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Naomi

von

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Prolog

1.Prolog
 

In Gedanken
 

Als ich dreizehn Jahre alt war, hatte ich den Entschluss gefasst, eine eigene Biografie zu verfassen. Zumindest war das damals in Deutschland, wo ich zu der Zeit lebte, in der Prominenz populär.

Und ich, oder sagen wir mal, ein Teil von mir glaubte, dass alle Welt erfahren sollte, welch ein ungerechtes Leben ich führte. Der andere Teil war davon überzeugt, dass ich sämtliche Auflagen selber finanzieren müsste, da niemand etwas derart langweiliges liest.

Ich kann sagen, das ich glücklich war. Oh ja, am meisten Spaß machte mir die Zeit, in der ich für einige Wochen, ganz allein mit Mama und Papa auf unserer schnuckeligen kleinen Yacht im Mittelmeer herumkreuzen konnte. Papa hatte dann seine Arbeit zur Seite gelegt und Mama hörte endlich mit ihrem neurotischen Gluckenverhalten auf. Das war die Zeit, in der wir am meisten lachten.

Freunde hatte ich wenige. Natürlich lernte ich hier und da Leute in meinem Alter kennen, aber die Beziehungen hielten nur so lange, wie wir an einem Ort lebten. Das Maximum, das Mama je toleriert hatte, waren zwei Jahre in Deutschland. Ich vermutete, der wahre Grund für unsere ständigen und wirklich nervenden Wohnortswechsel war nicht der Beruf meines Vaters. Er hatte sein halbes Leben lang in so 'ner Superuni in Japan studiert. Danach war er ein international begehrtes Nanotechnikass, und so wollte er, wie er immerzu sagen pflegte, dass alle Welt auch etwas von ihm hat. So reisten wir durch die Weltgeschichte. Mal gab er Gastvorlesungen, er beteiligte sich an Forschungsprojekten, oder er machte den großen Denker und entwickelte scheinbar spontan irgendwelche kleine an Spielzeug erinnernde Prototypen. Damit konnten wir uns das viele Reisen leisten, und mit uns reiste immer die Angst.
 

Am meisten bemerkte ich sie, wenn unsere Seereisen sich ihrem Ende zuneigten. Mama bekam wieder Kopfschmerzen, Papa wurde schweigsamer, und an Land blickten sie immer wieder um sich. Wir benutzten keinen öffentlichen Verkehr, und ich hatte entweder -mit dreizehn!- mein Kindermädchen, das beachtliche Türsteherqualitäten aufwies -wetten, sie hatte den schwarzen Gürtel- am Hals, oder meinen Privatlehrer.

Das schlimmste für mich war, dass, und jetzt aufgepasst, meine Eltern, wenn sie merkten, dass ich etwas merkte, so taten, als sei nichts. Wenn die Nächte, in denen ich von Mamas aufwachte, nichts sind, dann soll mir mal jemand erklären, was ist, wenn etwas ist.

Auch wenn ich die Ursache der Ängste meiner Eltern nicht kannte, wurde mein Leben doch geprägt davon, ja sogar mein Charakter.

Ich bin das kleine süße schüchterne Ding gewesen, das sich hinter Mamas Rock versteckt hatte, wenn es wichtigen Besuch gab. Dann versuchten sie immer, mich wie ein scheues Hündchen hervor zu locken. Als ich älter wurde, war ich das hübsche zurückhaltende, wenn nicht sogar fürchtige stille Mädchen, das, gekrönt mit einer ordentlichen Überportion Tollpatschigkeit, versuchte, nirgendwo anzuecken. Ich war brav, Knigge würde stolz auf mich sein, und fleißig. Meine Eltern sollten mit mir keinen zusätzlichen Kummer haben. Gesundheitlich war und bin ich sehr labil, ständig musste Papa mich irgendwo aufsammeln, weil ich zusammengeklappt war, oder ich kotzte meine letzte Mahlzeit aus, wenn ich nicht gerade von blauen Flecken gezeichnet war oder mit Nasenbluten in der Ecke herum lag, weil ich über etwas gestolpert war, das gar nicht da gewesen ist, bis auf meine eigenen Füße.

Bis jetzt hat sich das alles nicht großartig geändert.

Noch immer kann ich Gemüse nicht ausstehen, ich hasse Hunde, und wenn jemand mir auch nur ein Haar krümmen will, und das meine ich wörtlich, werde ich zur Furie. Papa hatte dann immer gesagt: „Fahr deine Krallen wieder ein, Tigerchen, du bist ja fast genauso schlimm wie deine Oma!“. Meine Oma hatte als einzige Frau, die ich je gesehen hatte, körperlanges Haar. Papa hatte es mir erzählt, da das einzige, was ich je zu Gesicht bekommen hatte, eine kunstvolle, schöne Steckfrisur war, die aufgrund ihres Volumens auf die Haarlänge schließen ließ.

Jedenfalls habe ich ihr nicht bewusst nachgeahmt. Es war einfach schon immer eine kleine Macke von mir. Jetzt sind meine Haare ungefähr knielang. Natürlich ist es mein Traum, sie so lang wie meine Oma zu bekommen. Meine körperlichen Schwächen wurden durch meinen wachen Geist ausgeglichen. Im Unterricht löcherte ich meinen Privatlehrer mit Fragen. Ich lernte vier Sprachen – Englisch, Französisch, Deutsch und natürlich Japanisch. Mein Wissensdurst war eine starke Zerreißprobe für die Lehrer, die ich im Laufe der Jahre hatte.

Mit meinen Eltern sprach ich im Mix zwischen Deutsch, Englisch und Japanisch. Deutsch, Mamas Muttersprache, und Japanisch mit Papa. Englisch hat sich in den Alltag meiner Eltern eingeschlichen und gehalten, seit sie sich kennen lernten. Sie hatten sich in Tokio in der Universitätsbibliothek getroffen. Mama ist die Tochter von deutschen Diplomaten und Papa Sohn eines superreichen Clanoberhaupts. Sie hatten heimlich geheiratet, was Papas Clan, alles Workaholics, schnell herausbekommen hatte. Komischerweise tolerierten sie es. Vielleicht, weil Opa sich in seine kleine Enkelin verliebt hatte. Mit Mamas Familie hatten wir nie zu tun. Es gab da irgendeinen großen Krach vor meiner Zeit, über den keiner reden wollte – dieses ständige Totschweigen in dieser Familie hätte mich beinahe verrückt gemacht!

Umso größer war meine Beziehung zu meinem Opa. Wir chateten immer zusammen. Er war mein bester Freund, und über die Webcam konnte ich ihn sogar sehen. Er war es, der mich über die Börse aufklärte, der mir zuhörte, dem ich Fragen stellen konnte. Früher hatte meine Familie bei ihm gewohnt aber dann ist etwas geschehen, das meine Eltern zu unserem jetzigen Lebensstil bewegt hat. Auch Opa wollte mir nicht sagen, warum.

Immer meinte er nur: „Wenn die Zeit reif ist.“ .

Jedenfalls hatte er mich immer als selbstständige Person gesehen, nicht nur als kleines Töchterchen, so wie meine Eltern. Ich meine, meine Mama musste sich überwinden, mich zum Supermarkt gehen zu lassen, wenn ich einige -für andere- alltägliche Dinge besorgen wollte. Ich war dreizehn!

Und sie hatte mir verboten, mir eine eigene Website zu erstellen.es könnten ja irgendwelche bösen Männer meine Daten missbrauchen.

In Wahrheit, und davon war ich überzeugt, wollten sie mich vor irgendetwas verstecken.
 

Es sollten so wenige wie möglich von meiner Identität und meinem Aufenthaltsort erfahren. Ein Mal habe ich mich sogar unter falschem Namen vorgestellt, und -pssst- Mama und Papa besaßen auch ein oder zwei falsche Reisepässe. Für Notfälle.

Ich wusste es, weil ich mir ein Mal ein Kaugummi aus Mamas Handtasche gemopst hatte, als ein falscher Reisepass heraus fiel. Ich fragte gar nicht erst.

Apropos Reisepass. Ich war 15, als ich meinen seit langer Zeit wieder sah. Er lag auf meinem Bett, neben ihm ein Koffer.

Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie ich mich fühlte.

Hatte ich doch gerade erst ein wenig Freiheit gewonnen, sollte wieder alles von vorne beginnen.

An dem Vortag hatte Mama mir das erste Mal in meinem Leben erlaubt, bei jemandem zu übernachten. Ich war gerade zurückgekommen, mit meiner Tasche unterm Arm. Alexandra war ein tolles Mädchen. Sie war so quirlig und mutig, so selbstbewusst. Ich wünschte mir oft, so wie sie einfach mal meine Meinung zu sagen oder tun zu können, was ich wollte. Sie durfte so viel! Und ihr kleiner Bruder war total süß. Sie hatten beide strahlend blaue Augen, und Alexandra war groß. Ich war immer ein Wenig klein, was in Japan nicht auffallen würde, und hätte ich schwarzes Haar, käme ich als Vollblutasiatin durch. Aber ich bin so etwas von blond, eine Laune der Natur, Mamas Gene haben sich durchgesetzt. Sonst bin ich voll und ganz Papas Kind. Und ich habe die gleichen Augen wie Papas Oma.

Mandelförmig und seltsam karamellbraun.

Wenn ich bei Alexandra war, hatten wir etwas unternommen. Natürlich ohne das Wissen meiner Eltern. Wir waren Shoppen, im Kino, und ein Mal sogar in der Disco. Es hatte mir aber nicht gefallen, weil die Kerle dort mich so komisch angegafft hatten. Alex hatte dann gesagt: „Hey, genieß das, die finden dich scharf. Bist halt 'ne kleine Exotin.“ .

Als ich die Sachen auf meinem Bett sah, konnte ich im ersten Moment überhaupt nichts tun, geschweige denken.

Nach einigen Sekunden war mir klar, was das bedeutete. Ich ließ meine Tasche fallen und rannte ins Wohnzimmer, wo Mama saß und Formalitäten erledigte. „Wann?“ fragte ich mit leiser, tränenerstickter Stimme. Mama sah auf, nahm die Brille ab, und sagte: „Morgen Nacht geht unser Flug nach London.“ „A-aber warum? Es läuft doch alles so gut.“ versuchte ich zu widersprechen. „Eben deshalb sollten wir auch gehen. Bevor etwas passiert, mein Schatz.“ „Und meine Freunde? Mama, Alexandra ist meine beste Freundin!“ sie war auch die einzige, die ich hatte.

„Kann ich sie wenigstens zu Abschied einladen?“ „Wann willst du das denn tun? Es ist schon spät, und morgen haben wir keine Zeit. Du weist doch, wie das ist.“ . Ja, ich hatte nicht vergessen. Egal, wo ich zu der Zeit war, ich wusste nie, ob es der letzte Tag in dieser Stadt, in diesem Land sein sollte, wenn meine Eltern wieder abreisen wollten. Mir schien, sie hatten sich in Sachen Spontanität und Kurzfristigkeit zum höchsten Maße spezialisiert.
 

Heute kommen mir die Gefühle, die ich damals hatte, nichtig vor.

Völlig unbedeutend, so, als wäre das Mädchen, das da in der Tür stand und wegen einer solchen Kleinigkeit krampfhaft gegen die Tränen ankämpfte, ein anderes und nicht ich selbst.

Heute weiß ich, warum meine Eltern nur wenige Beziehungen erlaubten und ich verstehe auch, warum wir immer plötzlich fort zogen.

Ein klarer Bruch ist leichter zu ertragen als der vollständige Verlust der Person, von beiden Seiten.und es war besser zu wissen, die Person, die du liebst, ist wohlbehalten, auch wenn du sie nie wieder siehst, als sie vollständig zu verlieren.

Sie alle.

Meine Lektion habe ich gelernt.

Lasse keine Person dir nahe genug kommen, dass sie dich verletzen kann. Und komme selbst nicht den Personen zu nahe, die du liebst, auf dass sie unversehrt bleiben.

In der folgenden Nacht blieb mir nichts anderes übrig, als meinen Schmerz herauszuschreiben. Ich klagte Opa per Mail mein Leid und schrieb Alex einen langen Brief. Mich beschlich das Gefühl, sie hintergangen zu haben und ich suchte nach einer Erklärung, warum sie, wenn sie vor unserem Apartment stehen würde, dieses leer vorfände. Ich fühlte mich unglaublich schuldig. Alex war meine beste Freundin und ich ließ sie ohne Ankündigung alleine.

Klarer Bruch, es schmerzte tief. Geblieben ist nur die Erinnerung.

Die Erinnerungen kommen mir sehr unwirklich vor, eine andere, eine heile Welt. Geblieben ist nur der dumpfe Schmerz, der an mir haftet wie Schlamm. Und ich drohe, in ihm zu versinken. Geblieben sind die schönen Momente, doch es tut zu sehr weh, so sehr, sie zu betrachten, mich zu erinnern. Ich wollte den Brief abgeben, wenn ich meine wenigen Habseligkeiten gepackt hatte und auf dem Weg zum Flughefen war. Er war an Alex und ohne Absender.
 

Mein Kindermädchen musste ich in Deutschland zurücklassen. Fast drei Jahre lang hatte sie mich ausgehalten, es gab das größte Geheul, das je auf dem Flughafen gesehen wurde. Mein Lehrer sollte nachkommen, wenn wir eine Wohnung gefunden hatten. Während des Fluges versuchte ich, nicht zu viel Trübsal zu blasen. Mama hatte nachts wieder geweint und -ja, ich habe gelauscht, aber mit unendlich schlechtem Gewissen,- gesagt, dass es so nicht weiter gehe. Es müsse irgendetwas geschehen. Das Kind -ich nehme an, dass ich damit gemeint bin,- leide zu sehr unter der Belastung der ständigen Umzüge.

Ich wollte stark sein für meine Eltern und versuchte, nicht mehr an die letzten zwei Jahre zu denken. Sie sollten wegen mir keinen Kummer haben. Schließlich waren sie alles, was mir blieb.Freunde kamen und gingen, aber meine Eltern waren immer für mich da. Wir waren eine Familie.

Ich erinnere mich nur noch an eine Szene im Flieger: ich hielt ihre Hände und kuschelte mich zwischen sie.

Auf der Autofahrt ins Hotel hatte mir Papa erklärt, dass ein Kindermädchen nun nicht mehr meinem Alter entspräche. Endlich. Ich wartete auf das „Aber..“, doch es kam nicht. Ich war meinen Eltern dankbar.

Im Hotel bekam ich mein eigenes Zimmer. Das erste, was ich tat, war heißes Wasser in die Badewanne einlassen, und danach lange und ausgiebig zu baden. Mit dem Badeschwamm schrubbte ich mich dann ab, bis ich rot war wie ein Krebs. Als ich aus der Wanne stieg, wurde mir schrecklich schwindelig, es war, als gäbe es meine Beine nicht mehr, und so musste ich mich ganz schnell hinhocken.

Badezimmerunfälle geschehen ja ganz schnell, ich wollte ja nicht, dass mein Hirn an den Spiegel und die Kacheln spritzt.

Meine Eltern wollte ich nicht stören, sie hatten noch einige Dinge mit Hatano Nori zu tun, einem guten Freund der Familie.ein so guter, dass er es vermochte, uns fast alle behördlichen Probleme vom Hals zu schaffen. Dafür nutzte er auch seine Beziehungen zu irgendwelchen internationalen hohen Tieren. Nein, es sind keine Mafioso darunter.

Eigentlich verdankt er Papa seine Anwaltskarriere und ist so etwas wie ein treuer Freund und Helfer, die Fee, die immer -puff- erscheint, wenn man nicht mehr weiter weiß. Tag und Nacht. Damals hätte ich nie gedacht, dass ich ihn so stark brauchen würde, und dass er einer der letzten, die übrig geblieben sind, sein würde.

Ich wollte zu meinem Bett gehen, und fiel der Länge nach hin. Sofort rappelte ich mich auf und rieb meinen schmerzenden Ellenbogen. Das würde einen blauen Fleck geben. Und ich würde ausnahmsweise wissen, woher er kam.

Auf meinem Bett holte ich den Laptop aus der Tasche. Opa hatte zurück gemailt, ich freute mich auf seine Antwort. Sie bestand hauptsächlich aus Trost spendenden Worten, Balsam für meine Seele. Und -etwas unangenehmer- aus Zurechtweisung. Sie war zwar sanft, aber mittlerweile hatte ich gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen, was man auch können musste, wenn man mit einem in der emotional zurückhaltenden, höflichen Kultur des fernen Ostens aufgewachsenen Menschen sprach.

Meine emotionalen Ausbrüche, die er des Öfteren über sich ergehen lassen musste, hatten ihn sicher schon oft an den Rande eines Herzstillstandes gebracht. Armer, geliebter Opa. Ich vermisse dich.

Schnell schrieb ich ihm eine Expressantwort, wir seien gut angekommen, ich entschuldigte mich auch für meine für asiatische Verhältnisse schon intime Mail und versprach, mehr Rücksicht auf meine Eltern zu nehmen. Innerlich verbot ich es mir, jemals jemandem so viel von meinen tiefsten Empfindungen und Gedanken mitzuteilen. Das Leben ist schon belastend genug. Da muss er sich nicht auch noch mit Problemen eines Teenagers herumschlagen.

Nachdem ich einige Zeit untätig verbracht hatte, es würde sich sowieso nicht lohnen, den Koffer auszupacken, ging ich zu meinen Eltern hinüber. Mama gab mir Geld, damit ich unten im Restaurant essen konnte, wenn ich wollte. Gut, sie wollten alleine sein.
 

Drei Tage hatte ich totschlagen können. Dann fanden meine Eltern ein passendes möbliertes Apartment. Auf gings in meine neue Heimat auf Zeit.

Langsam fand sich der Alltag ein. Dann befiel mich eine innere Unruhe. Ich musste wissen, was in meinem früheren Zuhause geschah. Alexandra. Ob es ihr gut ging. Im Internet öffnete ich die Seite einer Berliner Lokalzeitung. Sofort sprang mir das Bild ins Auge. Schnell öffnete ich das Fenster und überflog den Text. Unbeschreiblich, Mama und Papa mussten das irgendwie geahnt haben. In dem Artikel stand, dass die Polizei nun endlich herausgefunden habe, dass es Brandstiftung war. Ein Unbekannter war nachts in die Wohnung eingebrochen und hatte, wohl weil er nicht gefunden hatte, was er suchte, mit Hilfe eines Brandbeschleunigers die Wohnung eingeäschert. Es gab noch keine Hinweise auf den Täter, der wegen Brandstiftung und Sachbeschädigung gesucht wurde.

Das Bild zeigte das Mehrfamilienhaus, in dem wir gewohnt hatten, und die Fenster, die in unsere Wohnung führten, waren nur noch schmutzige schwarze Löcher, mit großen hässlichen Rußflecken an der Wand. Ich war wie gelähmt. Das alles war, konnte einfach nicht wahr sein. Wer sollte denn so etwas tun? Vor vier Tagen. Ich schluckte. Hätten meine Eltern einen Tag gewartet, sicher wären wir dann tot.
 

Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn wir, WIR damals schon tot gewesen wären. Und die anderen noch lebten. Nicht ich. Ich habe das nicht verdient.

Ist es ein Segen oder eine Strafe, dass ich noch lebe? Ich will zu euch, Mama und Papa. Oder wenn ihr noch bei mir wärt, wüsstet ihr, was zu tun ist. ich brauche euch! Ich bin so allein, warum war ich nicht da, warum nicht? Warum war ich dieses eine Mal ungehorsam?

Das ist die Strafe dafür.

Opa hatte damals noch gesagt: „Trage dein Schicksal mit Würde, Naomi.“ . Als wenn er es wüsste. Als wenn er es wüsste. Warum hat er sie nicht alle gewarnt? Er ist schuld!

Weine nicht, kleine Nao-chan, weine nicht, kleines Tigermädchen... weine nicht. Es bringt doch nichts. Lebe für sie, lebe.

Das Schlechte soll ruhen. Besser, ich erinnere mich an die guten Zeiten. Die Leute gucken schon so besorgt. Die guten Zeiten. England, es war Frühling. Also, wie fing der Tag an?

England

2. England
 

Morgens machten mein Lehrer und ich es uns zur Gewohnheit, bei gutem Wetter zu spazieren. Neuerdings entwickelte ich eine Art Revierverhalten. Ich hatte eine bestimmte Gegend abgesteckt und bewegte mich darin. Ich kontrollierte, was dort vorging. Dieses Bedürfnis war mir nicht geheuer. Es war neu und fremd. Doch es war erst der Anfang. Immer mehr Dinge fielen mir auf, die sich unbemerkt in mein Verhalten eingeschlichen hatten. Wenn wir nach dem Spaziergang heim kamen, schnupperte ich automatisch, sperrte die Lauscher auf und stellte unbewusst fest, wer von meinen Eltern zu Hause war.

Vormittags hatte ich dann wie jeder Mensch meines Alters Unterricht. Wenn das Wetter es zuließ, auch draußen in dem kleinen Garten unseres Apartments. Meine Eltern hatten das Haus so gewählt, dass es zwar schon abgeschieden genug lag, dass nicht zu viele Menschen in der Nähe waren, aber auch noch so zentral gelegen, dass die Leute sich nicht für die Menschen in ihrer Umgebung interessierten, wie es in jeder Großstadt der Fall ist. So konnten wir unbemerkt und bescheiden leben.

Im meinem Alltag lungerte ich in der Bücherei herum, die in der Nähe unseres Apartments lag. Den Büchereiausweis hielt ich unter falschem Namen. Ich hatte ein solch schlechtes Gewissen deswegen. Es war einfach nicht richtig, es gehörte sich nicht. Einerseits achtete Mama immer darauf, dass ich wohlerzogen auftrat, und andererseits verlangten sie dann von mir, dass ich bei diesen krummen Dingen mitmachte. Und ständig sollte ich eine Sonnenbrille tragen, wie albern. Gut, im Sommer war es in Ordnung, aber sie war einfach ein Fremdkörper an meinem Gesicht, das die freie Sicht behinderte. Mama hatte diesmal einen Job in einer Klinik angenommen. Sie wollte nicht aus der Übung kommen, aber ich bin immer noch davon überzeugt, dass es keine bessere Ärztin gab als sie. Mein Papa saß zu Hause. Wahrscheinlich brütete er wieder irgendetwas aus, weil er die ganze Zeit am Laptop verbrachte.

Nach einigen Wochen hatten wir uns richtig eingelebt. Ich konnte „zu Hause“ sagen, ohne dieses komische Gefühl im Bauch.

Die Ängste waren für kurze Zeit vergessen, und wir lebten wieder in Ruhe und Frieden. Sicher dachte ich noch an Alex. Ich fragte mich oft, was sie gerade tat, und ob sie sich noch gerne an mich erinnerte. Insgeheim wünschte ich ihr eine neue bessere Freundin. Eine, die sie verdiente, die sie nicht im Stich ließ.

Zu der Zeit ist noch etwas geschehen, ja, ich erinnere mich. Kaum zu glauben, dass es ein Jahr her ist. So viel hat sich gravierend verändert. Menschen sind so... zerbrechlich. Ein kleines Ereignis, es muss nicht einmal direkt mit dir in Verbindung stehen, es kann dich aus deinem bisher glücklichen Leben heraus katapultieren, und du findest dich in einem Albtraum wieder, deinem Albtraum.

Das interessanteste war, dass mein Traum sich wieder veränderte. Träume kommen aus dem Unterbewusstsein, sie teilen einem etwas mit. Man muss nur lernen, es richtig zu deuten und zu verstehen. Doch ich käme nie auf die Idee, dass mein Traum etwas mit meinem Leben zu tun hat. Als ich klein war, begann er damit, dass alles schwarz war. Ich war alleine und mir war kalt. Dann tauchte eine kleine Katze auf, strich mir um die Beine, und wenn ich mich herunter bückte, um sie zu streicheln, sprang sie wieder weg, und alles war dunkel. Wenn ich träumte, dann fast ausschließlich nur diesen Traum. Mit meinem Alter wuchs auch mein Traum heran. Die Katze wurde größer, bis man nicht mehr Katze zu ihr sagen konnte, und sie eher einem Tiger glich. Immer wollte ich dieses Tier streicheln, doch es ließ mich nicht. Irgendwann wurde die Raubkatze ungeduldig. Sie ging um mich herum, fixierte mich mit ihrem Blick. Und doch verspürte ich nie Angst vor dem potentiell gefährlichen Tier. Und eines Nachts geschah es. Ich versuchte wieder, das Tier anzulocken, es war so wichtig, dass es kam, es lag irgend eine große Bedeutung dahinter. Ich musste dem Tier näher kommen. Dennoch wusste ich, dass nicht ich, sondern die Raubkatze entschied, was als Nächstes geschehen sollte. In jener Nacht waren meine Lockrufe erfolgreich.ganz überraschend ging sie direkt auf mich zu und rieb ihren Kopf an meiner Hand. Wie in Träumen üblich, waren Gefühle intensiver als unter normalen Umständen. Ich war überglücklich. Und so wiederholte der Traum sich Nacht um Nacht.

Dann plötzlich, in der Zeit, die ich in London war, begegnete ich wieder mal dem Tiger. Er lehnte sich sachte an mich und ich strich ihm über den Kopf. Auf ein Mal hob das Tier den Kopf und blickte auf. Ich sah ihm in die Augen und erschrak zutiefst vor der Erkenntnis, dass das Tier meine Augen hatte! Im selben Moment, im Rausch des lähmenden Gefühls, hatte ich einen Sekundenbruchteil lang das Gefühl, schwerelos zu sein. Dann hörte ich ein „Bum“, und alles war schwarz. Ich riss die Augen auf und als sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, stellte ich fest, dass ich nirgendwo anders als in meinem Zimmer war. Ich war vom Bett gefallen. Nachdem ich mich ungeschickt aus der Decke befreit hatte, setzte ich mich, fest in sie eingewickelt, auf die Fensterbank. Irgendetwas ging hier vor sich, etwas geschah mit mir.ich konnte die Geräusche der Nacht so deutlich hören, wie nie zuvor. Das Gefühl, dass ich mich veränderte, war so nah. Und es war nicht normal. Meine Sinne... Rastlos starrte ich auf meine Handflächen. Nach einigen Minuten, der Traum ließ mich einfach nicht los, ging ich wieder ins Bett. Mit der Decke fest um mich geschlungen, schlief ich ein. In der Pose einer eingerollten Katze.

An einem Tag, ungefähr zwei Monate nach unserem Umzug, Ende Mai, ging ich in den Park. Ich hatte Hut und Sonnenbrille auf und eine Tasche unter dem Arm. Mir geisterte ständig das japanische Gedicht im Kopf herum, das wir im Unterricht behandelt hatten, und so nahm ich meine Umwelt kaum wahr.

Nur sehr langsam kamen die Warnrufe in mein Bewusstsein, und bevor ich reagieren konnte, preschte ein Rad fahrender Junge haarscharf links an mir vorbei.

Mein Herz setzte aus – dann schlug es mit doppelter Frequenz weiter. In meinem halbherzigen Ausweichversuch, einer leichten Drehung, verlor ich mein Gleichgewicht und fiel rückwärts geradewegs in den nächsten Radfahrer.

Die Tasche war hingefallen, ich hatte meinen Hut verloren und ich lag auf einem Ellenbogen gestützt inmitten von Metall. Meine Augen waren zusammengekniffen und ich stöhnte ein leises „Nein“. Mein Kopf wurde rot und ich merkte, wie mich jemand am Arm anfasste. „Alles in Ordnung?“ ich öffnete ein Auge. Die Sonnenbrille hing nur noch an einem Ohr. Vor mir hockte ein junger Mann mit besorgter Miene. „Bist du verletzt?“ schnell sprang ich auf, alles drehte sich um mich, aber ich versuchte, ich zusammen zu reißen, und wedelte mit mit den Armen herum. „Nein, nein, mir geht es gut, es tut mir schrecklich Leid, ich, ich wollte das nicht, ich wollte Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten, Ihr Fahrrad, tut mir Leid, ich-“ „Ist schon gut, setz dich mal hin, du bist ja ganz fertig. Beruhige dich erst mal.“ . Die ganze Geschichte war mir absolut peinlich. So etwas war mir noch nie passiert. Ich benahm mich wie ein hilfloses Mäuschen. Mir fiel nichts besseres ein, und so machte ich mich daran, die ganzen Sachen, die auf dem Bürgersteig verstreut herum lagen, wieder in meine Tasche zu packen. Er half mir. „O-oh, das sieht böse aus.“. Der junge Mann deutete auf meinen Arm. Ich blickte an mir herunter und sah, was er meinte. Der Ellenbogen war gespickt mit kleinen Kieseln und das Blut rann meinen Unterarm herab. Das hatte ich gar nicht bemerkt. „Warte, hm, hast du ein Taschentuch?“ ich schüttelte den Kopf. „Bitte, lassen Sie mich gehen, machen Sie sich nicht die Mühe. Ich komme schon klar.“ sagte ich leise, ratlos zwischen Tasche und Wunde hin und her schauend. Er hob mich hoch pflückte meinen Hut aus dem Gebüsch, stellte das Rad hin und sagte: „Komm mit.“. Ich hatte so starke Panik, dass mir fast schlecht war vor Angst. Ich schulterte meine Tasche, hielt mit dem einen Arm den anderen verwundeten und fragte mich, was ich tun sollte. Ihm den Hut aus der Hand reißen und weglaufen? Um Hilfe rufen? Bloß nicht.

Ich kam mir vor wie ein kleines Kind, das hingefallen war. Lauter Horrorszenarien liefen mir durch den Kopf; was passieren könnte, wenn ich ihm so, wie ich es gerade tat, blind links folgte. Lächerlich. Und trotzdem tat ich es wie ein Lamm auf dem Weg zur Schlachtbank. Ich fing schon an, mir gebetsmühlenartig einen Satz vor zu murmeln. „Das war 'ne blöde Idee, im Park lesen zu wollen, es war eine blöde Idee...“, aber weit kam ich nicht. Er hielt, stellte sein Fahrrad neben einer Parkbank ab, legte meinen Hut ab und sagte: „Warte hier, bin gleich zurück.“. Ich setzte mich und sah dem jungen Mann zu, wie er kleine Omis mit noch kleineren Hunden und junge Mütter nach Taschentüchern fragte. Aus seinem Rucksack holte er eine Wasserflasche und säuberte dann mit Wasser und Taschentuch behelfsmäßig meinen Arm. Währenddessen hatte ich genügend Zeit, ihn verstohlen zu mustern. Wie ein klischeehafter Brite sah er aus. Blondes Haar mit rotem Stich, Sommersprossen und blitzende, helle Augen. Er gefiel mir. Diese Erkenntnis ließ mich zusammen zucken. War es nicht so, dass gerade die, die sympathisch waren, auch die Gefährlichsten waren?

Jetzt kann ich nur darüber lachen. Naiv, ich war ja so naiv. Unfassbar. Naja, damals war meine Welt im Vergleich zu heute noch in Ordnung.

Da das Pflaster zu klein war, befestigte er ein sauberes Taschentuch damit an meinen Ellenbogen. „So, fertig.“ Er sah mir ins Gesicht.Du bist neu hier, stimmts?“ ich nickte langsam. Und wusste nicht, was ich mit meinen Händen tun sollte, also krallte ich sie in den Hut. „Ich bin Nicholas, und du?“ „Rebecca.“, ich nannte meinen falschen Namen. „Hm.“, er musterte mich mit zusammengekniffenen Augen. „Der Name passt irgendwie nicht zu dir.“. Ahnte er etwas? Langsam wurde es ungemütlich. Mein Hirn arbeitete. „Sag mal, kann es sein, dass du etwas schüchtern bist?“ blitzschnell erinnerte ich mich an meine gute Erziehung und lächelte höflich, ohne ihm zu antworten. Er lachte hell. „Mir scheint, dass du von unserem Zusammenprall ein wenig durcheinander bist.“ „Ja, der Schock sitzt tief.“ antwortete ich höflich. Lieber das Spielchen mitspielen und mit schnellen Zügen beenden. „Kommst du aus Frankreich?“, diese Frage verdutzte mich. „Wieso?“ „Och, dein Englisch. Ich habe einfach geraten.“ sollte ich jetzt chèri sagen? Der Kerl musste echt keine Ahnung gehabt haben. Natürlich war das keine französische Herkunft, die er heraus zuhören meinte. Doch ich ging darauf ein: „Oh,“ sagte ich und schlug eine Hand auf den Mund. „Merkt man das? Spreche ich so schlecht?“. Sofort antwortete mein Gegenüber: „Nein nein, dein Englisch ist perfekt, es... klingt nur so interessant.“. Er rückte etwas näher.die ganze Zeit schon fixierte er meine Augen. Mein Blick huschte zeitweilig hin und her. Dann legte ich meine Hand auf die Bank und stützte mich darauf. Bis hier hin durfte er rücken, dann würde ich aufstehen und weggehen, nahm ich mir vor. Ganz bestimmt. „Wohin wolltest du eigentlich?“ fragte er und rückte wieder näher. Zwar unauffällig, aber ich registrierte die Bewegung.

„Nur den Park anschauen, das Wetter ist so schön.“. Oh, wie ich mich bei diesem Satz geärgert hatte, war er doch eine gute Gelegenheit, als Antwort irgendeinen Vorwand zum Gehen zu nennen. Aber nein, ich wahrheitsgetreues Dummerchen! „Und Sie?“, vielleicht konnte ich meinen Hals noch aus der Schlinge ziehen. Ich legte alle Hoffnung auf seine Antwort, denn langsam war er meiner Hand deutlich nahe gekommen. „Hm? Ach, ich wollte mich nur mit ein paar Kommilitonen treffen, aber das-“ „Dann möchte ich Sie nicht länger aufhalten. Vielen Dank für Ihre Hilfe. Das mit dem Rad tut mir Leid, entschuldigen Sie.“. Ich sprang auf und suchte das Weite. Mein Kopf musste schrecklich rot sein. Es war mir so schwer gefallen, ihn zu unterbrechen. Wenn Opa wüsste, dass ich eine fremde Person derart stehen lassen hatte, er hätte seinen vor Schreck seinen grünen Tee verschüttet.

Ich hastete den Rest des Weges nach Hause. Kurz bevor ich ankam, kontrollierte ich schnell mein Aussehen, zupfte ein wenig an meiner Kleidung und befestigte wieder die Strähnen, die sich aus meinem Dutt gelöst hatten. Ich öffnete die Tür . Mama stand in Schlafanzug und Haori in der Küche. Auch wenn sie nachts hart gearbeitet hatte, ließ sie sich niemals nehmen, für uns mittags zu kochen. Dafür stand sie jedes Mal extra auf. Ihr Anblick erwärmte mein Herz. Ja, wir waren eine kleine Multikultifamilie. Das beste Beispiel bot Mama. Ihr gelang immer auf erfrischende Weise der Balanceakt zwischen Europa und Fernost. Ihre kinnlangen blonden Haare wippten gerade nach vorne, als sie aus einem Kochlöffel probierte, in der selben Hand, zwischen Zeige- und Mittelfinger die langen Kochstäbchen geklemmt. Immer wieder entsetzte sie meinen Lehrer mit Späßchen oder Spontanitäten. Er versuchte, mich streng japanisch zu erziehen, nach seinen alten Werten. Ich glaube, wenn er wieder nach Japan kommt, wird er schockiert sein von der Verwestlichung, die in der Gesellschaft immer mehr Raum nimmt und überall Schlupflöcher findet.

Ich war froh, dass es Mama gut ging. Diese Seite an ihr gefiel mir so viel besser als die ständige Angst, die sie oft begleitete und veränderte.

Angst zerfrisst jeden Menschen und hinterlässt nur noch die Hülle eines Charakters.

Dort in England war sie wieder so, wie ich sie in Erinnerung habe, als ich noch ganz klein war und wir noch bei Opa lebten.

Bevor unsere Odyssee begann.

„Ich bin wieder da.“, rief ich. Ich schlang meine Arme von hinten um sie und drückte sie ganz fest. „Guten Morgen, Mama.“ sagte ich. Ich war ein Stückchen kleiner als sie.

Sie lachte.

Wenn ich dieses Lachen nur noch ein Mal hören könnte. Dieses sorgenfreie Lachen, ich würde alles tun, nur um Mama so lachen zu hören. Sie drehte sich in meinen Armen um. Nun standen wir uns Nase an Kinn gegenüber. „Guten Tag, Nao-chan.“sagte sie. „Guten Morgen, Mama. Lass mich den Rest machen. Dann kannst du wieder ins Bett.“, „Verlockend, aber nein, Schatz. Das ist zwar lieb gemeint, aber wir wollen doch Tanaka-san nicht vergraulen. Du weist doch, wenn Donburi, dann möchte er es richtig zubereitet haben. Aber du kannst schon mal den Tisch decken.“, sie reckte sich ein Klein wenig und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. Bevor ich ihrer Bitte folgte, wusch ich mir noch im Bad die Hände und klebte ein vernünftiges Pflaster auf meinen Ellenbogen. Dann machte ich mich ans Tischdecken.

Als auch schon der Tee fertig war, bat ich meinen Lehrer, der im Garten war, zu Tisch und ging ins Wohnzimmer, wo Papa am Laptop arbeitete. „Entschuldige für die Störung, Papa, aber Essen ist fertig.“. Er nahm seine schwarzrändige Brille ab, rieb sich die Augen und stand auf. Als er bei mir war, legte er seinen Arm um meine Schulter und wir gingen gemeinsam in die Küche. „Aah, endlich etwas vernünftiges.“, er beugte sich gerade über Mamas Schulter und schnupperte mit genüsslich geschlossenen Lidern. Entrüstet stupste Mama ihren Ellenbogen in seinen Bauch und fragte bedrohlich, was das denn heiße. „Mama hat früher grässlich gekocht. Sie konnte nur Nudeln ko - Hey, nicht vor dem Kind!“ rief Papa noch, als Mama ihn spielerisch mit ihren Stäbchen aufspießen wollte.

Bald saßen wir alle vier am Tisch und aßen gemeinsam. Nach der Mahlzeit mussten wir Mama fast ins Schlafzimmer drängen, und Papa und ich besorgten den Abwasch.
 

Womit ich mich am meisten beschäftigte, war ein aus Langeweile geborenes Hobby. Ich machte Chatrooms unsicher. Dort lebte ich mich aus. Konnte eine andere Identität annehmen, ohne, dass es bemerkt wurde. Was ich mich immer noch frage, ist, warum mir meine Eltern mit unserem Umzug nach England so viele Freiheiten ließen. Wussten sie, dass ich im Begriff war, mich zu verändern? Dachten sie, ich könnte mich, da ich auch immer älter wurde, auch besser wehren? Ich unkonditioniertes, schwächliches Ding? Sie wussten mehr, als sie preis geben wollten. Sie wussten mehr als ich. Eines frühen Morgens wachte ich von meinem Traum auf. Wieder, immer das Selbe. Der Tiger kam näher, duldete, gestreichelt zu werden, und sah mir tief in die Augen, was mich immer wieder entsetzte, da er mit meinen Augen guckte.

An dieser Stelle erwachte ich, stand auf und ging ins Badezimmer. Mein ganzer Körper kribbelte und ich hatte ein seltsames Gefühl. Meine Zunge war rau. Ein kleiner verborgener Teil in mir wusste, was gleich geschehen würde.
 

Alles um mich herum sah anders aus. Gestochen scharf, und die Farben hatten ihre Wichtigkeit verloren. Komisch war auch, dass das wenige Licht, das durch die Fensterläden herein gelangte, mir völlig ausreichte. War ich auf Drogen?

Ich blickte kurz in den Spiegel und schrak sofort zurück. Meine Pupillen! Sie waren groß und rund, und sie reflektierten in der Dunkelheit das Licht! Panik stieg auf in mir. Ich war gänzlich mit meiner Situation überfordert. Plötzlich stand jemand in der Tür, ich konnte es riechen! Und dann war alles hell, schrecklich hell! Als sich meine Augen an das gleißende Licht gewöhnt hatten, sah ich im Spiegel, dass meine Iris Grün-gelb war. Tigeraugen!

Dann war da nur noch Dunkelheit. Kurz hörte ich leises Schnurren. Der Tiger war zufrieden mit mir.

Ich wachte auf. Als ich merkte, dass ich in meinem Bett lag, war ich unendlich erleichtert. Es konnte sich nur um einen Traum gehandelt haben. Haha, alles nur ein Traum.

Ein mieser Albtraum.

Es klopfte an der Tür und Papa steckte den Kopf herein. „Oh, du bist schon wach. Wie geht es dir?“, besorgt kam er näher. Das alarmierte mich. „Gut, wieso?“, ich setzte mich auf, und Papa sich an die Bettkante. „Kannst du dich nicht mehr erinnern?“, fragte er. In meinem Kopf machte sich eine gewisse Ahnung breit, doch ich verdrängte sie.

„Heute Nacht habe ich dich schreien hören. Du standst im Bad im Dunkeln und hast in den Spiegel gestarrt. Als ich das Licht angemacht habe, bist du in Ohnmacht gefallen.“.

Nein! Alles in mir schrie.mein Zimmer begann zu wackeln. „Naomi?“ Papa war besorgt.

Ich wusste es, ich wusste es. Das kleine Ich, mit dem ich immer meine inneren Monologe ausführte, tanzte wie Rumpelstilzchen um das Feuer und sang, dass es es wusste.

Das konnte doch nicht wahr sein! Mein nach Logik schreiendes Gehirn rebellierte. Mir wurde schlecht und alle Farben und Konturen verschwammen. Alle Geräusche verzerrten sich zu einem einheitlichen Rauschen. Plötzlich ließ ein Schmerz auf der Wange mich zusammen zucken. Sofort ging das Raschen wieder über in eine allmorgendliche Geräuschkulisse. Vogelzwitschern, Motorenheulen von der Straße und Papa: „Naomi, Naomi. Oh, Kindes tut mir Leid, dass ich dich geohrfeigt habe, verzeih mir!“

Er hatte mich noch nie geschlagen. Erst hatte ich ihn überrascht angestarrt, aber dann wischte ich die Tränen in meinen Augenwinkeln weg, und wir umarmten uns. „Papa?“, fragte ich. „Ich verspreche dir, ich tu das nie wieder, meine Kleine.“ „Papa, bitte.“ „Hm?“, ganz leise fuhr ich fort. Ich hatte schreckliche Angst davor, was er mir sagen könnte. „Ich glaube, ich werde verrückt.“. Er fasste mich an den Schultern und schob mich ein Stück von sich. Dann schaute er mir ernst in die Augen und schüttelte einfach nur den Kopf. Erst ließ er mich los, dann drückte er meinen Kopf auf seine Schulter. Und er sagte ganz leise und auf japanisch: „Egal, was du jetzt durchmachst, Naomi, du bist meine Tochter. Niemand kann dich mir wegnehmen, verstehst du? Bleib tapfer und lass dich nicht verwirren.“
 

Mist, warum heule ich wieder? Der Schaffner überlegt bestimmt schon, ob er herkommen soll, um zu fragen, ob alles in Ordnung ist.

Nichts ist in Ordnung. Ich versuche ja, mich abzulenken, aber selbst in meinem Hirn gibt es nichts, was mich nicht an meine Familie erinnert. Hoffentlich hält der Umzug, was ich mir daraus verspreche. Ich brauche Abstand.

Die Sache mit den Hunden

3. Die Sache mit den Hunden
 

Ein Mal habe ich vor dem Supermarkt gewartet, voll beladen mit Taschen, weil Mama noch was Wichtiges einzukaufen vergessen hatte. Also stand ich da, eine Tasche auf dem Arm, zwei an mein Bein gelehnt. Wenn ich damals schon wüsste, wie sich gewisse Unannehmlichkeiten vorbeugen lassen – nun ja, man lernt aus Fehlern.

Da war nun mal eine etwas ältere Dame mit ihrem Terrier. Eigentlich hatte ich es auch mittlerweile gelernt, die Straßenseite rechtzeitig zu wechseln, wenn so ein Köter in Sicht kommt. Aber irgendwie, ich kann es mir nicht erklären, habe ich das Tier mit keinem meiner Sinne wahrgenommen.

Als ich es endlich entdeckt hatte, war es zu spät. Der Hund hatte mich gewittert. Unter den Taschen hatte ich versucht, mich so klein wie möglich zu machen, damit der Hund sich vielleicht beruhigen würde. Aber er zog wie irre an seiner Leine, und als er den Verursacher des sicherlich bedrohlichen Geruchs ausfindig gemacht hatte, mich, begann er todesmutig im Radius seiner Leine herum zu hüpfen und gaaanz gefährlich zu knurren und zu bellen.

Ich hege sehr verachtende Gefühle für Hunde. Sie sind dämlich. Sie lecken die Hand, die sie schlägt und folgen blauäugig ihrem Herrchen. Und sie sind schmutzig, sie stinken, sind laut, wühlen sich im Dreck, nur um einiges zu nennen.

Die Frage war nun: Wie bekam ich das Tier möglichst schnell weg von mir? Am liebsten hätte ich das Viech gepackt und seine kleine, zarte Kehle so lange zugedrückt, bis es für immer schweigen würde. Die Frau kam näher und tat, als bemerkte sie das Gezeter zu ihren Füßen nicht. War so etwas also schon mehr oder weniger gewohnt. Als das kleine Tier mir sogar so nahe kam, dass es begann, nach meinen Schuhen zu schnappen, hatte es mir gereicht. Ich konnte mich gerade noch beherrschen und den Reflex, der mich überkam, im letzten Moment unterdrücken. Ich beließ es dabei, meine Oberlippe hochzuziehen und leise und tief zu knurren. Diese Botschaft verstand sogar ein kleiner, dressierter dummer Hund. Augenblicklich klemmte das Tier seinen Rattenschwanz zwischen die Hinterbeine und kuschte jaulend zwischen die Beine seines Frauchens. Die Frau redete beruhigend in Babysprache auf das arme überdrehte Viech ein, während sie schnurstracks auf mich zuging. „Was hast du mit ihm gemacht?“. Ich hatte mich so auf den Hund konzentriert, dass ich die Frau völlig vergessen hatte. „Bitte?“ fragte ich ein wenig eingeschüchtert. Ich lugte scheu unter meinem Hut hervor. „Hast du ihn getreten?“ „Nein, wieso sollte ich so etwas tun? Ich – ich habe nichts getan.“. So weit ich es konnte, rückte ich einige Zentimeter zwischen den Taschen nach Hinten. Diesmal zog der Hund die Leine so weit weg von mir, wie möglich. Er hatte mich verstanden. Ich war ein paar Nummern zu groß für ihn. Nur, die Frau verunsicherte mich. Ihr Auftreten war dominant. Obwohl ich nichts getan hatte, hatte ich das Gefühl, auf der Anklagebank zu sitzen und mich verteidigen zu müssen. Aber wie?

„Es tut mir Leid, wenn Sie wegen mir Ärger haben, aber ich versichere Ihnen, ich habe nichts getan. Es ist ein Missverständnis. Ehrlich. Keinem Hund würde ich etwas tun.“ Nun dachte sie nach. Würde sie es sich leisten können, sich auf offener Straße zu blamieren? Sie zog eine gezupfte Augenbraue hoch und ich hörte von Hinten klickernde Absätze auf mich zukommen. Mama. Schützend legte sie einen Arm um meine Schultern und fragte, was das Problem sei. Energisch meinte sie dann, es könne nicht sein, dass ich auch nur einer Fliege etwas zu Leide täte.

„Sehen Sie doch, wie Sie meine Tochter eingeschüchtert haben! Schatz, hat sie dich beleidigt? Nein? Merken Sie denn nicht, dass sie Angst vor Ihrem Tier hat?“. Meine Pose konnte man tatsächlich derartig deuten. Ich umklammerte die Tasche auf meinem Arm und wechselte alle paar Sekunden das Standbein. Sah bestimmt so aus, als müsse ich dringend auf Toilette.

„Trotzdem, Cäsar hat nicht grundlos gejault, so etwas tut er nicht. Sie,“, und damit zeigte ihr beringter Zeigefinger auf mich, „hat ihm weh getan.“.

Irgendwie war die Frau gruselig. Aber Mama konterte „Jeder weiß doch, dass Terrier laute Hunde sind. Also kann er sich auch nur durch eine plötzliche Bewegung erschreckt haben. Ich bitte Sie, das Tier sieht doch noch sehr lebendig aus. Meine Tochter kann ihm nichts getan haben und ich hoffe für Sie, dass Sie nicht auf öffentlichen Terz aus sind. Es könnte sehr peinlich werden. Und teuer, wenn Sie wissen, was ich meine.“. Nun war die Frau baff. Das Blatt hatte sich wider ihrem Erwarten gewendet. Mama ist die größte.

Vielleicht wollte sie wirklich nur Theater machen, aber Mama hat ihr den Wind aus den Segeln genommen. Wir konnten diese Aufmerksamkeiten nicht gebrauchen. „Komm.“, sagte Mama, nachdem die Frau stolz, doch etwas eingeknickt abgerauscht war.

Mama hob einige der Taschen auf, worauf ich die anderen nahm. „Mach nicht so ein Gesicht, die hätte dich schon nicht aufgefressen. Du weist doch, bellende Hunde.“. Ich atmete tief ein und machte, dass ich Schritt hielt mit meiner taschenbeladenen, und trotzdem energisch schreitenden Mama. „Und, warum hat der Hund geheult? Die ganze Wahrheit, bitte.“. Ich zögerte. Zwar konnte ich mit meinen Eltern über alles reden, doch auch über mich? MICH? „Mama, könnten wir uns vielleicht irgendwo...“, ich sah mich um, aber nirgendwo war eine Bank. Ich stellte meine Tasche ab und Mama verstand. Wir setzten uns nebeneinander auf eine niedrige Mauer und Mama wartete. Ich starrte nur auf meine Füße herab. „Nun?“ aufmerksam sah sie mir ins Gesicht. Ein paar junge Leute gingen unbeschwert lachend vorbei. Wie sollte ich es ihr sagen? Leise begann ich: „Immer, wenn ich- immer wenn ein Hund vorbeikommt, knurrt er mich an.“. Mama hob eine Augenbraue. „Ich habe ihn nicht gesehen, und bevor ich etwas tun konnte, er- er ist mir so nahe gekommen und die Frau hat nichts dagegen getan und, ich weiß nicht, ich, es kam ganz tief aus meiner Kehle. Da hab ich ihn, ich hab einfach zurück geknurrt. Ich hab das sonst nie getan, weil ich doch immer rechtzeitig weggegangen bin. Da kann ich nichts für, das war ganz automatisch. So, wie wenn man lächelt, wenn jemand freundlich ,guten Tag` sagt.“, blöder Vergleich. Nun war die Luft raus. Ob Mama das verstehen würde, jeder andere hätte jetzt auf dem Boden gelegen vor Lachen. Verständlich, dass ich mir da keine Hoffnungen machte.

Schließlich verstand ich ja selbst nicht, was mit mir vorging. Das alles verwirrte mich. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Das einzige, was mir blieb, war heulen.

Für mich war die Lage ernst und um so schlimmer, da ich wusste, wie albern das, was ich sagte, klang. In dem Moment begann ich auch schon zu schniefen und versuchte, die Tränen, die sich in meinen Augenwinkeln sammelten, wegzublinzeln.
 

Tja, Nesthäkchen, du Unselbstständiges. Jetzt hat die Katze dein Nest ausgeraubt, und du hockst am Boden. Dein Piepsen nach Mama und Papa könnte die Katze auf dich aufmerksam machen. Also still, und weine leise. Du bist noch nicht flügge.
 

Daraufhin hatte Mama nichts gesagt. Ganz ruhig hatte sie mich in die Arme genommen. Aber ihr Puls war auf Hundertachtzig.

Sie legte ihre Hände auf meine Wangen, ich registrierte, dass sie leicht zitterten, und sie sagte: „Lass uns Heim gehen.“, mit einer Spur Heiserkeit in der Stimme.

Ja, ich registrierte lauter Kleinigkeiten, schon damals bemerkte ich Botschaften, die Menschen unbewusst aussenden. Summiert ergeben sie etwas Gewaltiges. Ich konnte die Zusammenhänge nur nicht verstehen. Es kommt mir wie eine andere Welt vor.

Auch, wenn ich Sorgen hatte, alles war, wie es sich gehörte, alles war an seinem Platz, wie es sein musste. Außer mir.

Ich kam mir vor, als würde mir jemand verschweigen, dass ich eine tödliche Krankheit hätte.

War ich vielleicht ein Experiment, das unter geheimer Beobachtung stand, ganz nach dem Sinne: `Lasst uns sehen, wie es sich in die Gesellschaft integriert, wie es sich verhält`?

Hatte mich eine radioaktiv verstrahlte Spinne gebissen?

Wenn man keine Antworten findet, erfindet man sie. Thesen und Beweise werden gesammelt und verworfen. Wie naiv ich doch war, geradezu belustigend.

Wo doch die Antwort hier, in Japan liegt.

Hund, da fällt mir ein, als ich ungefähr acht war, ich lag schon abends im Bett, fragte ich Mama, wo ich denn die Narbe an meinem linken Unterarm her hatte. Sie erzählte mir darauf, dass ich noch ganz klein, etwa fünf war. Ich war am Ballspielen, und in einem Moment der Unachtsamkeit hatte sich ein Hund von der Leine losgerissen und sich auf mich gestürzt. Er war nicht groß. Er verbiss sich nur in meinem Arm. Hätte ja mein Gesicht sein können. Zwar ist die Narbe mittlerweile nicht mehr zu sehen, aber ich habe immer noch die Gewohnheit, mir über besagten Arm zu streichen. So, als würde sich ein Teil von mir erinnern.
 

Mir ist kalt. Vielleicht sollte ich mich etwas bewegen? Ich sehe auf die Bahnhofsuhr, der Zeiger hat sich gerade bewegt. Nur noch zwei Stunden, dann kommt der Zug. Zwei Stunden, und mir ist so kalt. Den ganzen Tag war ich auf den Beinen. Kalt und müde. Meine Güte, mir ist gar nicht bewusst geworden, wie müde ich bin.

Aber ich kann doch nirgendwo hin. Ich fühle mich wie ein Staubkorn, das im Universum herum schwebt. Haltlos. Ohne Anfang, ohne absehbares Ende. Für Immer und ewig. So allein.

Ich war immer allein. Mama und Papa waren da für mich, aber... ich war alleine. Alleine mit meinem Erbe. Der Sinn von all dem... verloren. Gab es je einen?

Sie hätten mich von Anfang an aufklären sollen, statt alles totzuschweigen. Vie...vielleicht wäre das alles dann nicht passiert. Das, was ich bin, ist schuld, ich bin schuld.

Ich bin schuld.

Was hätte ich tun können, um alles zu verhindern? Diese unvorstellbare Katastrophe.

Ich wollte doch nichts anderes, als ein normales Leben. Normal! Klein, unscheinbar, unwichtig. Einfach und behütet. Glücklich. Ich werde nie wieder glücklich sein können.

Was Gestern war, verhindert mir den Blick auf Morgen. So bleibt mir nur noch, mich zu erinnern. An all die Gesichter und die Geschichten, die sie erzählen.

Die unser Leben geschrieben hat.

Erinnern.
 

Als ich am selben Abend aus dem Bett schlüpfte, um mir etwas zu Trinken aus der Küche zu holen, blieb ich zufällig an der angelehnten Wohnzimmertür stehen. Mama hatte gerade frei von ihrer Nachtschicht, sie saß mit Papa auf dem Sofa.

Sie redeten über mich. Trotz der Tatsache, dass sie flüsterten, verstand ich jedes Wort. Ihrer Stimme nach zu urteilen, war Mama kurz davor, zu weinen. Sie erzählte Papa über den Vorfall vor dem Supermarkt. „Kaito, und das erinnert mich stark an den Winter in Memphis, als der Hund sie angefallen hat. Sie hat gefaucht und geheult wie ein Tier. Und – und jetzt das! Ich halte das nicht mehr lange aus, Kaito. Vierzehn Jahre, ganze vierzehn Jahre sind wir schon am Weglaufen. Und merken nicht, dass wir das, wovor wir fliehen, mitnehmen. Es ist sinnlos, so sinnlos.“.

Ich erschrak zutiefst. Beim Zuhören hatte ich mich an die Wand neben der Tür gelehnt. Nun rutschte ich langsam herunter und hockte da, meinen Zopf über der Schulter hängend.

Sie hatten Angst vor mir. Meine eigenen Eltern hatten Angst vor mir, Mir! Fröstelnd legte ich mir meine Arme um die Knie. Der Durst war vergessen.

Papa versuchte, Mama zu trösten.

Aber, aber dann war ja alles gespielt! Die Fürsorge, die Liebe, alles falsch, so etwas von falsch!

Energisch schüttelte ich den Kopf. Nein, das konnte nicht sein. Mein Leben eine Lüge- Nein! Eine Träne rann meine Wange herunter und verschwand in den Fasern meines Pyjamas.

„-ber du weist doch, dass Vater uns gewarnt hatte.“. Ich horchte auf. Opa? Gewarnt? Wovor, vor mir? Bevor ich mir weitere Gedanken machen konnte, fiel Mama ihm fast aufgebracht ins Wort: „Kein vernunftbegabter, rational denkender Mensch glaubt an die Märchen, die kleinen Kindern vorm Zubettgehen erzählt werden. Erzähl mir nicht, dass du an den Klatsch eurer Hausangestellten geglaubt hast!“, nach einer kurzen Pause fragte sie, fast hoffnungslos: „Was sollen wir als nächstes tun, Kaito-chan?“, sie war ganz leise geworden, flüsterte nur noch. „Lass uns wieder zurück. Ryota wird sicher wissen, was zu tun ist.“ „Katharina.“ Papa seufzte. „Sie ist noch nicht alt genug. Es ist noch nicht so weit. Vater-“ „Du meinst damit doch nicht, dass es noch schlimmer wird?“ unterbrach sie ihn. „Du weist, was die Haushälterin immer gesagt hat, Schatz?“ fragte Papa sanft, „Als sie Naomi das erste Mal gesehen hatte?“. „Ja.“, hauchte Mama. „Das vergesse ich nie. Sie war doch so ein liebes Kind!“. Dann weinte Mama. Papa versuchte, ihr Mut zuzureden, wies sie darauf hin, dass Opa uns zurückholen würde, wenn ich reifer, selbstständiger geworden wäre. Aha. Und wenn ich keine Gefahr mehr für mich selbst mehr wäre. Was??? aber bei genauerer Überlegung ergab das einen Sinn. Was auch immer mit mir los war, ich konnte irgendwas anstellen, das Unfälle verursacht. Im Zustand geistiger Umnachtung.

„Nein, es geht schon wieder. Ich- ich habe mich wieder unter Kontrolle. Möchtest du noch etwas Tee? Ich geh mal schnell neuen aufbrühen.“. Das Sofa ächzte. Schnell löste ich mich aus meiner eigenen Umarmung, stand auf, und eilte, die nackten Füße erstaunlich geschickt aufsetzend, die Treppe hoch. Mir blieb gerade genug Zeit, um hinter dem Geländer Deckung zu suchen, als die Tür aufging und Mama mit schlurfenden Hausschuhen und hängenden Schultern mir den Rücken zu wandte und in die Küche ging. Traurig wehte der Haori um ihre Konturen. Mit einer raschen Handbewegung warf ich meinen Zopf, der mir über die Schulter gerutscht war und halb auf dem Boden herum lag, über die Schulter zurück nach Hinten. Ich erhob mich aus der Hocke und schlich wieder in mein Zimmer. Mein Fuß blieb an dem Teppich hängen und wie in Zeitlupe verringerte sich der Winkel zwischen dem Boden und meinem Körper. Im Sekundenbruchteil registrierte ich drei Dinge: 1. ich fiel, 2. meine Augen gewöhnten sich unglaublich schnell und gut an die Dunkelheit, als würde man einen Lichtschalter im Keller betätigen. Und 3. hob ich im Fall reflexartig das andere Bein und setzte es auf den Boden. Ich stützte mich darauf ab und stolperte laut polternd bis an mein Bett, auf das ich dann plumpste. Wow, das gab mir den Kick.

Kurz darauf ging im Flur das Licht an und die Treppe knarrte laut unter den schnellen Schritten auf ihr. Dann erschien ein Kopf in meinem Türspalt. „Nao? Alles in Ordnung?“, fragte Papa. „Jaja, ich bin nur gestolpert.“. Ein zweiter Kopf erschien im Türspalt. „Ist was passiert?“, das war Mama. Von ihrem Weinkrampf vorhin war keine Spur, nur die Sorge lag in ihrer Stimme. „Nur das Übliche.“ beruhigte Papa.

Mama trat herein, zupfte die Bettdecke zurecht, unter die ich gerade geschlüpft war, und strich mir über das Haar. Dann ging sie wieder zu Papa an der Tür. Er legte einen Arm um sie. Dieses Bild werde ich so schnell nicht vergessen. Ihre Gesichter lagen größtenteils im Schatten, ihre Konturen vom Flur aus stark beleuchtet. Eine Hand von Papa lag auf dem Türgriff.

Ich hatte so stark gehofft, diese Gesichtsausdrücke nicht mehr sehen zu müssen. Unmerklich wurden Mamas Lippen immer schmaler und sie klammerte sich an Papa. Ihr Blick irrte unstet an meinem Gesicht herum, als fände er keinen Halt. Die Stirn von Papa wurde von lauter Sorgenfalten zerfurcht. Fast abwesend schaute er mich an. „Gute Nacht, Schatz.“, sagte er und zog die Tür zu. Der Lichtspalt wurde schmaler, bis er verschwand. Geräuschvoll atmete ich aus. Die Dunkelheit griff nach mir. Ihre klammen Finger suchten nach mir, klebten, ich konnte sie spüren.

Schon wieder.

Ich war so glücklich gewesen, als wir uns in England eingelebt hatten, dass ich diese Gesichtsausdrücke nicht mehr sehen musste. Diese Sorge, die Angst vor dem, was passiert war, was passieren mochte. Der Zweifel, der manchmal in den Augen aufflackerte.

Schon wieder.

Aber wieso sollte es auch anders sein? Jedes Mal, wenn wir längere Zeit an einem Ort verweilten, wurden sie beide unruhig. Hieß das, dass wir wieder weg mussten?

Warum, was hatte ich bitte getan?

Ich drückte meine Fäuste fest auf meine Augen, bis die ersten Sterne vor ihnen tanzten. Dann beschloss ich, wie so oft, keine Belastung für meine Eltern zu sein. Papa ist noch viel zu jung für graue Haare gewesen, bestimmt war ich der Grund für seine gut aussehenden grauen Strähnen über den Ohren. Und Mama sollte nicht weinen. Nicht wegen mir.

Ich würde ihnen nichts mehr erzählen, was ihnen Kummer bereiten könnte.

Was hatte Papa gesagt? Reifer, selbstständiger. Ich musste für meine Probleme selber Lösungen finden. Reif und selbstständig. Und allein.
 

Es ist komisch, dass ich mich nur sprunghaft an einige Ereignisse erinnern kann. Als würde ich an einer Kette von Perle zu Perle hüpfen. Die Perlen sind unterschiedlich groß, unterschiedlich schön. Die Schnur ist unsichtbar. Es besteht kein sichtbarer Zusammenhang zwischen den Ereignissen. Oder ich will ihn nicht sehen. Auf der Schnur sind nur wenige schöne Perlen aufgefädelt. Eine ist winzig, aber sie glänzt rein, sie ist wirklich schön. Es war im Park.
 

Die Befürchtung, dass wir wegziehen könnten, hatte ich schon fast vergessen. Mittlerweile musste es Sommer geworden sein. Mein Lieblingsshirt, ja, ich glaube, ich trug das Rot geblümte.

Der Park war voller Pärchen, die sich in der Sonne aalten und miteinander herum turtelten. Ich weiß noch, wie ich wünschte, Scheuklappen zu tragen. Dass die das in der Öffentlichkeit tun mussten – manche Leute kennen keine Scham. So ging ich im Zickzackkurs zwischen den verstreuten Decken auf meinen Stammplatz zu.

Die Bücherei war längst nicht mehr attraktiv für mich. Bei dem schönen Wetter wollte ich ein Bisschen unter die Leute, auch wenn das unvernünftig klang in den Ohren meiner Eltern. Als ganz tolle Alternative boten sie mir an, doch im Garten zu sitzen. Ich frage mich nur, was daran interessant war.

Die Menschen, ich fand die Menschen so interessant. Ich wollte sehen, wie sie lebten, ein ganz normales Leben. Jenseits von den übertrieben-kitschigen Soaps im Fernsehen.

Also setzte ich mich unter die alte knorrige Eiche, in deren Schatten schon zwei junge Eltern mit ihrem Nachwuchs saßen. An den Stamm gelehnt machte ich es mir bequem und schlug meine Vokabeln auf. Ich wollte noch einige Kanjizeichen lernen.

Der Kleine hatte wohl gerade erst gelernt zu laufen. Wackelig tappste er mit seinem Pamperspopo über den Rasen und plumpste immer wieder hin. Sofort war einer seiner Eltern da und half ihm fürsorglich und geduldig auf. Immer wieder.

Ich musste lächeln. Ein junger Mensch ist so angewiesen auf seine Eltern, er ist vollkommen abhängig von ihnen.

Da ich nun im Schatten war, benötigte ich meine Sonnenbrille nicht mehr. Also nahm ich sie ab und steckte sie mir auf den Strohhut, den ich trug.

Meinen Flechtzopf missbrauchte ich als Nackenstütze. So konnte ich die Rasenanlage des kleinen Parks gut überblicken. Die verschiedensten Menschen nutzten ihn als Treffpunkt. In letzter Zeit waren viele Jugendliche hier anzutreffen, die Folge des Beginns der Sommerferien. Auch konnte man den einen oder anderen Touristen antreffen, der sich hierher verlaufen hatte. Es war schön. Die vögel zwitscherten, Hunde hatten Leinenpflicht, und man war in Gesellschaft, ohne dass sie einem zu nahe kam. Ich genoss dieses unter Menschen sein, ohne dass sie einen zu erdrücken drohten oder unangenehme Fragen stellten. Vielleicht war es eine Mischung aus anerzogener Vorsicht und Sehnsucht nach – Altersgenossen, Freunden. Etwas weiter weg von der jungen Familie war eine Gruppe. Es waren Jugendliche etwas zwischen dreizehn und achtzehn Jahren. Und alle sehr modebewusst. Eines der Mädchen hatte schwarz geschminkte Augen und langes, gerades schwarzes Haar, das ihm halb ins Gesicht fiel. Ständig warf es den Kopf auf eine ganz bestimmte Art zur Seite, um die Haare aus dem Gesicht zu bekommen. Das andere Mädchen schäkerte mit einem der Jungen herum. Es war dunkelblond und einige seiner fransig geschnittenen Haare hatten rote Spitzen. Es lachte sehr laut. Der Jüngste der Gruppe war relativ klein. Er hatte schon einen Nasenpiercing und trug ein Stachelhalsband. Seine hellen Haare standen in allen Richtungen ab und sein Kleidungsstil war ziemlich düster. Ständig witzelte er herum, brachte alle zum Lachen, er konnte einfach nicht still sitzen, was voll gegen sein Äußeres sprach. War aus auf Anerkennung. Die anderen Drei spielten ein Kartenspiel. Sie waren mindestens so alt wie ich, wenn nicht älter. Einer war sehr ruhig. Er schien seine Spielzüge zu überdenken, sprach nur wenig. Bewegte er sich, blitzte sein Ring in der Sonne auf. Er hielt den Kopf schräg, damit sein Pony ihm nicht die Sicht nahm. Sicher war er der große Bruder des ersten Mädchens.sein Finger klopfte irgendeinen Rhythmus auf das Blatt in seiner Hand. Und, was mir gefiel, war die Schärfe, mit der er seine Gegner beobachtete, mit seinen dunklen Augen. Ihm gegenüber saß einer, dessen muskulöse Statur seine beiden Mitspieler wie schlaksige Halbwüchsige aussehen ließ. Regelmäßig regte er sich dröhnend über Kleinigkeiten auf. Die anderen schienen ihm viel Achtung entgegen zu ringen. Sie fragten ihn nach seiner Meinung, taten, was er sagte, nur der Dunkeläugige blieb ruhig. Der dritte im Kartenspiel war so ein langer Kerl mit Dreadlocks. Sie hingen ihm bis zu den Schultern herunter, irgendwie tanzte er aus der Reihe. Passte ein wenig in die Jamaicaschublade. Alles easy, mann.

Nachdem das junge Elternpaar mit seinem müden Baby aufgebrochen war, kamen noch zwei Kerle hinzu. Mit ihren dunklen Klamotten versprühten sie nicht gerade Somersonnenfeeling. Sie verteilten Süßigkeiten und setzten sich zu den anderen.

Es war nicht das erste Mal, das diese Gruppe zur selben Zeit wie ich hier war, nur war sie das erste Mal so nahe. Auf diese Art machten sie es mir nicht schwer, meine Aufmerksamkeit eher meiner Umgebung zu widmen, als meinem Buch, das aufgeschlagen nun als Requisite diente.

Ab und zu blickte auch mal einer von ihnen herüber. Dann senkte ich den Kopf, sodass die Hutkrempe meine Augen verdeckte, oder ich ließ meinen Blick schnell weiterschweifen. Gelegentlich konnte ich auch einige Gesprächsfetzen erhaschen, in denen es um Ferienpläne, Parties und Beziehungskisten ging. Sie redeten über die unmöglichsten Dinge und verschiedene Musikstile, von denen ich keine Ahnung hatte.

Nach einer halben Stunde wurde es dem Muskelpaket zu bunt. Scheinbar hatten meine Beobachtungen ihn provoziert. Er machte Anstalten aufzustehen und fluchte laut herum. Bevor er irgendetwas tun konnte, klatschte ihm der Dunkeläugige die Spielkarten auf die Brust und stand auf. „Lass das, können wir nicht ein Mal in Ruhe im Park sitzen, ohne dass du … in Ruhe lässt? Vielleicht findet sie dich ja süß … verscheuchst sie … mich das machen, misch schon mal … .“. Damit machte er sich auf den Weg in meine Richtung. AAah! Was sollte ich nur tun? ich begann mit meinem Zopf zu spielen. Vielleicht irrte ich mich ja und er meinte jemanden hinter mir. Ja, so musste es sein. Hilfe. Als ich wieder meinen Kopf hob, um mich zu vergewissern, dass nicht ich sein Ziel war, war er schon bei mir. „Hey.“, sagte er und steckte seine Hände in die Taschen. Ich erwiderte mit einem zögerlichen Lächeln. „Hallo.“ „Mmh, du hast bestimmt schon mitgekriegt, wie der Kerl,“, er zeigte mit dem Daumen über die Schulter, „sich ein Wenig aufregt.“ „Ja, ich wollte das nicht, ich wusste ja nicht, dass-“ „Nee, lass ma, das ist ganz normal. Wir sind das schon gewohnt. Is nurn bisschen unangenehm, besonders, weil es abschreckt.“. Er hockte sich hin, um mir besser in die Augen zu sehen. „Sag mal, tschuldige für diese respektlose Frage, aber hast du Chinesische Eltern oder bist du ein Mongolenkind?“. Diese Frage, wie kam er nur auf so etwas absurdes? Eine Unverschämtheit, so taktlos zu fragen. Äußerlich lächelte ich, aber innerlich war ich total konfus. „Äh, wie bitte?“ „Ja, ich weiß, so was fragt man nicht, aber du hast mich schon richtig verstanden.“. Wenn seine Augen nur nicht so dunkel, so tief gewesen wären...!

„Ich glaube nicht, dass ich genetische Defekte habe.“.
 

Höchstens mentale. Ich sehe und tue Dinge,die man nicht mit pubertären Hormonschwankungen erklären kann.
 

„Was machst du da, ist das Chinesisch?“. Er deutete auf mein Kanjibuch. Schnell nickte ich mit dem Kopf. Nichts von meiner tatsächlichen Herkunft preisgeben. Kein Risiko eingehen. „Freaky.“. Finde ich nicht. „Sag mal was, du bist stumm wie ein Fisch.“, „Was soll ich denn sagen?“ fragte ich. Konnte er nicht wieder zu den anderen gehen?

Nein, lieber bleiben.

Vorsichtig fragte ich: „Darf ich fragen, wie alt du bist?“, „Klar. 17. Und du?“, wow, er war siebzehn. „Äh, fünf-, fünfzehn.“. „Echt? Is ja komisch. Das soll jetzt keine Beleidigung sein, aber so schüchtern, wie du jetzt bist, könnteste 13 sein, und vor n paar Tagen, als ich dich gesehen habe, sahst du so ernst und unglücklich aus, es hätte mich nicht überrascht, wenn du 20 gesagt hättest.“. Er lächelte entschuldigend. In seiner Gegenwart hatte ich das Gefühl, dass er jede meiner Bewegungen registrierte, sie analysierte und so wusste, was ich dachte und fühlte. Ich muss vorsichtig sein, sagte mein Kopf. Mein Herz aber übte gerade Verrat aus …
 

Dies war die kleine Perle. Ich hatte mich wider besseren Wissens verliebt, es aber auch gleich verworfen. Und nun will ich mich einfach nur erinnern können.

An das Schöne.

Danach hatte ich ihn nie wieder gesehen. Die Gruppe, die dort auf dem Parkrasen saß, verkleinerte sich im Laufe der Ferien. Ich nehme an, sie waren im Urlaub. Bevor die Ferien endeten, zogen wir wieder fort. Sein Lächeln nahm ich heimlich mit. Doch mittlerweile ist es wie alle Erinnerungen verschwommen. Letzte Nacht bin ich schweißgebadet aufgewacht, weil sich die Gesichter meiner Eltern aufgelöst hatten. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wie sie aussahen. Hastig habe ich dann unter mein Kopfkissen gegriffen und beruhigt festgestellt, dass das Foto noch da war. Jetzt steckt es in meiner Jackentasche. Die Nacht ist ungewöhnlich kalt für Mai.

Ich habe das Gefühl, dass sie jederzeit kommen könnten, sagen würden: „Entschuldige, Schatz, dass du warten musstest, aber vor der Toilette war eine lange Schlange. Wir haben dir was zu Trinken mitgebracht.“, oder „Leg deinen Kopf auf meinen Schoß, Naomi, wenn der Zug kommt, wecke ich dich.“. Und trotzdem kommt seit einer Woche keiner durch die Tür herein, wenn sich vor ihr ein Schatten befindet, keiner flucht leise über das mangelhafte Computerprogramm und ich werde nie wieder das Rauschen eines ganz bestimmten Haoris hören.
 

Nach London lebten wir den Herbst an einem nördlich gelegenen Dorf an der Grenze zu Schottland.

Hier war es sehr still, idyllisch. Doch am Abend unserer Ankunft schränkten meine Eltern meine Freiheiten wieder ein. Ich sollte nicht alleine ins Dorf, nur in Begleitung eines Erwachsenen. Wenn ich spazieren wollte, konnte ich es glücklicherweise auch alleine tun. Nur sollte ich mich von den Leuten fern halten. Dorfbewohner reden viel. Jeder kennt jeden und dies sind die Voraussetzungen für Lauffeuer von Gerüchtsverbreitungen.

Die meiste Zeit hatte es nur geregnet. Im Gemeinschaftsraum der Pension war ein wunderschöner Kamin. Oft saßen wir dort in den Sesseln und naja, taten nichts. Durch die einsame und ruhige Zeit wurde meine Beziehung zu Opa stark gefestigt, ich hockte mich auf die Fensterbank und unterhielt mich dank Technik mit ihm. Entweder war er todmüde und ich rieb mir gerade den Schlaf aus den Augen, oder umgekehrt. Zumindest manchmal, denn als Gründer der Akanishi GmbH, einer Japans Pioniere in Raumfahrt und Nanotechnologie, kannte er praktisch keinen Schlaf.

Nie schien er zu schlafen, sofort beantwortete er meine Mails. Das einzige, was ihn hindern mochte, war sein Job.

Und so kam es, dass ich ihm von meinem Traum erzählte. Natürlich hatte eich meine Beschreibungen etwas abgeschwächt. Aus dem Tiger machte ich eine Katze. Trotzdem reagierte er recht heftig. Er überstürmte mich mit Fragen wie: „Wie sah die Katze aus, Naomi?“, „Schwarz getigert.“ antwortete ich ausweichend. „Und sie ist um einiges größer als normale Katzen, nicht wahr?“ „Ja“ gestand ich. Kein Mensch konnte Opa betrügen. Immer bekam er die Wahrheit heraus, Vielleicht verrieten aber auch unbewusste Körpersignale, dass ich etwas verbarg. „Kind, vergiss nicht, was ich dir jetzt sage: Nimm deine Träume ernst. Träume sind die Spiegel der Seele. Du musst lernen, ihre Botschaft zu verstehen.“ „Aber was ist denn ihre Botschaft, Großvater? Ich verstehe das nicht.“ „Lerne, sie zu verstehen. Du kannst deine Herkunft nicht verheimlichen.“ „Was meinst du damit? Großvater, bitte hilf mir.“ „Tut mir Leid, kleine Nao-chan. Ich muss zur Konferenz. Ich maile dir. Grüße deine Eltern von mir.“. Bevor ich auch nur etwas entgegnen konnte, hatte er die Verbindung abgebrochen. Unser Gespräch machte mich verrückt. Konnte denn kein Mensch eindeutig sprechen? Was sollte dieses Versteckspiel? Würde es jemals aufhören? So konnte ich doch nicht weiter leben, schließlich musste ich auch an meine Zukunft denken! Und wie sah sie aus? Nicht allzu rosig. Nur nebelhaft. Ich kam mir vor wie jemand, der blind im grauen Dunst mit vorgestreckten Armen herumtastete. Und gelegentlich streifte mich jemand, doch war meine Reaktion zu langsam und ich bekam ihn oder es nicht zu fassen.
 

Der graue Dunst ist zum schwarzen Loch geworden. Es hat alles verschlugen, aufgefressen, gierig ausgesaugt. Und es zerrt an mir, ich drohe, unterzugehen.
 

Ich zerbrach mit über so vieles den Kopf. Zum Beispiel meinte Sensei, dass wir noch in dem Jahr meinen Abschluss schaffen könnten. Dann wäre ich befugt, eine Hochschule zu besuchen. Doch wie würde das funktionieren? Unser Lebensstil müsste sich ändern. Wie sah meine Zukunft aus? Ich konnte doch nicht immer von meinen Eltern abhängig sein – ich meinte, es gibt auch etwas anderes auf der Welt. Ich wollte erwachsen werden, den Mann meines Lebens kennen lernen und mit ihm eine Familie gründen. Das alles ging so nicht. Warum konnten wir nicht normal sein? Ich wollte mich mit gleichaltrigen treffen, auf eine normale Schule gehen, unscheinbar und sicher leben.
 

Ich habe Angst, dass es nicht funktioniert.
 

Auf den ersten Blick hatte ich alles, aber meine Sehnsüchte waren nicht zu stillen. Die Freiheit des einfachen Lebens. Immer wieder setzte ich mich im Stillen mit diesem Thema auseinander. Aber warum, warum sagten sie alle immer diese verwirrenden Dinge? Was war der Schlüssel zu diesen Geheimnissen, die sie vor mir hatten? Oft ertappte ich sie, wie sei seltsame Blicke auf mich warfen. Sie warteten auf etwas, warteten auf ein Signal. „Du bist noch nicht so weit“ sagte Opa immer nur, wenn ich ihn bedrängte.

Aber wann? Ich ballte in ohnmächtiger Wut meine Fäuste und sah zum Fenster hinaus auf die Bäume, die im Wind ihre bunten Blätter verloren. Jahr für Jahr taten sie dies, als müssten sie sterben. Und doch erwachten sie jeden Frühling aufs Neue.

Ich ging die Treppe hinunter und betrat den Gemeinschaftsraum. Mama saß auf einem Sessel und starrte ins Kaminfeuer. Ihre Atme ruhten auf einem aufgeschlagenen Buch, einem Reiseführer über die lokalen Attraktionen. Es war Nachmittag und der Himmel mit der ihn umgebenden Welt waren grau. Eingepackt in eine wetterfeste dicke Jacke sagte ich ihr bescheid, dass ich etwas frische Luft schnappen wollte. Ganze drei Tage hatte es schon nicht geregnet. Erst als er sprach, registrierte ich Papa, der mit dem Pensionsinhaber Schach spielte. Dieser war ein gänzlich ergrauter Herr Mitte fünfzig mit Halbglatze. Die ganze Zeit, die wir schon da waren, trug er nur karierte Pullover und er hatte eine schnarrende Sprechweise. Doch ansonsten war er ein angenehmer Charakter. Er behandelte seine Gäste gut und sprach nur das nötigste. So saßen sie sich beide gegenüber am Fenster und brüteten über ihre Züge. Ein langweiliges Spiel. Der Pensionsinhaber hatte versucht, mich dafür zu begeistern, doch hatte er es aus mangelndem Interesse meinerseits aufgegeben. Das einzige Spannende war, „Schach matt“ rufen zu können. Ich hatte ihm zwei Mal die Dame abluchsen können.

„Wenn du in den Wald gehst, bleib auf den befestigten Wegen.“, sagte Papa. „Ich weiß.“. Ich drehte mich zum Gehen um. „Bis später.“

Draußen schlug mir die feuchte Luft entgegen. Am Boden tanzten erste Nebelschwaden und ein vergessenes Spinnennetz vibrierte unter der Last winziger Tropfen im Wind. Wie Perlen waren die Tropfen auf die klebrigen Fäden geschnürt. Leise rief ich: „Neko-chan, Tom, Tomtomtom, wo bist du?“, nichts. Sicher war die junge Katze, die versehentlich auf einen männlichen Namen getauft war, irgendwo auf Beutezug. Langsam kroch die Feuchtigkeit in meine Kleidung. Um dieses unangenehme Gefühl zu verlieren, setzte ich mich in Bewegung. Die Umgebung hatte ich schon in drei Richtungen ausgekundschaftet. Ich liebte es, zu spazieren. Die Luft beherbergte viele verschiedene Gerüche. An dem Tag war sie schwer und klamm. Die verschiedenen Nuancen waren schwierig zu trennen. Der Wind, der gelegentlich hier und dort wehte, brachte neue Düfte mit, vermengte einige, zerriss andere, es war spannend, in diesem Bouquet zu stehen und zu atmen. Moment mal, normale Menschen taten so etwas nicht. Schnell blickte ich mich um. Hatte mich jemand schnuppern sehen? Ich schritt die Straße hinauf. Weiter unten lag das Dorf. Ich hatte es bisher nur einige Male betreten, in Begleitung von einem der Erwachsenen. Die Dorfkirche war dunkel und muffig, so wie der ganze Ort hier.

Das Gebüsch am Wegesrand verdichtete sich mit der Zeit immer mehr. Es gesellten sich windschiefe, knorrig geduckte Bäume zu den Sträuchern. Langsam, fast unbemerkbar schlossen sich die Pflanzen zu einem Wäldchen zusammen. Papas Rat war berechtigt. Ich wusste, dass wenn man die Straße verließ und auf einen der Wege abbog, so wie ich es gerade tat, der Wald einen mit ausgebreiteten Armen empfing und verschlang. Man musste genau auf den Weg achten.

Mit jedem meiner Schritte erklangen mehr Tierstimmen und Geräusche in der dumpfen gesättigten Luft. Meine Ohren wollten am Liebsten alles auf ein Mal aufnehmen. Meine Neugierde war unersättlich. Hier war alles voller Leben. Auch wenn der Herbst das Land erobert hatte, der Kampf ums tägliche Überleben wurde immer wieder neu ausgefochten. Es gab Gewinner und Verlierer. Fressen und gefressen werden live. Im Gebüsch raschelte es, es fauchte und piepste im Unterholz.

Auf befremdliche Art befiel mich eine seltsame Erregung. Mein Puls vibrierte im meinem Atem und mein ganzes Bewusstsein konzentrierte sich auf das Rascheln im Gebüsch. Noch nie hatte ich so klar hören können, registrierte alles, was der kleine Nager dort tat. Ein wohliger Schauer rieselte meinen Rücken hinab. Meine innere Stimme wurde immer aufgeregter, schrie fast; nein, das ist falsch, nein! Hör auf Naomi, hör auf!

Doch mein Körper gehorchte ihr nicht. Ich hatte begonnen, meine Armmuskulatur anzuspannen. Abwechselnd öffneten und schlossen sich meine Fäuste. Ich kauerte mich hin. Das Tierchen bemerkte mich nicht, witterte keine Gefahr, also könnte ich, wenn ich mich geschickt anstellte, …

ein Geräusch riss mich aus den Gedanken, hinter mir.

Langsam drehte ich mich um, das Geräusch hatte alle anderen im Unterholz verstummen lassen. Ich bemerkte einen schwarz und weiß gefleckten Schatten, als er auch schon in meine Richtung hüpfte. „Tom!“, sagte ich ärgerlich und unendlich erleichtert. Hatte sie mich doch aus einem furchtbaren Zustand gerettet. Mit einer Hand stütze ich mich vom Boden ab, da mir seltsam zumute war. Mir war übel. Mein Körper rebellierte. Ebenso mein Geist. Es war, als hätten mich bis eben heftige Krämpfe geschüttelt. Etwas war in mir, es kämpfte. Und solange nicht feststand, ob es siegen oder verlieren würde, würde alles in mir dagegen ankämpfen. Ich wusste nicht, was es war, auch wollte ich nicht, dass es gewinnt. Also durfte ich keine Schwachstelle zeigen. Sonst würde es nicht untätig sein und die Gelegenheit nutzen.

Ich wimmerte. Mir war so elend und übel. Zwar machte ich Anstalten, aufzustehen, doch ich sackte sofort wieder in mich zusammen. In dieser Situation dachte ich absurder Weise nur daran, meine Kleidung nicht schmutzig zu machen, weil der Waldboden feucht war. Ich klammerte mich geradezu an diesen Gedanken.

Mein Magen ballte sich zu einer Faust zusammen und gerade konnte ich mich noch vorn über beugen und übergab mich. Zitternd schlang ich die Arme um meinen Körper. Mit meinem Mittagessen war meine ganze Körperwärme von mir gewichen. Die Feuchtigkeit in der Kleidung war um so stärker zu spüren, sie kroch überall hin. Ich war leer. Jetzt entsprach mein Körperzustand meinem Gemüt. niemand war da, der mir helfen konnte. Das Zittern wollte nicht aufhören, mir war schrecklich kalt. Dann erinnerte ich mich wieder an Tom. Sie saß nur stumm da und sah mich aus ihren großen grünen Augen an. Schließlich maunzte sie fragend und kam näher. „Nein nein, du kannst mir nicht helfen.“. Ich sprach schon mir einer Katze. Das Tierchen rieb emsig seinen Kopf an mein Bein und begann wie ein kleiner Traktor zu schnurren. So drehte sie schnurrend einige Runden um mich herum, ständig den ganzen Körper an mir klebend mit dem aufgerichteten Schwanz als Antenne.

„Ach, Neko-chan.“. Ich bot ihr meine Hand an und streichelte ihren Kopf. „Ich weiß nicht, was los ist. Ständig passieren mir gruselige Sachen. Das macht mich fertig. Du bist eine Katze. Du hast ein einfaches Leben. Kannst du mir sagen, was ich tun soll, hm? Wenn du mich nur verstehen könntest.“ „Mau“ „Du bist sehr gesprächig für eine Katze, weist du das?“. Jetzt wäre der richtige Moment, im dem sie mir gestehen könnte, dass sie meine gute Fee war und mich retten wollte. „Rrrriau“. Mit wackeligen Beinen erhob ich mich. Es würde schon gehen. So schwächlich bist du auch schon wieder nicht, redete ich mir ein. Nach Hause wollte ich noch nicht. Was hätte ich dort tun sollen? Langsam schritt ich weiter mit Tom im Schlepptau. Mit ihrem steil aufgerichteten, an der Spitze gekrümmten Schwanz folgte sie mir trippelnden Schrittes.

Sobald die Amseln uns sahen, flogen sie davon. Im Gebüsch huschten die kleinen Tiere fort und ein Eichhörnchen schimpfte uns von oben herab keckernd aus.

Erst jetzt fiel mir auf, dass der Nebel sich langsam verdichtet hatte und es wahrscheinlich auch weiterhin tun würde. In Anbetracht diesen Umstands wäre es dumm, noch weiter zu gehen, und so entschied ich mich doch, wieder zurück zu gehen.

Also drehte ich mich um, und registrierte gerade noch, wie etwas dunkles zurückwich. Ich erstarrte. Täte ich jetzt einen Schritt, würden mir meine Füße den Dienst verweigern und ich würde auf dem Boden landen.

Da war jemand gewesen. Möglicherweise hatte er mich die ganze Zeit beobachtet und verfolgt. Als ich mich überraschend umgedreht hatte, wich der mannshohe Schatten tiefer in den Nebel aus. Wer war er?

Oder fing ich an zu spinnen und es war nur eine Stelle, an der der Nebel erst aufgelöst und dann wieder verdichtet hatte?

Halbherzig versuchte ich mir Mut zuzureden. Eine Optische Täuschung, der Wind, ein Baum … doch nichts half. Da war ein Mensch gewesen, und ich hatte Angst. Er war sicherlich noch da. Was, wenn er bloß wartete, dass ich unachtsam wurde oder hinfiel, ihm den Rücken zukehrte?

Tiefer in den Wald wollte ich nicht, um keinen Preis, nicht bei diesem Wetter. Aber da war diese Person, die mich vom Heimweg abschnitt. Was sollte ich tun? Und wo war eigentlich Tom?

Ach, dachte ich trotzig, du siehst deinen Verfolger nicht, also kann er dich genauso wenig sehen. Ich tat einen Schritt. Nichts geschah. Also folgte auch der Zweite, der Dritte. Immer noch nichts. Wenn er in der Nähe war, musste ich leise sein.

Ich huschte den Weg zurück, darauf bedacht, keine Geräusche zu machen und konzentriert lauschend, ob ich Schritte hinter mir hörte. Wenn der Nebel nur nicht da gewesen wäre!

So sehr er mich auch behinderte, war er doch auch meine Chance, zu entkommen. Wo war er bloß? Da ich mich fast nur auf alle Bewegungen und Geräusche hinter mir konzentrierte während ich ging, drohte ich wieder und wieder, vom Weg ab zu kommen und musste meinen Kurs auf dem schmalen Waldweg immer öfter korrigieren. Wenn meine Sicht nur nicht so beschränkt wäre!

Dazu kam noch, dass die Dämmerung bereits eingesetzt hatte. Ich musste dringend nach Hause kommen.

Dann tauchte er plötzlich vor mir auf.

Vor mir, auf dem Waldweg.

Ich geriet in Panik. Wo sollte ich hin? Würde ich den Weg jetzt verlassen, riskierte ich, mich zu verlaufen, nein, ich würde den Weg garantiert nicht wider finden.

Er schritt direkt auf mich zu, gemächlich. Als sei er sich seiner Beute sicher. Es war schlau, mir den Rückweg abzuschneiden. Mein Herz pochte. Nun wäre es nicht schlecht, wenn ich einige Selbstverteidigungstricks drauf hätte. Oder einen Superheldenfilmkaratemove mit K.O.-garantie.

„Miau.“, „Tom?“, fragte ich leise. Wo war sie gewesen? Plötzlich saß sie neben mir. Und ging sofort geradeaus mit einem „Rrrr?“

„Akanishi-san?“ er sprach! Der Schemen vor mir sprach! Aber …

Vorsichtig fragte ich: „Sind Sie das, Tanaka-sensei?“

„Kind, Gott sei Dank habe ich dich gefunden!“, schnell bewegte sich der Schemen auf mich zu und wurde erst zur Silhouette und dann zu meinem Lehrer. „Hat Sie irgendjemand angesprochen?“, fragte er mich. „Nein, wieso?“ „Ach, Ihre Eltern machen sich bloß Sorgen um Sie, das Wetter heute.“

da Wetter hatte nicht das Geringste mit einem Passanten oder sonst jemanden zu tun. Er lächelte entschuldigend. Manchmal fragte ich mich, ob es nicht schrecklich für ihn war, mit uns mit zu reisen. In seinem Alter hält man normalerweise Ausschau nach einer Frau fürs Leben. Wahrscheinlich lockte ihn das reichliche Geld, das meine Eltern ihm bezahlten. Er war sicher nicht billig. Anders konnte ich es mir nicht erklären.

„Kommen Sie, ich begleite Sie heim.“.

Den Rückweg sprachen wir kam ein Wort. Wenn er einen seiner lausigen Versuche machte, ein Gespräch zu beginnen, warf er einen unauffälligen Blick nach Hinten. Langsam begann mir die ganze Sache zu stinken. Meine ständige Unsicherheit, die Angst vor dem Unbekannten, all die Rätsel, die die Erwachsenen um mich herum machten, Fragen, die sich in meinem Kopf stauten, die Untätigkeit, in der ich gefangen war machten mich wütend. Seit langem schwelte die Wut in mir. Nun brodelte sie. Bei der nächsten Gelegenheit würde ich meine Eltern zur Rede stellen.

Ich wollte Antworten.
 

Mama und ich saßen auf meinem Bett. Sie kämmte mir gerade das lange Haar. Ich liebte es, wann sie das tat. Strich für Strich zog der Kamm durch die Woge, die sich über meinen Rücken und zwischen Mama und mir ausbreitete. Ganz sanft und vorsichtig. „Soll ich die rausgekämmten Haare sammeln und dir einen Pullover daraus stricken?“ unterbrach sie die Stille. „Igitt, nein. Das wäre ja ekelig.“, „Aber nicht jeder hat einen Pullover aus Eigenhaar.“, „Du kannst gar nicht stricken.“ „Das würde ich schon noch lernen.“ „Nein, bloß nicht!“ „Hahaha, das war doch nur ein Scherz!“, sie knuffte mich. „So, wenn ich fertig bin, gehst du ab ins Bett und hoffe, dass der Fieber bis Morgen verschwunden ist.“zügig wanden sich meine Haarsträhnen unter ihren Fingern zu einem Flechtzopf. Als sie das Haargummi um das Ende des Zopfs gebunden hatte, warf sie ihn mir über die Schulter nach vorne und lüftete eine Ecke der Decke. „Rein mit dir.“. Gehorsam schlüpfte ich unter die Decke und Mama setzte sich auf die Bettkante. „Mann, sind die Tapeten hier hässlich.“, sie beugte sich herunter und schnüffelte an der Decke. „Und alles riecht nach Mottenkugeln.“

sie wollte etwas sagen, fand aber nicht so recht den Ansatzpunkt.

Noch ein Mal legte sie eine Hand auf meine Stirn und schaute besorgt. Leise sagte sie: „Hoffentlich wirst du nicht ernsthaft krank, das können wir jetzt gar nicht gebrauchen“. Ich horchte auf. Sie war doch hoffentlich nicht in Aufbruchstimmung?

„Schatz?“, oh nein, diesen um Entschuldigung heischenden Blick kannte ich. Ich wusste, was jetzt kommen würde. Plötzlich schien Mama meilenweit entfernt von mir zu sein. „Ja?“, fragte ich fast widerwillig, wies mich aber zurecht, ihr freundlich in die Augen zu schauen. „Könntest du vielleicht morgen früh deinen Koffer wieder packen?“. Warum? Schrie ich. Doch der Schrei hallte nur in meinem Kopf wieder. „Mama, wovor laufen wir weg?“ fragte ich. Eigentlich wollte ich, dass meine Stimme dabei fest klang und ihr dabei in die Augen sehen, sodass sie nicht ausweichen konnte. Aber sie zitterte. Ich hatte vor der Antwort genauso viel Angst wie Mama vor der Frage.

Ich wartete. Mama legte ihre Hände in den Schoß und starrte an die Wand, auf die hässliche Tapete, durch sie hindurch ins Nichts. Auf einen Ort, eine Szene, die ich nicht kannte.

„Dein Vater und ich lernten uns an der Uni kennen, wie du weist.“, sagte sie mit seltsam klingender Stimme.

„Wir waren so verliebt.“. Wenn sie auf meine Frage zurückkommen würde, würde ich ihr auch ohne Unterbrechung zuhören.

„Aber dein Vater wich mir ständig aus. Er sagte, es sei nicht gut, dass wir zusammen seien, es wäre besser, wenn wir uns trennten.“, ihr Gesicht wurde schmerzvoll. „Ich sah, wie sehr ihm diese Worte weh taten, aber ich wollte mich nicht von ihm trennen. Du weist ja, wie ich sein kann. Wenn ich etwas bestimmtes will, lasse ich nicht locker.

Oh man, was ich für verrückte Dinge getan habe, um ihn umzustimmen.

Dann warnte er mich noch ein Mal, sagte, dass unsere Beziehung vielleicht mein bisheriges Leben zerstören könnte. Er fragte, ob ich für ihn Familie und Freunde aufgeben würde, ob ich bereit wäre, vielleicht noch größere Opfer zu bringen. Und ich sagte ja. Ich weiß nicht, ob ich mir der Bedeutung seiner Worte bewusst gewesen war. Seine Worte machten mir Angst, aber ich war überglücklich, ihn wieder zu haben. Ich liebe ihn.

Weist du, meine Eltern waren auch gegen die Beziehung, die ich mit deinem Vater hatte, von Anfang an. Sie befürchteten, dass ich in Japan bleiben könnte, wenn sie eines Tages wieder nach Deutschland heimkehren würden. Aber nichts konnte unsere Liebe aufhalten. Naomi, fast jeden Tag fragte er mich, ob ich immer noch bei ihm bleiben wollte, es sei mir frei, zu gehen, wann ich wollte. Jedes Mal antwortete ich, ich bleibe. Ich wünschte mir so sehr, dass er aufhörte, sich zu quälen. Es tat so weh, ihn leiden zu sehen. Wenn ich ihn fragte, was ihn belastete, antwortete er, er habe ein schweres Erbe. Ab da erwähnte er es nicht mehr. Er bemühte sich, das, was ihn bekümmerte, zu vergessen und unsere Zweisamkeit zu genießen.“. Die Röte schoss Mama ins Gesicht. Offensichtlich war ihr die Doppeldeutigkeit ihrer Worte aufgefallen. Ihr Blick war der eines verliebten Mädchens. „Im Silvester vor 18 Jahren verlobten wir uns dann. Es war wunder schön. Die ganze Zeit flüsterten wir uns Liebesgeständnisse in die Ohren.“, das taten sie immer noch. „Und im Frühling darauf haben wir heimlich geheiratet. Unsere Hochzeitsreise war ein Picknick im park, mir Getränken und Essen aus dem Automaten, die Zeit werde ich nie vergessen.“.

Plötzlich wurden ihre leuchtenden Augen wieder ernst. „Naomi, du bist zu einem vernünftigen jungen Menschen aufgewachsen. Und ich bin so froh, wenn du lachst und wenn es dir gut geht.

Unsere Familie hat Feinde, Naomi. Und du bist das Kind des Erstgeborenen. Viel bedeutender noch, du bist die erste erstgeborene Tochter seit drei Generationen. Und das macht dich zur begehrten Beute.“ sie sah auf ihre Hände. „Mehr kann ich dir nicht sagen. Manches Wissen ist zu gefährlich.“.

Mama stand auf und blinzelte einige Male. Dann seufzte sie so schwer, als hätte sie alle Sorgen der Welt zur Last. „Trink den Tee, solange er noch heiß ist.“. Ich sah auf das Nachttischchen aus dem Becher darauf kroch nur noch eine feine Dampffahne hinauf. Heiß war der Tee schon lange nicht mehr. Noch ein Mal beugte Mama sich zu mir herab, lächelte. „Weist du noch, wie ichc dir früher die Geschichten erzählt habe?“ „Ja, vom Pfirsichjungen oder der schlauen Füchsin.“, Mama nickte. Mit ein, zwei Schritten war sie schon an der Tür. „Ich habe nie an die Mythen geglaubt. Aber irgend woher müssen sie ja kommen.“.

Zwar ärgerte mich wieder die Tatsache, dass ich von Mama nur Andeutungen bekam, aber immerhin war das ein Anfang.

Meine Eltern liebten mich, sie liebten mich und wollten nur das Beste für mich. Durch ihr Schweigen über meine Fragen wollten sie mich schützen, sie wollten, dass ich keine Angst zu haben brauchte. Ich sollte sorglos aufwachsen. Sie schützten mich vor dem für mich gesichtslosen Feind. Doch sie merkten nicht, dass er schon nach ihnen griff.

Spaziergänge

4. Spaziergänge
 

Den Winter verbrachten wir mit einer Art Skiurlaub. Wir waren in der Schweiz, in Italien und Österreich. Ich wurde misstrauischer. Hinter jedem Skianzug konnte sich jemand verbergen, der nicht allzu freundlich gesinnt war. Es fehlte nur noch eine Verfolgungsjagd à la James Bond. Nur, dass ich wirklich schlecht im Skilaufen war. Also begnügte ich mich mit Schlittschuhlaufen. Oft genug kippte ich dabei wie ein gefällter Baum auf die Eisfläche und holte mir blau geschlagene Knie und einige größere Prellungen und Blutergüsse aus Kollisionen mit armen unschuldigen Schlittschuhläufern. Aber es machte Spaß, was schon sehr verwundernd ist, denn mich für Sport zu begeistern, auch, da ich wohl eher eine immense Anziehungskraft auf Unfälle und Katastrophen ausübe, ist eher unwahrscheinlich.

Sensei bereitete mich derzeit so gut es ging auf die Abschlussprüfungen vor, wobei der regelmäßige Wohnortswechsel eher hinderlich war.

Letztendlich hatte ich es geschafft. Das Büffeln im Januar hatte sich gelohnt, im März hatte ich die Ergebnisse praktisch vor Augen, die Mail, die ich bekam, bestätigte mir, dass ich, juhu, die Hochschule besuchen durfte.

Ich fragte mich nur, wie.

Meine Gedanken drehten sich wieder um meine ungewisse Zukunft.

Wenn ich das alles nur wüsste.

Törichte egoistische Gedanken.

In dem Winter hatte ich gelernt, mich emotional von meinen Eltern zurückzuziehen. Ich verbarg meine Gefühle. Äußerlich mochte ich lächeln, doch in meinem Innern zerbrach ich immer mehr an meinen Zweifeln.

Die Tigerin in meinem Traum hatte mich aufgefordert, ihr zu folgen. Erst ließ sie sich von mir streicheln, doch dann ging sie einige Schritte und blieb wieder stehen. Sie sah sich um, starrte mir in die Augen.

War es Angst, die in ihren Augen lag? Warum drängte sie so? Wenn ich den ersten Schritt auf sie zu machte, vergrößerte sie wieder den Abstand zwischen uns. Dann begann sie zu laufen. Ich versuchte, so gut wie möglich mit ihr mitzuhalten, doch sie war zu schnell. Bald blieb ich zurück und sank auf den Boden, alles war schwarz um mich herum. Und das Gefühl, versagt zu haben, war geradezu körperlich spürbar. Träumte ich den Traum wieder, so sah sie mich tadelnd an. Sie rügte mich, weil ich so viel trödelte und wertvolle Zeit verloren ging. Ich hatte mich schon längst daran gewöhnt, dass sie mich gelegentlich aus meinen eigenen Augen ansah. Trotzdem Gruselig.

Manchmal geschah es, dass ich aus dem Traum aufwachte und dabei atmete ich tief aus, als müsse Luft, die gar nicht in meine Lungen passt, heraus. Mein Herz klopfte und ich musste meinen Atem beruhigen und die total verknotete Bettdecke aufschütteln.

Eines Nachts, ich konnte mittlerweile schon ein beachtliches Stück mit der Tigerin mithalten, hörte ich einen dumpfen Ton. Er hallte durch mich hindurch, und die Schwärze, die uns umgab, wurde für einen kurzen Moment trübe. Wieder dieses dumpfe Pochen. Was war das für ein Geräusch, und woher kam es? Es war kraftvoll und bedeutete Leben. Wieder. Kam es vielleicht … Ich hielt meine Hand auf meine Brust. Mein Herzschlag? Es war in mir, aber es war nicht mein Her.z zumindest nicht mein bisher normales. Wieder hallte es durch die Schwärze. Die Ströme, die durch meinen Körper flossen, diese Kraft, die das Blut durch meine Adern schickte, es war unbeschreiblich, es fühlte sich so großartig an, energievoll, stark. Plötzlich schlug die Tigerin einen Haken und ich fiel im Traum auf mein Bett. Ich rang nach Atem und lauschte meinem Puls. Bildete ich es mir nur ein, oder war er eben noch lauter und langsamer? Fröstelnd schaute ich auf und bemerkte die geöffnete Balkontür. Kleine Schneebröckchen lagen auf dem Teppich. Mein Herz setzte aus und der erste Gedanke war: Sie haben uns gefunden!

Klar, und sie können Türen von Innen öffnen. Und warum lebte ich noch, wenn sie mir doch nach dem Leben trachteten?
 

Warum lebe ich immer noch? Es könnte doch so einfach sein. Ich würde ihnen zuvorkommen. Einfach auf den nächsten Zug warten und sich fallen lassen. Nichts mehr spüren. Zu Mama und Papa kommen.

Ich habe Angst, zu versagen. Vielleicht bin ich zu schwach, um weiter zu leben. Ja, der Umzug ist nur eine Flucht, eine Verzögerung. Ich weiß nicht, ob ich leben kann oder lieber meinen Eltern folge. Der Tod erscheint mir in Momenten wie diesem so süß.

Jetzt werd' nicht poetisch!

Opa würde es mir nie verzeihen, dass ich sie alle im Stich gelassen habe. Aber damit würde ich all die Jahre, die sie mich beschützten, damit ich lebe, in den Sand setzen. Sie haben so viel für mich getan. Soll ich um ihrer Willen weiterleben?

Und was ist, wenn es eine Frage der Zeit ist, bis auch ich gefunden und so grausam hingerichtet werde, wie sie?

Ist da der selbst gewählte Tod nicht besser? Als Flucht vor dem Schicksal mit letztendlich dem selben Ergebnis? Ist mein Leben überhaupt noch lebenswert? Ich mache mich doch selbst kaputt, soll ich dem nicht eine Ende setzen?

Das Rauschen, das ich vor einigen Sekunden wahrgenommen habe, wird lauter, und das Gleis langsam erhellt.

Mein Ticket! Ja, in der Tasche.

Schnell werfe ich mir den Rucksack über den Rücken, zucke dabei vor Schmerz zusammen, und packe mir die große Sporttasche. So laufe ich den anderen fünf, sechs Passanten hinterher, die gerade in den angehaltenen Zug steigen.

Im Abteil schiebe ich mir die große Tasche so gut es geht, unter die Füße, der Rucksack bleibt auf dem Schoß. Die Leute gucken mich mit verschieden deutbaren Blicken an. Ja, kein Mädchen meines Alters sollte um diese Uhrzeit unterwegs sein. Denken sie, ich sei eine Ausreißerin? Gewissermaßen trifft das ja zu. Oder ein kleiner Alternativpunk. Nein, die Zeichnungen an meinen Wangen sind weder Schminke, noch Tattoo. An dem Tag sind sie einfach aufgetaucht. Einfach so. und ich bekomme sie nicht weg.

Ich sehe aus dem Fenster. Wow, der Zug ist echt schnell. Ich bin noch nie mit den japanischen Schnellzügen gefahren. Zwar wusste ich, das sie schnell sind, aber nicht so schnell. Huhu, reißt die Hände in die Luft.

Der Abstand von Zuhause wird größer. Die Entfernung wächst.

Die Abteiltür öffnet sich und der Schaffner tritt ein. Er begrüßt die Passagiere mit einem „Wunderschönen Guten Morgen.“ - andere hätten um diese Uhrzeit gute Nacht gesagt. Er entschuldigt sich die Störung. Zügig kontrolliert er die Tickets der wenigen Reisenden.
 

Die Schneebrocken wurden von mir weggeräumt, die Balkontür verschlossen. In dem frisch gefallenen Schnee waren Fußspuren. Als ich mich auf mein Bett setzte, schreckte mich etwas Kaltes an den Füßen auf. Ich schaute genauer hin und entdeckte, dass die Säume meiner Hosenbeine nass waren.

Doch ich wollte nicht glauben, was ich in meinem Inneren schon längst wusste. Ich schlafwandelte doch nicht!

Ganz klein machte ich mich, kauerte mich auf meinem Bett hin und wiederholte meinen Singsang: „Nur ein Traum, alles in Ordnung.“

Was wollte die Tigerin von mir? Konnte sie mich nicht einfach in Ruhe lassen? Meine Füße waren kalt.

Am darauf folgenden Morgen checkte ich meinen Posteingang. Opa hatte mir geschrieben. Was dort stand, konnte ich kaum glauben. „Mama!“, rief ich, „Paps!“. Ich öffnete meine Tür und rannte durch den Flur des Bungalows, in dem wir wohnten. Diese tolle Nachricht musste ich sofort weiter geben. Opa hatte uns eingeladen! Nach Hause, wir konnten endlich nach Hause! „Mama!“, ich blieb wie angewurzelt stehen. Im Bad lag ein kariertes Knäuel im Waschbecken. Es hatte dunkle Flecken. Nur langsam sickerte das, was ich dort sah, in mein Bewusstsein. Papas Pyjama war blutgetränkt! „Papa!“, schrie ich, nun keine Spur der Vorfreude in der Stimme.

Zwei Schritte zum Schlafzimmer und ich prallte gegen den Türrahmen. Ich hob meinen Arm, um die Tür zu öffnen, ließ ihn aber in der Luft hängen. Was würde ich sehen, wenn ich diese Tür öffnete? Meine Hand zuckte zurück. Da wurde auch schon von Innen geöffnet. „Naomi?“, hörte ich Mamas zitternde Stimme. „Naomi, du bist wieder da!“. Sie umarmte mich fest. War ich je weg gewesen? Aus dem Schlafzimmer kam der Geruch von Desinfektionsmittel und Blut. Mir wurde übel. „Papa?“, stieß ich hervor, in dem Bemühen, nicht zu würgen. „Komm rein,“ Mama lehnte die Tür weiter auf. „aber sei leise, er ist gerade eingeschlafen.“ „Wo ist Sensei?“ Mama sah aus dem Fenster. „Draußen.“, „Lebensmüde“, knurrte ich leise. „Was?“ „ich frage mich, wer das getan hat. Was ist passiert, Mama, und was ist mit Papa?“ „Angeschossen.“

Wieder dieser Blick, so wie damals, als sie mir von unseren Verfolgern erzählt hatte. „Sie haben uns schneller eingeholt, als wir dachten. Ich frage mich, wie viele der Organisation angehören. Vielleicht sind sie ja überall und Weglaufen ist zwecklos.“ ich musste angestrengt lauschen, um Mamas Gewisper zu verstehen. Dann erhob sie ihre Stimme etwas. „Wir sind von komischen Geräuschen aufgewacht. Jemand hat die Eingangstür aufgebrochen. Dein Vater ist einfach raus gerannt. Direkt auf den Einbrecher zu. Egal, was Papa gemacht hat, der Kerl ist ständig ausgewichen. Dabei ist er doch so gut.“

Ich hatte des Öfteren zugesehen, wie Papa und Sensei bei gutem Wetter im Garten trainierten. Sie teilten sich gegenseitig Tritte, Schläge und andere Tricks aus. Geschickt wichen beide aus und konterten die Angriffe ihres Oponents.

„Und plötzlich machte der Kerl nur eine Bewegung und Papa sank zusammen. Dann – dann hat er eine Waffe gezogen, er hat ganz ruhig und präzise gezielt. Ich konnte das nicht mit ansehen und bin los gerannt. Paps könnte tot sein. Er -“ Mama hielt sich die Hand vor den Mund. Als sie sich beruhigt hatte, fuhr sie fort. „Gerade, als der Schuss fiel, prallte ich mit dem Mann zusammen. Die Kugel traf nur die Schulter. Er hat aber trotzdem genug Blut verloren, um für ein Paar Tage außer Gefecht gesetzt zu sein.

Dann kam aus deinem Zimmer noch jemand, genauso dunkel angezogen, und hat nur den Kopf geschüttelt. D-der Mann hat mich gepackt und an die Wand gedrückt.“ Mama fasste sich an den Hals. „Ich bekam fast keine Luft mehr. Und er – er fragte: ´wo ist das Mädchen?`. Meine eigene Tochter, ich kann doch nicht mein Kind verraten!

Ich fiel in Ohnmacht, und als ich wieder zu mir kam, waren sie nicht mehr da, und du warst auch weg. Ich dachte, sie hätten dich mitgenommen!“. Mama schlang weinend ihre Arme um mich. Ich konnte das, was sie mir erzählte, kaum fassen. Tröstend strich ich ihr über das Haar. „Mama,“ sagte ich, „das wichtigste ist, dass wir am Leben sind, und dass wir uns noch haben.“ „Ja, ja du hast Recht.“. Ich sah, wie sie versuchte, sich zusammen zu reißen. Es tat mir so weh, und dennoch brachte ich es fertig, sie ermutigend anzulächeln.

„Wir müssen weg hier. Sie werden wieder kommen, sie werden dich finden. Oh, wie soll ich das nur anstellen? Was sollen wir nur tun, Naomi?“ dieser Blick, die Angst vor der Zukunft und Liebe und wieder Ratlosigkeit in einem vereint. Mama hatte mich noch nie so angesehen. In meiner Gegenwart war sie immer bemüht gewesen, Stärke zu zeigen. Sie ließ nur Papa wissen, wie es in ihrem Inneren aussah.

Es war meine Schuld, dass sie unter der Last der ständigen Bedrohung zu zerbrechen begannen. Das Einzige, was ich tun konnte, war tatenlos zuzuschauen.
 

Schützt Unwissenheit vor Bestrafung?
 

Ich erzählte Mama von Opas Einladung und fragte sie, was ich ihm antworten sollte. Wir dachten nach. Es musste entschieden werden, was als nächstes zu tun war, und so hielten die Probleme mich davon ab, mich mit der Frage herumzuschlagen, die ich zu berühren nicht wagte.

Nach einigen Überlegungen entschieden wir, Opas Einladung Folge zu leisten. Aber wir würden uns trennen müssen.

Da Herr Tanaka seine Pflichten als Lehrer mehr als gut erfüllt hatte, brauchten wir ihn nicht mehr als Lehrer. Außerdem würde er, wenn wir uns trennen würden, nicht mehr in Lebensgefahr schweben, was uns nur allzu bewusst geworden war.

Statt sich in seinem Bungalow einzusperren, spielte er den Helden und bezog einen Wachposten. Ist ja nicht gerade so, als lebte er in einem Tomb-Raider Spiel.

Papa wachte kurz auf und wir informierten ihn über unsere Lage und die Optionen, die wir hatten.

Dableiben kam definitiv nicht in Frage.

Herr Tanaka würde wie üblich vier Tickets reservieren, doch würde nur er mit dem Flug fliegen.

Wir würden getrennt und so schnell wie möglich nach Tokio zu Opa kommen.

Wir wussten nicht, wie gut unsere Verfolger waren, wie gut sie recherchierten.

In der Absicht, Opa die erwartete Antwort zu schicken, ging ich darauf in mein Zimmer.

Als ich die Tür schloss, brach die Welt über mir zusammen. Mit aufgerissenen Augen lehnte ich an der Tür.

Ich musste, ich musste tatsächlich schlafgewandelt haben, während des Einbruchs. Das Timing war zu perfekt. Und dann kamen sie. Sie bedrohten meine Familie, weil sie mich wollten. Sie waren wegen mir gekommen und sie waren bereit, zu töten. Mama und Papa waren in Lebensgefahr wegen mir. Ich war schuld daran. Ich war nicht da, als sie mich brauchten. Wäre ich da gewesen, hätte ich vielleicht das Schlimmste verhindern können. Ich hätte – ich hätte … ja, was hätte ich denn bitte tun können?

Ich verschränkte die Arme und sank an der Tür auf den Boden.

Dunkle Gefühle der Schuld, der Hilflosigkeit und Unsicherheit ertränkten mich in ihren Wogen.
 

In der Dunkelheit draußen wirkt das Abteil in seinem kalten Licht wie eine andere Welt. Und an der Scheibe spiegelt sich mein Gesicht. Beinahe angeekelt wende ich mich von meinem Spiegelbild ab. Das Letzte, was ich jetzt sehen möchte, bin ich, ist mein Gesicht.

Ich weiß auch so, wie ich aussehe. Die schlaflosen Nächte, die Gram, alles zeichnet meine Züge.

Wieder bin ich weggelaufen. Und ich werde es nicht vergessen. Es hat sich in mein Herz eingefressen, das Geschehnis in der Nacht vor zwei Wochen.

Wie viele Menschen hier leben? Die Straßenlaternen deuten die Dächer des Häusermeeres nur an. Flüchtig rauscht die Dächerflut an meinem Fenster vorbei. Abertausende.

„Entschuldigung?“. Ich werde aus den Gedanken gerissen und habe bis eben gar nicht gemerkt, dass ich schon eine Weile angesprochen worden sein muss.

„Hm?“ „Ich habe Sie aus den Gedanken gerissen, nicht wahr? Das tut mir Leid.“ „Oh, nein,nein, entschuldigen Sie, dass ich so unaufmerksam war. Es war für mich eine lange Nacht.“, und sie ist noch lange nicht zu Ende.

„Benötigen Sie etwas?“ fragt mich die Stewardess mit einem freundlichen Arbeitslächeln. „Ich habe hier verschiedene Getränke, kalt und heiß, und auch etwas für den kleinen Hunger.“. Wie eine stolze Mutter präsentiert sie mir das Naschzeug, das sie auf ihrem kleinen Wagen mit sich führt.

„Nein, danke. Ich habe alles, was ich benötige. Vielen Dank.“. Fast enttäuscht macht die Frau sich , den Wagen vor sich herschiebend, auf zum nächsten Opfer. Sie trägt abgeblätterten Nagellack.

Die Fensterscheibe kühlt meine Wange. Wann hat der Albtraum ein Ende?
 

Die drei Tage, die zwischen unserem Flug nach Tokio und dem Einbruch lagen, verbrachten wir in einem Hotel in der Nähe des Flughafens. Wir trennten uns für Immer von Sensei.

Er hatte es am längsten von allen Lehrern mit uns ausgehalten.
 

Wie es ihm jetzt wohl geht? Wo er ist, und ob er überhaupt noch lebt?

Mit jeder Station wird das Abteil immer leerer. Schon bald bin ich allein. Allein. Langsam nicke ich ein.

Es kommt mir vor, als hätte ich meine Augen nur kurz geschlossen. Ich sehe auf meine Armbanduhr. Eine Viertelstunde ist vergangen.

Ich darf nicht mehr einschlafen, schließlich muss ich bald aussteigen.
 

Ein Chauffeur holte uns vom Flughafen ab. Langsam quälte der Wagen sich durch den Verkehr. Da die letzten Tage furchtbar anstrengend gewesen waren, schlief ich fast sofort an Mamas Schulter ein, während Papa sich mit dem Chauffeur unterhielt, den er noch von früher kannte.

Als der Wagen ein Auffahrt hinauffuhr und gerade ein Tor mit zwei Wachmännern passierte, schlug ich die Augen wieder auf. Langsam kam der Wagen vor einem Gebäudekomplex zum Stehen. Der Chauffeur stieg aus und öffnete uns die Tür. Papa sagte, Opa wollte uns sehen.

Wir stiegen aus. Über dem Hauptgebäude, vor dem wir standen, prangten unser Familienname und ein fesches Logo.

Super. Das alles schrie praktisch: sucht Naomi doch dort, wo sie sich am nächstliegendsten verstecken würde – hier!

Opa! Entweder war er naiv oder senil.

Die Türen des Haupteingangs öffneten sich und drei Männer kamen heraus. Zwei von ihnen waren bullig, Berge von Muskeln, Fleischhh!

Bestimmt spannten die Nähte der Hemden. Der Blick starr, emotionslos. Security, das war sicher.

Und in ihrer Mitte, klein und verloren, „Opa!“, ich rannte auf ihn zu. Kurz flackerte in den Augen der beiden Männer eine Regung auf, doch sofort gewannen sie wieder an Selbstbeherrschung und guckten Löcher in die Luft.

Oben, auf den glänzenden Stufen angekommen, verließ mich der Übermut und ich kam mir doof vor. Ich war verlegen. Was sollte ich sagen? Wir hatten uns so lange nicht mehr WIKLICH gesehen. „Großvater,“ ich verbeugte mich tief. „es ist schön, dich wieder zu sehen. Deine Einladung hat uns sehr erfreut.“. Toll, und jetzt?

„Ach Kind, komm her in meine Arme!“ erstaunlich, Opa war gerade fast so groß wie ich, und ich hatte bisher immer Komplexe wegen meiner schwachen Größe. Die Falten hatten weniger scharfe Konturen, das Grau-schwarz seiner Haare war viel schöner und seine Augen strahlten mehr Leben aus, als die Webcam preisgegeben hatte, wenn wir früher gechattet hatten.

Seine knapp 70 Jahre sah man ihm nicht an. Er war ein Firmenchef wie aus dem Bilderbuch.

„Opa“ - „Nao-chan“ wir lagen uns in den Armen.

Sein Duft war unbeschreiblich. Wie Papa, und doch wieder nicht. Ein bisschen nach Herbst – oder Tabak, und ein ganz sanft duftendes, nicht aufdringliches Aftershave.

Mama und Papa waren auch schon die Treppe heraufgekommen und begrüßten Opa herzlich.

Opa schüttelte Mamas Hand und machte ihr Komplimente, und Papa umarmte er, der daraufhin das Gesicht verzog. Er war noch immer etwas weiß um die Nase und der Flug hatte ihm nicht gerade gut getan.

„Was ist, hast du Schmerzen?“, fragte Opa, dem Papas Zurückweichen nicht entgangen war. „Ah, ein problematischer Zwischenfall vor einigen Tagen. Später erzählen wir dir mehr.“

„Ach ja, wo bleibt denn meine Gastfreundschaft. Kommt Kinder, fahren wir nach Hause. Ihr seid sicher alle erschöpft.“

Zuhause, Heimat. Nur wer lange genug fort war, weiß, was dieses Wort bedeutet.

Zu Hause

5. Zu Hause
 

Opa besaß ein total schickes, modernes großes Haus mit weiter Anlage rundherum. Schnell merkte ich auch, warum Heimkehr die beste Option gewesen war. Opa hatte sein eigenes Wachpersonal und Videoüberwachung vieler wichtiger Punkte wie zum Beispiel der Einfahrt mit dem Tor und die Außentüren. Wenn es darauf ankam, könnte Opa in Erfahrung bringen, wo sich wie viele Personen aufhielten. Das Personal, das weiter hinten in dem Park seine Wohnungen hatte, wurde bei Ein- und Ausgängen geprüft. Es war wie in einem kleinen eigenen Staat.

Heimat. Nur ein weiteres Gefängnis?

Das Haus war sehr geräumig. Dass hier sonst immer nur eine Person lebte, Opa tat mir Leid. Früher, als Papa kleiner war, musste es voller Leben gewesen sein. Er und sein Bruder mussten das Personal wahnsinnig gemacht haben, wenn ich Papas Erzählungen über seine Streiche Glauben schenken sollte.

In der Eingangshalle begrüßte uns die alte Haushälterin, die schon zu Papas Kindheit alt war, im Namen des ganzen Personals.

Gebeugt schlurfte sie durch die Flure und zeigte uns den Großteil des Gebäudes. Trafen wir dabei auf einen der Angestellten, so zögerte die Alte nicht lange, stellte ihn uns vor und gab Anordnung, jedem Wunsch der `Herrschaften´ Folge zu leisten.

„Hier liegt der Privatbereich mit Schlaf- und Arbeitszimmern und einem weiteren Badezimmer. Ich bitte um Entschuldigung, da ich mich nun zurückziehe. Ich wünsche eine gute Erholung von der Reise.“, damit öffnete die Frau die große Doppeltür und ließ uns eintreten.

Opa blieb auf der Schwelle stehen und winkte uns. „Ich würde mich freuen, wenn wir das Abendessen gemeinsam einnehmen könnten.“

Wir verbeugten und bedankten uns. Während die alte Haushälterin die Türen wieder schloss, murmelte sie leise vor sich hin, doch ich konnte es noch hören: „Tatsächlich, es ist nicht zu leugnen, dass das Blut der ehrwürdigen alten Herrin, möge sie in Frieden ruhen, in ihr fließt. Na, das wird ein Spaß. Wir werden uns alle warm anziehen müssen.“

Der Privatbereich, wie es die Haushälterin genannt hatte, machte den Eindruck einer Wohnung innerhalb einer Wohnung. Sofort fand ich das für mich bestimmte Zimmer, einen kleinen Raum mit Schreibtisch, Kleiderschrank und großem Bett. Auf dem Boden lag ein flauschiger Teppich. Mit einem Sprung testete ich die Matratze. Ich war auch der einzige Mensch auf Erden, der sich an einer Matratze wehtun konnte. Sie hatte den Test trotzdem bestanden. Genüsslich streckte ich mich auf ihr aus und lag einige Minuten bewegungslos mit geschlossenen Augen da. Alles würde besser werden, diese Überzeugung wuchs mit jeder Minute, die ich hier war, an. Hier wollte ich bleiben. Dieser Ort war meine Zuflucht, mein Zuhause. Der Ort, an den man zurückkehrt. Der Ort, in dem man am Besten schläft. Dort, wo man freudig erwartet wird.

Schwungvoll setzte ich mich auf. Ein entspannendes Bad und ein Nickerchen danach würden Wunder bewirken. Also stand ich auf und öffnete die Schiebetür. Im Wohnzimmer saßen meine Eltern auf kleinen Kissen am niedrigen Tisch.

Sie machten sich wie Kinder über die Leckereien her, die dort standen und schlürften laut ihren Tee. „Also, ich könnte mich gut daran gewöhnen.“, sagte Mama mit erhobenem Becher, als sie mich sah. „Setz dich doch zu uns.“ meinte Papa zwischen seinen Bissen.

Ich folgte der Aufforderung und meinte: „Ich kann mich an fast gar nichts mehr erinnern.“

„Du warst ja auch noch sehr klein, als wir – umgezogen sind.“ antwortete Papa in seinen Becher.

„An den Hauseingang kann ich mich noch erinnern, nur, dass die Decke näher gerückt ist. Aber hier war ich noch nie. Was war das hier früher, Paps?“

„Mh“, mit der Hand fegte er sich einige Krümel vom Mund.

„Yone, die Haushälterin hat hier mit ihrem Mann gelebt. Er war Pförtner, als er noch lebte. Aber Vater hat ja die Personalswohnungen bauen lassen, jetzt wohnt sie dort.“

„Und ihr Sohn?“

„Kazuki? An den erinnerst du dich noch? Der ist ausgeflogen. Mit einer hübschen Apothekerin.“ Mama warf noch ein: „Außerdem wurde hier so einiges umgebaut, wie du ja selber siehst.“ Ja, alles war so schick und modern.

„Ist es in Ordnung, wenn ich mir das Badehaus anschaue?“

„Ja, mach nur.“

wie gelockert ihre Stimmung nun war ...

Das heiße Wasser tat richtig gut. Seufzend entspannte ich mich und lullte fast ein, als es plätscherte.

Jemand musste jenseits der Trennwand im Herrenbereich ins Wasser gestiegen sein.

„Hast du schon gehört, der ältere Sohn des Hausherrn ist heute heimgekehrt.“

Ich spitzte meine Ohren. Völlig überrascht meinte dann eine junge Stimme: „Echt? Das wusste ich ja gar nicht.“

„Nee, das wusste keiner, nur die alte Yone. Gestern hat sie die Mädels durchs Haus gehetzt. Die haben geputzt, als würde ihr Leben davon abhängen.“

Nach einer Pause meinte der Jüngere, dessen Stimme mir bekannt vorkam: „Aah, toll so ein Bad nach einem anstrengenden Tag.“

„Pah, du weist doch nicht, was anstrengend ist.“

„Doch, ich habe den ganzen Rasen gemäht, und das nach der Arbeit.“

„Jaja.“

„Ja, man. Ich frage mich, ob sie sich noch an mich erinnert.“

„Was, hast du jemanden kennen gelernt?“

„Nein. Ich meine Naomi.“

„Naomi?“

„Ja, die Tochter. Man, seine Tochter. Hast du sie schon gesehen?“

„Nö. Zu viel zu tun gehabt.“

„Wie sie wohl aussieht? Ich meine, ist ja lange her.“

„Haha, vergiss es. Sie ist `ne Nummer zu groß für dich, Kleiner. Die Enkelin vom Chef-“

„Mann, so meinte ich das doch gar nicht!“

Darauf gab es Lachen, Platschen und ein „Hey, mein Handtuch wird nass!“

„Ha, selber Schuld!“, rief der Jüngere und rannte aus dem Becken, seine nackten Füße klatschten auf den Boden.

Seine Stimme, irgend woher hatte ich das Lachen schon mal gehört. Ich kannte den Jungen, wusste aber nicht, wie er aussah und wer er war. Wenn diese Trennwand nicht wäre – lassen wir mal den Gedanken.
 

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Oh, meine Station. Hastig packe ich mir die Sporttasche und den Rucksack und stelle mich schon mal bereit für den Ausstieg. Innerhalb von fünf Minuten muss ich die richtige Bushaltestelle gefunden haben. Mein Kopf tut weh, weil ich den Dutt zu straff gesteckt habe. Der Tag war wirklich lang.

Suchend fahren meine Finger über meine Jackentasche und erst das Schlüsselklimpern lässt sie stoppen. Erleichtert stelle ich damit fest, dass ich sie nicht verloren habe. Zu oft habe ich diese Bewegung die letzten Stunden gemacht. Trotz des rasanten Tempos, das der Zug bis eben noch hatte, hält er zügig, aber sanft an und die Türen schwingen auf. Es geht los. Meine letzte Etappe.

Nachdem ich nach einer kurzen Suche unter schlimmsten Befürchtungen die richtige Haltestelle gefunden habe, setze ich mich kurzerhand auf die Sporttasche und reibe mir die Wange, auf der diese seltsame Zeichnung ist. ´Pigmentstörung`, hat der Arzt gesagt. Er wusste es auch nicht besser.

Regelmäßig sehe ich mich in der Dunkelheit nach dem Bus und eventuell verdächtigen Gestalten um, doch der Bus lässt nicht lange auf sich warten. Gerade biegt er um eine Straßenecke. Auch er ist leer. Zügig steige ich hinten ein.

Noch vor zwei Wochen hätte ich mir nicht zugetraut, alleine eine Reise ins Blaue zu machen. Ich weiß noch nicht einmal, wie das Haus, in dem Opa seine frühe Kindheit verbracht hat, aussieht. Vielleicht ist der Zustand so schlecht, dass es nicht mehr bewohnbar ist. Und dann? Zurück kann ich nicht. So viel Hatano Nori auch für mich getan hat, ich habe jeden Tag seine Angst hinter seinem hilfsbereiten Lächeln gespürt. Er hatte Angst vor der Tochter seines besten Freundes.

Und trotzdem fühlt er sich verantwortlich für mich. Aber ich möchte so wenig Menschen in diese Sache, in die ich praktisch hineingeboren wurde, wie möglich hineinziehen.

Auch ich habe Angst, tierische Angst. Ich habe gelernt, dass es keinen Schutz für mich gibt, wenn ich wie auf dem Präsentierteller demonstrativ unvorsichtig lebe – nur, weil ich mich in trügerischer Sicherheit befinde. Welch eine Illusion sind doch Security und Kameras in Sachen Schutz und Sicherheit.

´Wer sich in Sicherheit wiegt, wird oft verschaukelt`.

Selbst unser Mäusejagtlebensstil hat uns nichts gebracht.

Die Jäger sind gut, sie sind hartnäckig. Wann nehmen sie meine Fährte wieder auf?

Ich hole das Foto aus meinem Rucksack. Darauf abgebildet sind ein Mann und die schönste Frau der Welt mit einem kleinen Kind in ihrer Mitte. Und im Hintergrund ein Haus.
 

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„Sieh mal, das sind mein Vater, meine Mutter und ich.“, gelangweilt schaute ich auf das vergilbte Schwarzweißfoto, das Opa mir hinhielt. Ich kannte es schon. Ein wenig war ich enttäuscht. Hatte er mich doch ernst und wichtigtuerisch in sein Büro gerufen, eine viel versprechende Geste nach all den vorsichtigen Andeutungen, die ich in den anderthalb Wochen, die wir schon bei ihm lebten, gemacht hatte.

Ich war der Meinung, die Zeit sei reif, ich wäre bereit für die, DIE Wahrheit. Schluss mit den Spielchen und dem Getuschel der beiden Dienstmädchen. Zwar war ihr Gerede leer, aber die Blicke, mit denen alle Angestellten mich in unbeobachteten Momenten maßen, sprachen Bände.

Vielleicht war es ein Instinkt, eine Ahnung.

Ein Relikt aus früheren Zeiten, in denen es mehrere meiner Art gab, ein Schutzmechanismus, der, verstümmelt zwar, ihnen sagte, dass ich anders war. Ich spürte den inneren Zwist zwischen neugieriger Sympathie und Ablehnung.

Noch nie bemerkte ich es so stark, aber ich konnte es auch nicht bei jedem feststellen.

Ein Fähigkeit, die vielleicht nicht jeder hatte.

„Schau mal genau hin, was fällt dir auf?“, aufhorchend nahm ich das Bild in die Hände. Zufällig fiel mein Blick in Urgroßmutters Gesicht. Es war vollkommen anders als das ihres Mannes und ihres Sohnes. Die Helldunkel-kontraste verstärkten den Eindruck. Schließlich sah ich es, meinte die Ursache zu sehen. Ihre Augen. Der Blick war vollkommen abwesend, als sei sie nicht dort neben ihrem Mann. Während Ehemann und Sohn ernst in die Kamera blickten, lag auf ihren Lippen ein zartes lächeln. Die Augen!

Irritiert sah ich sie mir näher an. Das Licht schien sich in ihnen zu brechen und ließ sie hell aufleuchten. Anders als die dunkle Tiefe der Augen ihrer Familienmitglieder.

„Opa? Bin ich Urgroßmutter ähnlich?“

Mit Wärme in der Stimme antwortete er: „Ja, in Allem. Bis auf die Haare. Du hast sogar den selben Blick, wenn du in Gedanken in der Ferne bist.“

Noch ein Mal sah ich mir die Frau auf dem Bild an. Sei war jung. Und doch schien sie schon graue Haare zu haben. In der schwarzen Fülle ihrer Frisur sah man deutlich jeweils eine Strähne von den Schläfen in die Frisur verlaufen.

„Wie alt war sie damals?“

„Du hast einen aufmerksamen Blick. Diese Frage stellt man sich bei genauer Betrachtung des Bildes, nicht wahr? Ich war da ungefähr zehn, und mein seliger Vater um die 40. aber sie, ja.sie sieht nicht viel älter aus als du. Dabei waren sie schon fünf Jahre vor meiner Geburt ein Paar. Seltsam, nicht? Sie feierte nie Geburtstag. Auch wenn man sie nach ihrem Alter fragte, sagte sie Dinge wie `Zählt doch nicht die Jahre eures vergangenen Lebens. Es ist doch viel zu kurz, um ihm nach zu trauern. Zählt lieber die Tage des Lichts. Ich bin genauso alt wie das Lächeln meines Sohnes und die Liebe des Mannes, den ich über alles liebe, andauern. Alles andere ist nichtig. Alles andere hält auf.´ Ich glaube, sie hatte eine schlimme Vergangenheit und wollte nicht zurückschauen.“.

Schnell wechselte er das Thema: „Am Liebsten hatte ich es, wenn sie mich in den Schlaf sang. Dabei spielte ich immer mit ihren reinweißen Haarsträhnen. In meiner Fantasie war sie die Mondprinzessin mit diesen Strähnen aus Mondlicht. Tagsüber verflocht sie sie in einem wundervollen Muster in ihre Frisur. Mal waren sie so ineinander verschlungen, dass man nicht wusste, wo Anfang und Ende sind, und mal konnte man Bilder in dem Schwarzweiß ihrer Frisur entdecken. Mit genügend Fantasie. Eine wundervolle Frau.“, Opa seufzte.

„War sie glücklich?“, fragte ich interessiert.

„Wie-Wieso? Ich denke schon, ja.“

„Na, weil sie doch verschwunden ist.“

„Ach so, ja. Gar nicht lange, nachdem dieses Bild geschossen worden ist, verließ sie uns.“ Mitfühlend nahm ich Opas Arm. Plötzlich sah ich diesen zehnjährigen Jungen vor mir, der seine Mutter so dringend brauchte, die ihn aber verließ. Ich war mir sicher, sie liebte ihn. Sie schmerzte die Trennung genauso wie ihn, doch sie musste gehen.

„Erzählst du mir davon?“ fragte ich behutsam. Er atmete tief ein und aus. Erst überlegte er, dann meinte er: „Nun, es ist zwar eine andere Überleitung als die, die ich mir in Gedanken zurecht gelegt habe, aber was solls. Wahrscheinlich komme ich so eleganter zum eigentlichen Grund unseres kleinen Gesprächs.

Gut. Hör gut zu. Was ich dir zu sagen habe, werde ich nur ein Mal erzählen. Mit niemandem habe ich bisher hierüber gesprochen.“, damit stand er auf und ging zum anderen Ende des Raumes. Mich bat er, die Fenster zu verriegeln und als dies getan war, rief er mich zu sich. „Ich vertraue dir wie keinem anderen, mein Kind.“

Während er dies sagte, nahm er flugs ein Bild von der Wand und drehte am Zahlenschloss des dahinter liegenden Safes.

„Eigentlich ist es leichtsinnig, so etwas bei sich zu haben. Aber da niemand weiß, dass ich es besitze...“ vorsichtig nahm er eine kleine hölzerne Schatulle aus dem kleinen Fach. Kunstvolle Ornamente schmückten sie. Behände entfernte Opa das Papiersiegel, das die Schatulle verschloss. Er ging wieder an den Schreibtisch und setzte sich.ich nahm wieder gegenüber von ihm Platz.

Still saß er da, mit geschlossenen Augen und gefalteten Händen. Dann begann er langsam, mit leiser Stimme zu erzählen. Seine Worte trugen mich an jenen Ort. Ich konnte nachempfinden, was er fühlen, was er denken musste, der kleine zehnjährige Junge.
 

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„Irgendetwas ließ mich aufwachen. Es war mitten in der Nacht und es war stockfinster. Ich bin mir nicht sicher, aber ich denke, es musste Neumond gewesen sein. Als ich mich umdrehte, sah ich eine Gestalt neben meiner Futonmatte sitzen. Sie hatte zwei helle Strähnen, die aus sich selbst heraus zu leuchten schienen. Sofort erkannte ich Mutter und fragte mich, was sie hier, bei mir tat. Dann ging sie mit dem Ärmel über ihr Gesicht und schluchzte leise. ,Mutter -´ sagte ich. Und richtete mich auf. ,Mutter, warm weinst du? Bitte, hör auf zu weinen. Mutter, bitte.´ ,Oh, Ryota, mein wertvoller Sohn!´ sie schloss mich in die Arme und flüsterte: ,Es tut mir Leid, dass ich dich so unvorsichtig geweckt habe. Ich hatte nur solch ein Verlangen, dich noch ein Mal zu sehen.´ sanft drückte sie mich an ihr Herz. Ich hatte Angst. War etwas geschehen? Warum benahm Mutter sich so seltsam und warum weinte sie? Noch nie hatte ich sie weinen sehen. Schließlich löste sie sich von mir und sagte: ,Schlafe, mein Sohn. Sei sorgenfrei. Dir und deinem Vater gehört mein Herz. Ihr seid die einzigen Menschen, die mir mehr bedeuten als mein eigenes Leben.´ ich legte mich wieder hin und sie strich mir über die Haare. ,Mein Sohn … verstehst du? Deshalb muss ich fort. Weil ich euch liebe.´. Sie beugte sich herunter zu mir und küsste mir auf die Stirn. Dabei legte sie ihre Hand in meine und ich spürte, dass etwas darin lag. Mit der anderen strich sie mir wieder liebevoll übers Haar. ,Passe gut darauf auf, mein Sohn. Für manchen ist es kostbarer als den Leben. Also halte es geheim, auch vor deinem Vater. Denn nur denen, in deren Adern mein Blut fließt, ist es erlaubt, es zu besitzen. Aber trage es nicht, sonst wird mein Blut dir und deinen Nachkommen zum Fluch.´

Langsam öffnetet sie ihre Faust in meiner und ich bemerkte ein leichtes Glimmen. ,Solange es in meinem Besitz ist, wissen sie, wo ich bin, weil es durch seinen wahren Träger erwacht. Und solange ich es besitze, bist du in Gefahr, mein Kleiner. Mein Liebling.

Ich hatte so gehofft, dich und deinen Vater schützen zu können. Doch es gelingt mir nicht. Ich wurde betrogen. Verzeih mir, mein Sohn.´

Sie öffnete ihre Hand, sodass der Inhalt auch die meine berührte. Es war warm und rund. Der seltsame Gegenstand pulsierte langsam und ich erkannte, dass das Glimmen von diesem Gegenstand ausging. Wieder küsste sie mich auf die Stirn. ,Vererbe es deiner erstgeborenen Tochter. Ihr Blut wird noch reiner sein als meines. Auch ihr wird sich die Kraft des Amuletts offenbaren. Gib es ihr, wenn es so weit ist. Aber zögere nicht, sonst wird deine Tochter Unglück über euch alle bringen.´. Als sie ihre Finger von dem Amulett in meiner Hand nahm, leuchteten die Konturen ein letztes Mal auf und das Pulsieren erstarb.

Mutter stand auf. ,Sei auf der Hut, Ryota. Vertraue niemandem. Die Menschen sind grausam.´.Dann rutschte ihr Kimono von den Schultern und glitt auf den Boden. Sie hob ihre Arme und zog sämtliche Kämme, Nadeln und Klammern aus dem Haar. Ich kann immer noch das Geräusch hören, mit dem sie Haarnadeln leise herunter fielen. Plötzlich ergossen sich ihre Haare bis auf den Boden. Die zwei Strähnen leuchteten in der Dunkelheit.

Schließlich öffnete sie die Shojitüren zur Terrasse und entledigte sich der übrigen Kleidung, die sie trug. Nur noch ihr dichtes schwarzes Haar verhüllte ihren Körper. Es war stockfinster und kalt. Ihre Haut und weißen Haare hoben sich von der Dunkelheit ab. Auch schon als zehnjähriger Junge wusste ich, dass meine Mutter schön wie eine Wildblume unter … unter – ach, jetzt fällt mir kein passender Vergleich ein. Hahaha.“
 

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Bei der wehmütigen Stimme, die er eben noch hatte, klang sein Lachen kläglich.

„Sie war die schönste Frau, die ich je gesehen hatte.“ Er stützte den Kopf auf seine Hände.

„Nun denn, das einzige, was ich wirklich verstanden hatte, ist, dass ich dies hier dir übergeben soll.“ Mit einer flüssigen Bewegung öffnete er den Deckel der Schatulle, schlug ein Tuch in ihr auf und drehte das hölzerne Kistchen, sodass ich den Inhalt sehen konnte.

„Nach jener Nacht, als Mutter fortging, habe ich sie nie wieder gesehen und seitdem ist das Amulett kalt.“
 

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Im Bus sitzend taste ich nach dem Anhänger. Er ist etwa so groß wie eine Medaille und mit der Kette ist er relativ schwer. Die einzelnen Kettenglieder sind sehr grob gearbeitet, die Kuppe meines kleinen Fingers passt hindurch. Das Amulett selbst ist ein blutroter Stein, eingefasst in einem goldenen Rahmen. Der Stein ist mit einer Szene graviert. Die Szene stellt ein Raubtier im Sprung dar. Es ringt mit seiner Beute oder einem Feind. So lassen mich zumindest die scharf aussehenden Krallen und langen Zähne es auslegen. Sicher bin ich nicht. Es kann genauso gut ein Drache, ein Monster oder ein missglückter Hund sein. Den Schwanz des Raubtiers bildet der Goldene Ring rundherum.

Meiner Meinung nach ist die Kette zu lang. Das Amulett baumelt mir eine Handbreit über dem Bauchnabel vom Hals herab. Zumindest sieht es so keiner.

Schnell sind die sieben Stationen zurückgelegt und ich mache mich das Kleingeld abzählend auf nach Vorne zum Ausgang.

Nachdem ich ausgestiegen bin, stelle ich die Sporttasche ab. Der Bus schließt zischend seine Türen und folgt weiter seiner Route.

Der Busfahrer hat mich gewarnt, es sei nicht gut, dass ein so junges Mädchen wie ich um diese Uhrzeit unterwegs ist. Ich soll aufpassen.

Alleine stehe ich unter dem summenden Ton der Straßenlaterne.

Vom vielen Tragen schmerzen meine Oberarme wieder. Die Wunden sind noch nicht verheilt. Ich kreuze meine Arme und reibe mir vorsichtig über die Stellen. Dann höre ich auf. Genauso hockte ich da, an dem Tag, nachdem ich sie alle gefunden hatte, wie sie in ihrem Blut lagen.

Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich mich selbst verletzt hatte.

Meine Krallen bohrten sich mir durch das Fleisch, als ich mich, unfähig zu glauben, was ich gesehen hatte, versteckt hielt.

Plötzlich fange ich an zu zittern und starre auf meine Hände.

Mein Hirn überschlägt sich wieder und Panik macht sich in mir weit.

Schnell, ich muss mich schnell ablenken. Nicht mehr daran denken, nicht daran rühren.

All das Blut, der metallene Geruch, der in der Luft liegt.

Wo habe ich die Karte hingesteckt? In den Rucksack?

Mamas absurde Körperhaltung, in der sie auf dem Boden liegt.

Ich brauche doch die Karte, ich kenne den Weg doch nicht!

Schluchzend sinke ich auf die Sporttasche. Diese Bilder, wenn sie mir doch endlich aus dem Kopf gingen! Ich kann doch nichts dafür, dass sie tot sind!

Sogar vor Akio, meinem kleinen Cousin haben sie keinen Halt gemacht.

Endlich erinnere ich mich, in welcher Tasche die Karte steckt und suche sie mit tränenverschmiertem Gesicht heraus.

Wenn die Bilder nur nicht zu den unpassendsten Gelegenheiten erscheinen würden.

Schnell fahre ich mit dem Ärmel über mein Gesicht und falte die Karte ungeschickt auf. Nach einigen Sekunden der Orientierung falte ich sie auf ein handliches Format zusammen und greife nach der Sportasche.

Irgendwie wird es schon trotz des Schmerzes in den Armen gehen. Es muss.

Auch wenn es mir unheimlich ist, in der Dunkelheit unterwegs zu sein, lege ich eiserne Entschlossenheit an den Tag – oder die Nacht. Ich bin allein, also werde ich es auch alleine schaffen.

Ich husche beinahe vom Lichtkegel einer Laterne zum nächsten. Auch wenn die Sicherheit dieses Lichts nur eine Illusion ist, beruhigt mich die Anwesenheit des Lichts doch, denn wer weiß, ob nicht irgendwelche betrunkenen Randalierer oder Triebtäter in den dunklen Ecken lauern.

Bald erreiche ich eine Kreuzung. An einer Ecke liegt ein 24h-Laden. Seine Leuchtschrift zuckt einsam durch die Nacht. Neugierig schaue ich die Straßen herunter. Hier kreuzen sich anscheinend eine Einkaufs- und Wohnstraße. Tagsüber muss es hier schön sein. Zwar lebt man hier etwas entfernt vom Zentrum, fast auf dem Lande, doch kann man hier alles für das tägliche Leben kaufen. Bingo. Dieser Ort scheint mir perfekt.

Opa, ich bin dankbar, dass Urgroßvater deiner Mutter dieses Häuschen gekauft hat, als sie sich weigerte, zu ihm zu ziehen.

Die Gegend ist perfekt.

Nachdem ich den Tragearm gewechselt habe, mache ich mich mit einem Blick auf die Karte weiter auf den Weg.

Ich folge der Wohnstraße.

Nach einigen Abzweigungen nehmen hat sich meine Umgebung kaum geändert. Hinter den Mauern liegen kleine und große Gärten mit Häusern, die glückliche Kleinfamilien beherbergen.

Auf die Lippe beißend erlaube ich mir nicht, wieder zu weinen.

Stattdessen wandle ich meine Verzweiflung in Wut. Warum muss die Sporttasche nur so schwer sein?!

Die Umgebung der Straße ist immer grüner geworden. Ein wenig ratlos sehe ich auf meine Karte. Muss ich tatsächlich in dieses Wäldchen einbiegen? Aber die Richtung stimmt. Gerade kann ich mir ein Gähnen verkneifen und beuge mich der Last der Tasche.

Zumindest ist die Straße beleuchtet und vernünftig belegt.

Vielleicht ist der 24h-Laden doch etwas zu weit entfernt, um dort schnell Besorgungen zu machen.

Aber am Tage wird alles anders aussehen. Dann werde ich die Gegend auskundschaften.
 

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„Sie wollte nicht in die Stadt“, hatte Yone gesagt. „Dort waren ihr zu viele Menschen. Und der ehrwürdige alte Herr, er möge in Frieden ruhen, hatte nun mal in der Stadt zu tun. Er liebte sie so sehr, dass er ihr jenes Haus kaufte, damit sie darin leben konnte. Denn so, wie sie mit nichts gegangen ist, ist sie auch gekommen.“

Das Haus muss klein sein. Haben dort doch hauptsächlich nur drei Personen gelebt: Mutter und Sohn und das kleine Dienstmädchen Yone.
 

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Bald bleibe ich wieder stehen. Der Schmerz lässt mich nicht mehr in Ruhe, die Wunden sind noch nicht genügend verheilt, um meine geschädigten Muskeln derart zu strapazieren. Neugierig schaue ich mich um. Gleich einige Meter von mir entfernt liegt eine Auffahrt. Die Tasche stehen lassend gehe ich einige Schritte und schaue, wohin der Weg führt. Am Ende der Auffahrt steht ein Haus. Im Tageslicht mag es idyllisch aussehen. Vermutlich leben hier meine neuen Nachbarn.

Auf ein Mal habe ich es eilig. Dem Ziel so nah, möchte ich meine Zeit nicht unnötig vertrödeln. Mit Schwung will ich die Sporttasche aufheben, aber der jähe Schmerz belehrt mich eines Besseren. Stöhnend setzte ich die Tasche wieder ab. Mittlerweile frage ich mich, wie ich die letzten knapp 200 Meter zurücklegen soll. Nach einer Weile aber habe ich den Dreh heraus und bewege mich auf eine Ziehen-Ausruhen-Ziehen-Weise fort. Auf abstrakte Art erinnert das mich an eine Raupe.

Ich bin auf dieses Haus gekommen, weil Opa mir mal erzählt hat, dass er es neu eingerichtet hatte. Nebenbei ließ er fallen, dass man dort Urlaub machen konnte, sich zurückziehen von der Arbeit und neue Energie tanken.
 

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„Hast du schon mal Glühwürmchen gesehen, Naomi? Da gibt es tausende. Sie schwirren im Garten herum. Als ich dort noch lebte, bin ich abends immer durch den Garten gerannt und habe vergeblich versucht, welche zu fangen. Im Sommer müssen wir unbedingt ein Mal dort hin.“
 

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Jetzt bin ich hier, stehe vor der Auffahrt, Opa. Ich glaube, noch ist es zu früh für Glühwürmchen.

Endlich habe ich auch die Auffahrt zum Haus überwunden.

Mit gemischten Gefühlen frage ich mich, was mich dort erwarten wird.

Nun, es gibt nichts gutes, außer man tut es.

Mit jedem Schritt, den ich dem im Schatten liegenden Haus näher komme, tun meine Arme mehr weh. Doch irgendwie gelange ich an die Stufe zum Eingang und setzte mich auf sie.

Das erste Mal in dieser Nacht zeigt sich der Mond. Diese Gelegenheit lasse ich nicht ungenutzt, entferne mich einige Schritte vom Haus und lasse das Bild auf mich wirken. Der Anblick überwältigt mich. Es ist genau das Haus auf dem Foto. In Echt wirkt es noch schöner. Der Eindruck, den es macht, ist friedlich.

Hoffentlich trügt der Schein nicht und es ist auch Innen intakt.

Ich stoße die Tür auf und stecke den Schlüsselbund in meine Tasche.

Die Luft riecht abgestanden. Nun geht’s auf zur Erkundungstour. Ich schließe die Tür hinter mir und im Genkan lasse ich Schuhe, Jacke und Gepäck an der Holzstufe zurück.

Schnell wird mir klar, Opa hat mehr getan als bloß einiges aufzurüsten.

Sicher hat er es gleichzeitig mit den Renovierungen seines Grundstücks in der Stadt gemacht.

Jedenfalls sieht es nicht annähernd so antiquiert aus, wie er immer behauptet hatte.

Der Flur macht einen Linksknick und führt längs durch das ganze Gebäude, abschließend mit einer Treppe, die nach oben führt. Nachdem ich den Lichtschalter für den Flur gefunden habe, erkunde ich das Erdgeschoss. Zu meiner Rechten befinden sich ein Wohnzimmer und ein Arbeitsraum. Die einzige Türöffnung links führt in die Küche. Beim Eintreten schiebe ich den Vorhang zur Seite und komme nicht aus dem Staunen. Opa hat nicht gezaudert. Die Einrichtung sieht aus wie aus dem Katalog geschnitten. Richtig schick finde ich die Theke mit den drei Barhockern und wer weiß, was sich alles noch hinter den Schranktüren verbirgt. Ein großes Fenster gibt den Blick frei auf die Auffahrt.

Wenn ich nur kochen könnte.

Am Ende des Flurs führt noch eine unauffällige Tür ins WC.

Ich will hier bleiben, das ist mein fester Entschluss.

Auf den Geschmack gekommen nehme ich das Obergeschoss in Angriff. Dort weisen ein geräumiges schickes Bad und ein leer stehender Raum zur Vorderseite des Hauses. Zwei weitere Räume stellen sich als leer heraus und die dritte Tür ist verriegelt.

Also öffne ich die Tür mit dem passenden Schlüssel an dem Schlüsselbund. Zwei Wandschränke, von denen es einige in diesem Haus gibt, diverse Truhen und ein langes Regal nehmen den ganzen Platz des Raumes ein. Anscheinend dient er als Lagerraum oder ähnliches.

Nachdem ich einen der Wandschränke geöffnet habe, finde ich erleichtert das, wonach ich schon lange Ausschau gehalten habe. Futons! Endlich schlafen.

Aber davor will ich ein Wenig sauber machen, denn alles hier ist von einem beachtlichen Staubfilm überzogen. Ich habe schon ganz flauschige Socken und im Flur kann ich meiner eigenen Spur folgen.

Seufzend mache ich mich auf die Suche nach Putzmitteln und entdecke schließlich unter der Treppe eine Kammer mit allerlei nützlichen Dingen. Dann mache ich mich daran, den Boden im ganzen Erdgeschoss zu fegen und wischen.

Fast am Ende meiner raren Kräfte und zufrieden mit meiner Arbeit hole ich eine Futonmatte und breite sie, nachdem ich mir genügend Platz verschafft habe, im Wohnzimmer aus.

Bevor ich unter die Decke schlüpfen kann, kontrolliere ich noch meine Verbände.

Die Wunden haben wieder begonnen zu bluten.

Kaum lege ich meinen Kopf auf das Kissen, schlafe ich fast sofort ein. Mein Tag war schrecklich anstrengend. Kurz bevor mein Geist in die Welt des Schlafes hinüber wechselt, blitzt Panik durch meinen Körper, doch ist er so erschöpft, dass ich mich nicht mehr gegen die süße Schwere der Müdigkeit wehren kann.

Wieder gebe ich mich den Albträumen hin, die mich seit dem Tod meiner Familie heimsuchen.



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  -Sae-
2008-12-05T14:25:19+00:00 05.12.2008 15:25
erste XD
du hast echt eine guten schreibstil ^^
ich bin mal gespannt wie es weiter geht .... naja ein bissc´hen kenn ich ja schon die story aber eben noch nicht alles .. also schnell weiter machen XD~



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