noch eine andere Dummheit beging und sich weitere Prügel bezog.

//Mach dich nicht lächerlich, Lavi…Zwischen ihnen läuft nichts. Kanda holt nur nach, wozu du noch nicht gekommen bist…ein rein kameradschaftlicher Dienst…Kein Grund sich wie ein Idiot zu benehmen!// redete er mahnend auf sich ein und wusch sich im Gemeinschaftsbad für Männer das Blut von Nase und Kinn, dabei stellte er zufrieden fest, dass seine Uniform von Blutflecken verschont geblieben war, immerhin etwas.

Als er wieder halbwegs ansehnlich aussah, stopfte er sich zwei kleine Stücke von einem Papiertaschentuch in die blutende Nase und machte sich dann auf zur Apotheke, um so rasch wie möglich die Besorgung zu erledigen. Je schneller er wieder zurück war, desto besser. Er wollte sich lieber nicht ausmalen, was gerade in Samanthas Zimmer passierte, doch sein wacher, eifersüchtiger Geist machte ihm einen gewaltigen Strich durch die Rechnung. Wie ein Sadist führte er ihm die unglaubliche Szene vor, deren geschockter Zeuge er geworden war. Kanda umsorgte Samantha, wie Lavi es getan hätte, half ihr beim Essen und Trinken, als wäre es das Natürlichste und Selbstverständlichste auf der Welt.

//Argh…das richt jetzt!// befahl er sich in Gedanken und begann sich krampfhaft damit abzulenken indem er das letzte Kapitel aus seinem Lieblingsbuch auswendig rezitierte, doch es half nichts, vor allem, als ihm siedendheiß einfiel, dass Samantha unter der Decke bis auf Unterwäsche und Verband nackt war. Lavi konnte sein Blut schneller durch seine Adern und seinen ganzen Körper rauschen spüren. Kanda war vielleicht nicht so ein Lustmolch wie General Cross, aber wenn er jemals ein Auge auf ein Mädchen geworfen hatte, dann würde er sicherlich die Gelegenheit dazu nutzen und seine „Fürsorge“ ausdehnen.

Lavi beeilte sich den kurzen Weg bis zur Apotheke schnellst möglichst zurückzulegen, das Schmerzmittel zu besorgen und damit ebenso schnell wieder zum Gasthaus zurückzukehren. Schwer atmend schlitterte er über den Flur des zweiten Stockes, bevor er heftig atmend vor der Tür zu Samanthas Zimmer zum Stehen kam und diese fast schon gewaltsam eintrat. Er wollte damit Kanda unmissverständlich klar machen, dass er seine schwieligen Hände von ihr lassen sollte, doch die bereitgelegten, angriffslustigen Worte erstarben auf seinen entsetzt aufgerissenen Lippen. Der Anblick, der sich ihm bot, ließ seine Welt klirrend in einen Scherbenhaufen zerbersten.

Kandas Oberkörper war über Samanthas nahezu entblößten Körper gebeugt, während ihre Lippen in einem innigen Kuss aufeinander lagen, wie fest gesogen erschienen. Mit Lavis krachendem, überraschendem Auftritt ließ der Japaner von seinem „Opfer“ ab und schenkte Lavi ein finsteres Funkeln.

„Wo hast du so lange gesteckt, Baka-Usagi? Komm her und hilf mir“, keifte er wütend und wartete ungeduldig darauf, dass der überrumpelte Rotschopf aus seiner paralytischen Starre erwachte, um ihm beizustehen. Lavi begriff gar nicht mehr. Sein Hirn hatte sich abgeschaltet, die Sicherungen waren ob des schrecklichen Anblicks durchgeschmort und so weigerte sich Lavis Körper sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen.

„Nun mach schon! Sie atmet nicht mehr, verdammt noch mal“, fluchte Kanda, wobei hilflose Ohnmacht in seiner wütenden Stimme mitschwang. Entsetzt hatte er mit ansehen müssen, wie sie plötzlich erbleicht war, ihr Gesicht jegliche gesunde, lebendige Farbe verloren hatte und sich ihre grünen Augen nach Innen verdreht hatten, bevor sie bewusstlos geworden war.

Mit der Schocklage hatte er versucht den kurzfristigen Zusammenbruch des Kreislaufes wieder zu beheben, doch nach zwei Minuten hatte sich immer noch nicht bei ihr geregt. Zutiefst beunruhigt hatte er ihre Atmung überprüft, die, wie er feststellen musste, erschreckenderweise ausgesetzt hatte. Sofort hatte er mit der Mund-zu-Mund-Beatmung begonnen und dabei die Bettdecke auch ein Stück zurückgeschlagen, um von Zeit zu Zeit nach ihrem Herzschlag zu horchen, damit er wusste, ob und wann er mit einer Herzmassage beginnen musste.

Kur darauf war Lavi aber auch schon von seinem kleinen Ausflug wieder zurückgekehrt und konnte hoffentlich dank seiner medizinischen Ausbildung dem schwächelnden Mädchen besser helfen, als Kanda es mit seinem spärlichen Erste-Hilfe-Wissen vermochte.

Es dauerte einen kurzen Augenblick bis der Rotschopf die zornigen Worte des Japaners verarbeitet hatte, da sein Hirn immer noch auf Sparflamme arbeitete. Der drängende, verzweifelte Unterton in Kandas Stimme hatte ihn alarmiert, doch irgendwie hatte er den Bezug zur Realität verloren.

Alles schien ihm so unwirklich, abgehoben und verdreht. Er wusste nicht mehr, wo ihm der Kopf stand, keine gute Vorraussetzung, um medizinische Hilfe zu leisen.

„Wird’s bald…?“ schrie Kanda ihn rasend an, während sich seine Hände um Lavis Oberarme legte, feste zugriffen, um ihn dann grob zu schütteln, ihn wachzurütteln.

„Verdammt noch mal, tu doch endlich was!“ schrie Kanda ihn weiter an, bis dem jungen Bookman die Sache zu bunt wurde und er sich wenig zimperlich aus Kandas „Umarmung“ befreite.

„Ich bin nicht taub…“, schnappte Lavi gereizt zurück und stieß den älteren Exorzisten schroff bei Seite, bevor er sich zu Samantha kniete und ihren Grundzustand untersuchte. Wie Kanda bereits gesagt hatte, war ihre Atmung zum Erliegen gekommen, doch ihr Herz schlug noch, wenn gleich sich das durchaus recht schnell ändern konnte. Die Routine, mit der er Samantha untersuchte, gab seinem aufgewühlten Geist die benötigte Ruhe, um wieder klar denken und richtige Entscheidungen treffen zu können.

Nachdem er sich von Kanda hatte schildern lassen, was geschehen war, wies er ihn an den alten Bookman zu holen, da dieser über einen größeren Erfahrungsschatz an medizinischem Wissen verfügte und hoffentlich feststellen konnte, was diesen plötzlichen, unerwarteten Kreislaufzusammenbruch hervorgerufen hatte.

Wenn man die Ursache des Problems kannte, konnte man sich besser mit seiner Lösung befassen, so was das immer.

Nur wenige Augenblicke vergingen, die Lavi wie die Unendlichkeit vorkamen, bis Kanda mit Lavis ergrautem Lehrmeister im Schlepptau zurückkehrte. Bei dem hohen Alter dieses nach wie vor agilen, alten Mannes wäre Schildkröte eigentlich ein treffenderer Spitzname als Panda, den Lavi häufig benutzte, um seinen alten Herrn beim Namen zu nennen.

Lavi und Bookman waren nicht wirklich blutsverwandt, jedoch hatte der alte Bookman Lavi adoptiert, als dieser noch ein kleiner Junge gewesen war. Seit diesem Zeitpunkt er ihn Panda oder Opa, schließlich besaß ein Bookman keinen bürgerlichen Namen mehr, der Titel wurde zum Namen.

Mit der Aufgabe des eigenen Namens sollte die Verbindung zum Rest der Welt gekappt werden. Bookmen waren in der Regel Einzelgänger, die höchstens ihren Schüler und Nachfolger an ihrer Seite duldeten, wenn sie verborgene, ungeschriebene Geschichte miterlebten, aufzeichneten und recherchierten.

„Ein Bookman hat kein Herz…“, hatte der alte Mann einmal zu Lavi gesagt, um seinen Schüler zu ermahnen sich nicht zu sehr an seine Exorzistenkollegen zu binden, doch was hatte diese Warnung genutzt? Nichts. Lavi hatte sein Herz an seine Freunde und erst kürzlich vor allem an Samantha verloren, die gerade von dem alten Mann eingehend untersucht wurde.

„Wir müssen sie zum Erbrechen bringen. Irgendetwas, was sie gegessen hat, hat sie nicht vertragen und einen anaphylaktischen Schock erlitten. Je weniger von dem Allergen über den Magen ins Blut gelangt, desto besser…“, sagte er nach Abschluss seiner kritischen Untersuchung und wies Kanda an zwei Schüsseln zu besorgen.

Die erste war dafür da das Erbrochene aufzufangen, in dem anderen würde sich Wasser zum Mundausspülen befinden. Schnell kehrte der beunruhigte Japaner mit den georderten Gegenständen zurück und füllte dann die etwas kleinere Schüssel mit Wasser aus dem Gemeinschaftsbad der Männer. So blieb ihm das Würgen und Erbrechen erspart, das ihm aus falschem „Sozialgefühl“ zum „Mitmachen“ verleitet hätte.

Eigentlich war Kanda recht hart gesotten, wenn es um Verletzungen und Blut ging, aber der stechende Geruch und das würgende Geräusch beim Erbrechen forderten all seine Selbstbeherrschung, um den natürlichen, urzeitlichen Reflex „mitzumachen“ zu unterdrücken.

Angewidert rümpfte er die Nase, als er ins Zimmer zurückkehre und ihm dabei der säuerliche, übel riechende Gestank des Erbrochenen in die empfindliche Nase stach.

Es war noch schlimmer, als er es in Erinnerung hatte, doch auch wenn er bereits bittere Galle auf seiner Zunge schmeckte und sich sein Magen ernsthaft, krampfhaft zusammenzog, ersparte er sich die Schmach sich ebenfalls übergeben zu müssen.

Nachdem alles draußen zu sein schien, was sich in Samanthas Magen befunden hatte und ihr Mund ein paar Mal ausgespült worden war, um zu verhindern, dass sie an Resten des Erbrochenen erstickte, kramte Bookman in seiner medizinischen Tasche, um ein kleines, braunes Fläschchen daraus hervorzuziehen. Schnell hatte er den Verschluss abgeschraubt und piekste die Nadel einer Spritze hinein, die Lavi ihm gereicht hatte. In der linken Armbeuge suchte er sich die gut sicht- und ertastbare Vene, um dort das kreislaufanregende und .stabilisierende Medikament zu injizieren.

Kanda indes überließ man die Entsorgung des Erbrochenen und die Reinigung der beiden Schüsseln. Eine undankbare Aufgabe folgte der nächsten, doch er war Manns genug, als dass er sich offen darüber beklagt hätte. Von ihm würde man nie ein Klagen oder Wimmern hören. Er war stark, ausdauernd. Ihm machte nichts zu schaffen, kaum eine Verletzung war für ihn wirklich gefährlich, dank seines mysteriösen Tatoos, das er auf der linken Brust trug.

Dank ihm regenerierten sich seine Verletzungen erheblich schneller, als normal, doch das ging auf Kosten seiner allgemeinen Lebenszeit, die durch eine Lotusblüte in einem Uhrglas symbolisiert wurde. Dieses besondere Uhrglas stand in seinem privaten Zimmer, sodass er es oft genug im Blick hatte.

Machte er von seinem Tatoo Gebrauch, heilte damit schwere Verletzungen, kostete ihn das einige Lebenszeit, die damit verging und gleichermaßen verging der Lotus. Seine Blütenblätter verwelkten und fielen ab. Wenn sie alle aufgebraucht waren, war auch Kandas Leben aufgezehrt und ihn würde der Tod ereilen, dem er vorher so viele Male mit Hilfe des Tatoos von der Schippe gesprungen war.

Das war zurzeit jedoch nicht von Belang, denn es war nicht sein Leben, das hier nicht zum ersten Mal gefährdet war. Kanda hatte allmählich das Gefühl, dass Samantha Gefahren nur zu magisch anzog. Da waren die starken Level 3 Akumas in Lyon gewesen, ihre erste Auseinandersetzung mit ihm auf der Feier, der Angriff des Level 4 Akumas, dem sie nur knapp entgangen war, ihre zweite Auseinandersetzung mit ihm, dann der Level 3 Akuma vor zwei Tagen um Wald von Hajimoto und jetzt dieser plötzliche, allergische Schock.

Die Ausübung ihres Berufs war gefährlich, ohne Frage, doch das französische Mädchen hatte irgendwie die zweifelhafte Begabung wirklich in jedes Fettnäpfchen zu treten, das ihren Weg kreuzte. Lavi war zweifelsohne damit überfordert auf sie aufzupassen, die ganze Zeit Acht zu geben, dass sie nicht über ihre eigenen, ungeschickten Füße stolperte und sich dabei ihren hübschen Hals brach

Falls das irgendwann passieren würde, so würde er ihr bestimmt nicht nachtrauern, zumindest nicht offensichtlich und öffentlich, das nachte einen Typ von Kandas nicht. Es zeugte seiner Meinung nach von Schwäche und wenn es etwas gab, was der Japaner über alles hasste, dann war es Schwäche, sei sie körperlich oder geistig.

Sich dabei Quellen auszusetzen, die solche Schwächen hervorrufen konnten, diente zur Abhärtung und so sah er seine undankbare Aufgabe in einem weniger scheußlichen Licht.

Einzelkämpfer

Das Wetter hatte sich nicht wirklich gebessert, immer noch hatte der mit schweren, dunkelgrauen Regenwolken verhangene Himmel seine Schleusen geöffnet. Aus diesen ergoss sich unersättlich wie schon in der Nacht zuvor endlos strömender Regen auf die bereits durchweichte, schlammige Erde, für die es ohne schützendes Wurzelwerk kein Halten mehr gab. Keine besonders günstiger Voraussetzung, um sich auf die Suche nach einer Innocence zu machen.

Schon in den frühen Morgenstunden, eingehüllt in dichte Nebelschwaden, waren General Tiedoll, Kanda und Marie aufgebrochen, um in dem von den Findern eingegrenzten Areal nach der Innocence zu suchen, deretwegen sie fast bis ans andere Ende der Welt gereist waren. Das vierte Teammitglied musste im örtlichen Gasthaus, das sie als Unterkunft für sich auserkoren hatten, zurückbleiben, um sich von einem erst kürzlich zurückliegenden Akumaangriff und schwächelnder Gesundheit zu erholen.

Kanda erinnerte sich missmutig daran zurück mit welchem Fiasko ihre Mission hier in Japan begonnen hatte. So einen Grünspan mit auf eine echte Mission zu nehmen, bedeutete eine Gefahr für alle Beteiligten und lenkte bloss von dem eigentlichen Unternehmen ab. Ihre neueste „Errungenschaft“ in der Gemeinschaft der Exorzisten war nicht mehr als ein lästiger Kotz am Bein, eine ungeliebte Belästigung. Kanda missfiel die Degradierung zum Babysitter und Aufsichtsperson, die ihm der General hatte zukommen lassen, kaum, dass sie Kunde kam, dass ihr gut eingespieltes Team mit einem „Frischling“ aufgestockt wurde.

Der Japaner hatte das kecke, geradlinige und etwas zu angriffslustige, französische Mädchen vom ersten Moment an nicht leiden können. Um diesen inneren Zwist beizulegen, hatte der General dafür Sorge getragen, dass Kanda so etwas wie ihr gutes Vorbild sein sollte. Von ihm sollte sie alle Handgriffe und Kniffe lernen, die sie als angehende Exorzistin brauchen würde. So war zumindest er Plan gewesen, doch wie die Praxis ausschaute, hatten sie alle hautnah miterlebt.

Wie konnte man von einem mürrischen Einzelgänger und Einzelkämpfer wie Kanda erwarten so eine untypische Rolle zu spielen? Er war nicht so gesellig, so mitteilsam wie der junge Bookman, der unablässig um sie herumschwänzelte wie ein liebestoller Truthahn.

Genervt biss Kanda die Zähne zusammen, sodass sie grimmig knirschten und spähte in die trüben Nebelschwaden, durch die sie schon einige Zeit staksten. Alles um sie herum war feucht, flüssig. Der Boden unter ihren schlammbespritzten Lederstiefeln war ein einziger Morast, dessen klebrige Finger sie tiefer in diesen hineinziehen wollten. Mit einem saugenden, schmatzenden Geräusch lösten sich ihre Stiefel beharrlich aus dieser verlockenden Umarmung, doch auf die Dauer war das ziemlich ermüdend.

Kanda fluche still vor sich hin, als er nicht zum ersten Mal aus seinem linken Stiefel rutschte, der sich nicht aus dem zähen Griff des Untergrundes entwinden konnte. Das fransige Pony klebte ihm nass an der Stirn, sowie seine Kleidung an seiner Haut. Wieder einmal war er bis auf die blossen Knochen durchnässt, dank des strömenden Regens, der einer Sintflut gleich vom Himmel auf sie alle niederging. Insgeheim, in einem kurzen Moment der Schwäche beneidete er den Rotschopf, der im Trockenen und Warmen saß und dabei nur auf Samantha aufpassen brauchte. Ganz plötzlich schien der Babysitter-Job durchaus verlockend, doch Kanda schüttelt nur verärgert den Kopf bei dieser Vorstellung.

//Keine Schwäche….Der Regen, die Kälte, der Morast…all das ist nichts im Vergleich zu einem Kampf gegen einen Level 4 Akuma oder einen Noah…// hielt er sich ermahnend vor Augen, bevor er seinen Stiefel aus der Umarmung des trügerischen Untergrundes befreite und wieder hineinschlüpfte. Marie und General Tiedoll erging es gewiss nicht besser, sodass er sich an ihnen ein Beispiel nahm und sich weiter verbissen vorankämpfte, allen Widrigkeiten, mit denen die Natur ihn schlug, zum Trotz.

Mit jedem Schritt würden sie ihrem Ziel näher kommen und wenn es etwas gab, das den Japaner ausmachte, dann waren es Hartnäckigkeit und Zielstrebigkeit. Manche mochten es als engstirnige Sturheit bezeichnen, doch diese wussten nicht wovon sie sprachen, kannte sie doch keine der Widrigkeiten, mit denen Exorzisten wie er zu kämpfen hatte. Kanda gehörte nicht zu diesen schwachen Gestalten, nein, er war stark, hartgesotten, abgehärtet und gestählt von Mutter Natur und dem unbarmherzigen Zahn der Zeit. Er war dafür „gemacht“ worden allem zu trotzen, sich zu behaupten, gegen wen auch immer, dafür hatten SIE ihn geschaffen, als „Zweiten Exorzisten“.

Am Anfang war er nicht mehr als ein Zellklumpen gewesen, eine Vereinigung von Eizelle und Spermium, doch kaum, doch kaum, dass er ein wenig mehr geworden war, ein größerer Zellhaufen, hatten sie angefangen seine DNA zu manipulieren. SIE hatten ihm zu dem gemacht, was er heute war. Die Unbekümmertheit und Unschuld, die einen in der Kindheit normalerweise begleiteten, waren ihm verwehrt geblieben. Als schließlich General Tiedoll ihn unter seine Fittiche nahm, war er ein vergrimmtes und verschlossenes Kind gewesen. Wäre es nicht Tiedoll gewesen, der ihn in seinen Schutz geholt hätte, Kanda wäre vermutlich ein vollkommen anderer, wohlmöglich verschlossener und griesgrämiger Exorzist ohne Herz geworden.

Die väterliche Ader, die er vorgab so sehr an seinem Lehrmeister zu hassen, war für sein „geschundenes“, kindliches Ich Balsam gewesen und hatte mit der Zeit seine jungen Wunden geheilt. Inzwischen war Kanda flügge geworden und geriet des Öfteren mit seinem Mentor und „Schutzpatron“ aneinander, doch der Zorn verrauchte ob der Gutmütigkeit seines Lehrers rasch wieder, hinterließ dabei aber eine unerklärliche Leere.

Kanda sah seine Arbeit als Exorzist als Berufung und gottgegebene Pflicht an. Es war seine Aufgabe gegen die Heerscharen des Grafen zu kämpfen und kämpfen tat er. Wie kein anderer wusste er sein Schwert so meisterhaft zu führen, führte es mit Geschick und tödlicher Präzision. Nicht umsonst nannte man es Kampfkunst, was er praktizierte. Doch nicht immer befand er sich unmittelbar an der Front, nicht immer kreuzte er die Klinge im Angesicht des Todes, nein, es gab auch Tage der Ruhe, des illusorischen Friedens. In diesen Stunden plagte in mysteriöse Unruhe. Rastlos tigerte er dann durch das Kloster, sei es helllichter Tag oder tiefste Nacht. Stunden verbrachte er dann einsam mit Trainingsübungen, schwang sein Schwert in der undurchdringlichen Stille, doch es war nur ein schwacher, kurzer Trost, die Unrast würde ihn wieder heimsuchen.

Was war wohl der Grund dafür? Mangelte es ihm an irgendetwas?

//Nein…// versicherte er sich nicht zum ersten Mal, doch war es dieses mal nicht ganz so bestimmt noch überzeugend, wie die etlichen Male zuvor. Inzwischen hielt er den Gedanken nicht mehr für ganz so abwegig, dass ihm etwas wichtiges in seinem Leben fehlte, etwas, das es lebenswert machte.

So sehr er auch das französische Mädchen verachtete, so hatte sie doch etwas in ihm geweckt, ein schlafendes Tier, das nun erwacht war und rastlos in seinem stählernen Käfig auf – und abschritt. Es gierte nach dem unschuldigen Mädchen, wollte es besitzen, es sich eigen machen und nie mehr loslassen. Auch wenn es nicht seinem Vorhaben entsprochen hatte, so hatte er sich bereits einen Kuss von ihr gestohlen, eine süße verführerische Frucht.

Das Tier im Käfig heulte zornig auf, als sich der Japaner in einem Anflug von menschlicher Schwäche an das sanfte Gefühl ihrer warmen Lippen und den Duft ihrer ebenso warmen Haut erinnerte. Rasch schob er sich und seiner Bestie einen Riegel vor. Jetzt war nicht die Zeit, um illusorischen Tagträumen nachzuhängen, einmal ganz davon abgesehen, dass schon ein anderer um die Hand des Mädchens buhlte.

Zornig schüttelte er den Kopf, um sich die wirren Gedanken vom Hals zu halten und wieder klarer denken zu können. Er brauchte bei dieser Mission unbedingt einen klaren Kopf. Er musste sich jetzt ganz und gar auf seine nebelverhangene Umgebung konzentrieren, damit ihm nichts entging. Ein leises Rascheln, ein plötzlicher Windhauch, sie alle konnten winzige Vorboten eines Angriffes sein, den sie spätestens seit Beginn ihrer Mission zu erwarten hatten.

Nicht, dass es ihm wirklich in Gefahr brachte, wenn er von einem Akuma überrascht wurde, doch er verbot sich solch eine Unachtsamkeit einfach aus prinzipiellen Gründen. Jedes fehlerhafte Verhalten, jede falsche Entscheidung trug den Makel der Schwäche, des Versagens an sich, etwas, was er absolut meiden musste.

//Nur die Starken setzen sich durch, überleben…und pflanzen sich fort…//

Da war er wieder, dieser heimliche Gedanke, der seine langjährige Disziplin durchbrach, niederriss und ihn in Chaos zurückließ. Kanda wusste ganz genau, warum er bisher nichts für das anderer Geschlecht übrig hatte. Sie bereiteten einem nur Kopfzerbrechen.

Wieder schüttelte er knurrend den Kopf, diesmal vehementer las zuvor und umklammerte das Heft seines Mugen, das noch in seiner schwarzen Schwertscheide schlummerte. Der mit weichem, roten Leder umwickelte Griff, dieses vertraute, anschmiegsame Gefühl des Leders, gab ihm etwas von seiner natürlichen Ruhe zurück und schenkte seinem aufgewühlten Meer aus Chaos eine ruhige Insel der Ordnung.

„Irgendwelche Akumas da draußen…?“ fragte Kanda murmelnd. Er war sich sicher, dass Marie, an den die Frage gerichtet gewesen war, selbst in diesem verfluchten, alles verschlingenden Nebel seine Worte gehört hatte und tatsächlich bekam er kurz darauf den dunkelhäutigen Hünen zu Gesicht, als dieser sich hatte zurückfallen lassen, um seinem Kameraden zu antworten, schließlich verfügte Kanda nicht über so ein sensibles Hörorgan wie Marie. Überhaupt war nichts an dem mürrischen Japaner wirklich sensibel, zumindest nicht auf den ersten Blick.

„Vor ein paar Minuten habe ich kurz zwei Akumas ausmachen können, doch dann sind sie urplötzlich wieder verschwunden…“, erklärte Marie und runzelte dabei nachdenklich die Stirn. Er war sich sicher gewesen, dass sich die beiden Dämonen in ihre Richtung bewegt hatten, doch mit einem Mal waren sie auf unerklärlich Weise von seinem „Radar“ verschwunden, ihre Peilung unmöglich geworden. Normalerweise kam so was nur dann vor, wenn jemand die Akumas bekämpft und zerstört hatte, doch es hatte keine Kampfgeräusche gegeben, noch war die Möglichkeit hoch, dass sich jemand anderes als die Exorzisten um diese gekümmert hatten. Folglich hatten sie es hier mit einem Phänomen zu tun, das sie wohlmöglich in ernste Schwierigkeiten bringen könnte.

„schwingt die Hufe, der Berg kommt nicht zum Propheten, der Prophet muss schon zum Berg…“, tönte plötzlich General Tiedolls unbekümmerte, aber leicht tadelnde Stimme durch den dichten Nebel, bevor seine durchnässte Gestalt von diesem ausgespieen wurde.

„Ärger ist im Anflug…“, erklärte Kanda grimmig und seine nachtschwarzen Augen verengten sich hinsichtlich des „elterlichen“ Tadels wieder zu schmalen Schlitzen. Er konnte jedes Mal an die Decke gehen, wenn sein Mentor ihn nicht zum ersten Mal wie eines seiner Kinder behandelte. Inzwischen wusste der japanische Exorzist jedoch, dass gegen den „elterlichen“ Starrsinn des alten Mannes nicht ankam und ihm nur verblieb die sonderbare Behandlung resigniert und deprimiert über sich ergehen zu lassen.

„Wieso machst du dann keine Freudensprünge, Yuu? Das ist doch genau das, worauf du die ganze Zeit gewartet hast…“, durchschaute der General seinen griesgrämigen Schüler und stakste dann wieder weiter durch den Nebel, erinnerte sie damit an die Dringlichkeit ihrer Mission und die damit gebotene Eile.

Im Freudentaumel befand sich Kanda nun wirklich nicht, auch wenn er jeder Auseinandersetzung, jedem Wettstreit und Kräftemessen mit Ungeduld und Vorfreude entgegenfieberte. Im Moment hatte er jedoch andere Gedanken, andere Gefühle, die ihn beschäftigten.

Wie lange wollte er sich eigentlich noch selbst belügen? Wie lange wollte sein verdammter Starrsinn ihm noch den Blick auf die eigentliche Realität verwehren? Es stimmte, dass er das französische Mädchen von Anfang an nicht hatte ausstehen können, doch schon bald hatte er seine Meinung über sie revidieren müssen, spätestens als sie zusammen in der Trainingsarena gestanden hatten und die Funken zwischen ihren Klingen sprühten. Waren da vielleicht mehr als nur die offensichtlichen Funken übergesprungen?

Er konnte es nicht leugnen, dass er starke, wehrhafte Gegner zu schätzen wusste und Samantha war eindeutig wehrhaft. Ihre spitze Zunge stand in Punkte Schärfe ihrer Innocence-Lanze in nichts nach, das hatte er am eigenen Leib zu spüren bekommen. Das war vielleicht genug, um sie als Teammitglied, als Waffengefährtin zu akzeptieren, mehr aber auch nicht. Es war lächerlich sich vorzustellen sie als Lebensgefährtin, als feste Freundin zu betrachten. Sie würden sich auf Dauer gegenseitig an die Gurgel gehen, mit dem Bohnensprössling (Allen) war das auch nicht viel anders.

//Nur das du nicht schwul bist…// erinnerte ihn eine hässliche, hämische Stimme im Kopf.

Oh Gott, er redete schon mit sich selbst. War es schon soweit mit ihm gekommen?

//Immerhin bist du nicht schwul, Das sollte dich beruhigen…// erklang wieder seine Gedankenestimme, der sich so gar nicht darum scherte, wie sehr sich der Japaner um Selbstkontrolle bemühte. Es machte ihn einfach fertig. Er hasste es, wenn er die Kontrolle verlor, wenn ihm die Situation entgleiste und Wendungen nahm, die er nicht eingeplant, noch vorhergesehen hatte. Kandas Zähne knirschten wieder verärgert, doch ging dieser Laut im schmatzenden Geräusch des Schlammes unter, aus dem er seine Stiefel nicht zum ersten Mal zog, um sich weiter voran zu arbeiten.

//Ich habe verdammt noch Mal andere Prioritäten jetzt…!// grollte Kanda in Gedanken, doch sein zweites „Ich“ schwieg dazu nur, es war absolut klar, wie es um Kandas einsames Herz stand.

Die dichten Nebelschwaden, die unablässig um sie herumwabberten und dabei die Welt auf ein oder zwei Meter zu jeder Seite reduzierten, wollte im Schutze des dichten Bambuswaldes nicht vor den ersten Sonnenstrahlen zurückweichen, sodass die kleine Dreiergruppe nur sehr langsam vorankam. Kein Wunder also, dass Kanda genügend Zeit fand, um solch lächerlichen Gedanken nachzuhängen. Er war wirklich ein armseliger Kerl, versteckte und verschanzte sich hinter seinem Image des grimmigen, jähzornigen Einzelkämpfers, anstelle den Mut zu haben zu zeigen, wie er wirklich war, wer er wirklich war.

Nein, er musste ja seine Maske tragen, wie die Schauspieler in den alten, japanischen Theaterstücken. Manchmal kam es ihm so vor, als ob sie alle Teil eines inszenierten Stückes waren. Jeder trug seine eigenen Maske, mache waren als solche zu erkennen, andere verschmolzen bereits mit dem wahren Gesicht und andere wiederum waren undurchdringlich. Vielleicht zog ihn ja gerade die Echtheit, die Authentizität des französischen Mädchens an, denn sie gehörte eher zu den Zuschauern, die offen und ehrlich ihr Gefallen oder Missfallen an dem inszenierten Spiel kundtaten.

Etwas Weiches, Feuchtes ließ ihn abrupt aus seinen tiefsinnigen Gedanken aufschrecken. Er war in Marie hineingerannt, der wie as dem Nichts des Nebels plötzlich aufgetaucht war, als dieser innegehalten hatte, um zu „Horchen“.

„Pass doch gefälligst auf…“, knurrte Kanda, als wäre es die Schuld des blinden Hünen, dass sie beide zusammengestoßen waren. Anstatt seinen übellaunigen Kollegen zurecht zu weisen, erklärte er Kanda, dass die beiden Akumas, die er zuvor schon einmal aufgespürt hatte, sie verfolgten, aber immer wieder für längere Zeit quasi „verschwanden“.

„Sicher, dass deine Innocence keinen Wackelkontakt hat…?“ murmelte Kanda genervt. Normalerweise war Marie ihr zuverlässiges „Radar“, ein Lauscher, dem nichts entging. Dass die Akumas jetzt zeitweise unterhalb seines „Radars“ folgen, stimmte den Japaner nachdenklich.

Hatte der Graf nun auch einen Weg gefunden, um ihren zweiten „Spürhund“ für Akumas unschädlich zu machen? Wie er gehört hatte, war Allen nicht mehr in der Lage von seinem verfluchten Auge Gebrauch zu machen, so würde dieser, hilfreiche Vorteil für sie nun für immer entfallen. Wenn Marie nun auch „ko-gesetzt“ wurde, dann könnten sich die Heerscharen des Grafen völlig unbemerkt über den schwarzen Orden hermachen. Ein riesiges Dämonenheer würde man erst bemerken, wenn es längst zu spät war. Das war kein sehr beruhigender Gedanke.

„Ihr seid mir aber nun wirklich keine große Hilfe…“, tadelte Tiedoll seine beiden Schüler, als er erneut aus dem Nebel zu ihnen trat, in seiner linken Hand leuchtete wie ein Glühwürmchen eine würfelförmige Innocence. Der General hatte sie aus einem halb vermoderten, hohlen Bambusrohr gefischt, als ihm aufgefallen war, dass seine beiden Schützlinge nicht zu ihm aufgeschlossen hatten. Zum Glück hatte er nicht lange Suchen müssen, bis er sie wieder gefunden hatte, schließlich spürten Eltern ganz instinktiv die Aura, die Präsenz ihrer Kinder, wenn diese in der Nähe waren.

„Jetzt können wir zurück ins Warme und Trockene…“, verkündete der ältere General mit bester Laune und verstaute das „Schmuckstück“ in der Innentasche seines Exorzistenmantels.

Die Aussicht wieder ins anheimelnde Gasthaus zurückzukehren, hob selbst Kandas miserable Stimmung wieder etwas, wenigstens brauchte er sich dann nicht mehr durch zähen Schlamm und feine Dauerberieslung zu quälen.

„Auf unserem Rückweg werden wir zweifelsohne den Akumas begegnen, die uns schon die ganze Zeit verfolgen…“, wie Marie ihren absolut sorglosen Lehrmeister auf die drohende Gefahr hin.

„Es sind ja nur zwei, wie du gesagt hast. Kein Grund sich deshalb Sorgen machen zu müssen“, lachte Tiedoll und führte seine seufzenden Schüler wieder heimwärts. Es war doch immer das gleiche mit diesem, alten Mann. Er war eben ein Spleen, hatte diese unerklärliche Maske absoluter Selbstsicherheit und Sorglosigkeit.

//Wieder eine Maske…// dachte Kanda spöttisch, denn er war sich sicher, dass sich ihr General unter dieser Maske Sorgen machte. Er war nicht der unbekümmerte Trottel, für den er sich die meiste Zeit ausgab, genauso wenig wie Kanda ein asozialer, jähzorniger Einzelkämpfer war, doch es war schwierig eine Rolle abzulegen, die einem andere aufbürdeten. Die Erwartungen der Gemeinschaft, die strikten Regeln und Verordnungen dieser zwangen den Einzelnen zur Anpassung, drückten ihm eine Rolle auf. Entweder man akzeptierte sie und arrangierte sich damit, oder hatte den Mut zur Rebellion. Was allerdings einem einzelnen Rebell passieren konnte, zeigte die Geschichte nur zu gut. Allein auf sich gestellt, von der Gemeinschaft ausgeschlossen, diskriminiert, unterdrückt, bekämpft und am Ende liquidiert.

//Soviel zum Thema Individualität und Toleranz…// dachte sich Kanda und wieder verzogen sich seine Lippen zu einem spöttischen Lächeln. Er verspottete sich selbst. Er, der stark, unabhängig, frei sein wollte, war genau das Gegenteil, ein Mitläufer unter vielen.

//Rufe zur Rebellion! Leg ab die graue Kutte, leg ab das namenlose Gesicht und sei du selbst…// meldete sich sein zweites „ich“ aufrührerisch wieder zu Wort. Da hatte er den Beweis dafür, was diese gesellschaftliche Beschneidung einem antun konnte. Er war im Begriff eine zweite Persönlichkeit zu entwickeln, oder war es vielleicht eher so, dass er zu seinen Wurzeln, seinem wahren „Ich“ zurückkehrte?

Sein Grinsen wurde ein wenig breiter, spitzbübischer, als plane er einen Kinderstreich, wobei seine Rebellion doch eher ein kleiner Staatsstreich war.

„Sie kommen!“ hörte er Marie plötzlich warnend ausrufen, als auch schon ein wahrer Kugelhagel auf sie niederging. Das dichte Bambusgeflecht um sie herum bot nur mäßigen Schutz, zumal die Kugeln so schnell beschleunigt wurden, dass sie mindestens vier dicke, verholzte Bambusrohre durchschlagen konnten. Das maschinengewehrartige Dauerfeuer, das Nebel und Schlamm durchpflügte, stammte von einem Level 4 Akuma, dessen beide Arme sich in rotierende Maschinengewehrläufe verwandelt hatten.

Mit einem irren Lachen, dass einem schlechten Ganoven-Film entstammen könnte, nahm es die Exorzisten aufs Korn, die es nicht leicht hatten dem Dauerbeschuss zu entgehen. Wo Bambus nicht Schutz genug war, musste die speziell für solche schweren Kämpfe entwickelte Uniform herhalten. Das speziell verstärkte Material konnte die eine oder andere Kugel wegstecken, auch wenn an diesen Stellen hässliche Blutergüsse zurückbleiben würden. Das war allerdings immer noch besser, als wenn sie als blutige Schweizer Käse enden würden.

„Noel Organon!“

Das war das Stichwort für Maries Innocence. Mit extrem langen, dünnen, aber extrem stabilen Fäden aus Innocence-Material, die an Metallringen um seine Finger befestigt waren, konnte er den angreifenden Level 4 Akuma „einfangen“ bzw. so weit in seiner Mobilität einschränken, dass Kanda und Tiedoll zum direkten Angriff übergehen konnten. Kaum, dass der Akuma zeitweise gebändigt war, schossen die beiden Exorzisten aus ihrer durchsiebten Deckung hervor und aktivierten ihrerseits ihre Innocencen.

„Schöpfer Edens, zeig dieser Welt die Schönheit der Kunst…“, murmelte der alte General und stieß eine kleine goldene Sichel auf ein dunkles Kreuz, das er vor sich in den schlammigen Untergrund gerammt hatte. Erst wenn diese beiden Innocence-Bestandteile zusammengefügt wurden, erwachten diese zum „Leben“ und schufen eine riesige, nebelhafte, aber konsistente Gestalt, die er befehligen konnte. Kaum, dass sich das riesige Wesen von der Innocence des Generals gelöst hatte, eilte es bereits Tiedolls Schüler zu Hilfe und fixierte zusätzlich den sich mit aller Kraft wehrenden Dämon, damit Kanda den finalen Schlag gegen diesen ausführen konnte.

Wie ein wutentbrannter Racheengel sprang Kanda mit erhobenem Schwert auf den Akuma zu und ließ sein Mugen durch dessen unheiliges Fleisch fahren. Dunkelrotes, fast schwarzes Blut spritzt ihm entgegen, als sich seine Innocence glühend heiß durch den Körper des Dämons fraß, doch dieser verzog die blutigen Lippen nur zu einem spöttischen Lächeln, bevor er Kanda lauthals auslachte.

„Schachmatt“, murmelte er hämisch und umfasste mit seiner zurückverwandelten, totenbleichen Hand den Griff des grünlich leuchtenden Innocence-Schwertes. Im ersten Augenblick war Kanda verwirrt, was den Akuma so fröhlich stimmte, trotz seines sicheren Ablebens, doch dann schlug sein Gefahrensinn Alarm. Das war eine gottverdammte Falle. Der Japaner wollte sein Katana aus dem dämonischen Körper befreien, doch es gelang ihm nicht. So sehr er auch ruckte und zerrte, er konnte seine Waffe nicht befreien und war dem darauf folgenden Angriff schutzlos ausgesetzt. Ohrenbetäubender Donner pfiff ihm in rascher Folge um die Ohren oder biss sich in seinen wehrlosen Körper.

Aus nächster Nähe von solch tödlichen Geschossen getroffen zu werden, war verhängnisvoll. Das bewährte und gepriesene Spezialmaterial seiner Uniform konnte gegen solch einen Angriff nicht standhalten und zerriss im einsetzenden Sperrfeuer. Feurig heiß bissen sich die Kugeln in den schutzlosen Körper des fluchenden Japaners, der keine Zeit mehr hatte sich noch in Sicherheit zu bringen.

„YUU!“

Ein zweiter Nebelriese warf sich schützend in die Schussbahn, hielt die tödlichen Geschosse ab und verschaffte Kanda damit die nötige Zeit zum Handeln, die er brauchte. Er konnte jetzt nicht zimperlich sein. Ihm würde der Kampf, die Verletzungen nicht viel ausmachen, immerhin hatte er sein mysteriöses Tatoo, doch die anderen waren in erheblicher Gefahr, als sich nun der zweite Akuma ebenfalls als Level 4 Akuma offenbart hatte.

„Zweite Illusion, Schattenschwert…dritte Illusion, Schwingen der Verdammnis…“, murmelte der japanische Exorzist und setzte mit diesen Worten zwei spezielle Fähigkeiten seines Mugen frei. Erstere kreierte einen „Klon“ seines Mugen, der in seiner linken Hand materialisierte, sodass er nun mit zwei Schwertern kämpfen konnte. Die zweite Fähigkeit verwandelte seine beiden Schwerter in gleißende Lichtklingen, die wie ein riesiges, blau leuchtendes Schwingenpaar aussahen. So ausgerüstet machte er kurzen Prozess mit dem eh schon angeschlagenen Level 4 Akuma, bevor er sich dann dem zweiten zuwandte.

Ein morbides Lächeln zierten die blutigen Lippen des Japaners, während ein Hauch von Wahnsinn in seinen nachtschwarzen Augen glomm.

Das war der Kampfrausch, der jedes Mal in ihm erwachte, wenn er von der dritten Illusion Gebrauch machte. Er heizte ihn an weiterzukämpfen, gnadenlos, rücksichtslos sich selbst und anderen gegenüber. Für ihn zählte nur noch der Sieg, Niederlage oder Rückzug waren keine Optionen.

Vielleicht trug er die Maske des Einzelkämpfers doch nicht ganz unbegründet, denn im Augenblick hatte er völlig ausgeblendet, dass er noch Teamkameraden hatte, die ihm den Rücken freihielten, ihn unterstützten. Mit einem einschüchternden Kampfschrei stürzte sich der Japaner wie ein im Blutrausch befindlicher Berserker auf den verblieben Level 4 Akuma, der sofort auf den anstürmenden Exorzisten anlegte. Wieder pfiffen de Kugeln durch die Luft, durchpflügten den schlammigen Boden und durchbohrten dabei auch Kandas dargebotenen Körper, doch er spürte den Schmerz nicht, sah nur sein Ziel, seinen Gegner vor seinen mordlüsteren Augen. Seine hellblau gleißenden Lichtschwingen versanken in dem Dämon, der in einem grellen Lichtblitz sein erlösendes Ende fand. Es war vorbei. Der Kampf war entschieden. Er, nein, sie hatten gewonnen, doch welchen Preis hatten sie, nein, er dafür zahlen müssen?

Kandas durchsiebter Körper war blutüberströmt, die ehemals gepflegte Uniform vom Kugelhagel zerrissen und zum Stofffetzen degradiert, ein gefallener Krieger.

„YUU!“

Die angespannte Stimme seines Mentors war ganz nahe, als dieser neben dessen erschöpften Schüler kniete, dessen desolater Zustand offenkundig war. Müde und genervt schaute er zu dem verweinten Gesicht seines Mentors auf, als dieser ihn wie ein verletztes Kind umarmte und wiegte.

„Ich liege nicht im Sterben, alter Mann“, seufzte Kanda unangenehm von dem Verhalten seines Lehrmeisters berührt und spürte wie sein Tatoo bereits daran arbeitete seinen gebeutelten, malträtierten Körper wiederherzustellen. Ihm schwindelte ein wenig, sehr wahrscheinlich von dem Blutverlust, der er nach wie vor erlitten hatte, bevor sein Tatoo in der Lage gewesen war mit dem Heilungsprozess zu beginnen.

„Wir sollten uns besser auf den Rückweg machen…“, merkte Marie nüchtern an, doch auch er schien besorgt zu sein. Er hatte das unangenehme, reißende Geräusch gehört, hatte gehört wie sich die Kugeln durch den verletzlichen Körper seines jähzornigen Teamkameraden gebohrt hatten und jetzt hörte er seinen etwas schwächeren Herzschlag, beides Indizien für den angeschlagenen Zustand, in dem sich der Japaner befand. Zwar wusste Marie um die geheimnisvollen Regenerationskräfte Kandas, doch den Blutverlust, den dieser erlitten hatte, konnten sie nicht beheben.

Gröber als nötig befreite sich Kanda aus der fürsorglichen, besorgten Umarmung seines Lehrmeisters, um sich wieder aufzurichten und den Rückweg anzutreten, doch kaum, dass er glaubte sicher auf beiden Beinen zu stehen, kippte die Welt bedrohlich, bevor der anbrechende Morgen von einem schwarzen Tuch verhüllt wurde und Kanda das Bewusstsein verlor. Er spürte noch zwei kräftige Arme, die ihn auffingen, doch dann war die Nacht endgültig über ihn hereingebrochen, als der Blutverlust seinen Tribut bei ihm einforderte.



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Kommentare zu dieser Fanfic (17)
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Von:  Ai-chan
2011-06-19T00:00:55+00:00 19.06.2011 02:00
Hey!

Hab grad deine komplette FF durchgelesen und muss sagen eine der
Besten die ich jemals gelesen hab. Die Story ist mehr als interessant, einfallsreich, witzig, usw....
Hoffe du schreibst bald weiter.
Du bringst die Charakter wirklich gut rüber.

mflg
Von:  35M3R0D
2009-10-13T21:26:49+00:00 13.10.2009 23:26
Sam ist also schon weider verletzt. Naja, besser als wenn sie die über-Helding wäre, die gleich beim ersten Versuch alles auf die Reihe kriegt. So ist es auf jeden Fall realistischer. Zudem hatte diese Verletzung wohl den Zweck einerseits Kanda dazu zu bringen sich Gedanken über Sam zu machen und gleichzeitig auch wieder eine Begegnung mit Lavi herbeizuführen...
Von:  35M3R0D
2009-10-13T21:10:46+00:00 13.10.2009 23:10
Sam vs Kanda, und das im wortwörtlichen Sinne*g* Ich fand die Beschreibung, bzw. auch die Auswahl von Sams Innocence als Lanze ganz interessant. Ist mal was, das wir noch nicht hatten. Zudem fand ich die Kampfbeschreibung gelungen. Es ist schliesslich nicht einfach solche action zu beschreiben und es spannend zu halten.
Von:  35M3R0D
2009-10-12T19:02:06+00:00 12.10.2009 21:02
Um ehrlich zu sein mag ich diese Kapitel aus Allens Sicht bisher am liebsten. Sam ist kein schlechter OC, aber da man sich erst mit ihr vertraut machen muss, fällt es einem als Leser vielleicht schwerer sich an sie zu gewöhnen. Hingegen Einblicke in die Gedankenwelt bereits vertrauter Figuren zu kriegen, hat seinen ganz eigenen Reiz^^ Die ganze Thematik, die du mit Allens Unfall aufbaust, seine seelischen Leiden und Unsicherheiten, die daraus erwachsen, hätten eigentlich schon genug Potential für eine ganze Geschichte.
Von:  35M3R0D
2009-10-11T21:07:39+00:00 11.10.2009 23:07
sehr interessantes kapitel. eines der bisher besten, wenn du mich fragst. die wendung mit allens verletzung kam unerwartet, funktioniert als plot device aber sehr erfrischend. bisher kennen wir ihn ja nur als helden, der immer wieder irgendwie davon kommt und nie wirklich langfristig von etwas gezeichnet wird. ich bin also sehr gespannt, was aus dieser "eisernen maske" wird, ob er sie behalten muss, oder ob sich auch hier seine seltsamen regenerationsfähigkeiten zeigen.
zudem mochte ich die aufwachszene mit cross und link. man schätzt general cross ja nicht als jemanden ein, der sehr viele emotionale bindungen hat, trotzdem wacht er an allens krankenbett und bringt dann auch noch den deplatzierten spruch...
und link, ich fands schön, dass du auf seine gedanken eingegangen bist. man merkt ja auch schon im manga, dass er anfängt eine bindung zu allen aufzubauen und das kam hier auch sehr schön rüber. Hach, in solchen Momentan wünsch ich mir dann wieder LinkxAllen Szenen*schmacht*
Von:  35M3R0D
2009-10-11T11:35:43+00:00 11.10.2009 13:35
Ich findes es gut, wie du die POVs immer wieder wechselst. Hier fängts ja mit Allen an,d er so die Ankunft des Akumas bemerkt.
Zudem gefällts mir auch, dass du Sam mal ein Kapitel lag ne Auszeit verschafft hast und sie sich nicht gleich beim ersten Kampf zur Heldin aufschwingen kann, oder sowas. Ist realistischer so.
Aber der arme Allen wurde verletzt*pat* ich wette, jetzt landet er wochenlang auf der Krankenstation und Lavi kann sich um ihn kümmern...
Von:  35M3R0D
2009-10-11T11:23:45+00:00 11.10.2009 13:23
Sam trifft auf Kanda*lol* Einerseits fand ich die etwas zynische Beschreibung seiner schelchten Laune witzig und dann auch noch die Tatsache, dass Sam sich in Sachen Jähzorn wohl mit ihm messen kann.
Ich bin eigentlich nicht so ein Fan aufbrausender Charas, aber mal sehen wie's weiter geht und ob sich die Streitereien mehr zu einen slapstick Element entwickeln, das eigentlich nur betont, dass sie sich mögen. Was sich neckt, das leibt sich...
Lavi tut mir allerdings etwas elid, dass er so schnell in den Hintergrund gedrängt wird*pat*
Von:  35M3R0D
2009-10-11T11:09:12+00:00 11.10.2009 13:09
so, ich hab auch schon ewig keinen Kommie mehr gschrieben*drop* irgendwie ist das wohl ein wenig untergegangen, sry-_-
Ich mag, dass du die dritten Uniformen gewählt hast, denn sie gefallen mir von allen am besten^^ Und auch, dass du näher darauf eingangen bist, wie genau Sams denn nun aussieht. War klar, dass Lavi es toll findet, dass sie nen Rock trägt*lol* Obwohl er offensichtlich doch etwas länger ausgefallen ist als bei Linali.
Leverrier und Link kriegen auch wieder nen Auftritt, wobei die beiden ihrem bekannten Raster treu bleiben. Wird Link Sam gegenüber noch etwas auftauen? Schliesslich tut er das ja auch bei Allen, wenn man ihn etwas näher kennt*g* Die Szene bei Hebraska war interessant, obwohl Sam etwas gar nachtragend ist betreffend dieses kleinen Schrecks;P Ich hab nämlich den Eindruck, Hebraska so unvorbereitet zu treffen ist fast sowas wie ein Initiationsritus, ein kleiner Spass auf Kosten der Neuen... gemein gesagt*g*
Von:  35M3R0D
2009-02-27T14:48:32+00:00 27.02.2009 15:48
Lavi bringt Sam Englisch bei, klingt ja schon mal witzig*g* Wobei ich sagen muss, dass ‚Je suis six antes’ falsch ist. Ich will jetzt nicht besserwisserisch rüberkommen, aber korrekterweise müsste es "J'ai six ans" heissen, weil Alter im Französischen (wie auch in den meisten anderes romanischen Sprachen) mit 'haben' (avoir) gebildet wird.
Wenn du die Übersetzung von nem online tool hast, solltest du ihm besser nichts mehr glauben;P
Von:  35M3R0D
2009-02-27T14:32:53+00:00 27.02.2009 15:32
Beim Französisch hätte ich dir vielleicht helfen können, schliesslich hab ich 9 1/2 Jahre davon auf dem Buckel, andererseits hast du schon recht, dass es für die Leser irgendwie zu anstregend/verwirrend gewesen wäre so viele Dialoge in einer Fremdsprache drin zu haben.
Ich mochte übrigens die "Introduction" von Leverrier*g*
Ach und noch eine kleine Randbemerkung: Da ist ein Formatierungsproblem ab Seite zwei mit der Kursivschrift, so dass die gesamte zweite Hälfte des Kapitels kursiv geworden ist und nicht nur die franz. Sätze.


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