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D.Gray-Man

Die unbekannte Geschichte
von

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Der Junge mit der eisernen Maske

Tiefe, abgrundtiefe Dunkelheit umfing ihn, während er immer tiefer stürzte, immer tiefer in die namenlose Schwärze, die kein Ende zu nehmen schien. Stunden dauerte sein freier Fall schon an, zumindest hatte er das Gefühl, das dem so war, aber ohne eine Uhr oder dergleichen konnte er sich nicht absolut sicher sein. Zumal ein einziger Gedanke, ein einziges Gefühl die meiste seiner Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, das Gefühl der Angst, das ihn zurzeit umklammert hielt. Er fürchtete sich vor dem Moment, in dem sein rasanter Fall durch die namenlose Schwärze abrupt enden würde, wenn er endlich auf dem Grund dieser dunklen Tiefe aufschlagen würde.

Weitere Minuten strichen an ihm vorbei, doch nichts änderte sich, der Fallwind, den er während seines Sturzes spürte, war nach wie vor kalt und unangenehm. Ob er wohl gleich sterben würde, oder doch erst nach ein paar weitern, endlosen Stunden?

//Bin ich nicht vielleicht schon tot...?// fragte er sich und die lähmende Angst vor dem möglichen, unsanften Aufprall wich ein kleines Stück aus seinen Gedanken, um Erinnerungen Platz zu machen.

//Wir haben gegen einen Level 4 Akuma gekämpft, der den Orden infiltriert hatte…// erinnerte er sich vage zurück. Bilderfetzen durchströmten seinen Geist, doch er konnte sie kaum fassen, so schnell huschten sie vor seinem inneren Auge vorbei. Gleich darauf schoss ihm ein brennend heißer Schmerz durch den Kopf, der von seiner linken Gesichtshälfte ausging. Es fühlte sich an, als würde diese in Flammen stehen und verbrennen, sich das Feuer in seinen Kopf hineinfressen wollen, doch das war nur der unbeschreibliche Schmerz, der ihm das suggerierte.

//Der Akuma hat mich verwundet. Eine tödliche Wunde…?// fragte er sich, als der Schmerz Gott sei Dank abflaute und dann ganz verschwand.

„Du bist nicht tot, Allen, zumindest noch nicht…“, flüsterte ihm eine erschreckend bekannte Stimme aus der absoluten Dunkelheit zu. Es war die Stimme des geliebten, verstorbenen Ziehvaters Manna Walker. Befand sich Allen etwas wieder auf der Schwelle des Todes? Einer Schwelle, die er in seinem jungen Leben schon einige Male zu Gesicht bekommen hatte. An dieser Schwelle, so nahe dem Reich der Toten, konnte er die Stimme seines Ziehvaters ganz deutlich hören.

„Es ist noch zu früh diese Schwelle zu überschreiten, Allen. Du hast dein Ziel noch nicht erreicht, deine Aufgabe noch nicht erfüllt. Hörst du mich, Allen? Geh zurück, zurück zu deinen Freunden. Sie warten auf dich…“, hörte er ihn eindringlich auf ihn einreden, so wie damals kurz vor seinem Tod, als er Allem aufgefordert hatte seinen Weg weiterzugehen, alleine, ohne seinen Ziehvater weiterzuleben, weiterzumachen, auch und obwohl es ihm schwer fallen würde.

Mana hatte Recht, er konnte jetzt noch nicht Halt machen, seine begonnene Reise noch nicht beenden. Er war noch lange nicht am Ziel seines gewundenen, verschlungenen, wie unübersichtlichen Weges angekommen. Es MUSSTE weitermachen, weiterkämpfen, mit ALLER Kraft!

Der freie fall endete, jedoch nicht auf die dramatische Art und Weise, die Allen befürchtet hatte. Stattdessen schwebte er sanft nach oben, immer weiter hinauf von einem warmen Luftstrom getragen, als wäre er nicht mehr als eine leichte Feder. Die undurchdringliche Dunkelheit blieb in den schwarzen Untiefen zurück, während immer mehr Licht, immer mehr Helligkeit ihn umstrahlte. Blinzend hob er die rechte Hand um seine Augen gegen das gleißende, warme Licht abzuschirmen, das kurz darauf ein wenig nachließ, vor allem dann, als sich ein Schatten über ihn beugte.

„Allen? Allen?“ drang eine ruhige und doch angespannte Männerstimme an sein Ohr.

„Ist er wach?“ folgte eine Zweite mit etwas tieferer Stimmlage und leicht rauem Unterton. Es dauerte ein paar Augenblicke bis Allen die Verwirrung überwunden und die beiden Stimmen zugeordnet hatte.

„Link…, Meister…?“ krächzte er, da sein Hals schrecklich trocken war. Da war kaum Speichel, der seine Mundhöhle feucht halten konnte und dem entsprechend war alles rau und unangenehm. Das lag wohl auch zum Teil an dem seltsamen Ding, das man ihm über Mund und Nase gespannt hatte. Genervt von diesem hinderlichen wie unbequemen Gegenstand nahm er die Atemmaske ab, zumal er ja jetzt wieder bei Bewusstsein war und selbstständig atmen konnte. Seine Zunge war in der Zwischenzeit zu einem pelzigen Tier mutiert, zumindest fühlte sie sich im Augenblick in seinem Mund wie ein solches an. Er brauchte dringend etwas zu trinken, um dem ein Ende zu bereiten.

„Mach mal halb lang. Du bist gerade erst aufgewacht, nachdem du vier ganze Tage bewusstlos gewesen bist, kein günstiger Zeitpunkt sich jetzt schon wieder aus dem Bett zu stehlen…“, redete Cross mäßigend auf seinen Schüler ein und musterte ihn kritisch mit seinem sichtbaren, grauen Auge. Der Junge machte einen munteren Eindruck, doch das konnte bei dessen schwerwiegender Verletzung rasch ins Gegenteil umschlagen. Es war besser ihn zu zügeln, damit er seine wenigen, noch verbliebenen Kräfte schonte.

Währenddessen war der junge Inspektor Allens Bitte nachgekommen und hatte ein Glas mit Wasser gefüllt, das er vorerst auf dem kleinen Nachttisch an Allens Krankenbett abstellte, um ihn dann mit einigen wenigen Handgriffen aufzusetzen und zu stützen, während er ihm das Glas an die Lippen setzte, sodass dieser seinen Durst stillen konnte. In nur einem einzigen Zug hatte Allen das Glas geleert und bat sogleich um ein Zweites, das ihm stillschweigend gewährt wurde.

„Wie sind die Schmerzen? Erträglich, nehme ich an…“, erkundigte sich Cross, der scheinbar an seinem Krankenbett zusammen mit dem jungen Inspektor Krankenwache gehalten hatte.

„Ja, ich habe keine Schmerzen…“, gab Allen schwer atmend von sich, als er auch das zweite Glas in einem Zug ausgetrunken hatte. Erst jetzt viel ihm bewusst das etwas eingeschränkte Sichtfeld auf und die Erinnerung an seine schmerzhafte Verletzung kehrte siedendheiß in sein Gedächtnis zurück. Sichtlich beunruhigt tastete seine rechte Hand über seine linke Gesichtshälfte, doch die lag unter einem dicken Verband verborgen.

„W-Wie schlimm ist es?“ wollte Allen wissen und fixierte mit seinem gesunden, intakten Auge erst seinen Lehrmeister, dann den Inspektor, Letzterer antwortete ihm nach kurzem Zögern.

„Die linke Gesichtshälfte hat schwerste Verbrennungen erlitten. Die einwirkende Hitze hat das Fleisch fast vollständig bis zum Schädelknochen heruntergebrannt. Die Ärzte haben nicht mehr viel tun können und den Knochen mit einer Metallglasur geschützt…Ob sich das linke Auge wieder erholen wird, wissen wir nicht. Zwar haben wir gehört, dass es über eine erstaunliche, regenerative Fähigkeit verfügt, doch ob es auch diese schwere Verletzung überwinden kann, bleibt offen…“, erklärte Link, wobei seine üblicherweise gefasste, ruhige Stimme leicht schwankte und er sichtliche Mühe hatte die schwer wiegenden Worte ruhig zu formulieren, um sie dem jungen Engländer möglichst schonend beizubringen. Es folgte ein kurzes Schweigen.

„Hey, sehen wir es mal von der positiven Seite. Wir können demnächst im Partnerlook auftreten. Ich mit meiner rechtsseitig maskierten Gesichtshälfte, du mit seiner linksseitigen. Wie heißt es doch so schön? Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, hahaha…“, versuchte der General die düstere Stimmung mit seiner etwas eigenartigen Art von Humor aufzulockern, doch schien er damit nicht den richtigen Nerv getroffen zu haben, sodass er sich in gewisser Weise der etwas makaberen Situation gegenüber verlegen eine seiner Lieblingszigaretten aus einer seiner Manteltaschen hervorholte und diese mit einem Feuerzeug anzünden wollte. Bevor er allerdings den Anzünder betätigen konnte, handelte er sich einen gehörigen Schlag auf den Hinterkopf ein. Der Schlag war mit soviel Schwung ausgeführt worden, dass es den schwarzen Schlapphut, den der General fast unablässig trug wie ein Papierflieger zu Boden segelte.

„Rauchen ist hier strikt verboten! Das hier ist immer noch ein Krankensaal. Gehen Sie anderswo die Luft verpesten…!“ grollte eine resolute, stämmige Krankenschwester wütend über diese ignorante Unverschämtheit den anwesenden Patienten gegenüber und drohte dem gescholtenen Mann mit geballter Faust nochmals von dieser Gebrauch zu machen, sollte er sich ihrer Anweisung widersetzen.

„Nur weil er ein General ist, muss er sich nicht einbilden, dass er sich alles erlauben könnte“, keifte sei weiter, bevor sie sich dann Allen, bzw. dessen Überwachungsmonitor, an den er über mehrere Elektroden angeschlossen war, zuwandte.

„Hm, sieht ja ganz gut aus, Atmung und Herzschlag liegen im vertretbaren Rahmen. Keine Bange, du kommst schon wieder auf die Beine. Ich geh eben den Doktor holen, damit er nach dir sehen und den Verband wechseln kann…“, flötete die Krankenschwester mit einem mütterlichen Lächeln und watschelte schon davon, um ihre Worte in die Tat umzusetzen. Das Quietschen eines Plastikstuhles lenkte Allens Aufmerksamkeit wieder seinem Lehrmeister zu, der es anscheinend recht eilig hatte dem Krankenflügel, aber vor allem dieser Krankenschwester zu entfliehen.

„Mach’s gut…“, nuschelte er die Zigarette bereits wieder an ihrem Stammplatz auf der rechten Seite zwischen die Lippen gepresst und hielt seine beiden Hände davor, um sie mit dem Feuerzeug anzuzünden. Er sah ein, dass es sinnvoller war einen anderen Ort aufzusuchen, um ungestört seiner Nikotinsucht zu frönen. Hier war er ja nicht mehr erwünscht. Nach einem tiefen Zug, den er, wie um die Krankenschwester zu ärgern, lässig in einer hellen Rauchwolke dahin blies, verließ er mit wehendem, schwarzen Exorzistenmantel, sein Hut trohnte dabei wieder auf seiner bordeaux-farbenen Haarpracht.

„Wie geht es den anderen?“ fragte Allen nach einer kurzen Pause nach. Wie es schien hatten sie den Kampf gegen den Level 4 Akuma gewonnen, ansonsten wäre keiner mehr von ihnen am Leben und könnte sich um den Ausgang der Schlacht Gedanken machen.

„Wir konnten den Kampf ohne Verluste für uns entscheiden. Neben deiner Verletzung hat es nur kleiner Schnitt- oder Brandwunden gegeben…“, gab Link, sich leicht räuspernd, ihm zur Antwort. Das tragische Schicksal des jungen Engländers ging ihm nahe, vor allem da er fast 24 Stunden nonstop mit ihm verbrachte, um ihn zu observieren. Bei so viel Nähe, so viel Kontakt zu einander kam er nicht umhin den Jungen kennen und verstehen zu lernen. Je länger er mit ihm unterwegs war, desto mehr lernte er über den ruhigen, freundlichen Engländer. Er war Fremden gegenüber höflich, einfühlsam und großherzig. Mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn strebte er für edle, wie auch ein wenig naive Ideale. In seinem Herzen bewahrte er die starken Banden zu seinen Freunden und die etwas eigenartige Liebe zu den Akumas.

„Meine rechte Hand ist für die Menschen, meine linke Hand für die Akumas. Beide sind mir wichtig, beide will ich retten…“

Das war das Lebensmotto des gerade mal 16-Jährigen. Wieder einmal musste der Inspektor feststellen, wie erwachsen Allen wirkte, trotz seines jungen Alters, doch diesen Umstand hatte er wohl den widrigen Lebensumständen zu verdanken, mit denen er schon von klein auf hatte kämpfen müssen. Als Säugling war bereits aus seiner eigenen Familie verstoßen, im Heim als Außenseiter gemieden worden, alleine auf sich gestellt seinen Weg gegangen, bis er die erste liebende Hand nach so langer Zeit getroffen hatte, Mana Walker. Eben jener ominöse Wanderclown und Bruder des 14ten Noahs hatte den verwaisten Jungen in seine Obhut genommen. Gewiss kein Zufall im Hinblick darauf. Dass dieser Junge dem 14ten zur Reinkarnation verhelfen sollte. Ein bedauernswerter Umstand, da Link den starken, markanten Charakter des jungen Exorzisten schätzen gelernt hatte, vor allem diese ausgeprägte Aufopferungsbereitschaft und bindende Entschlussfähigkeit, die Allen trotz des Misstrauens gegen ihn an den Tag legte.

Vielleicht ertrug er das nagende, schleichende Gift des Misstrauens gerade nur deswegen, weil er schon so lange allein, auf sich gestellt gewesen war. Link konnte nicht genau sagen, woher der junge Engländer ansonsten die Kraft zog, um gegen all diese Widrigkeiten zu bestehen. Er konnte ihn für dieses Standvermögen nur bewundern.

Herannahende Schritte lenkten die geteilte Aufmerksamkeit des jungen Inspektors wieder zurück in die Gegenwart, an das Krankenbett des jungen Exorzisten, den er so bewunderte.

Wie von der Krankenschwester angekündigt war einer der diensthabenden Ärzte gekommen, um nach dem jungen Patienten zu sehen.

„Schön, dass du wach bist. Hast du irgendwelche Schmerzen? Eigentlich unwahrscheinlich bei dem ganzen Zeug, das man dir verabreicht hat. Ein Wunder, dass du überhaupt klar da bist, der Cocktail hätte selbst einen ausgewachsenen Elefanten aus den Socken gehauen…“, meinte der Arzt mit einem leichten Lächeln, während er mit seinem Stethoskop Allens Herz und Lunge abhörte, um sicher zu gehen, dass die starken Medikamente keines der beiden lebenswichtigen Organe nachteilig beeinträchtigen, doch er konnte nichts auffälliges feststellen.

„Schmerzen habe ich in der Tat keine, allerdings fühle ich auch sonst nicht viel. Alles fühlt sich irgendwie kalt und taub an…“, klagte Allem mit einem ironischen Lächeln, das wohl die Worte des Arztes bezüglich des „Cocktails“ bestätigte.

„Hm, gut möglich, dass das an der Dosierung liegt…“, meinte der Arzt mit gerunzelter Stirn und machte ein paar Schmerzempfindlichkeitstests am ganzen Körper des Jungen, in dem er sich ein Stück Haut schnappte und dieses zwischen Daumen und Zeigefinger eingeklemmt zwirbelte. Allen schüttelte jedes Mal den Kopf auf die Frage des Arztes hin, ob er Schmerzen verspüre.

„Ich denke wir können einige Mittel gefahrlos absetzten, jedoch ist es dabei gut möglich, dass der Schmerz von der linken Gesichtsverletzung sich dann wieder bemerkbar macht. Natürlich handelt es sich dabei nur um einen Phantomschmerz, da dort nun wirklich nichts mehr ist, was den eigentlichen Schmerz signalisieren und weiterleiten könnte…“, meinte der Arzt schließlich und blätterte die doch recht umfangreichen Krankenakte des jungen Exorzisten durch, bis er die aktuellen Daten gefunden hatte.

„Sollten die Schmerzen zu schlimm werden, können wir jederzeit die übliche Dosierung der Medikamente wieder aufnehmen…Jetzt schauen wir uns doch mal die Sache genauer an…“, erklärte der Mediziner und rückte mit dem Rollhocker noch etwas näher heran, sodass er nahe genug war, um den Verband abnehmen zu können. Sorgfältig wickelte er den Verband Lage für Lage ab, bis die verwundete Gesichtshälfte freigelegt worden war.

Einer Gussfigur gleich mutete der mit sterilem Metall glasierte Schädelteil an. Von der linken Stirnfront bis hinab zum Kinn lag nun eine metallene Haut über dem Knochen und schützte ihn. Die verbrannte Haut an dem Wundrand, dem Übergang von Metall zu gesunder Haut, hatte Blasen geworfen und pellte sich an manchen Stellen bereits von den unteren Gewebeschichten ab.

„Das wird jetzt etwas kühl…“, warnte der Arzt den Jungen vor. Dieser verspürte vielleicht keinen Schmerz mehr, doch das musste nicht auch für das Wärme- bzw. Kälteempfinden gelten, sodass er verhindern wollte, dass sein Patient vor der überraschenden Kälte zurückzuckte. Vorsichtig tränkte er einen Tupfer mit alkoholischer Jodlösung und tupfte damit die gebeutelte Haut ab, anschließend folgte eine Wund- und Heilsalbe, die extra für Verbrennungen konzipiert worden war, bevor abschleißend ein frischer Verband stramm angelegt wurde.

„Sieht schon ganz gut aus. Das Metall wird glücklicherweise nicht vom umliegenden Gewebe abgestoßen, sodass wir uns deswegen keine Sorgen machen brauchen…“, gab der Mediziner seine Einschätzung zum Fortschritt des Heilungsprozesses und verabschiedete sich dann mit einem Nicken, um die geänderte Medikamentengabe seinen Kollegen mitzuteilen.

Jetzt konnte man nur warten und hoffen, dass alles gut verheilte. Allen gehörte zwar nicht zu der eitlen Sorte von Männern, so wie sein Lehrmeister General Cross, doch für den Rest seines Lebens auf diese grausige Art und Weise gezeichnet zu sein, machte ihm doch schon zu schaffen, doch da war nichts mehr dran zu ändern. In einem kurzen Augenblick der Unachtsamkeit hatte er sein linkes, verfluchtes Auge, sowie seine gesamte linke Gesichtshälfte eingebüßt. Es war sein eigenes Verschulden, sein eigenes Unvermögen, das ihm dies eingebracht, ihn so entstellt hatte.

Nichtsdestotrotz war er immer noch am leben und das allein zählte, oder etwa nicht? Er hatte immerhin eine Aufgabe zu erledigen, ein Ziel zu erreichen und dafür brauchte er nur seine Innocence, wenngleich sein verfluchtes Auge ihm bisher immer gute Dienste geleistet hatte. Jetzt musste er eben irgendwie ohne es auskommen müssen. Er hatte in seinem bewegenden Leben bereits andere, schlimmere Schicksalsschläge überwunden, da würde er damit auch zurecht kommen, oder etwa nicht? So schnell war er nicht klein zu kriegen, oder vielleicht doch? Unkraut wie er verging nicht so schnell, außer man brannte es vollkommen aus.

Wieder raschelte Stoff, wieder erklang das vertraute Geräusch lederner Stiefelpaare. Allen musste den Kopf leicht zur rechten Seite drehen, um die beiden Besucher in Augenschein nehmen zu können. Linalee und Lavi hatten sich Zeit genommen, um ihren verletzten Kameraden im Krankenflügel besuchen zu kommen. Beide wirkten erleichtert ihn wach und bei Bewusstsein anzutreffen.

„Du siehst gut aus…Ich bin ja so froh…Wir haben all die Stunden gebangt, die du bewusstlos warst. Wir wussten ja nicht, wie schlimm es dich tatsächlich erwischt hatte, niemand wollte uns Genaueres sagen…“, sprudelte es aus der sichtlich aufgekratzten Japanerin hervor. Sie musste sich schreckliche Sorgen um ihn gemacht haben, das bezeugten zumindest die roten, leicht geschwollenen Augen, sowie die angespannten Mundwinkel. Zudem war sie jemand, der sich immer Sorgen machte, wenn irgendetwas auf einer Mission schief gelaufen war. Neben den Sorgen plagten sie aber auch noch und vor allem anderen Selbstwürfe.

„Es tut mir so Leid, Allen. Ich hätte dich besser unterstützen müssen…“, schniefte sie und erneut brannten ihr Tränen in den dunkelbraunen Augen.

„Dich trifft keine Schuld, Linalee. Wir haben alle unser Möglichstes, unser Bestes gegeben. Niemand konnte ahnen, dass der Akuma die Energiekugeln hatte lenken können. Das war wirklich nicht vorhersehbar…“, versuchte Allen ihr schwer lastendes Gewissen zu erleichtern, zu beruhigen. Ihre Anteilnahme an seinem Leid rührte ihn, doch zugleich nervte es ihn, dass sie sich für das, was geschehen war, grundlos die Schuld gab. Es war eben so, wie er gesagt hatte. Niemand hätte sagen können, was sie erwarten würde, wenn sie auf den Akuma treffen würden.

„Weiß man schon wie der Akuma hier eindringen konnte?“ wechselte Allen das Thema und lenkte damit bewusst von seinem Gesundheitszustand und seiner seelischen Verfassung ab. Er wollte jetzt darüber nicht reden. Er war froh, dass der dicke Verband seine schwere Verletzung und darunter liegende Entstellung verbarg, sodass sie nicht noch mehr Nahrung für Sorgen und Schuldgefühle gab.

„Die Leute von der Zentrale ermitteln noch, aber es ist gut möglich, dass sie das unausgereifte Sicherheitssystem einfach umgehen und den Dämon einschleusen konnten. Das Sicherheitssystem ist noch ein Provisorium, da sich das eigentliche noch in Entwicklung befindet, deswegen bekommt Komui vor lauter Arbeit kaum noch ein Auge zu. Nach diesem Vorfall wohl gar nicht mehr, wenn man bedenkt, das Akumas hier vielleicht nach Lust und Laune ein- und ausgehen können. Kein besonders beruhigender Gedanke, deswegen hat Leverrier übrigens einen Bereitschaftsdienst für Exorzisten einberufen. Ab sofort sollen wir, sofern wir uns nicht auf Missionen befinden, rund um die Uhr das Gebäude patrouillieren, zusammen mit einigen Crow-Mitgliedern…“, gab Lavi nachdenklich zur Antwort. Er war eindeutig beunruhigt über den überraschenden Angriff des Level 4 Akumas, hatten sie sich doch in ihrem neuen Heim eigentlich relativ sicher gewähnt.

„Ah,…hoffentlich beeilen sich Komui und seine Leute mit der Entwicklung des neuen Sicherheitssystems…Ich kann euch leider nicht mehr aushelfen…“, meinte Allen den Kopf beschämt gesenkt und auf seine weiße Bettdecke starrend.

„Hm? Dein linkes Auge erholt sich bestimmt wieder, das hat damals selbst Roads Wachskerzen ausgehalten. In ein paar Tagen wird es bestimmt wieder so gut wie neu sein…“, versuchte Lavi seinen jüngeren, deprimierten Freund aufzumuntern, doch schien er anders als sonst seine ansteckende Fröhlichkeit nicht auf ihn übertragen zu können. Lag das vielleicht daran, dass diese Unbekümmertheit, die se Fröhlichkeit nicht echt, sondern nur aufgesetzt war? Er seufzte still und bekümmert in Gedanken. Sein Streit mit Samantha lastete immer noch schwer auf seinem Gemüt, ebenso wie die Sorge um seinen verletzten Kameraden.

Seine Freundschaft zu dem jungen Engländer war im Hinblick auf die anderen die längste und stärkste. Deshalb machte er sich natürlich besonders Sorgen um ihn und sein Wohlbefinden, psychisch, wie physisch.

„Selbst wenn dem so sein sollte, fürchte ich wird es nicht mehr so sein, wie früher…Ich war mir erst nicht ganz sicher, aber es hat den Anschein, als würde es nicht mehr richtig funktionieren. Schon in Lyon wollte es nicht so richtig auf die Akumas anspringen. Erst wenn sie schon in Sichtweite waren, reagierte es auf sie…Auf der Feier war es noch gravierender, noch ausgeprägter…Ich war blind für die Gefahr! Hätte ich nicht zufällig das Lachen des Akumas gehört, ich hätte ihn nicht bemerkt und dann wäre alles zu spät gewesen…“, presste Allen zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, während sich seine Hände in die Bettdecke krallten.

Er fühlte sich hilflos, so verdammt hilflos. Ohne sein linkes, verfluchtes Auge fühlte er sich nur wie ein halber Mensch, ein Krüppel. Sein Kopf sackte deprimiert auf die angezogenen Knie, um die sich zusätzlich seine Arme schlangen.

„Allen-kun…“, murmelte Linalee und streckte eine Hand nach ihm aus, doch Allen schüttelte nur den Kopf. Er wollte jetzt allein sein, allein in seinem Elend. Niemand sollte ihn so sehen, so abgewrackt, so zerbrochen, so nutzlos.

„Er braucht jetzt Ruhe…“, mischte sich Link erbarmend ein und verschaffte dem jungen Engländer damit die ersehnte Einsamkeit, außerdem musste der Inspektor noch seinen Bericht über den Kampf im Reich der Hüterin bei seinem Vorgesetzten abgeben. Nachdem die drei Allen und damit den Krankenflügel verlassen hatten, konnte er sich in aller Stille seiner Verzweiflung, seinem elend dahingeben. Heiße, bittere Tränen rannen seine rechte Wange hinab und tropften wie beständiger, englischer Regen auf die Bettdecke nieder, während stille Schluchzer seinen jungen Körper schüttelten.

Er war ein jämmerlicher Anblick, ein Junge, der sich als Versager wähnte, als Nichtsnutz. Wie sollte er seine Mission, seine große Aufgabe erfüllen können, wenn ihn nun sein verfluchtes Auge auf diese Art und Weise im Stich ließ? Anders als die anderen hatte er nie gelernt ohne besondere Hilfe auf Dämonen aufmerksam zu werden. In den ersten, oft entscheidenden Momenten eines Kampfes würde er nun immer den Kürzeren ziehen

Es war seine EIGENE Schuld, sein EIGNES Unvermögen.

Fester gruben sich seine Finger in die Bettdecke, stärker hielten seine Arme seinen Körper umschlungen, denn ansonsten würde der seelische Scherbenhaufen, der er war, endgültig auseinander brechen.

//Mana…! Mana…! Was soll jetzt nur werden?// dachte er betrübt und rief sich die Worte seines geliebten Ziehvaters in Erinnerung. Er hatte Allen die Verpflichtung abgenommen seinen eigenen Weg weiterzugehen, sein Leben trotz der vielen Widrigkeiten weiterzuleben, auch wenn es wehtat, so wie jetzt. Aber woher sollte er die Kraft nehmen, um sich nach diesem „Sturz“ wieder aufzurichten? Sein eigentlicher Antrieb, Akumas von ihrem Leid zu erlösen, hatte jetzt einen schmerzlichen Dämpfer versetzt bekommen. Er fühlte sich insignifikant, bedeutungslos…

Das leise Rascheln zweier Flügel drang in sein privates Elend. Kurz darauf spürte er, wie etwas Schweres vor seinen Füßen landete. Es war Timcanpy, sein goldener, treuer Golem. Sein metallener, kugelförmiger Körper war inzwischen auf Volleyball-Größe angewachsen und das schimmernde Flügelpaar an seiner Rückseite hatte eine erstaunliche Spannweite von einem Meter erreicht, jedoch waren sie bei seinem massigen Körper kaum noch in der Lage diesen über längere Strecken zu tragen, sodass er sich immer häufiger auf Allens Schulter oder Kopf niederließ, um sich von seinem „Herrchen“ tragen zu lassen.

„Sag, Tim, was soll jetzt werden…?“ murmelte Allen mit tränenerstickter Stimme. Er war erneut an einen Wendepunkt angelangt, an eine schicksalhafte Wegkreuzung, die er aus Unsicherheit, aus Angst nicht zu überschreiten wagte.

Wo führte ihn sein Weg hin? Wo war der Pfad, den er ging? Er hatte ihn aus den Augen verloren, war blind für ihn geworden. Zu verschlungen, zu verwirrend waren die Wegweiser, als dass er ihnen noch weiter folgen konnte. Er brauchte dringend eine Hand, die ihn führte, so wie damals, als Mana Walker seine Hand ausgestreckt hatte, um die seinige zu ergreifen. Sicher und mit festem Griff hatte er ihn an sich genommen, hatte ihn selbst angenommen.

„Mana…“, schniefte Allen und weitere Tränen bahnten sich ihren Weg hinab, Tränen, die ungeweint geblieben waren, bis jetzt.

Tim stupste sein „Herrchen“ sachte an, als wollte es ihn trösten, ihm sagen, dass alles gut werden würde und er sich keine Sorgen machen bräuchte.

Irgendwann übermannte dann die seelische Erschöpfung den jungen Engländer und schenkte ihm gnadenvollen Schlaf, de von seinen quälenden Ängsten unbeeinflusst blieb.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  35M3R0D
2009-10-11T21:07:39+00:00 11.10.2009 23:07
sehr interessantes kapitel. eines der bisher besten, wenn du mich fragst. die wendung mit allens verletzung kam unerwartet, funktioniert als plot device aber sehr erfrischend. bisher kennen wir ihn ja nur als helden, der immer wieder irgendwie davon kommt und nie wirklich langfristig von etwas gezeichnet wird. ich bin also sehr gespannt, was aus dieser "eisernen maske" wird, ob er sie behalten muss, oder ob sich auch hier seine seltsamen regenerationsfähigkeiten zeigen.
zudem mochte ich die aufwachszene mit cross und link. man schätzt general cross ja nicht als jemanden ein, der sehr viele emotionale bindungen hat, trotzdem wacht er an allens krankenbett und bringt dann auch noch den deplatzierten spruch...
und link, ich fands schön, dass du auf seine gedanken eingegangen bist. man merkt ja auch schon im manga, dass er anfängt eine bindung zu allen aufzubauen und das kam hier auch sehr schön rüber. Hach, in solchen Momentan wünsch ich mir dann wieder LinkxAllen Szenen*schmacht*


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