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Es tevi mīlu

von

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Mīla

Noch immer kauere ich am Boden vor der WG-Tür, hinter der ich ihn ein Jahr lang habe vorfinden können. Heute ist dies nicht mehr möglich, heute ist er weg.

Was mache ich denn jetzt?

Ich rapple mich auf, starre den neuen Namen unter der Türklingel an. Wieso konnte es mir nicht vorher einfallen, nur ein klein wenig früher? Er ist bestimmt noch nicht lange weg. Seit einem Monat... höchstens.

Wäre ich doch vorher zu ihm gegangen... hätte ich doch damals den Mut gefasst, ins Meddiz zu gehen… oder hätte ich ihn noch mal versucht anzurufen… vielleicht sogar, nachdem ich ihn mit diesem Kerl gesehen habe... vielleicht hätte es doch eine Chance auf Versöhnung gegeben... vielleicht hätte er mir verziehen... denn ich war ihm auch wichtig. Mit einem Mal weiß ich, dass ich ihm wichtig war.

Er wäre hier geblieben – wegen mir!

Das Gefühl eines Tränenbaches unterdrückend, drehe ich mich zum Gehen. Langsam trete ich die Treppenstufen herunter, mich fragend, was ich denn jetzt machen soll. Gibt es überhaupt irgendetwas, das ich tun kann? Ich will ihn doch immer noch so sehr... und mehr denn je wünsche ich mir, ihm meine Gefühle erklären zu können, denn zum ersten Mal glaube ich, dass er sie verstehen würde.

Auf dem Absatz mache ich kehrt. Ich sehe die Treppenstufen wieder hinauf und folge ihnen dann erneut zur Klingel. Ist es nicht einen Versuch wert? Sollte ich jetzt nicht alles tun, um wenigstens noch ein letztes Mal mit ihm zu sprechen?
 

Als ich die Klingel betätige, rast mein Herz, ebenso, als Cora vor mir steht, welche mich nun noch skeptischer ansieht als je zuvor. Ich glaube, sie konnte mich noch nie leiden…

„Andris wohnt nicht mehr hier“, sagt sie, als ich sie noch nicht mal grüße, da ich noch nach den richtigen Worten suche.

„Ich weiß... Kannst du mir vielleicht sagen, wo er jetzt wohnt?“

Ihr Blick wird zunehmend kritisch.

„Du warst sehr lange nicht mehr hier. Ihr hattet nichts mehr miteinander zu tun, oder?“

„Ja“, gebe ich zu.

„Dann kann ich es dir nicht sagen, tut mir leid.“

„Aber-“

„Es hat schon einen Grund, dass du die Adresse nicht kennst, oder?“ Ihr Blick wird ziemlich schneidend.

„Ja, aber das-“

„Tut mir leid“, unterbricht sie mich erneut und schüttelt den Kopf.

„Das kann doch nicht wahr sein!“, platzt es aus mir heraus. „Du hast doch keine Ahnung, was passiert ist! Wie kannst du-“

„Es geht mich nichts an, macht das unter euch aus!“

„Versuch ich ja! Aber dazu musst du-“

„Sagt mal Leute, geht das auch leiser?“, tritt in meinen Augenwinkeln ein Typ aus Andris’ Zimmer hervor.

Wütend will ich ihn anfahren, dass es ihn nichts angehe, als es mir die Worte in der Kehle stecken bleiben.

„Du?“, entfleucht es mir stattdessen.

„Ich?“, werde ich verdattert angesehen. „Kenne ich dich?“

Ich schaffe es nicht, zu antworten, stattdessen wende ich all meine Kraft dazu auf, mein Herz am Schlagen zu behalten. Das kann doch nicht wahr sein, er kann doch nicht... doch nicht ausgerechnet er.

„Was will er?“, höre ich ihn zu Cora sagen, während ich noch immer in das bekannte Gesicht sehe.

Es ist kein Irrtum, niemals könnte ich ihn verwechseln.

„Er will Andris’ Adresse, aber-“

„Was machst du hier?“, schaffe ich es, meinem Mund wieder Laut abzuringen. Ich funkle den Typen feindselig an.

„Ich wohne hier?“, kommt es mit einem Ton als wäre ich blöd und er deutet zur Tür hinter sich.

„Wieso? Wieso ausgerechnet hier? In Andris’ Zimmer... das...“ Diese Tatsache zerschlägt all meine Hoffnung, die ich mit der Erinnerung an Andris’ Worte aufgebaut habe, wieder zu Nichts.

Ich bekomme keine Antwort auf meine Worte. Stattdessen verschwindet Cora kopfschüttelnd und dieser Typ sieht mich noch immer verwirrt an. Kaum schaffe ich es, seinen Blick zu erwidern. Ich weiß immer noch so genau, wie es aussah, als er und Andris sich küssten.

Mir wird übel.

„Hey? Geht es dir gut?“, werde ich an der Schulter berührt und merke erst da, dass mir für eine Sekunde schwarz vor Augen geworden ist. Ich schlage seine Hand weg.

„Nein!“, fauche ich. „Und fass mich nicht an!“

„Okay, jetzt mal langsam!“ Er wirkt viel zu ruhig, wofür ich erst recht auf ihn losgehen wollen würde. „Erklär mir doch mal, woher du mich kennst und was du mit Andris zu tun hast.“

Es ist grausam, den Namen aus seinem Mund zu hören. Wie oft er ihn wohl gestöhnt- Ich verdränge jegliches Bild aus meinem Kopf.

Wieso bin ich eigentlich noch hier?

„Einen scheiß werd ich!“, zische ich. „Das ist doch jetzt eh alles egal! Er wollte nur seinen Spaß! Den will er immer… er…“ Ich schüttle den Kopf als mir etwas die Luft zum Atmen raubt. „Ich sollte gehen“, presse ich hervor und mache auf dem Absatz kehrt.

Das hat doch keinen Sinn!

„Warte mal!“

„Was?“, bleib ich nicht stehen.

„Kann es sein, dass du... Bist du Lukas?“

Fast verfehle ich die nächste Stufe, klammere mich am Treppengeländer fest. Dann fahre ich zu ihm herum und sehe zu ihm auf. Plötzlich schaut er nicht mehr misstrauisch.

„Ja...?“

Ein Lachen entkommt ihm, was mich zusammenzucken lässt. In der nächsten Sekunde verschwindet er aus meinem Blickfeld.

„Warte!“, höre ich ihn nur noch, gefolgt von weiteren Lauten des Lachens.

Vollkommen verwirrt steige ich die paar Treppenstufen wieder hinauf.

Keine gefühlten zwanzig Sekunden später steht er wieder vor mir. Er drückt mir einen Zettel in die Hand und lächelt.

„Bitte“, lächelt er.

Ich blicke hinab, erkenne eine Freiburger Adresse. Meine Finger krampfen sich darum.

„Das… So weit...“, stottere ich.

Ein Nicken.

„Eigentlich hatte er hier schon eine Stelle, aber dann hat sich einiges geändert…“ Er zuckt mit den Schultern, mit einem aber irgendwie wissendem Blick. In mir verkrampft sich immer mehr.

Er hätte hierbleiben können, wenn ich nicht... wenn...

„Danke!“, sage ich. „Vielen Dank!“

Damit flitze ich die Stufen hinunter, immer mehrere auf einmal nehmend. Die Kanten des Zettels spüre ich in meiner Hand, während es die Hoffnung schafft, daraus hervorzukriechen und in mich einzugehen. Oh bitte, bitte, lass es nicht zu spät sein!
 

„Du bist was?“, kommt es mir ungläubig aus meinem Handy entgegen.

„Im Zug nach Freiburg“, wiederhole ich, mit einem Lächeln auf meine Fahrkarte sehend.

Zwei Mal umsteigen, insgesamt mehr als eine Stunde Verzögerung aufgrund der Aufenthalte... und dazu noch fast sieben Stunden Fahrt. Es ist mir egal. Zwar werde ich erst um kurz nach 22 Uhr da sein, aber es ist noch heute... Heute noch werde ich ihn sehen können!

„Aber wieso?“

„Andris. Ich muss mit ihm reden.“

„In Freiburg?“

„Er macht da sein Praxissemester.“

„Oh. Und woher weißt du das so plötzlich?“

„Das ist kompliziert. Kann ich es dir erzählen, wenn ich wieder da bin?“

„Wann wird das sein?“

„Ich weiß nicht“, lächle ich mein undeutliches Spiegelbild an. „Wenn alles gut läuft, nicht vor nächster Woche.“

„Dass du da hinfährst... das verspricht also was Gutes?“

„Ich hoffe es.“

„Dann drück ich dir die Daumen.“

„Paldies“, grinse ich und das warme Gefühl in mir verstärkt sich.

„Äh... was?“

„Das heißt Danke.“
 

Das erste Stück bis zum Umsteigen vergeht schnell – kein Wunder, ist es ja auch nur eine knappe dreiviertel Stunde – doch als ich in den zweiten Zug steige, der mich in viereinhalb Stunden von Hamburg nach Mannheim bringen soll, weiß ich sofort, dass es mir wie eine Ewigkeit vorkommen wird.

Ich versuche, mich mit dem Buch, welches ich heute aus der Bibliothek mitgenommen habe, abzulenken, was natürlich eher schlecht als recht klappt. Immer wieder muss ich einen Absatz doppelt lesen und verstehe oft selbst dann nicht den Sinn in dem, was da gerade in den Worten stand.

Schließlich gebe ich es auf und stecke das Buch weg. Ich lehne mich gegen die Scheibe und sehe in die trübe Landschaft hinaus, welche an mir vorbeirast. Irgendwo in unserem Großraumabteil bettelt gerade ein Kind seine Mutter nach etwas an, ein Stück vor mir streitet leise ein junges Pärchen. Ansonsten ist es still. Ich schließe die Augen und kann es mir nicht verkneifen, zu lächeln.

Obwohl es eher kalt hier ist, habe ich das Gefühl einer wohligen Wärme in mir drin. Natürlich, ich weiß nicht wie es laufen wird, vielleicht ist es zu spät und Andris will schon nichts mehr von mir wissen - aber stehen die Chancen nicht auch gut, dass er sich freut, mich zu sehen? Er wollte wegen mir in Lübeck bleiben, hatte sogar schon eine Stelle – ist das nicht schon eine Art Liebesbeweis?

Natürlich, da ist immer noch dieser Typ, der mich stört. Sie haben sich geküsst, ich habe sie ein paar Mal zusammen gesehen und er wohnt nun in Andris’ altem Zimmer. Es ist nicht gerade leicht, meine Eifersucht zu unterdrücken, obwohl ich mir immer wieder sage, dass es dafür eine leichte Erklärung geben wird. Immerhin kannte er meinen Namen und hat mir daraufhin direkt Andris’ Adresse gegeben. Er muss also von mir gesprochen haben...
 

Irgendwann muss ich wohl eingeschlafen sein. Was heißt schlafen, ich hab das Gefühl, jeden Stopp mitbekommen zu haben, aber wirklich werde ich erst wach, als Mannheim angesagt wird. Sofort sitze ich wieder senkrecht

Gleich nur noch ein bisschen, nur noch etwas mehr als eine Stunde, dann bin ich endlich da!
 

In der düsteren Helligkeit des letzten Zuges schaffe ich es nicht, meine Augen nochmals zuzutun, aus Angst, die Haltestelle zu verpassen. Ich starre die Dunkelheit durchs Fenster an, die wenigen Lichter in der Ferne und versuche mir vorzustellen, was auf mich zukommen wird.

Wie wird er reagieren, wenn ich plötzlich vor der Tür stehe?

Wird er lächeln?

Wird er einfach nur erstaunt aussehen?

Oder wird sein Blick wütend werden?

Vielleicht wünsche ich mir eine Mischung aus allem. Wenn er wütend wird, dann kann ich wenigstens erklären, was im Herbst los war... und wenn er lächelt, weiß ich, dass diese Zugfahrt nicht umsonst war...

Aber was werde ich sagen, wenn ich vor ihm stehe?

Was ist das Wichtigste, was ich loswerden will?

Dass ich ihn liebe, natürlich... aber auch so viele andere Dinge.

Oh man, ich freue mich so darauf, ihn zu sehen!
 

Als der Zug endlich am Freiburger Hauptbahnhof zum Stillstand kommt, steige ich in die Kälte hinaus und stehe einen Moment unschlüssig herum. Ich habe dies alles so überstürzt und mir dabei überhaupt keine Gedanken gemacht, wie ich eigentlich zu seiner Wohnung kommen werde...

Zögernd gehe ich den Weg bis zum Hauptausgang, wo aber auch schon meine Antwort auf mich wartet.

In das vorderste Taxi steigend, nenne ich die Straße.

„Oh, das ist nicht weit“, lächelt die Fahrerin. „Soll ich Sie trotzdem hinbringen?“

„Ja bitte. Ich will nicht riskieren, mich zu verlaufen.“

„In Ordnung.“

Sie startet Auto und Zähler und fährt vom Taxiparkplatz hinunter. Mit schlagendem Herzen starre ich die Straßenlaternen an.

„Sie sehen zufrieden aus, geht es zu ihrer Freundin?“

„Nicht direkt... Aber hoffentlich zu meinem zukünftigen Freund“, antworte ich ohne zu zögern, lächle in mich hinein und bete, dass alles gut gehen wird.

„Oh, das ist schön. Ich hoffe es klappt.“

„Ja, das hoffe ich auch. Danke.“

Ich lächle dem Rückspiegel mit den Lachfalten um die Augen entgegen und frage mich irgendwie auf einmal, wie meine Mutter wohl reagieren wird, wenn ich ihr Andris vorstellen werde. Sie kam nie so wirklich mit meinem Schwulsein klar, auch wenn sie meinte, dass sie es akzeptieren würde. Sogar mein Vater schien weniger Probleme damit zu haben.
 

Nur wenige Minuten später hält das Taxi.

„Da sind wir“, lächelt die Dame und nennt mir den zu zahlenden Preis.

Ich drücke ihr den Schein und ein paar Münzen Trinkgeld in die Hand.

„Einen schönen Abend... und viel Glück!“

Dankend erwidere ich die Aussage und steige aus. Als das Taxi weggefahren ist, stehe ich noch immer an der gleichen Stelle.

Vor mir steht ein dreistöckiges, weißes Gebäude und die Hausnummer zeigt mir, dass ich genau richtig bin. Ich habe das Gefühl, umzukippen vor Nervosität und Freude.

Auf das Haus zugehend, suche ich nach Worten, welche ich in die Gegensprechanlage sagen kann.

Sie fallen mir ein... doch ich brauche sie nicht.

Auch nach dem dritten Klingeln schweigt mich die Gegensprechanlage noch immer an. Vollkommen enttäuscht lasse ich die Hand sinken.

„Er ist nicht da“, flüstere ich mir selbst zu, um mir die Tatsache zu verdeutlichen. Er ist einfach nicht da.

Ich trete ein paar Schritte zurück und starre die Häuserfront hinauf. Ein paar Fenster im zweiten Stock sind erleuchtet, auf einer Seite aber herrscht die Dunkelheit.

Er ist nicht da.

Ein Zittern ergreift mich, als es mir wirklich bewusst wird. Ich sehe auf meine Uhr, welche mir 22:18 anzeigt. Wo ist er denn noch um diese Zeit? Es ist doch mitten in der Woche...

Nicht wissend, was ich tun soll, gehe ich das Stück wieder zur Haustür zurück. Ich lasse mich auf der obersten Stufe nieder und stütze den Kopf in meine kalten Hände.

Und nun? Warten?

Minuten vergehen... eine halbe Stunde... Ich beginne zu frieren und versuche meine Hände in meinen Jackentaschen zu wärmen, hilflos nach einem Ausweg suchend.

Was, wenn er nicht nach Hause kommt?

Was, wenn er einen neuen Freund hat und heute bei ihm übernachtet?

Was wenn-

„Lu... kas?“

Mein Kopf fährt in die Höhe, die Stimme sofort erkennend.

Und tatsächlich, da steht er... zusammen mit einem anderen, sehr hübschen Mann.

Mein Herz scheint zu erstarren, während seine Augen sich weiten.

„Was machst du denn hier?“

Ich sehe zwischen den beiden hin und her, nicht mehr wissend, wieso ich am ganzen Körper zittere.

Ich höre wie der Fremde leise etwas sagt. Andris’ Blick wandert zur Seite, weg von mir, hin zu ihm. Er lächelt, sagt etwas, das meine rauschenden Ohren nicht aufnehmen wollen. Dann verabschiedet sich der blonde Schönling, dreht sich um, steigt in ein Auto und fährt davon.

Ich kann nicht mehr tun, als ihm nachzusehen und froh zu sein, dass er weg ist, während die Hoffnung dennoch mal wieder in mir zerbröckelt.

„Willst du... reinkommen?“, fragt Andris zögernd, während er auf mich zukommt, dann an mir vorbei geht.

Ich nicke heftig.

„Dann komm.“

Ich drehe mich um und trete durch die nun aufgeschlossene Tür. Während wir die Treppe hinaufgehen, kann ich nur seinen Rücken anstarren. Am liebsten würde ich ihn an mich ziehen.

„Hast du lange gewartet?“, fragt er, als er eine alte, verzierte Holztür aufschließt.

„Nein“, lüge ich. Die dreiviertel Stunde ist mir in Wahrheit wie ein Jahrzehnt vorgekommen.

Ich spüre seinen Blick auf mir, der mir sagt, dass er meine Lüge erkennt. Wahrscheinlich glühe ich vor Kälte, zumindest prickelt meine Haut, nun, da sie die Wärme meiner Nervosität erhält.

„Sorry, es ist kalt hier“, sagt Andris, nachdem er die Tür wieder geschlossen hat. „Ich drehe die Heizung über Tag immer klein, wegen Stromkosten und so...“

Ich nicke nur und ziehe ebenso wie er Jacke und Schuhe aus, obwohl es mich danach sehnt, beides anzubehalten. Meine Tasche lasse ich neben meinen Schuhen zu Boden gleiten. Dann stehe ich unschlüssig herum.

„Ich kann dir leider keinen Kaffee anbieten, ich hab noch keine Maschine. Aber wenn du willst, kann ich dir einen heißen Kakao machen... oder Tee.“

„Kakao“, sage ich, irgendwie schüchtern. Diese Situation ist so ganz anders, als ich sie mir erhofft habe...

„Gut.“ Er deutet mit dem Kopf in Richtung einer Tür. Zögernd folge ich ihm.

Der Raum, den wir betreten, ist eine Art Wohnküche. Er ist nicht sehr groß, aber es passen Andris’ Garnitur und ein Schrank für den Fernseher hinein. Zögernd lasse ich mich auf den Sessel nieder.

Während Andris zwei Tassen Kakao heiß macht, sprechen wir kein Wort. Verstohlen beobachte ich seinen mir zugedrehten Rücken und frage mich, ob ich etwas sagen soll. Aber was? Nun, da ich ihn mit diesem Mann gesehen habe, sind alle möglichen Anfänge aus meinem Kopf verschwunden.

Ob das wirklich sein Neuer war?

Wieso sonst sollten sie um diese Uhrzeit zusammen sein?

Bin ich also ganz umsonst hier?

Als Andris mit dem Kakao zu mir kommt, schließe ich sogleich meine eisigen Hände um die heiße Tasse.

„Ich hab die Heizung schon hochgedreht, aber es dauert einen Moment“, sagt er, ohne mich anzusehen. „Frierst du?“

„Es ist okay“, erwidere ich, während er sich aufs Sofa setzt.

Minuten vergehen, in denen wir noch immer schweigen. Ich rühre in meiner Tasse herum, nippe ab und zu daran, nur um festzustellen, dass er noch immer zu heiß zum Trinken ist. Außerdem versuche ich, endlich den richtigen Anfang zu finden.

„Du machst mich irre!“, kommt es irgendwann und ich hebe den Blick. „Du tauchst hier einfach so auf und dann schweigst du mich an! Es muss doch einen Grund geben, warum du hier bist!“ Er klingt nicht unfreundlich, aber ungeduldig.

Ich nicke. „Ich wollte... mit dir sprechen...“

„Ach wirklich.“ Ziemlich kühl. „Worüber?“

„Über uns...“

„Uns?“ Ein sarkastisches Lachen, das mich zusammenzucken lässt. „Es gibt doch schon lange kein Uns mehr!“

Seine Worte entmutigen mich. Ich vergrabe meinen Blick in meiner Tasse.

„Du bist noch sauer...“

„Ob ich noch sauer bin?“, fährt er mich an. „Natürlich bin ich das!“ Er stellt seine Tasse mit einer festen Bewegung ab und beugt sich etwas vor. Seine Augen funkeln mich an. „Du glaubst doch nicht allen ernstes, dass ich das alles vergessen habe? Erst sagst du solche Dinge, gehst mir monatelang aus dem Weg und dann tauchst du einfach so hier auf. Soll ich etwa vor Freude im Dreieck springen? Sorry, aber meinst du nicht, dass ist etwas viel verlangt?“

Bei jedem seiner Worte wird er lauter… bei jedem seiner Worte sinke ich mehr in mir zusammen.

„Ich habe gehofft, du würdest... dich vielleicht... freuen... ein ganz klein bisschen zumindest...“

„Freuen?“ Er schüttelt den Kopf, seine Stimme zeigt, dass er noch immer auf hundertachtzig ist. „Weißt du eigentlich, was du da sagst? Tagelang habe ich darauf gewartet, dass du zu mir kommst! Ich hätte noch nicht mal eine Entschuldigung gebraucht, immerhin wusste ich, wie schlecht es dir ging… aber nein, der Herr schweigt sich aus und geht mir aus dem Weg! Und dann verlangst du, dass ich mich freue? Vor Monaten hätte ich mich gefreut, Lukas, ja, aber heute? Das kann ich nicht!“

Seine Augen sehen noch immer in meine und ich erwidere den Blick. Am liebsten würde ich wegsehen oder sogar aufstehen und das Weite suche… aber ich sehe ihn an, ich zwinge mich dazu, ihn anzusehen. Ich suche etwas in seinen Augen. Irgendetwas muss da doch noch sein, ganz tief drin…

Und da ist es, als ich ihn lange genug ansehe: Das Lockern der Augenbrauen… etwas Sanftes… auch wenn es nur winzig ist.

„Es tut mir leid“, spreche ich und festige meinen Blick. „Es tut mir schrecklich leid.“

„Ich-“

Er verstummt, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Sein Blick ist auch weiterhin auf mich gerichtet, seine Stirn weist Denkfalten auf. Dann schüttelt er plötzlich seufzende den Kopf, greift sich mit der Hand an die Schläfe und reibt daran. Sein Blick verlässt mich und starrt ins Leere… oder zu irgendeinem Punkt, den nur er sehen kann.

Ich will zu dir… lass mich zu dir kommen.

„Wieso fällt dir das jetzt ein?“, kommt es schließlich und die Wut hat seine Stimme verlassen. Unverständlichkeit spricht jetzt aus ihr.

„Das ist es nicht“ Ich rücke etwas näher an ihn heran. „Es hat mir schon damals leid getan.“

Sein Blick wird wieder härter. „Wieso bist du dann nicht am nächsten Tag zu mir gekommen? Oder den Tag darauf? Oder eine Woche später? Wieso erst jetzt?… Das ist noch viel schlimmer, Lukas.“

„Ja.“ Ich nicke… „Ich weiß.“

Ich habe das Bedürfnis, ihn nach diesem Mann zu fragen, der heute bei ihm war… Doch ich weiß, dass es nicht an mir ist, Fragen zu stellen… ich muss endlich Antworten liefern, lange überfällige Antworten…

„Es gibt so viele Gründe, die dir alle dämlich erscheinen würden, weil sie es auch sind…“, beginne ich nun zögernd zu erklären ohne wirklich zu wissen, was ich sagen soll. „Einer davon war Angst, ein anderer Scham... Ich wusste einfach nicht, wie ich dir gegenübertreten sollte... Dabei habe ich so oft darüber nachgedacht, es zu tun... Doch dann hab ich dich mit dem Kerl gesehen... und ich-“

„Welcher Kerl?“, unterbricht er mich.

„Der jetzt in deinem Zimmer wohnt...“

„Oh.“ Sofort scheint er zu einer Erklärung ansetzen zu wollen, doch ich halte ihn auf.

„Du solltest nichts erklären müssen…“, sage ich und schüttle den Kopf. „Es ist deine Sache, ebenso mit dem Typen heute. Ich weiß, dass ich nicht das Recht habe-“

„Das ist mein Cousin!“, kommt es diesmal zu schnell, um ihn aufzuhalten. „Er hat mit den Job und die Wohnung besorgt...“

Während die Erleichterung über mir zusammenbricht, schaffe ich es nicht, mein Lächeln zu verbergen. Ich fahre mir mit der Hand durchs Gesicht, versuche wieder ernst zu werden, doch ist es ziemlich schwer…

Ich bin so froh…

„Das ist gut“, sage ich deshalb.

Seine Stirn runzelt sich wieder ein wenig, doch er sagt nichts dazu, sondern scheint darauf zu warten, dass ich weiter spreche.

Ich suche nach den nächsten Worten und tue schwer daran, sie zu finden… Mit allem Mut, den ich aufbringen kann, stehe ich auf und ich lasse mich direkt neben Andris auf dem Sofa nieder. Nun aus nächster Nähe fallen mir die Augenringe auf und ich muss das Bedürfnis unterdrücken, sie zu berühren. Stattdessen nehme ich wahr, wie er ein winziges Stück zur Seite rutscht.

Diesmal lasse ich mich nicht entmutigen, sondern beginne endlich wieder zu sprechen.

„Ich habe lange nicht verstanden, was eigentlich wirklich zwischen uns war… Ich habe nicht darüber nachgedacht, sondern es einfach genossen… und dann, als es vorbei war, habe ich es vermisst, habe ich dich vermisst, Andris… Es tat weh, nicht in deiner Nähe sein zu können und dich mit diesem Typen zu sehen… und es wurde immer schlimmer, je mehr Zeit verging, je mehr ich versuchte, dich zu vergessen…“ Ich rücke das Stück, das er uns getrennt hat, wieder zu ihm heran. „Ich habe zu lange gebraucht, um alles zu begreifen… das weiß ich, und das tut mir am meisten leid... doch ich bete, dass es noch nicht zu spät ist…“

„Zu spät?“ Seine Stimme ist schwach, sein Blick forschend. „Wozu Lukas? Hör auf in Rätseln zu sprechen…. Ich vertrage das nicht, nicht heute… ich will nicht etwas falsch deuten oder so… ich will sichergehen, dich richtig zu verstehen... ich meine... von was sprichst du die ganze Zeit?“

Ich lächle. „Liebe, Andris, ich spreche von Liebe.“

Seine Augen weiten sich und ich habe das Gefühl, vom Dröhnen meines eigenen Herzens erdrückt zu werden. Bitte… bitte lass es nicht zu spät sein.

„Ist das… dein Ernst?“, kommt es stockend, ungläubig.

Ich nicke und versuche in seine Augen zu tauchen.

„Es ist mein voller Ernst, Andris. Ich habe endlich gemerkt, wie sehr ich dich brauche… ich habe gemerkt, wie sehr ich dich vermisse, wenn du nicht bei mir bist... ich vermisse deine Wärme, deine Hände, Lippen, Augen... deinen Mund, deine Gedanken und Berührungen... und vor allem dein Herz, Andris.“ … und endlich habe ich den Mut, nach seinen Händen zu greifen. Sie sind kälter als meine. „Ich vermisse dein Herz und ich bin hier, um es zurückzubekommen.“

„Weißt du... was du da sagst, Mīļotā?“

Ich nicke wieder, als mir aufgrund des sanften Wortes Tränen in die Augen schießen.

„Ja, so sicher wie nie zuvor. Bitte verzeih mir, Andris. Du warst mein erster Mann und ich wünsche mir, dass es genau so bleibt.“ Ich drücke seine Hände, führe sie an meine Lippen und küsse sie. „Ich liebe dich. Bitte, bitte liebe mich auch.“

Seine Hände entreißen sich mir, als er die Arme um mich schlingt. Ich werde an ihn herangezogen und er vergräbt seinen Kopf an meinem Hals.

„Du Dummkopf“, höre ich ihn flüstern. „Begreif doch endlich, wie lange ich das schon tue. Aber du hast immer nur Florian gesehen... und ich wollte, dass du glücklich bist... und ich dachte...“ Ein Lachen, bevor er mich noch enger an sich drückt. „Oh Mīļotā, es tevi mīlu, es tevi ļoti mīlu.“

Verwirrt drücke ich ihn von mir, sehe ihn an.

„Heißt das... du liebst mich?“

Er lacht, beugt sich zu mir und küsst mich mit den sanftesten Lippen der Welt.

„Das habe ich dir auch beigebracht. Hast du es vergessen?“

Ich nicke.

„Tut mir leid.“ Er küsst mich erneut. „Weißt du, ich sag es nur so gerne. Es erscheint mir ehrlicher als in Deutsch...“ Er schließt meinen Kopf in seine Hände und verkreuzt seinen Blick mit meinem, während das Glück aus seinen Augen zu springen scheint. „Es heißt: Ich liebe dich, Lukas, ich liebe dich sehr!“

Überglücklich lächle ich, sinke in seine Arme hinein und vergesse alles um mich herum.

„Wie konnte ich nur ein halbes Jahr so blind sein?“, flüstere ich und erhalte daraufhin einen ähnlich leidenschaftlichen Kuss wie an unserem allerersten Abend, damals als ich nichts mit ihm hatte machen wollen außer reden...

Wärme erfüllt mein Herz bei diesem Gedanken. Niemals hätte ich gedacht, dass mir ausgerechnet jener Weihnachtself mal so mein Herz stehlen würde.
 

ENDE Kapitel 11



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Kommentare zu diesem Kapitel (10)

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Von: abgemeldet
2009-02-20T18:45:11+00:00 20.02.2009 19:45
Hallo Stiffy!

Ich finde deine Geschichte wunderschön. Ich mag deinen warmen, lebendigen und zugleich detailreichen Schreibstil und kann nur sagen dass er mich in die Welt deiner Figuren entführt hat. Wundervolle Charakterkonstruktion und ein einen zum Lächen bringendes Ende.

Mach bitte weiter so!

die Maike
Von:  Rees
2008-07-20T17:38:40+00:00 20.07.2008 19:38
hi^^
tut mir leid, dass ich keinen kommi geschrieben hab, aber das hole ich ja jetzt nach.
dieses kapitel ist einfach wunderschön. damit hast du mich echt glücklich gemacht. ich muss ehrlich sagen, dass ich sogar geheult habe vor freude. *heul*
es war so schön.
schade, dass es schon bald vorbei sein soll.
ich freu mich auf das letzte kap
danke für die schöne geschichte.
lg Rees
Von: abgemeldet
2008-07-19T11:19:23+00:00 19.07.2008 13:19
Hallo^^
WAS? Das ist das vorletzte Kapitel (den Epilog mitgezählt)??? Wie kannst du mir das antun??? ;) Ich finde es echt schade... das ist eine der besten Storys, die ich hier auf Mexx je gefunden habe :( Na ja, dann werde ich dieses Kapitel hier und den Epilog halt voll genießen^^
XD Gut, dass du am Ende auch noch mal drauf hingewiesen hast, denn ich wäre echt sauer, wenn das da schon zu Ende gewesen wäre ;)
Also, was das 'Ich liebe dich' angeht... es hört sich in allen anderen Sprachen besser an als auf deutsch... ist einfach sop, aber ich glaube, dass das Menschen die beispielsweise französisch sprechen auch denken... und 'I love you' ist ja wohl schon total... na ja, verbraucht halt irgendwie :) Mir ist immer noch 'Wo Ai Ni' (Chinesisch) am liebst... das hört sich so süß an^^
Und der rest des Kapitels hat mir auch wirklich gut gefallen^^ Auch wenn es etwas zu kurz war... du hättest noch ewig weiterschreiben können, wenn es nach mir gehen würde ;)
Na, dann bis zum nächsten und für diese Story dann auch letzten Mal^^
LG cada :)
Von:  yukken
2008-07-19T08:52:02+00:00 19.07.2008 10:52
hahhh~
endlich.. +rumschweb+
es ist so schön X3.. sehr sehr schön geschrieben und die stimmung eingefangen~ wie immer..
und.. ich bin glücklich XD und wehe im epilog passiert noch iwas, was ich aber ne denke XD
schade, dass dann schon schluss is, aber es reicht auch ^^ mehr würd ich dann auch nemma zu schreiben XD is also gut so wie es ist ^^
ich bin froh, dass ich angefangen hab diese geschichte zu lesen.. sehr schön.. kann ich nur immer wieder sagen..

allerdings.. nim mir das jetz ne übel XD" ich bin grad verwirrt.. wo genau hat die geschichte eigentlich gespielt XD???

nya~ man liest sich dann wieder im epilog ^^
bis dahin
liebste grüße

yu :D
Von: abgemeldet
2008-07-18T23:19:47+00:00 19.07.2008 01:19
Eigentlich dachte ich, ich hätte ein absolutes lieblings Kapitel aus dieser Geschichte, muss aber zugeben, dieses finde ich genauso schön. ^^ Auf diesen Moment haben wohl ich und viele andere gefiebert. Dies wäre wohl auch schon ein sehr schönes Ende. Mich interessiert trotzdem wie es weiter geht - da wird dein Epilog wohl noch einige Fragen stillen. Ich habe die Geschichte total gerne gelesen und trauer doch ein bisschen, dass sie zu Ende geht. Aber wenns am schönsten ist soll man ja auch aufhören. ^^ Die meisten Geschichten sind dann nicht mehr ganz soo~ schön, wenn sie zu lang werden. ;) Daher ist es gut so, wie es ist.

Danke für die ENS! Bis zum Epilog.
LG Nadine
Von: abgemeldet
2008-07-18T19:06:41+00:00 18.07.2008 21:06
sehr schönes Fast-Ende, das es so einfach ist...nach den vielen Gedanken, Vorwürfen, Monaten. Andris ist super. DA ist so eine Ruhe in mir, Zufriedenheit das alles gut geworden ist, auch nach der langen Zeit.
Von:  UmbrellaXD
2008-07-18T18:20:56+00:00 18.07.2008 20:20
;______________;

*taschentuch hol*
*schnief*

Schön, wunderbar und... ach keine ahnung, einfach toll T________T
*flenn*
Happy End, Happy End *träller*
Kay, es ist noch cniht wirklcih ende, aber ich nehm an, mit dem nächsten kapitel >O<
Schade eigentlcih aber, iwann muss ja nen ende kommen >.<

Jedenfalls voll schön <333
Von:  kuestenfee1
2008-07-18T17:56:24+00:00 18.07.2008 19:56
Ich bin froh, dass Lucas und Andris endlich wieder zusammen sind und dass Andris Lucas vergeben hat.
Ich freue mich schon auf den Epilog, auch wenn es dann wirklich zu Ende ist.
Schreibst Du vielleicht einen zweiten Teil?

lg kuestenfee
Von:  Mel_Vineyard
2008-07-18T16:47:42+00:00 18.07.2008 18:47
*schniieef* *heul*
oh das ist soooooo schön!!!!!
du hast es geschafft die spannung bis zum schluss aufrechtzuerhalten..
sorry mir fällt grad einfach nicht viel mehr ein als dass das ende einfach nur wunderschön ist!!!!
TT^TT
das ist so toll!!
lg
Mel

P.S.: ich finde auch dass sich 'ich liebe dich ' allgemein auf anderen sprachen ganz anders anhört, also vom gefühl her, nicht nur von den lauten!^^
Von:  Yumicho
2008-07-18T16:32:44+00:00 18.07.2008 18:32
ERSTEEEEE! xD
Muss aber nachher lesen, grade keine Zeit xP




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