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Der Weg zum Glück

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Zu Beginn habe ich erst einmal eine gute und eine schlechte Nachricht für euch.
Fangen wir mit der schlechten Nachricht an, damit die gute es später ein wenig ausgleichen kann: Klayr kann wohl erst einmal nicht mehr an "Der Weg zum Glück" mitschreiben. Sie ist einfach zu lange raus aus dem Flow und hat auch anderweitig einfach zu viel zu tun und kommt deshalb einfach nicht mehr ins Schreiben rein. Das ist wirklich schade, denn ihr habt euch auf ihre Kapitel sicher immer genauso gefreut wie ich, aber ich kann sie nicht zwingen. Ich respektiere ihre Entscheidung. Auch wenns irgendwie einsam wird. :( Das heißt aber nicht, dass die FF deshalb abgebrochen wird! Es wird nur leider in Zukunft etwas einseitiger, weil ich nun erst einmal alle weiteren Kapitel schreibe. Natürlich steht Klayr mir dabei immer noch mit Rat und Tat zur Seite.
Und nun zur guten Nachricht: Neben dem aktuellen Kapitel habe ich auch noch ein weiteres Kapitel fertig auf meinem PC rumliegen. ^^ Das 21. hatte ich nämlich eigentlich zuerst geschrieben und danach dann das 20. von Klayr übernommen. Deshalb wird es bis zum nächsten Update diesmal definitiv nicht so lange dauern wie die letzten Male! Und ich hoffe echt, dass ich bis zum Ende der FF wenigstens etwas zügiger als bisher weiterschreiben kann. >< Feuert mich an! :D
Und weil einige Leser angemerkt hatten, dass es nach so langen Pausen echt schwierig ist, wieder in die Geschichte reinzukommen, gebe ich euch diesmal eine kurze Zusammenfassung mit:

~ Was bisher geschah~
Seit Chiis Verschwinden war Fye erst einmal bei Kurogane untergekommen. Am Tag ihres Verschwindens hatte Fye Ashura vor seinem Haus gesehen. Nun wusste er, dass sein ehemaliger Arbeitgeber nicht vorgehabt hatte, ihn einfach ziehen und ein neues Leben beginnen zu lassen. Doch was wollte Ashura von ihm? Und hatte er tatsächlich etwas mit Chiis Verschwinden zu tun? Niemand wusste genaueres. Zu allem Überfluss erhielt Kurogane kurz darauf ein Schreiben vom Jugendamt, dass ihm Aufgrund des Mordverdachtes, der auf ihm lag, das Sorgerecht für seine Tochter Tomoyo entzogen und das Kind vorerst in die Obhut der Mutter übergeben würde. Obwohl er dagegen Berufung einlegte, kamen schließlich zwei Mitarbeiter des Jugendamts bei ihm vorbei und nahmen Tomoyo mit. Kurogane war wie vor den Kopf gestoßen und bereit, den Mitarbeitern des Jugendamts sofort zu folgen und seine Tochter zurückzuholen, notfalls mit Gewalt. Fye versuchte, ihn von diesem unüberlegten Vorhaben abzubringen, doch dadurch richtete Kuroganes Wut sich schließlich auf ihn selbst. Wütend, dass Fye ihm - aus seiner Sicht - so in den Rücken fiel, packte er ihn und warf ihn von sich, bevor er ohne ein weiteres Wort die Verfolgung des Jugendamts aufnahm.

Und nun viel Spaß beim Lesen!
(p.S.: Wer noch auf die ENS-Liste möchte oder schon drauf ist, aber zwischenzeitlich seinen Namen geändert hat, sagt mir bitte Bescheid.) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Unglaublich, aber wahr: Wir kehren mit dem Upload (vorerst) zum ursprünglichen Plan zurück und es gibt jetzt wieder alle zwei Monate ein neues Kapitel. In den letzten Ferien kam es zu dem seltenen Phänomen, dass ich gleichzeitig Zeit und Schreiblust hatte, und so sind neben diesem Kapitel gleich noch zwei neue entstanden. :) Fehlen also nur noch die letzten zwei Kapitel und der Epilog. Ich will keine Versprechungen geben, dass die auch in absehbarer Zeit fertig sind, denn jetzt ist erst mal wieder das übliche Semester-Pensum angesagt (man bemerkt es als Student kaum, doch als Lehrer hat man für die Unterrichtsvorbereitung echt viel zu tun!), aber ich hoffe ein bisschen auf entspannte Weihnachtsferien.
Aber erst einmal wird es alle zwei Monate wieder einen Upload geben, solange es möglich ist. Und damit viel Spaß beim Lesen! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ein bisschen verspätet, aber so wird es gleich ein Weihnachts-Kapitel. :) Wobei das eigentlich nicht geplant war. Es war bloß einfach zu viel zu tun auf Arbeit und direkt am ersten freien Tag hat sich der Stress mit 'ner Erkältung oder so was die Klinke in die Hand gegeben. Jedenfalls habe ich ein bisschen gebraucht, bis ich wieder richtig fit war.
Ich hoffe, ihr könnt alle eine schöne Weihnachtszeit genießen! ^^ Und vielleicht freut sich der ein oder andere auch über das neue Kapitel. Ich habe das Gefühl, dass es mir nicht so richtig gelungen ist, Kuroganes Gefühle und innere Entwicklung rüber zu bringen, aber ich hoffe, er wirkt nicht zu ooc... Das fällt mir bei ihm schwerer als bei Fye, weil er nicht der Typ ist, der sich mit solchen Dingen ausführlich beschäftigt und ich ihn eher als jemanden einschätze, dem auch die innerliche Auseinandersetzung mit Gefühlen eher lästig oder zumindest nicht hilfreich ist, weswegen er das ebenfalls eher vermeidet. Aber trotzdem geschieht in seinem Innern ja sehr viel, das aber nicht so einfach zu Tage tritt. Aber lest am besten selbst. Und wenn es ein paar kreative Meinungen und Interpretationen zu Kuroganes Charakter gibt, würde ich mich sehr über ein paar Gespräche freuen. ^^ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Und schon sind wieder zwei Monate um. Für mich fühlt sich das immer total schnell an. Wie ist es für euch? Ich habe drei volle Tage an dem Kapitel gesessen, wirklich von morgens bis abends, wobei die Hälfte der Zeit (mindestens) für Recherchen draufgegangen ist. Und die Beta hab ich mal wieder Mal erst im letzten Moment fertig bekommen, um den Upload-Zeitraum möglichst nicht zu sehr in die Länge zu ziehen.
Ich hoffe, ihr habt alle noch frisch im Kopf, wo wir beim letzten Mal stehen geblieben sind. Fye hat seinen Entschluss gefasst und ist nun doch still und heimlich verschwunden, ohne Kurogane ein Wort zu sagen. Und konnte sich zuvor doch nicht beherrschen, Kuroganes Gefühlen auf den Grund gehen zu wollen, so dass sie nun beide wissen, wie viel ihnen aneinander liegt und können dennoch nicht zusammen sein... Was Kurogane jetzt wohl tun wird? Jetzt, wo er weiß, dass Fye fort ist und wohin er gegangen ist? Ihr erfahrt es im neuen Kapitel. Inhaltlich ist es wohl mein persönliches Lieblingskapitel. Ich hoffe, dass all die Gefühle, die beim Schreiben und auch beim erneuten Lesen mein Innerstes aufgewühlt haben, euch zumindest ansatzweise erreichen. Und dass die Lagebeschreibungen zwischendrin vorstellbar sind.
Viel Spaß beim Lesen! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Mein 2-Monats-Vorhaben habe ich diesmal leider nicht ganz einhalten können, aber ich habe echt einen April-of-Doom hinter mir. Gott, so viel Zeug. x_x Und im März bin ich wider erwarten auch nicht zum Weiterschreiben vom nächsten Kapitel geworden. Ist doch mehr los, als man denkt, wenn man heiratet. ;)
Aber jetzt beginnt erst mal das Wochenende, also wollte ich auf jeden Fall die nächstbeste Gelegenheit nutzen, das letzte fertige Kapitel noch mal drüberzulesen und euch nicht länger vorzuenthalten. 2 Monate sind schon lang genug. Ich hoffe, das Warten hat sich gelohnt und es gefällt euch. Ich hätte beim Schreiben gern noch so viel mehr rein gebracht. So viel mehr zwischen Kurogane und Fye, aber auch so viel mehr zwischen den anderen. Es passiert noch sehr viel. Und alles gleichzeitig. Deshalb haben Klayr und ich uns auch von Anfang an entschieden, in diesem Kapitel beide Erzählungen parallel laufen zu lassen. Ich hoffe, dass die Timelines auf die Art gut rüber kommen. Jedenfalls hat die viele Handlung das Kapitel dann plötzlich auch in astronomische Längen schießen lassen (für meine Verhältnisse) und ich finde, so wie es ist, sollte es jetzt auch bleiben.
Ich hoffe, dass ich bald am nächsten Kapitel weiterarbeiten kann, aber solange das Semester läuft, sieht es schwierig aus. Da hab ich echt einfach zu tun. Vor allem mit dem Enspurt meiner Fortbildung nebenher noch. Die Projekte werden jetzt auch immer aufwändiger. Deshalb drückt mir am besten die Daumen, feuert mich an, tretet mir in den Hintern - ganz egal was - damit ich am Ball bleibe. Ich mein - hey! Schaut euch mal den Fortschritt an! Wir sind bei über 90%! Das ist Kapitel 24 von 26! Und wenn ich schon mal ein klein wenig spoilern soll... Kapitel "26" wird der Epilog. Ich seh also auch langsam dem Ende dieses - ja, man könnte schon fast sagen "Lebenswerks" - mit einem lachenden und einem weinenden Auge entgegen.

Und euch jetzt erst mal viel Spaß mit Kapitel 24! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hier ist es nun, das offiziell letzte Kapitel von "Der Weg zum Glück". "offiziell", weil natürlich noch der Epilog folgt. Aber die lange Odyssee der eigentlichen Geschichte nimmt hier ihr Ende. Ich will lieber nichts vorweg nehmen, sondern lass euch einfach selbst lesen und euch eure eigenen Meinungen bilden.
Und damit sage ich zum vorletzten Mal: Viel Spaß! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Oh mein Gott. Ich kanns immer noch nicht richtig fassen. Da steht "100%". "100%" wie in "Diese Geschichte ist abgeschlossen". Jetzt ist sie also wirklich fertig. So richtig komplett. Ich kanns irgendwie immer noch nicht ganz fassen. Meine erste längere Geschichte, die bis zum Ende durchgeplant und abgeschlossen wurde. Fast 8 Jahre haben Klayr und ich daran gearbeitet, in der Zeit unsere Schule beendet, sie ihre Ausbildung gemacht, ich mein Studium, und seit ein paar Jahren arbeiten wir nun beide. Vom Schreiben haben wir durch das alles beide zwischenzeitlich ziemlich viel Abstand gehabt, mit dem ganzen Stress und Schreibblockaden. Und dann ging es doch wieder weiter. Was das rückblickend für eine riesige Reise für uns beide war... Und für euch als Leser sicher auch. Ist eigentlich noch jemand da, der so ziemlich von Anfang an mit dabei war oder hat sich die Leserschaft komplett geändert im Laufe der letzten Jahre? Ein bisschen neugierig bin ich ja schon. ^^

Na gut, lange Rede, kurzer Sinn: Hier ist also der Epilog. Der Titel war ursprünglich anders, aber nach dem Schreiben und Korrekturlesen fand ich, dass es so eigentlich am besten passt.
Zu dem Zitat habe ich übrigens verschiedene Versionen und Urheber gefunden und habe mich am Ende für diese Version von Laotse entschieden, weil die Quelle die meisten Hintergrundinformationen, inklusive dem original Wortlaut, geboten hat, so dass es am zuverlässigsten zu sein scheint. So oder so scheint diese Redensart aus China zu kommen, was sich von der Satzbildung her vom Deutschen natürlich sehr unterscheidet, weshalb es auf Deutsch verschiedene Redensarten dazu gibt: "Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt.", "Selbst die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt." etc. Das ist alles ursprünglich auf dasselbe Zitat von Laotse zurückzuführen. Da habe ich also noch mal was gelernt.
Und nun lehnt euch zurück und habt viel Spaß mit dem Epilog! Komplett anzeigen

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Ein Tag wie jeder...

Pünktlich zum neuen Jahr starten Klayr_de_Gall und ich nun mit unserer neuen FF und hoffen, die lieben Leser damit beglücken zu können.

Den Hauptschreiber eines Kapitels geben wir jedes Mal mit an, allerdings haben wir immer beide fleißig darüber diskutiert, wie es am Ende aussehen soll, sodass letztlich alle Kapitel als gemeinsam erarbeitet betrachtet werden können.
 

Zur FF selbst: Das ist eine TRC-FF, die unabhängig vom Manga spielt.

Pairing: KuroFye
 

Disclaimer: Die Charas gehören (bis auf wenige Ausnahmen) nicht uns, sondern Clamp. Wir wollen kein Geld damit verdienen, sondern nur unterhalten.
 

Erstschreiber des Kapitels: Klayr_de_Gall

Kapitel: 0/26
 

Und nun viel Spaß beim Lesen!
 

-~*~-
 

„Geliebte Menschen kann man nicht wegschicken. Man muss sie gehen lassen.“

(Tommy Schmidle)
 

-~*~-
 

Ein Tag wie jeder…
 

Schon seit einigen Stunden suchten sich feine Sonnenstrahlen einen Weg durchs Fenster und vertrieben die Dunkelheit der lauen Spätsommernacht und später dann die Dämmerung, bahnten sich ihren langsamen, sanften Weg über eine weiche, orangebraune Bettrecke, glitten, kitzelten über braungebrannte Haut und durchtrainierte Arme, die, entspannt auf dem dünnen Stoff ruhend, leicht zuckten bei den warmen Berührungen und sich schlussendlich unter die Decke zurückzogen. Aber davon ließen sich die frechen Sonnenstrahlen nicht abschrecken, sondern wanderten weiter, über ein markantes Gesicht, dessen ernste Züge selbst jetzt im Schlaf nicht richtig entspannt waren, erforschten jeden Winkel davon und streichelten es mit ihrer Wärme.

Kurogane knurrte missmutig bei der allmorgendlichen Störung und rollte sich auf die Seite, stockte dann aber. Automatisch strichen seine Finger über die andere Seite des Bettes, konnten aber nicht finden, was er dort erwartet hatte. Keinen warmen, schlanken Körper, nicht einmal weiches Haar, das seine Hand umspielen konnte. Irritiert öffnete er seine rubinroten Augen. Die andere Seite des Bettes war leer...schon kalt.

„Oruha...?“ Schlaftrunken rappelte er sich auf und raufte sich durch sein schwarzes Haar. Von der schwarzhaarigen, hübschen Sängerin fehlte jede Spur. Kurogane seufzte. Wo steckte die denn nun schon wieder? Eigentlich war er es gewohnt, vor seiner Freundin aufzuwachen. Nur selten kam es vor, dass sie eher auf war als er und das Frühstück vorbereitete oder sonst etwas tat.

Seufzend hievte er sich aus dem Bett. Es war jetzt kurz nach 8:00 Uhr. Schon ungewöhnlich für Oruha, nach einer so langen Arbeitsnacht jetzt schon auf den Beinen zu sein. Aber na ja. Schweigend suchte der junge Mann sich seine Klamotten zusammen, allesamt schwarz, die er am Abend zuvor nach einem nervtötenden und viel zu späten Feierabend einfach gereizt im ganzen Schlafzimmer verteilt hatte, und zog sich an. Auf seinem Weg ins Bad wunderte er sich etwas, warum es so ruhig in der Wohnung war. Um diese Zeit herrschte hier eigentlich meist schon etwas mehr Lärm. Und überhaupt...es roch nicht nach Frühstück. Die Wohnung wirkte verwirrend leer. Aber Kurogane konnte sich nicht erklären warum. Also schob er den Gedanken beiseite. Hirngespinste! Im Bad spritze er sich halbherzig kaltes Wasser ins Gesicht, um etwas wacher zu werden, verschob aber den Rest der Morgenhygiene auf nach dem Essen. Erneut beschlich ihn jenes seltsame Gefühl der Einsamkeit und leicht irritiert ging Kurogane durch den Flur. Er wusste mit dieser Empfindung einfach nichts anzufangen.

Am fehlenden Geruch des Frühstücks änderte sich auch nichts, als der Schwarzhaarige endlich die Küche betrat. Hier offenbarte sich ihm auch der Grund dafür. Es stand schließlich auch nichts zu Essen auf dem Tisch. Nur ein kleiner, weißer Zettel zierte das dunkle Holz des Tisches. Eingehüllt von dem süßen, schweren Duft der Kirsche, Oruhas Lieblingsparfüm, dessen letzter Hauch noch immer geisterhaft in der Luft hing, nahm er das Schriftstück zur Hand.

Es waren nur zwei kleine Zeilen, geschrieben in der charakteristischen, fein geschwungenen Handschrift seiner Lebenspartnerin. Dennoch erstarrte er innerlich.
 

Kurogane,

es tut mir leid.
 

Nur das. Aber für Kurogane brach die Welt zusammen.

Es tat ihr Leid? Was sollte das heißen?

„Oruha? Lass die Witze, das ist nicht komisch!“ Suchend glitt sein Blick durch die große Küche, als hoffte er, die schwarzgelockte Frau würde lachend hereinkommen und ihm mit einem Kuss und einer Umarmung gestehen, dass alles nur ein kleiner Scherz war. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie solche Spielchen spielte. Aber in dem großen Drei-Zimmer-Apartment blieb es still.

Still...

Sekundenlang. Ruhe. Stille. Schweigen.

Und immer nur diese eine Frage, die dröhnend laut in seinem Kopf widerhallte. Warum? Warum hatte es dazu kommen müssen? Warum war sie gegangen? Warum hatte sie ihm nicht einmal einen Grund genannt? Warum, warum, warum? Und auf keine dieser Fragen wusste er eine Antwort.

Und es war auch niemand da, der ihm eine geben konnte.

Oruha war fort.

Noch einen Moment lauschte er in die Stille hinein, dann wurde sie durch den lauten Schrei eines Babys aus dem Nebenzimmer zerrissen.
 

TBC...
 

-~*~-
 

Na? Neugierig geworden? Wir hoffen es! Das erste Kapitel wird auch nicht so lange auf sich warten lassen. Versprochen!

Das halt' ich doch im Kopf nicht aus!

Wie versprochen kommt nun auch schon das erste Kapitel! Von jetzt an werden sie natürlich auch länger sein als der Prolog ^^. Und die Story geht richtig los.

Viel Spaß beim Lesen!
 

-~*~-
 

Disclaimer: Die Charas gehören (bis auf wenige Ausnahmen) nicht uns, sondern Clamp. Wir wollen kein Geld damit verdienen, sondern nur unterhalten.
 

Erstschreiber des Kapitels: Lady_Ocean

Kapitel: 1/26
 

-~*~-
 

„In den ersten Lebensjahren eines Kindes bringen ihm die Eltern Gehen und Sprechen bei, in den späteren verlangen sie dann, daß es stillsitzt und den Mund hält.“

(Johann Nepomuk Nestroy)
 

-~*~-
 

Das halt’ ich doch im Kopf nicht aus!
 

Grummelnd hob Kurogane den Kopf ein Stück und blinzelte seinen Funkwecker an. 8:43 Uhr. Normalerweise war er um diese Zeit längst munter und auf den Beinen, aber heute war nicht „normalerweise“, also konnte er es sich sicher auch gönnen, noch ein paar Minuten liegen zu bleiben.

„Papa, ich hab’ Hunger…“, versuchte eine schüchterne Kinderstimme, zu ihm durchzudringen.

„Kann das nicht noch zehn Minuten warten?“, kam es genervt zurück.

„Okay…“

Kurogane hörte, wie sich kleine Kinderfüße vorsichtig entfernten, eine Tür schloss sich fast geräuschlos und es war wieder ruhig in seinem Schlafzimmer.

Frühstück machen…auch das noch! Warum mussten Kinder überhaupt frühstücken? Er kam schließlich auch ohne aus. Zumal er im Moment nicht den geringsten Nerv dafür hatte! Er hatte ja nicht einmal genügend Elan zum Aufstehen. Die letzte Woche im Allgemeinen und das Wochenende im Besonderen hatten ihn völlig fertig gemacht. Erst der ganze Zirkus mit seiner Suspendierung, begleitet von Bergen an Schuldzuweisungen und Schimpftriaden Angehöriger, unzähligen, absolut nutzlosen Behördengängen, genauso sinnlosen Berichten, die er schreiben und scheinbar jedem einzelnen seiner Vorgesetzten doppelt in die Hand drücken durfte und so weiter, und so weiter. Danach der Stress mit Soma und der Kleinen. Kurogane, tu dies, Kurogane, mach das, Kurogane, lass das, Kurogane vorn, Kurogane hinten. Wer glaubte die, wer sie war? Seine Mutter? Dumme Ziege! Nur gut, dass er sie gestern endlich rausgeworfen hatte. Noch ein Tag mit ihr in einer Wohnung und er hätte nicht mehr dafür garantieren können, dass aus seiner Suspendierung nicht ein glatter Rausschmiss mit direktem Umzug ins Gefängnis geworden wäre.

Und die Kleine? Na gut, sie konnte ja nix dafür – schließlich war sie erst vier Jahre alt. Aber nervig war es trotzdem, wenn sie alle zehn Minuten angerannt kam und quengelte: „Papa, ich hab Hunger! Papa, ich hab Durst! Papa, mir ist langweilig!“ Die ganze Palette halt…was Kindern eben alles einfiel, um ihre Eltern zu ärgern.

„Papa…?“

DA! Da war es schon wieder!

„… Können wir jetzt bitte frühstücken? Ich hab sooooo großen Hunger!“, fragte die zarte, schüchterne Stimme erneut.

Innerlich verleierte Kurogane die Augen.

„Na meinetwegen! Wenn es unbedingt sein muss“, brummte er und kraxelte schließlich schwerfällig aus dem Bett.

Dann gab sie wenigstens Ruhe…
 

Das Frühstück verlief eigentlich ganz gut. Besser als erwartet zumindest. Zuerst hatte Kurogane seiner Tochter ein paar Weißbrotscheiben in den Toaster geworfen und ihr ein paar Gläser Marmelade und Butter an den Tisch gestellt. Schmieren konnte sie ihre Brote zum Glück schon selbst. Wenigstens zu etwas war Soma nützlich gewesen…

Anschließend hatte er sich um seinen obligatorischen Kaffee gekümmert. Danach sah die Welt schon ein kleines Stück besser aus. Das Kind aß schweigend, er trank schweigend und konnte so wieder seinen Gedanken nachgehen: Was fing er jetzt eigentlich mit so viel ungewollter Freizeit an? Seit Jahren hatte er nur für seinen Beruf gelebt. Das bisschen Zeit, das er nicht mit seinen Kollegen oder auf Dienstreisen verbracht hatte, hat meist nur noch zum Waschen und Schlafen gereicht. Er hatte sich so daran gewöhnt, dass er sich einen anderen Alltag inzwischen gar nicht mehr vorstellen konnte. Wenn er seine Tochter jetzt so ansah, kam es ihm fast vor, als würde er sie gar nicht kennen, obwohl sie nun schon seit vier Jahren Bestandteil seines Lebens war. Na ja, zumindest Bestandteil seiner Wohnung. Er wusste, dass er nicht die Zeit hatte, sich um ein Kleinkind zu kümmern, also hatte er, kurz nachdem seine Ex ihn verlassen hatte, einen Babysitter engagiert, der sich dann um das Mädchen gekümmert hatte. Dieser Babysitter war Soma gewesen. Fast vier Jahre lang. Das war soweit auch ganz gut gegangen, weil sie sich nur selten über den Weg gelaufen waren. Damals war sie leider die Einzige gewesen, die in seiner Gegend für den Job infrage gekommen war, deshalb hatte er keine große Wahl gehabt, obwohl sie sich von Anfang an nicht richtig hatten leiden können. Für Kuroganes Geschmack war Soma viel zu pingelig. Dauernd musste sie an allem herumkritisieren, was irgendwer tat oder sagte. Und umgekehrt führte Kurogane für Somas Verhältnisse ein viel zu lockeres und ungeordnetes Leben. Doch um seine Tochter hatte sie sich immer gut gekümmert und ihr einiges beigebracht. Deshalb hatte er es schließlich bei der bestehenden Situation belassen – bis gestern. Denn zwei volle Tage zusammen mit ihr unter einem Haus hatten ihm vollends den Rest gegeben. Solange er hier war, durfte sie keinen Fuß mehr in seine Wohnung setzen, so viel stand fest!

„Papa, spielst du irgendwas mit mir?“

SPIELEN? Er musste sich verhört haben! Er spielte doch nicht, selbst wenn es bloß mit einem Kind war.

„Du hast doch einen Haufen Spielsachen, mit denen man sich allein beschäftigen kann! Wozu brauchst du mich da?“

„Zusammen zu spielen, macht doch viel mehr Spaß! Außerdem habe ich noch nie so richtig mit dir gespielt, Papa.“

‚Und das sicher nicht ohne Grund!’ … Nun, die Bemerkung verkniff er sich jetzt besser.

„Ich möchte jetzt aber nicht spielen. Papa ist ziemlich fertig, verstehst du das?“

„Bist du krank?“

„Nein, einfach nur kaputt. Und müde. Also lass mich einfach ein bisschen in Ruhe, dann wird es mir schon besser gehen.“

„Okay.“

Sie kletterte vom Stuhl und war bereits auf dem Weg in ihr Zimmer, als Kurogane noch etwas einfiel: „Und spiel bitte irgendwas, was leise ist! Sonst bekomme ich Kopfschmerzen!“

„Was soll ich denn spielen?“, fragte sie zurück.

„Was weiß ich. Mal’ ein Bild oder so. Hauptsache, es macht keinen Krach.“

„Gut, dann male ich etwas“, willigte sie ein und verschwand.

‚Wenigstens ist sie pflegeleicht’, dachte Kurogane sich, während er den letzten Rest seines Kaffees trank und den Tisch abräumte. ‚Sie diskutiert nicht groß rum, wenn man ihr etwas sagt.’
 

Die Ruhe währte jedoch nicht lange. Für Kuroganes Geschmack jedenfalls nicht lange genug. Nachdem er es sich schließlich vor dem Fernseher gemütlich gemacht hatte und gelangweilt durch die Kanäle zappte, weil nirgends etwas Interessantes lief, kam seine Tochter wieder ins Wohnzimmer, wollte ihm unbedingt zeigen, was sie Tolles gemalt hatte. Mit einem leisen Seufzer nahm er ihr das Bild aus der Hand und brauchte erst einmal ein Weilchen, um das Gewirr von Strichen als einen Menschen identifizieren zu können. Es schien eine Frau zu sein, mit dunkler Hautfarbe und schulterlangem, schwarzen Haar. Kuroganes Augenbrauen zogen sich ungläubig zusammen.

„Du hast doch nicht ernsthaft Soma gemalt?“

„Doch, warum nicht?“, kam die verwunderte Entgegnung.

„Weil Soma eine fürchterliche Furie ist! Wie kann man sie da malen wollen?“

„Soma ist keine Furie! Sie ist sehr lieb! Sie hat immer mit mir gespielt, mir Geschichten vorgelesen und leckeres Essen gemacht. Und wir waren zusammen im Zoo und im Park und-“

„Ja, ja! Ist ja schon gut!“, unterbrach Kurogane sie barsch. Diese Lobpreisungen gingen ihm furchtbar auf die Nerven. „Dann ist sie halt eine hinterlistige Schlange, die sich bei dir eingeschleimt hat und mich immer nur fertig machen wollte!“

„Soma ist nicht hinterlistig!“ Langsam nahm die Stimme des Kindes einen weinerlichen Zug an. „Warum sagst du so gemeine Sachen?“

„Weil sie der Wahrheit entsprechen! Und ich bin heilfroh, dass sie jetzt endlich weg ist.“

Jetzt war es endgültig um das Kind geschehen. Mit tränenverschleierten Augen drehte sie sich um und rannte in ihr Zimmer zurück, schloss mit einem letzten „Du bist böse, Papa!“ geräuschvoll die Tür.

Kurogane schnaubte verächtlich. Wenn er Soma das nächste Mal in die Finger bekam, konnte sie was erleben! Ihre Tochter so um den Finger zu wickeln und ihn am laufenden Band zu gängeln! Das war ja wohl die Höhe.

Frustriert nahm er sich irgendeine DVD aus dem Schrank und schob sie in den Player. Das Fernsehprogramm konnte man auch in die Tonne kloppen. Obwohl er sich bei dem Film auch nicht so recht entspannen konnte. Er war einfach zu angespannt und die Sache gerade eben hatte das nicht unbedingt zum Besseren gewendet. Außerdem stellte er schnell fest, dass er sich wohl den falschen Film ausgesucht hatte. Die Schlägereien und Schießereien in dem Film gingen ihm irgendwie ziemlich an die Nieren. Was war bloß los mit ihm? Er war doch sonst nicht so empfindlich. Irritiert schaltete er Fernseher und DVD-Player wieder aus, stellte das Radio an und ließ sich ein wenig von der Musik berieseln.
 

„Papa, ich habe Hunger…“, vernahm er nach einer Weile wieder die Stimme seiner Tochter. Diesmal klang sie allerdings ein wenig gepresst. Anscheinend war sie noch sauer auf ihn wegen seines Kommentars über Soma. Na ja…das konnte er ignorieren.

Und mit dem Essen…? Nun gut, so langsam konnte er schließlich auch etwas vertragen, also stand er auf, ging in die Küche und durchstöberte die Schränke nach irgendwelchen Fertiggerichten. Er entschied sich für zwei Dosen Chili Con Carne, beförderte ihren Inhalt in einen Topf und gab während des Erhitzens noch einen Schwung Chili und Pfeffer hinzu. Das Zeug war nie so scharf, wie es sein sollte.

Als das Essen schließlich angerichtet war, beäugte das kleine Mädchen ihren Teller schließlich misstrauisch.

„Es beißt nicht. Und wenn du ein bisschen pustest, kannst du es sogar essen“, war Kuroganes trockener Kommentar.

„Was ist das?“ Sie zeigte auf ein ca. zwei Zentimeter langes, nierenförmiges Gebilde, das es in diesem Essen massenhaft zu geben schien.

„’ne Bohne“, war die einsilbige Antwort, bevor der hochgewachsene Mann sich wieder seinem Teller widmete.

Vorsichtig nahm die Kleine das ihr unbekannte Lebensmittel auf die Löffelspitze, pustete ein bisschen und kostete davon, bloß um gleich darauf mit tränenden Augen zum Mülleimer zu laufen und es wieder auszuspucken.

„Das ist scharf!“, beschwerte sie sich.

„Hab dich nicht so! Es wird gegessen, was auf den Teller kommt“, maulte Kurogane zurück.

„Aber das brennt wie Feuer“, protestierte sie.

„Übertreib mal nicht! Ich esse dasselbe wie du und mich stört das nicht. Wenn du nicht essen willst, musst du eben hungern!“ Das war Kuroganes patzig herausgebrachtes Schlusswort.

Jetzt fing das Mädchen richtig an zu weinen. Mit Schreikrampf und allem, was dazu gehörte. Der Alptraum eines jeden überforderten, allein erziehenden Vaters.

„Du bist böse, Papa! Ich hab dich überhaupt nicht lieb! Ich will wieder zu Soma!“

„Undankbare Zicke! Da steh ich deinetwegen auf, dass du frühstücken kannst! Koche extra was Warmes zum Mittag und verlange ansonsten nichts weiter, als dass du mich einfach mal in Ruhe lässt, und was bekommt man zum Dank?“

„Somas Essen hat viel besser geschmeckt! Und sie hat sogar mit mir gespielt, wenn es ihr mal nicht gut ging! Du schickst mich immer bloß weg! Du magst mich überhaupt nicht!“

Und mit einem weiteren lauten Aufschrei hatte sie ihm ihren Teddy an den Kopf geworfen, den sie die ganze Zeit über fest an sich gedrückt hatte.

„JETZT REICHT’S! DAS GIBT ÄRGER!!!“

Mit einem Ruck war Kurogane aufgesprungen, sodass der Stuhl lautstark nach hinten kippte, und stapfte mit schweren Schritten Richtung Wohnzimmer, in das seine Tochter gerade flüchtete, als man draußen das Klacken einer Tür vernehmen konnte.

„Meine Güte, was ist denn hier los?“, fragte die junge Frau erschrocken, die soeben die Szene betreten hatte. Das kleine Mädchen erkannte die Stimme sofort und lief ihr weinend in die Arme.

„SOMAAAAA~!“

„Mein Gott, Kurogane, was hast du mit dem armen Kind gemacht?!“, wütete sie fassungslos, als sie das zitternde Bündel fester in ihre Arme zog.

„Sie wirft mir einfach ihre Spielsachen an den Kopf!“, donnerte er. „Und du hast hier überhaupt nichts mehr verloren!“

„Anscheinend doch, wenn ich das so sehe. So kannst du doch mit Tomo-chan nicht umgehen! Und mit Sicherheit warst du furchtbar gemein zu ihr, wenn sie mit irgendwas nach dir wirft.“

„Schreib du mir nicht vor, wie ich meine Tochter zu erziehen habe!“

„Du hast doch überhaupt keine Ahnung, wie man Kinder erzieht! Das habe ich doch die letzten vier Jahre für dich getan!“

„Deswegen bist du noch lange nicht ihre Mutter!“

„Na ein Glück! Sonst müsste ich es ja tagtäglich mit dir aushalten!“

„JETZT REICHT’S ABER! VERSCHWINDE ENDLICH AUS MEINEM HAUS!“, brüllte er weiter, weil ihm gerade keine schlagfertige Erwiderung einfiel.

„Und“, fügte er hinzu, weil ihm soeben klar geworden war, wie Soma hier hatte reinkommen können, „lass gefälligst meinen Schlüssel da!“

„Und was willst du dann machen, wenn ich nicht mehr da bin, um auf die Kleine aufzupassen?“

„Die geht in den Kindergarten, das ist ja wohl klar!“

In Tomoyos Ohren klang das wie das Jüngste Gericht. Sofort begann sie wieder, in einer ohrenbetäubenden Lautstärke zu plärren und sich an Soma festzuklammern.

„Ich will aber nicht in den Kindergarten!“, weinte sie herzzerreißend.

„Hab keine Angst!“, versuchte Soma, das kleine Kind zu trösten. „Im Kindergarten ist es schön. Da sind andere Kinder, die genauso alt sind wie du. Mit denen kannst du den ganzen Tag spielen. Und die Erzieher sind immer nett zu den Kindern.“

Der freundliche, beinahe fröhliche Klang ihrer Stimme schien Tomoyo ungemein zu beruhigen.

„Wirklich?“, fragte sie noch einmal unsicher nach.

„Wirklich!“, versicherte Soma mit einem Lächeln.
 

Wenig später waren sie zu dritt unterwegs – Kurogane mit einigem Abstand links von Soma, Tomoyo ganz nah rechts bei ihr. Neben ihrem Vater wollte sie nicht laufen.

„Das mit dem Kindergarten ist die erste gute Idee, die ich je von dir gehört habe, Kurogane“, äußerte die braun gebrannte Frau nach einer Weile zynisch.

„Das kommt davon, weil du mir nie zuhörst“, erwiderte dieser trocken. Das Laufen an der frischen Luft tat ihm gut. Es linderte sein erhitztes Gemüt ein wenig – ein WENIG! Denn leider dauerte die Ruhe nicht lange genug, damit es sich gänzlich beruhigen konnte. Sie waren noch nicht einmal ganz am Kindergarten angekommen – bogen gerade um die letzte Ecke, als irgendein blonder Trottel, der, mit einem Haufen Krimskrams beladen und sich damit selbst die Sicht versperrend, von der anderen Seite kam und natürlich prompt in seine Tochter hineinlief, sie zu Boden beförderte und unter dem Tütenhaufen begrub, den er gerade bei sich getragen hatte.

„Hoppla! Das tut mir aber Leid, junges Fräulein!“, entschuldigte sich der Blondschopf grinsend und bückte sich schnell, um das Mädchen unter den Tüten auszugraben und ihm wieder auf die Beine zu helfen. Von diesem Schreck noch ganz eingeschüchtert, fing sie natürlich sofort an zu weinen, als der junge Mann ihre Hand berührte und sie hochziehen wollte.

„Kannst du nicht aufpassen, du dämlicher Affe?! Weißt du, wie sehr du das Kind erschreckt hast?“, blaffte Kurogane den Fremden an. Dass dieser Kerl seine Tochter zum Weinen gebracht hatte, ließ ihn ganz vergessen, dass er bis eben selbst noch sauer auf sie gewesen war.

„Es tut mir wirklich Leid! Ich hätte besser aufpassen sollen“, antwortete er ruhig und mit einer leichten Verbeugung in Kuroganes Richtung, dann wandte er sich wieder an Tomoyo und kramte etwas in seiner Tasche herum, bis er einen Lutscher daraus hervorzog. „Hier. Als kleine Entschuldigung“, bot er ihn dem Mädchen an. Kurogane wollte bereits den Mund öffnen, um ihr zu sagen, dass sie von Fremden nichts annehmen durfte, als ihr Tränenfluss versiegte und sie, nun nur noch ein wenig schluchzend, mit einem schnellen Nicken den Lutscher annahm. Er beschloss, ihr das mit den fremden Leuten und den Geschenken später zu erklären und es für jetzt dabei zu belassen. Immerhin hatte das Mädchen aufgehört zu weinen. Und er war ja in der Nähe.

„Na siehst du“, meinte der junge Mann strahlend und streichelte ihr sanft übers Haar. „Du bist doch ein ganz tapferes Mädchen! Und wenn du nicht weinst, siehst du richtig niedlich aus! Würdest du auch mal für mich lachen?“

Doch die letzten Worte verunsicherten Tomoyo nur wieder und sie drückte sich etwas näher an Soma heran.

„Hey, wenn du irgendwas von meiner Tochter willst, dann bist du fällig!“, drohte Kurogane ob dieser neuerlichen Entwicklung gefährlich.

„Keine Sorge! Ich wollte mich nur für meine Unachtsamkeit entschuldigen. Ich hätte ja nicht gedacht, dass die Kleine so schüchtern ist“, winkte er ab und machte sich daran, seine Sachen wieder aufzusammeln. Kurogane setzte sich wieder in Bewegung, was der Blonde Schlacks aus den Augenwinkeln heraus registrierte.

„Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!“

„Hm“, brummte Kurogane nur zurück. Soma verabschiedete sich höflich und Tomoyo brachte zumindest noch ein schüchternes Nicken zustande, dann setzten sie ihren Weg fort.
 

Wenige Minuten später klopfte der Schwarzhaarige an die Tür des Zimmers, neben dem das Schild „Sekretariat. Yuuko Ichihara“ angebracht war. Eine sachliche Frauenstimme bat herein.

Die Frau, die hinter dem Schreibtisch saß, hatte feine, fuchsartige Züge, undurchdringliche, ein wenig spöttisch blickende Augen und trug ein dezentes Make-up. Ihre langen, glatten, schwarzen Haare umschmiegten ihre Schultern wie Seide.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“, erkundigte Yuuko sich nach ihrem Anliegen.

„Ich brauche einen Kindergartenplatz für meine Tochter“, erwiderte Kurogane.

„Ah, ja. Und wer sind Sie?“

„Kurogane Sugawara. Und das ist Tomoyo“, mit diesen Worten schob er sie sanft ein Stück vor. Inzwischen wich sie ihm nicht mehr aus, wenn er in ihre Nähe kam. Anscheinend hatte der Schreck von gerade eben auch sie vergessen lassen, dass sie vorhin noch gestritten hatten und dass dieser Streit der Auslöser dafür gewesen war, dass sie jetzt überhaupt hier waren.

„Du bist Tomoyo-chan, ja? Ein hübscher Name“, kommentierte die Frau.

„Dankeschön, Ichihara-san“, antwortete das Mädchen kleinlaut.

„Du kannst ruhig ‚Yuuko’ sagen“, kommentierte sie mit einem Lächeln.

„Nun…“ Sie wandte sich wieder Kurogane zu. „Wohnen Sie in dieser Gegend? Der Kindergarten hat einen Zuständigkeitsradius von ungefähr einem Kilometer. Wenn Sie außerhalb dieser Entfernung wohnen, ist ein anderer Kindergarten für Ihre Tochter zuständig“, erklärte sie.

„Ich wohne im Parkviertel“, war die knappe Antwort.

„Nun…das ist zwar schon recht weit weg, gehört aber zu uns. Also gut. Füllen Sie bitte diese Papiere aus.“

Damit händigte sie ihm ein zweiseitiges Formular aus, in das Kurogane seine genaue Adresse, Telefonnummern, Zahlungsdetails und all die anderen üblichen Sachen, die bei solchen Anmeldungen immer verlangt wurden, eintrug. Die Sekretärin überflog die Eintragungen kurz, bemerkte, dass alles korrekt ausgefüllt wurde, und legte den Antrag dann neben ihren Computer.

„Gut, dann hätten wir das also. Die Gebühren für unsere Kindergartenplätze sind nicht allzu hoch. Dafür gibt es aber Bedingungen, die Sie einhalten müssen, wenn Ihr Kind bei uns aufgenommen werden soll.“

„Was für Bedingungen?“, fragte Kurogane misstrauisch. Das klang ihm viel zu suspekt. Und dieses überlegene Lächeln, das plötzlich Yuukos Lippen umspielte, gefiel ihm gleich gar nicht.

„Erstens: Sie müssen Ihr Kind jeden Tag selbst bringen und wieder abholen.“

Na gut, das ging ja noch. Also willigte Kurogane ein. Doch misstrauisch war er allemal. Wenn es ein „erstens“ gab, dann gab es auch weitere Punkte. Und plötzlich wurde der Gesichtsausdruck der Frau todernst.

„Zweitens: Sie verbringen einen Tag pro Woche mit Ihrer Tochter im Kindergarten. Welcher Tag das sein soll, ist Ihnen überlassen.“

„WAS?!“, platzte der Schwarzhaarige geschockt heraus. „Das ist doch nicht Ihr Ernst!“

Doch die Mimik der Sekretärin veränderte sich kein Stück. Es war ihr voller Ernst.

‚Die muss verrückt sein’, dachte Kurogane sich und schüttelte mental den Kopf.

„Das ist mein voller Ernst. Mir scheint, Ihnen fehlt ein wenig der Umgang mit Ihrem Kind. Sie wirken recht distanziert. Und mein Kindergarten soll nicht bloß als Ort herhalten müssen, an den Sie das arme Mädchen abschieben können. Sie sollen lernen, das Kind zu verstehen. Entweder Sie sind damit einverstanden oder ich kann Ihre Tochter nicht aufnehmen. Aber bedenken Sie dabei bitte, dass nur dieser Kindergarten für Ihr Gebiet zuständig ist. Woanders würde man Ihnen sicher nicht einmal die Aufnahmeformulare aushändigen. Also – wie lautet Ihre Antwort?“
 

TBC...
 

-~*~-
 

Und das war es auch schon wieder ^^.

Ich hoffe, ihr werdet nun nicht genervt aufstöhnen, wenn ich jetzt sage, dass das nächste Kapitel erst in einem Monat kommt. Klayr und ich werden von nun an generell monatlich einmal uploaden. Das hat den ganz einfachen Hintergrund, dass ich mit dem Studium extrem beschäftigt bin (wer KnU liest, kennt das von mir schon) und Klayr ebenfalls nicht Zeit im Überfluss hat. Sprich: Es dauert einfach lange, die Kapitel zu schreiben und wenn wir jetzt Schlag auf Schlag hochladen würden, dürftet ihr schon sehr bald auf dem Trockenen sitzen und MONATE, vielleicht sogar bis zu 'nem halben Jahr, warten, bis wieder was kommt. Und das wollen wir euch auch nicht antun.
 

Ich möchte an der Stelle auch noch einmal auf die ENS-Liste aufmerksam machen. Animexx ist inzwischen zwar auch so gut, dass es Bescheid gibt, wenn ein neues Kapitel draußen ist, aber wer möchte, dem sagen wir gern auch noch persönlich Bescheid. Macht sich ja vor allem dann gut, wenn irgendwer nicht täglich online ist und dann den Upload evtl. verpasst.
 

Bis zum nächsten Mal in einem Monat!
 

Lady_Ocean und Klayr_de_Gall

Katastrophen fangen klein an

Da ich ja heute Nacht nach Berlin und von dort aus nach Japan aufbreche, lade ich das neue Kapitel lieber jetzt schon hoch. Bevor es am Ende mit dem Internet größere Probleme gibt als erwartet und ihr noch länger warten müsst. Ein bisschen zu früh ist schließlich nicht so schlimm wie ein bisschen zu spät, oder ^^?
 

Vielen Dank übrigens auch an die vielen fleißigen Kommischreiber, die u-~~ns bisher Feedback gegeben haben! Klayrie und ich sind ganz aus dem Häuschen :D!
 

Viel Spaß beim Lesen!
 

-~*~-
 

Disclaimer: Die Charas gehören (bis auf wenige Ausnahmen) nicht uns, sondern Clamp. Wir wollen kein Geld damit verdienen, sondern nur unterhalten.
 

Erstschreiber des Kapitels: Klayr_de_Gall

Kapitel: 2/26
 

-~*~-
 

„Die Katastrophen warten auf uns und wir bewegen uns auf sie zu.“

(Walter Ludin)
 

-~*~-
 

Katastrophen fangen klein an
 

„Papa, ich mag keine Salami!“

„Kurogane, was glaubst du, wie alt deine Tochter ist? Du kannst ihr doch nicht so scharfes Zeug aufs Brot machen!"

„WIESO zum Teufel muss ICH eigentlich das Frühstück machen?!“

Das noch ungeordnete morgendliche Chaos im Hause Sugawara nahm seinen lautstarken Verlauf. Während ein total überforderter und vor allem genervter Vater versuchte, den Wünschen seiner nörgelnden Tochter gerecht Frühstücksbrote zu schmieren, sparte seine selbsternannte und eigentlich schon gefeuerte Haushälterin und Babysitterin nicht daran, ihn mit ihren Ratschlägen in den Wahnsinn zu treiben. Das war gerade mal der erste Tag, an dem Tomoyo in den Kindergarten gehen sollte, und Kurogane war schon fix und fertig, bevor er überhaupt richtig begonnen hatte.

„Schneid die Gurke doch ordentlich klein, sie ist erst vier!“

Schon wieder begann Soma zu nörgeln und prompt giftete der Schwarzhaarige zurück: „Wenn du’s doch so viel besser weißt, dann mach’s gefälligst auch selber! Wieso muss ich das überhaut machen?!“

„Weil du mich rausgeworfen hast und ich nicht jeden Morgen Zeit habe, deiner Tochter das Frühstücksbrot zu schmieren. Ich erwarte schon nicht viel von dir, aber das wirst du ja wohl können.“ Das wurde ja immer besser! Jetzt warf ihm diese dumme Ziege schon beinah geradlinige Beleidigungen an den Kopf. Kurogane musste wirklich an sich halten, um nicht ausfallend zu werden, immerhin war ein Kleinkind im Raum. Stattdessen spießte er die dunkelhäutige Frau geradezu mit Blicken auf, wandte sich dann schweigend wieder der Arbeitsplatte zu. Warum musste auch so eine Kunst daraus gemacht werden, eine Scheibe Brot zu schmieren? Wieso mussten Kinder überhaupt etwas zu Essen am Morgen haben?

Tomoyo indes saß am Küchentisch und löffelte andächtig Cornflakes. Ohne Soma hätte das Mädchen heute früh wohl am Hungertuch genagt. Diese hatte vorsorglich eine Packung gezuckerter Getreideflocken besorgt. Denn ihrem Vater schien man im Moment nicht zwei Dinge auf einmal abverlangen zu können. Erst recht nicht, dass er sich um ihre morgendliche Verpflegung kümmern und zugleich ihre Brotbüchse bestücken sollte. Mit scheuem Interesse beobachtete die Vierjährige den gereizten Mann, der schon in die Luft ging, wenn Soma auch nur in seine Richtung sah, geschweige denn den Mund auf machte.

Nachdem sich die Hektik ein wenig gelegt hatte, herrschte in der großen Küche erst einmal angespanntes Schweigen, lediglich durchbrochen von Tomoyos leisen Essgeräuschen und dem missmutigen Gegrummel ihres Vaters.

Als erstes würde er der Kleinen beibringen, sich selbst ihre Brotbüchse zu machen! Das konnte doch nicht angehen, dass ER sich damit abplagen musste. Nicht nur, dass er in den wenigen Tagen, die er jetzt schon zwangsweise im „Urlaub“ war, jeden Morgen aufstehen musste, um dem Kind das Essen auf den Tisch zu stellen. Nein, jetzt musste er auch NOCH früher raus und ihr die Schnitten schmieren! Und das, wo er es so verabscheute zu frühstücken! So was war doch gar nicht nötig und abgesehen davon verschwendete es Zeit! Was wollte er eigentlich mit diesem halben Zwerg? Er war an Kinder nicht gewöhnt, konnte nicht mit ihnen umgehen und außerdem-

„Papa?“

Aus seinen missmutigen Gedanken gerissen, blickte Kurogane auf – oder besser nach unten. Tomoyo reichte ihm gerade mal bis zum Gürtel; ob das nun daran lag, dass er besonders groß oder sie zu klein war, wusste er nicht. Vielleicht waren Kinder mit vier Jahren auch einfach nicht größer...?

Mit einem schüchternen Lächeln sah sie treu zu ihm auf und hielt ihm recht eindeutig die Schüssel hin.

„Was ist?“

„Darf ich noch Nachschlag haben?“

Kurogane seufzte und nahm ihr die quietschgelbe Schüssel ab, die von roten Gänseblümchen geziert wurde. Dass es so etwas Buntes und ausgesprochen Geschmackloses überhaupt in seinem Haushalt gab, grenzte schon geradezu an ein Wunder, aber dass er es auch noch freiwillig in die Hand nahm, war ein Paradoxon schlechthin. Kurogane - fast - immer in schwarz gekleidet, mit einer quirligbunten Cornflakesschüssel. Modisch schick! Ganz toll...

„Wie viel soll es denn sein, Kleines?“

Das schwarzhaarige Mädchen sah sich vergnüglich um und flitzte dann zum Tisch, mühte sich vergebens, einen der schweren Stühle zur Anrichte zu ziehen. Ihr Vater beobachtete sie stirnrunzelnd. Soma, die bis eben noch mit dem Abwasch beschäftigt gewesen war, nur ab und an zu den beiden herübergesehen hatte, räusperte sich leise. Nachdem sie Kuroganes Aufmerksamkeit - wohlgemerkt schon wieder gereizt in Erwartung irgendwelcher Zurechtweisungen - erlangt hatte, deutete sie ihm gestenreich, dass das Kind nach einem Weg suchte, nach oben zu gelangen, um ihm zusehen zu können. Mit Zeichensprache kannte sich der schwarzhaarige Mann aus und verstand daher auch, was der Störenfried wollte.

Tomoyo verzweifelte mittlerweile daran, den Stuhl zu schieben und würde ihn wohl eher zum Umkippen bringen als irgendwo anders hin. Viel zu beschäftigt, um auf ihrem Vater zu achten, quietschte sie überrascht auf, als dieser plötzlich seinen Arm um ihre Taille schlang und sie hochhob. Das kleine Mädchen war so perplex, dass sie immer noch nicht hatte reagieren können, als er sie auch schon auf der Anrichte absetzte.

Mit riesigen, dunklen Augen starrte die Tochter ihren Vater an. Sie schien gar nicht richtig fassen zu können, was dieser hier gerade gemacht hatte. Ihr Vater hatte sie doch noch niemals hochgehoben...!

Kurz erwiderte Kurogane den Blick, bevor er seufzte und sich wieder dem Schnittenschmieren zuwandte. Er konnte mit Tomoyos plötzlicher Verschrecktheit nicht viel anfangen. Schließlich hatte er nichts falsch gemacht, sondern sie nur hochgenommen, und dann noch nicht mal für besonders lange. Unwahrscheinlich, dass er ihr wehgetan hatte, oder? Nein, entschied er. Denn dann hätte das Mädchen erstens angefangen zu weinen oder gar zu heulen wie ein Schlosshund, und davon hatte er gestern wirklich genug gehabt, und zweitens hätte ihn Soma, die noch immer mit Argusaugen über das Miteinader von Vater und Tochter wachte, bei dem kleinsten Anzeichen dafür, dass er der Kleinen Schaden zugefügt hatte, rund gemacht.

Da Kurogane nun wirklich nicht wusste, was er schon wieder falsch gemacht hatte, lenkte er seine Aufmerksamkeit wieder auf etwas anderes, um sich abzulenken. Probleme, für die es keine Lösung gab, wurden nach Möglichkeit ignoriert. Und Kinder waren solche Probleme.

Allerdings blieb er nicht lange ungestört.

„Papa...?“ Eine kleine Kinderhand zupfte ihm schüchtern am Ärmel. Dann schob sie ihm ihre Schüssel hin.

„Ich sag’ stopp.“

Erwartungsvoll blickte das kleine Kind erst zu ihm und dann zur Flakespackung. Eine deutliche Ansage und mit einem schwachen Lächeln nahm Kurogane die Verpackung und schüttete etwas von ihrem Inhalt in die bunte Schale. Als er stoppte, schüttelte seine Tochter aber fröhlich den Kopf und ergeben wurden noch mehr gezuckerte Flocken klimpernd aus dem Pappkarton in das Gefäß geschüttet. Erst als dieses so gut wie voll war, verkündete Tomoyo fröhlich: „Sto-hopp!!“

Zweifelnd sah der durchtrainierte Mann auf den Flakesberg. Mal abgesehen davon, dass dieses Zeug auf keinen Fall schmecken konnte, dazu war viel zu viel Zucker drin, war es sicher auch nicht unbedingt gesund. Vor allem nicht in so rauen Massen.

„Meinst du denn, dass du das schaffst?“

„Klar! Ich bin doch schon soooo groß!“

Dabei wies das kleine Mädchen triumphierend ihre Größe aus und strahlte ihren Vater an. Für sie schien es wirklich etwas Tolles zu sein, ihrem Paps gerade mal bis zur Gürtelschnalle zu reichen. Es kam wohl alles auf die Perspektive an...

„Na von mir aus. Aber ich will nachher nichts hören von wegen: ‚Papa, ich habe Bauchschmerzen’ oder ‚Mir ist schlecht’ oder so was, verstanden?“

„U-hum!“

Mit dem Löffel im Mund und Beine baumelnd auf der Anrichte sitzend, blinkerte sie ihn an, dann widmete sie sich mit kindlicher Begeisterung der zweiten Portion ihres Frühstücks.
 

Zwanzig Minuten später waren sie zusammen unterwegs zum Kindergarten. Da der Weg nicht allzu weit war und er außerdem durch einen großen Park führte, hatte Kurogane kurzerhand entschlossen, dass zu Fuß gegangen wurde. Seine Tochter war zum Glück viel zu aufgeregt wegen dem, was sie am Tag wohl Neues erwarten würde, um herumzunörgeln, und lief neben ihm her.

Umso besser! Kuroganes Laune war seit dem recht versöhnlichen zweiten Teil des Frühstücks wieder erheblich gesunken, denn er hatte ganz schön mit Soma herumstreiten müssen, weil er sie perdu nicht als Begleiterin in den Kindergarten dabei haben wollte. Abgesehen davon sank seine Laune mit jedem Schritt in Richtung dieser Einrichtung etwas mehr. Wenn er nur daran DACHTE, was diese...diese Person...genau, diese Hexe ihm gestern abverlangt hatte?! Die war doch nicht mehr ganz dicht! Einmal die Woche einen Vormittag im Kindergarten verbringen? Mit den ganzen nervigen Plagen? Für wen hielt die sich, und noch wichtiger, für wen hielt sie bitte ihn?! Er war doch kein Kindergärtner!

Aber diese dreiste Frau hatte ihm einfach keine andere Wahl gelassen, praktisch das Messer an die Brust gesetzt. So war ihm schließlich auch nichts anderes übrig geblieben. Und anschließend war gleich noch ein Tag ausgemacht worden. Freitag. Dem Schwarzhaarigen wäre es ziemlich egal gewesen, hatte er doch die ganze Woche nichts zu tun, aber er würde einen Teufel tun, dieser Ziege das zu erzählen; wer wusste schon, auf was für Ideen die dann am Ende noch kam.

„Schau, Papa! Da ist der Kindergarten!“

„Seh’ ich doch, bin schließlich nicht blind“, war die patzige Antwort auf die schüchterne Begeisterung der Vierjährigen. Verunsichert blickte Tomoyo zu ihrem Vater hinauf. Sie wusste seine Launen anscheinend nicht einzuschätzen, aber sie war ja auch erst vier.

Der Kindergarten, der nun in ihre Sichtweite gekommen war, sah aus wie...nun, wie ein Kindergarten eben. Ein kleines, recht heimelig anmutendes Gebäude, bunt getünchte Wände, bemalt mit irgendwelchen Figuren und Sachen, umgeben von einem großen Garten, in dem verschiedene Klettergerüste, Schaukeln, Wippen und ein Sandkasten zum Spielen einluden. Wirklich genau das, was man erwartete.

Mit leicht gerunzelter Stirn, weil er sich mit so viel, zu viel Bunt konfrontiert sah, öffnete Kurogane das gusseiserne, blau gestrichene Tor und schob seine Tochter vor sich her auf das Grundstück. Diese blickte sich zwar neugierig um, schien aber bei den vielen neuen Sachen doch etwas Angst zu bekommen und verschwand postwendend hinter den Beines ihres Vaters, hielt sich mit ihren zierlichen Fingern schüchtern am Stoff seiner schwarzen Jeans fest.

‚So was Schüchternes... Wahrscheinlich ist es sogar gut für die Kleine, mal unter Gleichaltrige zu kommen’, dachte Kurogane sich, während er das Mädchen in Richtung Eingangstür dirigierte.

„Papa...?“

Gerade als er die Hand nach der Türklinke ausstrecken wollte, bat die zarte, helle Stimme um seine Aufmerksamkeit.

„Was denn?“

„Du...? Ist es schlimm im Kindergarten?“

„Hä?“

Hatte sie ihn gerade echt gefragt, ob es im Kindergarten schlimm war? Jetzt ganz im Ernst? Für einen leicht reizbaren Erwachsenen wie ihn vielleicht, aber bestimmt nicht für ein Kleinkind! Doch die Kleine sah so naiv und treuherzig zu ihm auf, dass er nicht anders konnte, als zu grinsen.

„Klar, Kindergärten sind die Katastrophe schlechthin! Hat Soma dir nie Märchen vorgelesen? In Kindergärten hausen die bösen Hexen, die dich im Ganzen fressen wollen, und den bösen Wolf haben sie sicher auch in irgendeinem Zimmer versteckt.“

„Papaaaa~...!“

Tomoyo rüttelte quengelig an seinen Beinen und brachte ihren Vater damit nur noch mehr zum Grinsen. Ganz ernst zu nehmen schien sie ihn nicht, was wohl daran lag, dass Soma ihr gestern noch versichert hatte, dass es dort ganz toll war.

„Jetzt hör mal zu, Tomoyo.“ Kurogane kniete sich zu ihr. Auf einer Augenhöhe ließ es sich viel ernsthafter reden. „Es ist ein Kindergarten. Und wie der Name schon sagt, da gehen nur Kinder hin. Und von denen wirst du dich ja wohl nicht unterbuttern lassen, oder, kleiner Zwerg?“

Damit wuschelte er ihr aufmunternd durch das lange, dunkle Haar. Es war nicht Kuroganes Art, so mit jemandem umzugehen, aber seiner Tochter gegenüber war er manchmal ein klein wenig zahmer. Denn im Grunde konnte sie nichts für die Umstände und war schließlich noch ein kleines Kind.

Gerade kicherte sie verlegen und versuchte, sich von der großen Hand zu befreien.

„Aber ist es denn nun schlimm?“

„Wieso sollte es denn schlimm sein, kleines Fräulein?“

Während der letzten Sätze zwischen Tochter und Vater war die Tür hinter Kuroganes Rücken von innen geöffnet worden. Ein blonder Schlacks hing im Türrahmen, nachdem er halb über den schwarzhaarigen Mann gestolpert war, und lächelte jetzt breit.

Moment...da war doch was gewesen, gestern. Viele Tüten, ein übertrieben breites Grinsen und...Süßkram!

„SIE?!“
 

„Was für eine Begrüßung!“, lachte Fye laut, als der Mann, der bis eben noch vor seinen Füßen gehockt hatte, ruckartig aufstand. Yuuko-san hatte ihm zwar mitgeteilt, dass er einen neuen Schützling bekam, aber er hatte nicht die schüchterne junge Dame von gestern erwartet und noch viel weniger diesen stets gereizt wirkenden Riesen. Der Schwarzhaarige war wirklich einen Kopf größer als er. Und diese erstaunlichen Augen... Zinnober? So etwas hatte er zuvor noch nie gesehen...

Aber davon ließ der junge Mann sich weder beirren oder noch einschüchtern, sondern grinste nur breit zu diesem hinauf: „Lange ist’s her, was?“

„Hätte ruhig länger sein können!“

‚Mein Gütchen, was für ein Brummbär.’ Fye kicherte. Gestern hatte er noch vermutet, dass er den großen Schwarzhaarigen nur auf falschem Fuß erwischt hatte. Und abgesehen davon, dass die Wahrscheinlichkeit, sich heute schon wieder zu treffen, sehr gering war, schien der ja immer so schlecht drauf zu sein.

Und jemanden, der schon von Natur aus explosiv schien, den sollte man nicht noch mehr reizen. Zumindest nicht im Moment. Deshalb wandte Fye sich jetzt auch erst einmal lächelnd an die Kleine, die schon bei seinem Anblick schnell hinter den langen Beinern ihres Vaters verschwunden war.

„Na, Kleines? Heute ist unser Start ja besser verlaufen, ich bin nur über deinen Papa gestolpert und der hält ja was aus, nicht?“

Verlegen nickte das dunkelhaarige Mädchen, während ihre violetten Augen aber die ihres Vaters suchten, als würden sie dort die Bestätigung für seine Worte erwarten. Der Blonde lächelte ein wenig. Obwohl man die Distanz zwischen den beiden deutlich greifen konnte, schien sie ihren Vater wirklich gern zu haben.

„Wie heißt du denn, Liebes? Dein Paps schimpft nur wieder mit mir, wenn ich dir solche niedlichen Spitznamen gebe.“

„Wie gestern...?“, fragte ein hohes Stimmchen von hinter den schwarz bekleideten Beinen her.

„Jepp, wie gestern. Schlimm, wenn man so schimpfen kann, also echt!“

Der Schwarzhaarige sah aus, als würde er gleich in die Luft gehen. Fye bereitete sich schon darauf vor, im nächsten Moment hinter einem breiten Grinsen verschwinden zu müssen, um nicht niedergebrüllt zu werden, aber da war das kleine Mädchen schneller.

„Tomoyo...“

Die kleinen Finger noch immer Halt suchend in dem rauen Stoff verhakt, spähte sie um ihren Vater herum und sah scheu zu dem lächelnden blonden Mann auf.

„Wirklich? Tomoyo-chan...was für ein hübscher Name. Ich heiße Fye.“

„Der ist auch schön...“

„Danke sehr, meine Liebe!“

Mit einem spielerischen Zwinkern legte er sich die Hände an die Wangen, brachte die kleine Tomoyo damit zum ersten Mal zum Lachen, seit er sie kannte.

„Da bringst du mich ja total in Verlegenheit! Wenn du willst, kannst du ‚Nii-chan’ zu mir sagen, okay?“

„Hm-hmm.“

Schüchtern traute sich die Kleine jetzt hinter ihrem Schutz hervor und nahm dann auch die dargebotene Hand des Blonden.

„Dann lass uns mal nach drinnen gehen, Tomoyo-chan. Da kann ich dir auch gleich die anderen vorstellen. Das sind alles ganz liebe Kinder, alle in deinem Alter. Oh, warte! Wie alt bist du denn überhaupt?“

Durch seinen stetigen Redefluss und sein freundliches Lächeln schaffte Fye es allmählich, das Mädchen etwas aufzutauen, und sie wirkte jetzt viel aufgeregter.

„Vier Jahre bin ich schon!“, verkündete sie mit kindlichem Stolz.

„Dann komm, Große! Ich stell dir die anderen vor.“

Während Fye das Mädchen durch die geöffnete Eingangstür führte, bemerkte er aus dem Augenwinkel, dass der schwarzhaarige Mann sich herumdrehen und gehen wollte. Anscheinend war er der Meinung, es reichte aus, wenn er seine Tochter so ablieferte. Dabei hatte er sich nicht einmal von ihr verabschiedet...

„Und der Herr Papa kommt auch mit!“

Überschwänglich grinsend packte er den größeren Mann an der Hand und zog ihn mit sich hinein. Das hatte sich dieser Griesgram so gedacht!

„Sakura-cha-han!”

„Was gibt es denn?”

„Schau! Wir haben jemand Neues. Das ist Tomoyo-chan.“

Strahlend winke Fye das Mädchen mit dem fuchsfarbenem Haar herbei, welches, gefolgt von ein paar neugierigen Kindern, aus dem Nebenzimmer kam. Sie lächelte höflich und musterte die Neuankömmlinge, wirkte aber verwirrt beim Anblick des hochgewachsenen Mannes. Dieser schaute irritiert aus seinen glutroten Augen zurück. Fye hob fragend eine Augenbraue. Kannten die beiden sich etwa?

Aber der Blonde verwarf den Gedanken schnell, es gab doch gerade Wichtigeres.

„Tomoyo-chan, das ist Sakura-chan. Sie hilft mir hier im Kindergarten, auf alle aufzupassen.“

„Hallo...“

Zurückhaltend streckte die Kleine die Hand aus, um die der Kindergärtnerin zu schütteln. Sie schien vor Frauen weniger Angst zu haben. Sakura lächelte freundlich und begrüßte das Mädchen, aber ihre tannengrünen Augen flackerten immer wieder unsicher zu dem großen, schwarzhaarigen Muffel, der gelangweilt in der Gegend herumstand. Eine ‚Wie-bestellt-und- nicht-abgeholt-Person’, entscheid Fye grinsend.

„Wer bist du denn?“, riss eine freche Jungenstimme den Blonden aus seinen Gedanken. „Nii-chan, wer ist denn die?“ Ein braunhaariger Knirps stand neben Sakura und musterte das Mädchen in seinem Alter sehr eindringlich.

„Das ist Tomoyo-chan. Sei nett zu ihr Ryu-kun, sie ist ja noch ganz neu und zum ersten Mal in einem Kindergarten.“

„Hmm... Naaaa gut“, quäkte der Junge und machte dann einen großen Schritt nach vorn, streckte Tomoyo die Hand entgegen. Und postwendend verschwand die Kleine wieder hinter ihrem Vater, so schnell konnte man gar nicht schauen. Ryu indes sah an dem großen Mann hinauf. Er musste den Kopf mächtig in den Nacken legen, um dem Schwarzhaarigen überhaupt in die Augen sehen zu können, und dieser sah etwas herablassend zurück.

„Wer bist du denn?“

„Ähm, Ryu-kun... Sakura? Könntest du...?“

Etwas hilflos lächelnd zog Fye den kleinen Knirps in Richtung Tür zum inneren Zimmer, weg von dem schwarzen Grieskram, der schon wieder kurz vorm Amoklaufen schien. Seine Mitarbeiterin verstand den Wink und verschwand zusammen mit dem Jungen. Entweder war der große Kerl ‚nur’ cholerisch, oder er hasste Kinder abgöttisch. Aber so, wie er mit seiner Tochter umging...

Wohlgemerkt: Mit seiner sich schon WIEDER versteckenden Tochter.

„Ach Tomoyo-chan, nun sei doch nicht immer so schüchtern! Hier sind wirklich alle Kinder ganz lieb und Sakura-chan auch.“ Fye ging in die Hocke und grinste das kleine Mädchen gewinnend an. „Außerdem kannst du dich doch nicht immer hinter deinem Papa verstecken, wie soll denn das enden? Er hat bestimmt nicht vor, den ganzen Tag hier zu bleiben.“

Unsicher lugte Tomoyo hinter den Beinen ihres Vaters hervor, mit den Fingern nervös an dem schwarzen Stoff zupfend.

‚So was Schüchternes...’, dachte der Kindergärtner seufzend bei sich, gab aber nicht auf. „Ach komm, Herzchen. Dein Paps kann nicht hier bleiben, er passt doch gar nicht zu den Möbeln.“

„WIE BITTE?!“

Schmunzelnd blickte der Blonde kurz zu seinem gereizten Gegenüber auf. So eine Kratzbürste!

„Na wenn’s doch war ist! Oder was meinst du, Tomo-chan? Wer so viel Schwarz trägt, passt doch nicht in einen fröhlichen Kindergarten!“

„... Nein...“, kam es leise von der Dunkelhaarigen, was einen erneuten Wutausbruch ihres Vaters verhinderte. Verunsichert, ob sie nicht etwas Falsches gesagt hatte, blickte sie zu ihm auf, aber dieser kapitulierte nur unter dem treuherzigen Blick.

„Geh schon, Kleine. Hier tut dir keiner was.“

Noch immer wirkte das schwarzgelockte Mädchen nicht ganz überzeugt.

„Wirklich, Papa?“

„Wirklich.“

Er wuschelte ihr durchs Haar und fasziniert beobachtete Fye, wie für einen ganz kurzen Moment ein sanfter Funke in den glutroten Augen aufglomm. „Versprochen.“

„Umm...“

Nur langsam löste sie ihre kleinen Finger aus der schwarzen Jeans. Nachdem der Kindergärtner aufmunternd auf die Tür gewiesen hatte, durch die auch Sakura und Ryu schon verschwunden waren, ging sie unsicher ein paar Schritte, nur um dann gleich wieder umzukehren. Der Blonde hatte schon erwartet, sie würde sich erneut verstecken, aber stattdessen umarmte Tomoyo ihren Vater fest. Zumindest seine Oberschenkel und brachte ihn damit fast zu Fall, schien dieser doch mit allem gerechnet zu haben, nur nicht damit.

„Bis dann, Papa.“

Weg war sie.

Und ließ einen total überrumpelten Vater ihm Vorraum stehen.

‚JETZT sieht er wirklich aus wie bestellt und nicht abgeholt!’ Fye lächelte ein wenig. Ja, so sah ein Kerl aus, der eigentlich gar nicht erwartete, dass seine Tochter an ihm hing. Was war wohl zwischen den zweien vorgefallen?

„So eine kleine Liebe...“

„Äh, was?“

Perplex blinzelte der Riese, lenkte dann aber schnell ein. Sofort hatte er wieder einen kalten, geradezu gereizten Ausdruck auf dem Gesicht und blitzte Fye unnahbar an.

„Kann ich jetzt endlich gehen oder wollen Sie sonst noch irgendwas von mir?“

„Du kannst mich ‚Fye’ nennen“, meinte er lächelnd, was aber nur auf Gegrummel stieß.

„Na gut, aber ich möchte NICHT geduzt werden.“

Kichernd blickte Fye in die rubinroten Augen. Es war fast nicht zu glauben, dass dieser knurrige Mann gerade noch so sanft auf seine Tochter hinuntergeblickt hatte und er hätte es wohl nicht für möglich gehalten, wenn er es nicht selbst beobachtet hätte.

„Das machen wir aber immer so! Also, wie heißt du?“

„Kuro- DAS GEHT DICH ÜBERHAUPT NICHTS AN!!!“

„Aha. Kuro. Und wie weiter?“

„HÖRST DU MIR NICHT ZU? ICH SAGTE, DAS HAT DICH NICHT ZU INTERESSIEREN!“

Oh~ dieser Mann war einfach nur köstlich! Oder zumindest lustig. Wenn man ihn kosten würde, wäre er sicher bitter. So wie Zartbitterschokolade... Fye musste grinsen. Was er da nur gerade wieder dachte!

„Also Kuro-rin.“

„WAS???!!!“ Jetzt explodierte der Schwarzhaarige wirklich. Und Fye wusste so gar nicht warum. Gefiel ihm sein toller Name nicht? Aber was regte er sich denn auf, wenn er seinen Namen nicht sagen wollte? Irgendwie musste man ihn ja nennen!

„Oder wie wäre es mit ‚Kuro-pyon’?“

„DU HAST SIE DOCH NICHT MEHR ALLE!!!“

Kuroganes Hand zuckte gefährlich und der Blonde fragte sich zum ersten Mal, ob er gerade wirklich etwas Schlaues tat, kam aber nicht dazu, sich zu verabschieden und möglichst flugs zu verschwinden, damit der gereizte Kuro-nyan ihm nicht den Kopf abriss, denn plötzlich stand Ryu neben ihm und blickte argwöhnisch zu dem schwarzhaarigen Riesen auf.

„Kuro-pyon heißt du? So’n komischer Name!“

Oh, oh...

„Weißt du was, Ryu-kun? Wir sollten lieber schnell rein zu den anderen gehen, die warten doch ganz bestimmt schon auf uns!“

Eindringlich schob er den Fratz in Richtung Spielzimmer, strahlte den Schwarzhaarigen dabei noch ganz breit an und betete darum, die nächsten fünf Minuten zu überleben.

„Tschüss, Kuro-rin, ne!“

Als der vor Wut kochende Mann dann endlich auf dem Absatz kehrt machte, viel Fye noch etwas ein.

„Hey, Kuro-wanko! Warte doch! Wann holst du Tomoyo-chan heute ab?”

WAMM!

Die Eingangstür krachte ins Schloss, ohne dass Fye eine Antwort erhalten hatte. Ein klein wenig betreten senkte der blonde Mann den Kopf. Wirklich bittere Schokolade...

„Danke fürs Gespräch...“, murmelte er leise, raffte sich dann aber schnell wieder zu einem Lächeln auf. Er sollte sich wohl über etwas anderes den Kopf zerbrechen als über einen jähzornigen Vater.

Als er zurück in den großen Raum kam, der als Aufenthaltsraum für die Kinder diente, wurde er glucksend und lachend von den Kleinen begrüßt. Als wäre er nicht eine Viertelstunde, sondern ein halbes Jahr weg gewesen. Nachdem er ein paar Köpfe gewuschelt hatte, schon wieder von einem zum anderen Ohr grinsend, sah er sich nach seinem Neuzugang um. Tomoyo hielt sich immer noch in Sakuras Nähe auf. Was hatte er auch anderes erwartet? Das vorbehaltlose Näherkommen eines der Jungen beobachtete sie argwöhnisch.

„Hallo, du da!“

Der Junge mit den kurzen Wuschelhaaren strahlte sie breit an und war gleich eine Spur zu laut, die Kleine wich verunsichert einen Schritt zurück. Unbeirrt fuhr er fort: „Ich bin Sorata! Und wer bist du? Soll ich dir mein Herzblatt vorstellen? Wir werden nämlich mal heiraten, musst du wissen!“

„Wirklich...?“

Jetzt schien Tomoyo-chans Aufmerksamkeit geweckt.

„Klar, wirklich!“

Fröhlich fasste der Junge sie an der Hand und zog sie mit. Tomoyo, total überrumpelt, ließ es einfach zu. Sie wirkte zwar noch immer unsicher, aber Soratas unverblümte und gleichzeitig nette Art schien ihr Vertrauen zu wecken, denn sie lächelte zaghaft, während sie ihm nachlief. Neugierig blickte sie sich um, während der Wuschelkopf sie durch den Raum führte. Mit kindlicher Begeisterung betrachtete sie die ganzen Spielsachen, die kreuz und der quer im Zimmer lagen. Mit manchen wurde gespielt, mit anderen nicht und trotz der herrschenden Unordnung hatte hier für Kinderaugen dennoch alles System.

„Aber vorher sagst du mir noch, wie du heißt, oder?“

„Tomoyo.“

Das Mädchen schien mit einer solch offenen und freundlichen Art von Personen wohl am besten umgehen zu können, denn allmählich taute sie auf und wirkte schon viel fröhlicher. Fye lächelte in sich hinein, während er die Szene still beobachtete. Tomoyo war wirklich so ein liebes Mädchen. Höflich, ein wenig zu schüchtern vielleicht, aber eine wunderbare Person. Warum hatten die freundlichsten Kinder nur immer die exzentrischsten Eltern? Oder in dem Fall Väter...

„Also, Tomoyo-chan, darf ich dir mein Schatzilein vorstellen?“

Überschwänglich deutete Sorata auf ein kleines Mädchen mit langen, glatten, schwarzen Haaren, welches etwas gelangweilt gerade ein Bild malte und bei dem Geplärr nur die Augen verdrehte.

„Gräm’ dich nicht, meine Holde! Ich werde dir gewiss nicht untreu mit diesem hübschen Fräulein."

Arashi ignorierte ihn auch weiterhin, aber Tomoyo wirkte verwirrt.

„Du redest aber komisch, Sorata-kun...“

„Mein werter Papa ist Schriftsteller, daher habe ich das. Und vor kurzem hat er geheiratet, seither bin ich fest entschlossen, meinen Schatz auch so schnell wie möglich zu heiraten!“ Damit wurde die kühle Schwarzhaarige erst einmal fest umarmt, was dieser aber nicht zu gefallen schein, weshalb der kleine Casanova sich dafür eine Kopfnuss einfing.

Tomoyo aber wirkte nachdenklich.

„Heiraten...?“

Skeptisch sah die Dunkelhaarige durch die Gegend. Sorata strahlte sie breit an.

„Willst du auch jemanden heiraten? Wie wär’s mit Ryu-chan?“

„Pha! Diese Ziege heirate ich nicht!“

Sofort als er seinen Namen vernommen hatte, war der braunhaarige Frechdachs aufgetaucht und schüttelte jetzt ganz entschieden den Kopf. Typische Streiterein unter Kindern, dennoch entschied Fye sich, lieber dazwischen zu gehen, denn Tomoyo sah geschockt aus. Sie war den Umgang mit Gleichaltrigen anscheinend überhaupt nicht gewohnt.

“Na, na, Ryu-kun! Du kennst Tomoyo-chan doch gar nicht, da kannst du so was auch nicht sagen“, meinte er tadelnd, legte dem Knirps eine Hand auf die Schulter. Aber dieser zeigte sich nicht besonders einsichtig, sondern deutete nur anklagend auf die Dunkelhaarige.

„Aber sie hat einen komischen Papa. Der ist so riesengroß und guckt so böse aus der Wäsche, deshalb ist sie blöd!“

„Du bist gemein! Mein Papa ist nicht böse!“

Tomoyo schien zumindest ein kleines bisschen von dem unberechenbaren Temperament ihres Vaters zu haben, denn aufgebracht schnappte sie sich das Nächstbeste, was sie finden konnte - zum Glück ein Stofftier in Schafsform - und warf es Ryu mitten ins Gesicht.

„Du bist so gemein!“

„Nii-chan, die hat mich beworfen! - Du dumme Kuh!“

„Kinder, ich bitte euch!“ Fye hatte alle Hände voll zu tun, aber bevor der Junge das Plüschtier überhaupt zurückwerfen konnte, drehte sich die Kleine um und flüchtete aus dem Zimmer. Der Blonde seufzte. Sie würde nicht vom Gelände des Kindergartens herunter kommen, da die Klinke des Tores extra viel zu hoch für Kinderhände angebracht war, trotzdem war es nicht schön. Tadelnd sah er den fünfjährigen Stinkstiefel an, der das Stoffschaf noch immer wie eine Waffe hielt.

„Ryu-kun, das war wirklich unhöflich von dir!“

„Aber...“

„Kein aber! Stell dir vor, ihr großer, grummeliger Papa bekommt raus, dass du so böse zu Tomoyo-chan warst. Der kann nämlich ganz schön schimpfen.“

Zuerst sah der Junge beunruhigt aus bei der Erinnerung an den Riesen, dann zuckte er aber betont lässig die Schultern und bewies bewundernswerte kindliche Dickköpfigkeit.

„Quatsch, gegen mich hat der keine Chance!“

Stirnrunzelnd dachte der blonde Kindergärtner an den schwarzhaarigen Miesepeter. Kuro-sama hatte nicht gerade versöhnlich ausgesehen. Und wenn er herausbekam, dass jemand seine Tochter beleidigt hatte, dann konnte es sicher sehr unangenehm werden. Und zwar eher für Fye als für den kleinen Rabauken...

Seufzend machte er sich auf, nach Tomoyo zu suchen. Er wollte sie schnell wieder aufheitern. Und bei der Gelegenheit auch mal nach dem kompletten Namen ihres Vaters fragen.
 

Er fand die Vierjährige schließlich draußen im Garten, zusammengekauert in der hintersten Ecke einen Kletterhauses, die dünnen Arme um die Knie geschlungen.

‚Arme Kleine...’, dachte er mitleidig und es tat ihm wirklich Leid, dass Ryu so gemein zu ihr gewesen war. Für ein Mädchen, das es einfach nicht gewöhnt war, mit anderen Kindern zusammen zu sein und sich auch mal mit diesen zu streiten, mussten die Worte besonders schlimm gewesen sein.

„Tomoyo-chan?“

Langsam ging er vor dem Eingang des Spiel- und Kletterhäuschens in die Hocke, ließ aber der Dunkelhaarigen noch ihren Freiraum und die Wahl, dort in ihrer Ecke zu bleiben oder zu ihm zu kommen. Er wollte das Mädchen nicht in Bedrängnis bringen, denn das würde alles schlimmer machen. Tomoyo reagierte erst einmal nicht.

„Hey, Kleines...“

Sanft benutzte er jenen Kosenamen, den auch ihr Vater verwendet hatte, und diesmal blickten ihn traurige, dunkle Augen an.

„Sei nicht traurig, Liebes. Ryu-kun hat es nicht so gemeint. Er kennt deinen Papa doch gar nicht richtig, um so etwas sagen zu können. Und ich bin sicher, er ist ein wirklich netter Mensch.“

„Ja~?“

Das helle Stimmchen klang noch äußerst unsicher und nur langsam kam Tomoyo aus ihrer Ecke gekrabbelt und schlüpfte in die einladend geöffneten Arme des jungen Blonden, der sie sanft in eine Umarmung schloss und beruhigend durch ihr Haar streichelte.

„Ja, ganz sicher. Dein Papa ist wie...mhh...Schokolade!“

„Schokolade?“ Skeptisch sah das junge Mädchen den Blonden an. Anscheinend hatte bisher kaum jemand ihren Vater mit Schokolade verglichen. Nun, nicht unbedingt verwunderlich...

„Wie Zartbitterschokolade! Kennst du die?“ Fye musste grinsen, als die Kleine das Gesicht verzog.

„Igitt! Die schmeckt doch nicht...“

„Wenn man sie kostet, dann ist sie ganz bitter, das stimmt. Aber sie hat einen ganz angenehmen, warmen Nachgeschmack und manchmal sogar eine süße Füllung.“

Eigentlich gab es kaum Kinder, die diese Art von Schokolade mochten und soweit er sich erinnerte, hatte er sie lange Zeit auch nicht besonders gern gegessen. Aber in Maßen, so hatte Fye irgendwann einmal festgestellt, war es das absolut Beste, was es gab. Ob dieser Punkt des Vergleiches auch auf Kuro-rin zutraf? Das würde sich sicher noch zeigen.

„Ich glaub’ trotzdem nicht, dass mein Papa wie Schokolade ist. Er mag nämlich gar nix Süßes.“

„Wirklich nicht?!“, rief Fye entsetzt aus. „Dabei sind Süßigkeiten doch so was Tolles!“

Und als wäre es ein Stichwort gewesen, zauberte er ein Traubenzuckerbonbon aus der Hosentasche und hielt ihn Tomoyo lächelnd hin.

„Nimm schon. Das ist ein Wundermittel, damit sieht die Welt gleich viel besser aus! Und schmecken tut’s auch noch.“

„Aber das ist doch Traubenzucker...“

Oups, erwischt!

„Sag ich doch! DAS Wundermittel schlechthin!“, rettete Fye sich schnell, denn er wollte auf keinen Fall seine Glaubwürdigkeit verlieren. Die kleine Tomoyo schien für ihr Alter schon ziemlich schlau zu sein, da musste er wohl ein wenig aufpassen, dass er ihr keinen zu großen Bären aufband.

Nachdem das Mädchen den Traubenzucker entgegen genommen und in den Mund gesteckt hatte, lächelte der Kindergärtner zufrieden und langsam folgte ihm die Kleine, als er wieder in Richtung des Gebäudes ging.

„Komm, Tomo-chan. Ich möchte dir noch jemanden vorstellen, der bei uns im Kindergarten arbeitet.”

„Noch jemand? Ihr seid aber viele...“

Aber Fye lächelte nur geheimnisvoll und nahm das Mädchen an die Hand. Anstatt den Kindergarten wieder zu betreten, führte er die Vierjährige drum herum. Hinter dem Haus war ein kleiner Unterstand, den er jetzt ansteuerte. Darunter stand ein großer Käfig.

„Ein Kaninchen! Oh, wie niedlich!“

„Das ist Mokona.“

Mokona war ein weißes, flauschiges und etwas zu dickes Zwergkaninchen, welches bis gerade eben noch Heu gemümmelt hatte, nun aber aus treuen Knopfäugelein zu ihnen hinaufblickte. Summend öffnete Fye die vergitterte Tür und sofort kam der verschmuste Nager angehoppelt, um sich ordentlich knuddeln zu lassen.

„Süß~!“, jauchzte Tomoyo. „Und so weich!“

Mokona-chan hatte noch jedes verstockte und verschreckte Kinderherz für sich erwärmen können. Vielleicht musste man ja dick, weiß und weich sein, um wirklich jedermanns Herz zu erobern. Vielleicht sollte er sich auch mal so ein Erscheinungsbild zulegen? Obwohl... Fye kicherte, während er den Hasen streichelte und das dunkelhaarige Mädchen neben sich ermutigte, das auch zu tun. Ihm kam eine ganz bestimmte Person in den Sinn, bei der er anzweifelte, dass flauschig und rund gut war.

Außerdem, war man weiß und schon kugelrund, sollte man vielleicht von Schokolade die Pfötchen lassen!

Tomoyo jedenfalls wirkte absolut entzückt von dem Schmusetier.

„Mokona ist nämlich unser dritter Mitarbeiter“, verkündete der Blonde schließlich fröhlich, wurde darauf aber eher verständnislos angeblickt.

„Aber wie geht das denn? Es ist doch ein Hase...“

Fye kicherte.

„Das ist ein großes Geheimnis! Aber weißt du was, Tomo-chan? Ich verrate es dir, wenn du mir auch ein Geheimnis verrätst.“

„Was denn für eins...?“

Unsicher blickte die Dunkelhaarige ihn an. Dennoch schien sie durchaus einverstanden mit dem Tausch Geheimnis gegen Geheimnis und nickte zaghaft.

„Wie heißt denn dein Papa mit Vornamen?“
 

Kurogane fluchte laut.

Klasse, da hatte er schon den ganzen Tag nichts zu tun und kam trotzdem viel zu spät!

Gereizt knallte er die Fahrertür seines Wagens zu. Warum zum Geier musste er auch seine Tochter aus dem Kindergarten abholen? Okay, es gab niemanden, der es sonst machen könnte, aber hey! Hier ging es ums Prinzip! Als genervter Vater brauchte er seine Ruhe und hatte für so etwas einfach keinen Nerv!

Schlechtgelaunt stapfte er über den Gehweg und betrat das Kindergartengelände.

Kaum öffnete er die Tür zum Haus, blickten ihn ein paar vorwurfsvolle, eisblaue Augen an.

„Kommst du jetzt immer so spät, Kuro-rin? Dann würde ich mir meine Überstunden nämlich bezahlen lassen.“

„Halt die Klappe!“

„Hey, Herr Papa, das ist aber nicht nett! Immerhin habe ich nur wegen dir zwei Stunden länger machen müssen.“

„Hat dich ja niemand dazu gezwungen!“

„Immerhin ist es deine Tochter, da hätte ich ja nicht einfach so gehen können!“

„Es ist mir scheißegal, was du-UMPF!!!“

Kurogane wurde unsanft unterbrochen, weil ihn plötzlich etwas Plüschiges mitten ins Gesicht traf.

„Papaaaa! Sei nicht so gemein zu Nii-chan!“ Tomoyo hielt noch ein weiteres Kuscheltier schussbereit und blickte anklagend zu ihrem Vater auf.

„Oh, du Hexe!!!“

„Kurogane, nicht!“ Ohne nachzudenken griff Fye nach der Hand des Schwarzhaarigen und hielt ihn fest, als dieser seiner flüchtenden Tochter ins Nebenzimmer folgen wollte. Dafür fing er sich einen wütend rotglühenden Blick ein.

„Nicht...“ Unter diesen intensiven Augen wurde sein Lächeln unsicher, aber er ließ nicht los. „Sie meint es doch nicht böse...“

„Lass los!“

„Kurogane...“

Fye klammerte sich immer noch fast verzweifelt an den Arm des Schwarzhaarigen, während Kurogane vor Wut kochte. Was wollte dieser blonde Spund von ihm? Er würde Tomoyo schon kein verdammtes Haar krümmen! Die Laune des Schwarzhaarigen war nicht gerade die beste, sein Tag war scheiße gelaufen, da brauchte er jetzt nicht auch noch einen nervtötenden, klammernden Kindergärtner!

„Ich sagte: DU SOLLST LOSLASSEN!!“

Der jüngere Mann zuckte heftig zusammen.

„Aber...aber du darfst Tomoyo-chan nichts...du...“, stotterte er hilflos. Kurogane gab einen tonnenschweren Seufzer von sich. Was war nur los mit diesem Kerl? Er schien plötzlich wie ausgewechselt.

„Ist ja gut!“

So behutsam, wie es ihm in seiner momentanen Gemütsverfassung möglich war, löste er Fyes lange Finger aus seinem Ärmel.

„Reg’ dich wieder ab.“

Angestrengt starrte der Blonde zu Boden, sah aber mit einem breiten Lächeln auf, als das fuchshaarige Mädchen, gefolgt von einer mit Kuscheltieren bewaffneten Tomoyo, das Vorzimmer betrat. Ein Lächeln wie angeknipst...

„Sakura-chan! Ich habe dir doch schon vor einer halben Stunde Feierabend gegeben! Was machst du denn noch hier?“

„Ich wollte noch etwas aufräumen. Entschuldige bitte, Fye-san, ich bin so gut wie weg.“

Wie schon heute morgen hing ihr verunsicherter Blick an dem großen Schwarzhaarigen, welcher diesen emotionslos erwiderte. Er hatte die Kleine erkannt und sie ihn zweifellos auch. Und die damit verbundenen Erinnerungen hätte sich Kurogane gern erspart.

Der Geruch von Alkohol...zu viel davon, Lärm und Chaos...sofort schüttelte er den Kopf. Er wollte nicht daran denken. Nicht jetzt und niemals mehr. Auch wenn das alles in langen, ruhigen Nächten wieder hochkam und ihm den Schlaf raubte. Und dann konnte Kurogane es nicht einfach so abschütteln. Aber momentan bot ihm seine Umgebung genügend Ablenkung.

Das fuchshaarige Mädchen ergriff wieder das Wort.

„Allerdings... Mokona-chan hoppelt noch in der Küche herum und will sich einfach nicht einfangen lassen...“

„Ach herrje!!! Schnell, Tomo-chan! Wir müssen Moko-chan vor den gefährlichen Wollmäusen retten!“

„Wollmäuse?“, rief das Mädchen ihm fragend nach, als der Blonde an ihr vorbei lief und in dem anderen Zimmer verschwand, als ginge es um Land und Leben.

„Ja-haa! Fusselstaub, der unter den Schränken lebt! Dann wird es doch gaaaanz schmutzig!“

Sofort ließ Tomoyo alle Kuscheltiere fallen und flitzte dem Kindergärtner nach. Und Kurogane verstand kein Wort. Worum ging es überhaupt?!

Etwas überfordert blickte er den beiden nach und erst die zurückhaltende Stimme Sakuras riss ihn aus seiner Verwirrung.

„Ähm...Herr Sugawara?“

Wahrscheinlich wusste sie seinen Nachnamen von Tomoyo. Fragend hob er die Augenbrauen.

„Ich...ich wollte mich noch einmal bedanken. Sie haben uns wirklich sehr geholfen. Shaolan und ich wüssten nicht, was wir ohne Sie getan hätten.“

Schüchtern blickte sie zu ihm auf. Kurogane zuckte mit den Schultern.

„Meinetwegen.“

Er war nur seinen Pflichten nachgekommen, also gab es keinen Grund, weshalb das Mädchen sich bedankte.

Aber diese schien sich diesbezüglich wohl verpflichtet zu fühlen.

„Ich würde Sie gern einmal zum Essen einladen, Shaolan würde sich sicher freuen und will sich bestimmt auch noch einmal persönlich bedanken, darum...“

„Nein, lass gut sein. Da besteht keine Notwendigkeit.“

„Aber...“

Sie verstummte auf sein erneutes Kopfschütteln, sah betreten zu Boden. Es war ja nicht so, dass der Schwarzhaarige ihren Dank nicht annahm, aber übertreiben musste sie nun wirklich nicht.

„Hast du nicht Feierabend? Dein Freund wartet bestimmt.“

Sofort breitete sich ein gesunder Rotschimmer auf den Wangen des Mädchens aus, aber sie nickte und nahm schnell ihre Sachen aus der Garderobe.

„Tausend Dank“, wisperte sie noch einmal, bevor sie schnell verschwand.

„Oh jemine, oh jemine!“

Gerade als die Tür hinter der Aushilfskindergärtnerin ins Schloss gefallen war, kehrte der blonde Schlacks, gefolgt von Tomoyo, zurück, mit einer so kummervollen Kummermine auf dem Gesicht, als wäre jemand verstorben, und einem fluffigen und vor allem staubigem Etwas im Arm, was Kurogane zunächst für ein Kuscheltier hielt, dann aber als ein fettes, kleines Kaninchen identifizierte. Anscheinend war das Mokona und die beiden hatten es nicht rechtzeitig vor ‚den gefährlichen Wollmäusen’ retten können, denn in dem feinen Fell hingen kleine und größere Staubflusen.

Fye zog ein Gesicht, als wäre es der Weltuntergang und die Vierjährige schaute auch nicht besser drein.

„So ein Schmutzfink. Was machen wir denn jetzt...?“

„Ich kann Moko-chan doch mitnehmen!“, bot sich Tomoyo stolz an. „Zuhause können wir es baden, dann ist es wieder ganz weiß!“

„Wirklich Tomo-chan?“

„Oh nein, dieser fette Staubfänger kommt mir nicht in die Wohnung!!! Außerdem badet man Kaninchen nicht!“

„Ach, Kuro-rin, du alter Spielverderber! Du magst wohl keine Häschen?“

„Das sowieso!“

Unnachgiebig verschränkte Kurogane die Arme, sah sich aber mit zwei treuherzigen und beinahe flehenden Augenpaaren konfrontiert.

„Dabei ist es doch sooooo süß!!!“, kam es im Chor von Fye und seiner Tochter. Der Schwarzhaarige verdrehte genervt die Augen.

„Was soll der Aufstand? Es ist nur ein Karnickel!“

„Aber es ist so kuschelflauschig und eigentlich ganz weiß! Schau da!“ Und damit drückte ihm Fye das weiße, wenn auch momentan dreckige, und fette Hasenvieh in die Arme. Einzig und allein die Tatsache, dass Kurogane kein Tierquäler war, bewahrte das Tier davor, auf dem Boden zu landen. Mit angeekeltem Gesichtsausdruck betrachtete er den komischen Hasen, welcher aus dunklen Knopfaugen zurückblickte und dann sogleich austestete, ob sein Mantel nicht etwas Essbares war. Beinahe hätte er das Vieh jetzt doch losgelassen, aber Fye hielt geistesgegenwärtig seine Arme fest.

„Aber, aber, Kuro-puu. Sei lieb zu Mokona, schließlich hat es dir nichts getan.“

„Es frisst Löcher in meine Klamotten!!!“

„Pfui, Moko-chan! Das schmeckt doch nicht.”

Weiterhin lächelnd schob der Kindergärtner die Hasenschnauze von dem schwarzen Mantel weg.

„Ich näh dir das, okay? Am Freitag.“

Kurogane war so überrascht, dass der Blonde von Freitag wusste, dass er ganz zu antworten vergaß und Fye gleich noch etwas hinten anhängte, diesmal von einem Ohr zum anderen grinsend.

„Aber weil du so spät gekommen bist, ist uns Moko-chan überhaupt erst entwischt und deshalb ist es nur fair, dass du es mitnehmen und sauber putzen musst, nicht?“

„Kommt nicht in die Tüte!“

Unnachgiebig schüttelte Kurogane den Kopf, aber die beiden Quälgeister dachten noch lange nicht daran aufzugeben. Stattdessen umklammerte Tomoyo seine Knie und Fye setzte eins der breitesten Lächeln auf, die der Schwarzhaarige je gesehen hatte.

„Bittebittebittebiettäää Papa!“

„Komm schon Kuro-nyan! Mokona ist doch so süß und so weiß und so schnuffelig und wir sind auch ganz lieb und Tomo-chan gibt dir einen dicken Schmatz als Dankeschön! Oder willst du lieber einen von mir?“

Fye kicherte begeistert, als der Schwarzhaarige daraufhin gleich wieder explodierte.

„UNTERSTEH DICH!!!“

„Papaaaaa!“

Quengelnd rüttelte Tomoyo an seinen Beinen und der Blonde hängte sich grinsend an seinen Hals.

„Sag ja~!“, flötete er amüsiert.

Das war doch die reinste Folter! Während seine Tochter ihn fast zu Fall brachte, blinkerte der nervige Blondschopf ihn aus eisblauen Augen an. Ein Blick von der ‚Können-diese-Augen-lügen’-Sorte.

Kurogane gab ein tonnenschweres Ächzen von sich und kapitulierte. Und anscheinend war ihm das deutlich anzumerken, denn Tomoyo jauchzte sofort auf und nachdem sie ihn noch einmal fest gedrückt und damit endgültig aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, flitzte sie schon davon, ließ nur noch ein fröhliches „Ich hol einen Korb!“ aus dem Nebenzimmer tönen.

Lachend hielt der blonde Schlacks ihn auf den Beinen, immer noch mit den Händen auf seinen Schultern, und lächelte dann einnehmend.

„Danke, Kurogane, das ist wirklich sehr lieb von dir.“

Nur ein Brummen als Antwort.

„Wo ist denn die hübsche Frau von gestern Mittag?“

Nachdem sich der Schwarzhaarige von der ‚Attacke’ seiner Tochter erholt hatte und wieder sicher stand, ließ der Kindergärtner ihn ganz los, sah fragend in die blutroten Augen.

„Holt sie Tomo-chan nicht mit ab?“

„Soma? Die arbeitet jetzt woanders.“

„Ah, ich verstehe... Dann hat sie praktisch keine Zeit, die Kleine abzuholen, was?“

Es war Kurogane ein Rätsel, warum sich der Blonde dafür interessierte, aber er zuckte nur gleichgültig mit den Schultern, dachte sich nichts weiter dabei.

„Sozusagen.“

Damit war das Gespräch für ihn beendet und auch Fye, der den Mund geöffnet hatte, um noch etwas zu sagen, schloss ihn wieder, als Tomoyo mit einem geflochtenen Weidekorb zurückkam.

„Ist der okay, Nii-chan?“

„Ja, den hast du toll ausgesucht.“

Lächelnd streichelte er ihr durch das dunkle Haar, dann nahm er ihrem Vater das runde Zwergkaninchen ab, welches sich bei diesem sichtlich wohl zu fühlen schien und bereits in den muskulösen Armen gedöst hatte, und setzte es in den Henkelkorb, den Tomoyo vorsorglich mit Zeitungspapier ausgelegt hatte.

„Wirklich toll, Liebes. Hat dir das dein Papa beigebracht?“

„Nein, Soma!“, strahlte sie. Kurogane verdrehte die Augen. Soma hier, Soma dort... Hatte seine Tochter überhaupt zu irgendjemand anderem Bezug als zu dieser dummen Schnepfe??? Obwohl, wessen Schuld war es denn...?

„Also dann, pass gut auf Moko-chan auf, Tomo-chan. Und bring es morgen wohlbehalten und sauber wieder mit.“

„Okay, Nii-chan. Du kannst dich auf mich verlassen! Tschüss, bis morgen!” Sie musste sich auf die Zehenspitze stellen, um den Mann, der sich zu ihr herunter gebeugt hatte, zu umarmen, strahlte vergnüglich und schlenderte mit dem Hasenkorb im Arm zur Tür, sah dann erwartungsvoll zu ihrem Vater zurück. Kurogane wandte sich um, ohne sich zu verabschieden. Warum auch. Und so bemerkte er nicht, wie ein kurzer, trauriger Schatten über Fyes Gesicht huschte, bevor dieser sich wieder gefangen hatte und den beiden ein überfröhliches „Bis Morgen!“ nachträllerte.
 

Schlechtgelaunt folgte Kurogane seiner fröhlichen Tochter den Bürgersteig entlang.

Na klasse! Jetzt hatte er nicht nur seine Tochter den ganzen Abend am Hals, nein, auch noch ein verfressenes weißes, hasenähnliches Etwas namens Mokona!

Das wurde immer schlimmer. Wieso zum Teufel hatte er sich nur breitschlagen lassen?

Beim Wagen angekommen öffnete er zunächst den Kofferraum und wollte Tomoyo den Korb abnehmen, aber diese klammerte sich protestierend daran.

„Wie gemein! Du kannst Moko-chan doch nicht in den Kofferraum tun! Da hat es doch Angst!“

„Und wohin sonst bitteschön?“, knurrte ihr Vater gereizt. Etwas eingeschüchtert von dem Ton blickte die Vierjährige unsicher zurück, war aber noch immer nicht gewillt, das Kaninchen seinem dunklen Schicksal namens Kofferraum zu überlassen.

„Es kann doch vorne mitfahren“

„Vergiss es.“

„Aber Nii-chan hat doch gesagt, ich soll gut aufpassen und...und wenn im Kofferraum was passiert...armes Moko-chan!“

Weinerlich wich sie ein paar kleine Schritte zurück, damit ihr Papa nicht an den Korb herankam, drückte diesen beschützend an sich. Kurogane seufzte erneut. Warum war Kindererziehung nur so schwer? Und leider Gottes hatte Tomoyo auch noch Recht, immerhin waren sie beide, also besser gesagt er als Erziehungsberechtigter, jetzt für das in ihre Obhut gegebene Tier verantwortlich und diesem durfte nichts passieren. Und in dem zugeräumten hinteren Teil seines Wagens konnte doch einiges passieren.

Wortlos ging er um sein Auto herum und öffnete die Beifahrertür für seine Tochter, diese schlüpfte ganz schnell an ihm vorbei, ängstlich, dass er es sich noch einmal anders überlegen könnte. Statt sich aber dazu zu äußern, schnallte er sie nur an und stieg dann auf seiner eigenen Seite ein, ließ den Wagen an. Für die Strecke vom Kindergarten bis zur Wohnung brauchte man mit dem Auto fast genauso lange wie zu Fuß, weil es ein ziemlicher Umweg war, und eine ganze Weile herrschte angespanntes Schweigen im Wagen.

Erst nach einigen Minuten ergriff Tomoyo schüchtern das Wort.

„Bist du böse, Papa? Wegen Moko-chan…?“

„...“

„Papa...?“

„Wie war dein erster Tag im Kindergarten?“

Kurogane wollte nicht über die Sache mit dem Hasen diskutieren, er würde sich doch nur wieder unnötig aufregen. Also hielt er sich lieber an neutrale Themen und die Kleine atmete erleichtert aus.

„Hmm. Ganz nett. Doch, wirklich nett. Nii- chan und Sakura-chan sind super lieb! Und die anderen Kinder auch. Ryu-kun ist frech.“

Als sie den kurzen Blick ihres Vaters bemerkte, fügte sie schnell hinzu: „Aber er ist auch nett. Genau wie all die anderen und wir haben alle zusammen ‚Blinde Kuh’ gespielt.“

„Was für eine Kuh?“

„Ein Spiel, Papa.“

Belehrend blickte sie zu ihm auf. „Da verbindet man sich die Augen und muss versuchen, auf einen Topf zu schlagen.“

Das war eine recht simple Erklärung der Regeln, aber zumindest wusste Kurogane jetzt, was sie meinte. So weit er sich erinnerte, kannte er das auch, aber unter dem eigentlich bezeichnenderen Namen ‚Topfschlagen’.

„Das habe ich als Kind auch manchmal gespielt.“

„Echt?“

„Hmm...“

Tomoyo blickte ihn so kindlich begeistert an, dass es ihm schon wieder unangenehm war, diese Äußerung gemacht zu haben. So als könnte sie nicht ganz fassen, dass ihr Vater auch mal Kind gewesen war und vor allem auch noch gespielt hatte.

Da ihr Papa aber nicht so aussah, als wollte er Näheres erzählen, hakte sie auch nicht nach, denn wütend sollte er nicht schon wieder werden. Stattdessen erzählte sie lieber weiter.

„Nii-chan hat mir ein Geheimnis erzählt!“

Kurogane hob die Augenbrauen.

„So, hat er? Garantiert irgendwelchen Müll.“

„Gar nicht! Er hat gesagt, Moko-chan kann sprechen!“, rief sie in ihrer Entrüstung, weil ihr Vater die Worte des Kindergärtners anzweifelte, dann weiteten sich ihre dunklen Augen. Erschrocken schlug sie sich die Hände vor den Mund. Ja, ja, so war das eben mit Geheimnissen...

„WIE BITTE?!“

Das konnte doch nicht wahr sein! Dieser blonde Volltrottel hatte seiner Tochter doch nicht ernsthaft solche Flausen in den Kopf gesetzt? Es war definitiv eine blöde Idee gewesen, die Kleine in einen Kindergarten zu geben. Oder besser, in DEN Kindergarten zu geben.

„Vergiss das sofort wieder! So was Bescheuertes, Hasen reden doch nicht!“

In seiner Empörung vergaß er ganz, nicht so ausfallend zu werden, immerhin sprach er mit einem Kleinkind. Tomoyo schniefte.

„Aber wenn Nii-chan doch sagt...“

„Dann lügt dein Nii-chan eben! Hasen sprechen nicht und damit basta!!!“

„Aber wenn er’s doch...“

„WIRST DU WOHL AUFHÖREN ZU DISKUTIERN?!“

Natürlich war das viel zu laut und viel zu überreagiert und Tomoyo brach in Tränen aus. Und obwohl sie nichts dafür konnte, hatte Kurogane einfach nicht den Nerv, sie zu beruhigen. Außerdem musste er Auto fahren.

Der Rest der Fahrt verging unter leisem Schluchzen und ab und an gereiztem Knurren und kaum hatte er seinen Wagen geparkt, flüchtete Tomoyo auch schon aus dem Auto, war in Richtung Haus geflitzt, da war ihr Vater noch nicht einmal ausgestiegen.

Okay, vielleicht hatte er mal wieder Mist gebaut...aber Kaninchen redeten nun mal nicht! Dieser blonde Lulatsch würde sich morgen etwas anhören können, der Kleinen so etwas zu erzählen; die glaubte es ja am Ende sogar noch.

Das Mädchen wartete in sicherer Entfernung zur Wohnungstür, bis Kurogane aufgeschlossen hatte und reingegangen war, dann eilte sie schnell in ihr Zimmer und zog die Tür hinter sich zu.

Na das konnte ein Abend werden!
 

22:47 Uhr.

Und 12 Sekunden, um ganz genau zu sein.

Mit einem tonnenschweren Stöhnen ließ Kurogane sich aufs Sofa fallen.

Das war der schlimmste Abend seit langem gewesen! Tomoyo hatte kein Wort mehr mit ihm gesprochen, ihn immer nur aus vorwurfsvollen, geröteten Augen angesehen. Und trotzdem hatte er es nicht über sich und seinen Stolz gebracht, sich zu entschuldigen. Weil er doch Recht hatte!

Okay, sie war vier und er ein Vollidiot!

Aber die Erkenntnis änderte jetzt auch nichts mehr daran, dass der Abend mies gelaufen war. Das – ausnahmsweise einmal nicht so scharfe – Abendessen hatten sie in betretener Stille zu sich genommen, dann war seine eingeschnappte Tochter wieder in ihr Zimmer verschwunden, hatte ihm nicht einmal ‚Gute Nacht’ gesagt, geschweige denn gestattet, das Zimmer zu betreten, sondern schon rumgeheult, wenn er der Tür auch nur nahe gekommen war.

Irgendwann gegen halb elf hatte er sich dann in ihr kleines Reich getraut, selbst auf die Gefahr hin, einen erneuten Heulkrampf bei Tomoyo auszulösen, hatte sie aber schlafend vorgefunden. Leise und erleichtert darüber hatte er sie zugedeckt und dann das fette Hasenvieh noch eingefangen, welches, inzwischen schon ziemlich dösig, durch die Gegend gehoppelt war und jetzt auf dem Stubentisch hockte und über den Rand seines Korbes blickte, auf der Suche nach etwas Essbarem anscheinend.

„Na, du dummes Tier? Da siehst du mal, was du angerichtet hast.“

Mokona blinkerte ihn nur aus dunklen Knopfaugen an, gab natürlich keine Antwort. Wie auch? Es war nur ein Zwergkaninchen!

Seufzend kämpfte er sich wieder aus dem Polster hoch und schleppte sich total fertig in die Küche. Im Kühlschrank fand er noch etwas grünen Salat und im Bad dann eine Bürste. Das weiße Fellknäuel musste noch gestriegelt werden, so würde er den Staub am ehesten herausbekommen.

Wirklich ein toller Abend...
 

TBC...

Du musst lächeln, einsamer Wolf

Weil heute mein Geburtstag ist...

...da hab ich mir gedacht, mach ich euch doch ein kleines Geschenk und lad schon mal das neue Kapitel hoch XD! Hab grad so gute Laune und das hat mich jetzt einfach gepackt *drop*.

Das ist jetzt nicht mit Klayrchen abgesprochen, weil sie jetzt noch nicht da ist (und ich wahrscheinlich schon wieder im Bett liegen werde, wenn sie kommt), aber ich hoffe einfach mal, dass es okay für sie ist. Ansonsten: Großes ENTSCHULDIGUNG an dich und ich verspreche, ich mach es irgendwie wieder gut!!!
 

Na ja, und für alle anderen: Viel Spaß!
 

-~*~-
 

Disclaimer: Die Charas gehören (bis auf wenige Ausnahmen) nicht uns, sondern Clamp. Wir wollen kein Geld damit verdienen, sondern nur unterhalten.
 

Erstschreiber des Kapitels: Lady_Ocean

Kapitel: 3/26
 

-~*~-
 

„Trenne dich nicht von deinen Illusionen. Wenn sie verschwunden sind, wirst du weiter existieren, aber aufgehört haben zu leben.“

(Mark Twain)
 

-~*~-
 

Du musst lächeln, einsamer Wolf
 

Am nächsten Morgen hätte Kurogane beinahe verschlafen. Inzwischen hatte er sich schon daran gewöhnt, dass seine Tochter immer vor ihm wach war und ihn dann aus dem Bett holte, um ihr Frühstück zu bekommen, sodass er den Wecker, der ihn Punkt 6:00 Uhr aus dem Schlaf riss, erst gar nicht als solchen registrierte. Als er ihn dann zum wiederholten Mal hatte verstummen lassen, fiel ihm endlich auf, dass etwas fehlte: Tomoyo.

Mit einem genervten Grummeln schälte er sich aus seiner Decke und zog einen schwarzen Morgenmantel über, während er an den verpatzten Vorabend zurückdachte. Tomoyo würde doch wohl nicht immer noch sauer auf ihn sein? Oder war sie gestern erst so spät eingeschlafen, dass sie jetzt wirklich noch nicht wach war? Nun, er würde es ja bald wissen.

Bevor er seine Tochter aber weckte, ging er in aller Ruhe in die Küche und bereitete Frühstück und Kindergartenverpflegung für Tomoyo vor. Es ließ sich gleich viel entspannter arbeiten, wenn man seine Ruhe dabei hatte.

Als Kurogane eine saubere, quietschbunte Schüssel, bedruckt mit rosa Elefanten, aus dem Schrank nahm und die klebrigen Flocken hineinschüttete, die seine Tochter am vergangenen Morgen so eifrig in sich hineingestopft hatte, fiel ihm auf, dass dieses Frühstück wohl nicht mehr lange halten würde. Und immer wieder dasselbe konnte er ihr eh nicht geben. So viel wusste selbst er, dass immer mal Abwechslung beim Essen nötig war, sonst hatte man bald genug von einer Sache. Allerdings hatte er überhaupt keine Ahnung, was seiner Tochter sonst noch schmeckte. Na ja, dann würde er sie nachher halt fragen. Falls sie wieder mit ihm redete. Aber selbst wenn nicht, würde er sich nicht bei ihr entschuldigen! Am Ende dachte sie noch, er würde dem blonden Komiker zustimmen und nun auch sagen, dass Hasen reden könnten. Soweit kam es noch! Er musste unbedingt ein ernstes Wörtchen mit diesem Kindergärtner wechseln, wenn er Tomoyo nachher abgegeben hatte...

Den Rest der Gurke, den er nicht als Beilage für das Frühstück seiner Tochter kleingeschnitten hatte, zerteilte der hochgewachsene Mann nur grob und warf es dann dem Hasen in den Weidekorb, damit dieser auch etwas zum Frühstücken hatte. Anschließend machte er sich auf den Weg zu dem Zimmer seiner Tochter und hoffte, sie würde sich ohne Theater wecken lassen. Leise öffnete er die Tür, spähte erst durch den so entstandenen Spalt hindurch, sah, dass das Mädchen immer noch tief in seine Decken eingekuschelt war und sich nicht rührte, und ging schließlich zu ihr hinüber.

„Hey, Kleines! Zeit aufzustehen. Nachher geht es wieder in den Kindergarten.“

Keine Reaktion. Nur ihr gleichmäßiges Atmen war leise zu hören. War sie gestern wirklich erst so spät eingeschlafen? Vorsichtig schob Kurogane die Decke zurück und berührte Tomoyo sacht an der Schulter, rüttelte sie dann sanft, als noch immer keine Reaktion kam. Und endlich kam Leben in das kleine Mädchen. Ein tiefes Einatmen und schläfrige Bewegungen zeugten davon, dass er sie endlich wach bekommen hatte. Also wiederholte er seine Worte noch einmal:

„Komm, du musst aufstehen. Sonst kommen wir noch zu spät in den Kindergarten.“

Müde blinzelte Tomoyo ihren Vater an, musterte ihn eine Weile schweigend. Dann sah sie sich weiter im Zimmer um und stellte fest, dass jemand fehlte.

„Wo ist denn Mokona?“

„Frühstückt schon. Das Karnickel ist nämlich schon eine Weile länger wach als du.“

Tomoyo nickte daraufhin und stand nun auch endlich auf. Damit war Kuroganes Arbeit erst einmal erledigt und er erhob sich wieder, um das Zimmer zu verlassen.

„Ich warte in der Küche auf dich. Dein Frühstück steht schon da.“

Die Kleine nickte und machte sich daran, ein paar Sachen aus dem Schrank zu ziehen.
 

Kurogane war froh, als er das Zimmer wieder verlassen hatte. Gut, Tomoyo tat, was er sagte, aber sie schien immer noch nicht so recht mit ihm reden zu wollen. Dabei war sie vorgestern nicht so nachtragend gewesen. Hatte sie sich den Streit gestern Abend wirklich so zu Herzen genommen? Sollte er sich vielleicht doch entschuldigen? Nein, entschied er fest. Er hätte sich entschuldigt, wenn er im Unrecht gewesen wäre, aber das war er nun mal nicht. Allerdings war er auch nicht erpicht darauf, Tomoyos Distanziertheit länger als nötig aufrecht zu erhalten, also nahm er sich vor, ihr gegenüber von nun an vorsichtiger mit seinen Äußerungen zu sein. Er würde es auch ohne Soma hinbekommen, seine eigene Tochter richtig zu erziehen!

Als Kurogane sich seinen Kaffee eingeschenkt hatte und die Tageszeitung aufschlug, kam Tomoyo auch schon fertig angezogen aus ihrem Zimmer. Mit einem kurzen Blick überzeugte er sich, ob er seine Tochter so nach draußen lassen konnte, und stellte fest, dass Soma ihr das richtige Anziehen von Kleidung auch ganz gut beigebracht hatte. Insgeheim musste Kurogane sich eingestehen, dass seine ehemalige Erzieherin seiner Tochter eigentlich alles beigebracht hatte, was sie bis jetzt konnte. Was hatte er ihr schon großartig gezeigt? So selten, wie er daheim gewesen war, weil die Arbeit ihn so sehr eingespannt hatte...

Der Schwarzhaarige wurde aus seinen bitteren Gedanken gerissen, als er aus dem Augenwinkel registrierte, wie seine Tochter etwas umständlich den Milchkarton anhob und versuchte, etwas von der Flüssigkeit in ihre Cornflakes zu schütten. Da er die Milch selbst aus dem Kühlschrank genommen hatte, wusste Kurogane, dass sie noch voll und dementsprechend schwer für die Kleine war, also stand er schnell auf und nahm sie ihr vorsichtig aus der Hand, bevor sie alles verschütten konnte.

„Komm, ich helf’ dir.“

Damit kippte er nun selbst behutsam etwas Milch in die Frühstücksschüssel. Vom vergangenen Morgen her wusste er, wie viel Milch seine Tochter in etwa zu den Flakes gab und so musste sie nicht einmal ein Zeichen geben, um ihm anzudeuten, wann er aufhören konnte.

„Danke“, gab das Mädchen schließlich leise zurück, als er ihr die Schüssel wieder zuschob. Kurogane nutzte die Gelegenheit, um gleich generell ihre Frühstücksvorlieben zu klären.

„Was magst du eigentlich noch außer diesen Frühstücksflakes?“

„Pfannkuchen.“

„Und sonst?“

„Toast mit Marmelade. Oder Schokolade. Oder Honig.“

„Nur solche süßen Sachen? Isst du nicht auch mal was Herzhaftes zum Frühstück?“

„Nein, das esse ich lieber später. Früh mag ich keine Wurst.“

Versteh einer das Kind... Aber Kurogane hütete sich, irgendeine dumme Bemerkung zu machen. Wo er doch gerade erst dabei war, wieder so etwas wie ein Gespräch auf die Beine zu stellen.

„Dann gibt es morgen früh Toast. Das scheint davon immer noch am gesündesten zu sein.“

„Ich mag auch Obst. Das ist auch gesund.“

„Ach so? Was denn für welches?“

„Na Äpfel, Weintrauben, Bananen, Birnen, Orangen, Melonen...“

„Das lässt sich einrichten.“

Das wurde langsam ganz schön viel. Bis zum Mittag würde Kurogane sich das bestimmt nicht merken können, also nahm er sein Handy aus der Tasche und trug die Liste der Lebensmittel in die Notizen ein.
 

Nach dem Frühstück schickte Kurogane seine Tochter schnell noch ins Bad zum Zähneputzen, dann war es auch schon Zeit zum Losfahren. Tomoyo übernahm jetzt wieder die Obhut über den Weidekorb, in dem sich Mokona befand, und nahm – diesmal ohne vorherigen Streit mit ihrem Vater – zusammen mit dem Hasen wieder auf dem Beifahrersitz Platz. Während der Fahrt streichelte sie den Hasen ausgiebig und meinte zwischendurch wie beiläufig: „Siehst du, Papa? Wenn Mokona sauber ist, ist es ganz weiß und kuschelweich.“

„Hm...“, antwortete dieser nur geistesabwesend. Schließlich musste er sich jetzt auf den Verkehr konzentrieren und der war um diese Uhrzeit immer recht dicht. Außerdem war er in Gedanken bereits im Kindergarten und bei Fye, den er erst einmal zur Schnecke machen würde, wenn er ihn sah.

Schließlich hatten sie ihren Kampf im allmorgendlichen Verkehrschaos erfolgreich gemeistert und den Kindergarten erreicht. Voller Vorfreude schnallte Tomoyo sich ab, kaum dass das Auto zum Stehen gekommen war, und sprang heraus, denn vor der Tür hatte sie bereits den blonden Kindergärtner ausfindig machen können.

„Nii-chaaaan! Guten Morgen!“

Freudig rannte sie auf ihn zu. Kurogane schüttelte ungläubig den Kopf. Wie hatte es der Kerl geschafft, in nur einem Tag ihr Herz zu erobern, wo sie doch gestern noch so ängstlich gewesen war? Aber trotzdem musste er sich einmal ernsthaft mit ihm unterhalten. Er sollte nur aufpassen, dass Tomoyo dabei außer Hörweite war.

„Tomo-chan, hallo! Du bist aber fröhlich heute!”

„Ja, heute habe ich mich ganz doll auf den Kindergarten gefreut! Und Moko-chan ist auch wieder ganz weiß, guck!“

Damit hob die Kleine den Deckel des Korbs an und gab den Blick auf das blütenweiße Häschen frei.

„Ooooooh! Moko-chan sieht ja wirklich wieder toll aus! Hast du es so schön sauber gemacht?“

„Nein, Papa war das.“

„Mensch, dein Papa hat ja richtig Ahnung von Tieren! Sieht man ihm gar nicht an.“

Besagter ‚Papa’ hatte inzwischen sein Auto abgeschlossen und war mit säuerlicher Miene zu den beiden anderen getreten.

„Dir auch einen guten Morgen, Kuro-tan! Willst du Moko-chan nicht irgendwann mal wieder mitnehmen?“

„Erstens: Nenn mich nicht so! Wenn ich nicht geduzt werden möchte, dann möchte ich nicht! Und erst recht nicht mit so einem bescheuerten Spitznamen! Und Zweitens: - Der Hase bleibt jetzt erst mal hier.“

Eigentlich hatte er sagen wollen: ‚Das Vieh kommt mir nicht mehr ins Haus!’, aber dann besann er sich darauf, dass Tomoyo noch neben ihm stand.

„Ach, das ist schade“, erwiderte der Kindergärtner breit grinsend, „aber vielleicht überlegst du es dir ja noch mal.“

‚Wer’s glaubt...’

Kurogane tat die Bemerkung mit einem abfälligen Schnauben ab. Dann wandte er sich an seine Tochter:

„Willst du das Karnickel nicht wieder in seinen Stall setzen? In dem kleinen Korb hat es doch nicht richtig Platz.“

„Ja...“

Schon an ihrem Wortlaut konnte Kurogane erkennen, dass sie zögerte. Ob sie ahnte, dass er sie absichtlich wegschickte? Kinder sollten ja angeblich einen sechsten Sinn für so etwas haben...

„Dein Paps hat Recht, Kleines. Moko-chan ist es bestimmt viiiiieeeel zu eng, wenn es so lange in dem kleinen, dunklen Korb sitzen muss. Und es möchte bestimmt etwas frisches Gras fressen.“

Der Blonde pflichtete ihm bei? Er konnte sich nicht vorstellen, dass dieser so blauäugig war und sich nicht denken konnte, dass Kurogane unter vier Augen mit ihm reden wollte, aber nach dem Ausgang ihres Gesprächs am vergangenen Morgen konnte dieser doch unmöglich Interesse daran haben, erneut mit ihm allein zu sein! Aber was auch immer nun seine Gründe waren – seine Worte hatten Tomoyo jetzt schließlich überzeugt. Behutsam stellte das kleine Mädchen den Korb am Rand des Weges ab und umarmte zum Abschied wieder ihren Vater. Diesmal kam Kurogane ihr ein Stück entgegen, sodass sie nicht bloß seine Knie erwischte.

„Lass dich von den anderen Kindern nicht ärgern, ja?“

„Mh-mh“, verneinte sie gedämpft, ihr Gesicht in das Shirt ihres Vaters gedrückt.

„Kommst du heute wieder so spät?“, fragte sie vorsichtig.

„Nein, diesmal bin ich pünktlich.“

„Okay...“

Damit löste sie sich von ihm und nahm den Korb wieder in die Arme.

„Bis dann!“

„Bis dann.“

Und schon war sie um die nächste Ecke verschwunden. Als Kurogane sich zu Fye zurückdrehte, hatte dieser ein ganz sanftes, ungezwungenes Lächeln auf den Lippen, während seine Augen noch verträumt Tomoyo hinterher blickten. Doch kaum hatte er bemerkt, dass Kurogane ihn ansah, schien sich das Lächeln zu verändern, künstlich zu wirken und das in einer Geschwindigkeit, als hätte der Blonde sein Leben lang nichts anderes getan, als sich hinter einer Maske zu verstecken. Diese Verschwiegenheit veranlasste ihn praktisch unbewusst dazu, es ihm gleich zu tun und ebenfalls sein unnahbares, im Gegensatz zu seinem Gegenüber allerdings mürrisches und wie versteinert wirkendes Antlitz aufzulegen.

„Du wolltest mit mir reden, Kuro-sama?“, fragte der Blondschopf nur ungerührt.

„Ja. Über die Spinnereien, die du meiner Tochter erzählst. Was fällt dir ein, ihr solche Flausen in den Kopf zu setzen, wie z.B. dass Hasen sprechen könnten! Und die Kleine, naiv wie sie ist, glaubt den Blödsinn auch noch! Das redest du ihr gefälligst wieder aus, sonst hab ich sie das letzte Mal in diesen Kindergarten gebracht!“

Für einen Moment flackerte die Maske des Kindergärtners, doch gleich darauf saß sie wieder perfekt.

„Was findest du denn so schlimm daran, dass sie an sprechende Hasen glaubt?“

„Es ist einfach Schwachsinn! Es bringt ihr nichts, solchen Hirngespinsten nachzurennen, und früher oder später ist sie sowieso alt genug, um das zu durchschauen. Also brauchst du ihr diesen Floh gar nicht erst ins Ohr zusetzen.“

„Ja, das stimmt...“

Kurogane hielt verwundert einen Augenblick inne. Mit einem so schnellen Eingeständnis hätte er wahrlich nicht gerechnet.

„... Früher oder später sind die Kinder wirklich zu alt, um an so etwas wie sprechende Hasen oder den Weihnachtsmann zu glauben. Irgendwann wird jeder erwachsen. Aber findest du wirklich, dass das besser ist? Wenn du dir all die erwachsenen Menschen so ansiehst, ihre Gesichter, wie sie Tag für Tag mit derselben versteinerten Miene durchs Leben hetzen, nirgends mehr verweilen oder gar lächeln... Meinst du wirklich, dass das besser ist? Früher oder später wird jedes Kind so, wenn der harte Lebensalltag ihm auch die letzten Träume entrissen hat – so ernst und unempfindlich gegen alles Schöne. Und jetzt schau dir deine Tochter an, dieses liebe, kleine Wesen, mit so viel Seele und Freude an den kleinen und großen Dingen des Lebens. Ich habe dich beobachtet, ich weiß, wie du sie ansiehst, wenn du dich von ihr verabschiedest oder sie nach einem langen Tag wiedersiehst. Du brauchst mir also nicht erzählen, dass du nicht genauso sehr an ihr hängst wie sie an dir. Und deshalb bin ich mir sicher, dass du tief in deinem Innern gar nicht wollen kannst, dass aus ihr so schnell einer dieser unzähligen seelenlosen Erwachsenen wird, wie man sie heutzutage zu Tausenden auf den Straßen sieht. Und ihre Träume und Fantasien bewahren sie davor, solch ein Mensch zu werden, selbst wenn sie überhaupt nicht wahr sind und niemals in Erfüllung gehen können. Aber wie du es bereits so treffend gesagt hast: Früher oder später ist sie alt genug, um das selbst zu durchschauen. Also warum nicht ein bisschen später? Warum den Zeitpunkt, an dem sie erwachsen wird, nicht noch ein Stück herauszögern und das niedliche Kind ein wenig länger bewahren, das sie jetzt noch ist?“

Kurogane schwieg. Er konnte gar nicht anders, als darauf zu schweigen. Irgendwie fühlte er sich gerade ziemlich mies. Auch wenn er vor Fye ganz sicher nicht offen zugeben würde, dass er es auf eine gewisse Art und Weise rührend fand, wie seine Tochter an ihm hing, oder ihm zustimmen, dass auch er die Tristheit der Welt, in der er lebte, gelegentlich sogar ermüdend fand, so kam er trotzdem nicht umhin, dass er sich selbst eingestehen musste, dass Fye Recht hatte. Tomoyo war ein Kind. Das war eine Tatsache, die er anscheinend immer noch nicht komplett verinnerlicht hatte. Er konnte sich einfach nicht in Kinder hineinversetzen, nicht wissen, wie sie dachten oder fühlten, aber so, wie Fye es gerade beschrieben hatte, erschien es ihm ziemlich plausibel. Und ja, er mochte seine Tochter so, wie sie war. Ihre kindliche Art hatte etwas seltsam Erfrischendes und brachte etwas in sein Leben, was er in den letzten Jahren schon fast vergessen hatte: Abwechslung. Und wenn der kleine Zwerg mit den großen, violetten Augen ihn so zärtlich ansah, dann war er sich nicht mehr sicher, ob Abwechslung wirklich etwas so Schlechtes sein musste...

„Ich entnehme deinem Schweigen einfach mal, dass du mir zustimmst?“, unterbrach Fye Kuroganes Gedanken. Augenblicklich wurde aus dem nachdenklichen Vater wieder der bittere Miesepeter.

„Tz! Denk doch, was du willst! Aber erzähl meiner Tochter nicht zu viele von deinen komischen Märchen. Sie hat selbst genug Fantasie.“

Damit drehte er sich um und ging zu seinem Wagen zurück. Fye lächelte in sich hinein.

„Dann bis heute Abend, Kuro-sama!“, frohlockte er ihm hinterher.

„Ja, ja...“, kam es gegrummelt zurück, ohne dass Kurogane sich noch einmal umdrehte.
 

Wieder zu Hause angekommen, ließ Kurogane sich erst einmal auf sein Sofa fallen und schaltete den Fernseher ein. Es liefen gerade irgendwelche Nachrichten, doch so genau nahm er es gar nicht wahr. Dieser blonde Kerl hatte ihn mit seinem Gequatsche irgendwie durcheinander gebracht. Er konnte nicht genau beschreiben, was es war, das ihn im Moment störte, doch er fühlte sich ziemlich erschöpft. Und unvollständig. Kurogane konnte es selbst kaum fassen. Seit vier Jahren hatte es ihm nicht das Geringste ausgemacht, allein zu sein, im Gegenteil, er hatte es sogar begrüßt, immer mal eine Auszeit von all den Menschen um ihn herum zu bekommen und allein sein zu können. Warum, verdammt noch mal, hatte er dann plötzlich das Gefühl, als würde ihm etwas fehlen?

Er schaltete den Fernseher wieder aus. Es lief schon wieder irgendein Beitrag zu irgendeinem Krieg in irgendeinem Teil der Welt und das Geballer ging ihm auf die Nerven. Ihm fiel sein Handy wieder ein, in dem er sich die Einkaufsliste für Tomoyos Essvorlieben eingespeichert hatte. Ja, am besten machte er jetzt irgendetwas Sinnvolles, das würde ihm helfen, seinen Kopf frei zu bekommen. Am besten ließ er das Auto auch gleich stehen, dann konnte er quer durch den Park laufen. Dauerte genauso lange und etwas frische Luft war jetzt nicht verkehrt.
 

„Nii-chan?“

„Ja?“

Fye hatte seinen Schützlingen gerade gezeigt, wie man aus einem quadratischen Papier, das man mehrmals über Eck zusammengefaltet hatte, ein hübsches Deckchen schneiden konnte. Als er gerade bei Tomoyo vorbeigekommen war, hatte diese von ihrer filigranen Arbeit aufgeschaut und ihn mit diesem fragenden Blick angesprochen.

„Papa sagt, Moko-chan kann gar nicht sprechen. Ist das wahr?“

Ah...das lag der Kleinen also noch auf dem Herzen. Er hatte doch gesehen, dass etwas nicht stimmte, als sie mit dem leeren Korb zu ihm zurückgekehrt war. Sie hatte da schon so bedrückt gewirkt.

„Dass dein Papa Moko-chan nicht verstehen kann, heißt noch lange nicht, dass es nicht sprechen kann“, erklärte der Blonde dem kleinen Mädchen ruhig.

„Warum kann Papa Moko-chan denn nicht verstehen?“

„Dein Papa ist schon sehr erwachsen. Und Erwachsene werden leider taub und blind für die Dinge, die Kinder noch wahrnehmen können. Sie haben vergessen zu glauben.“

„Ist das schlimm?“

„Na ja...sagen wir: Es ist schade. Denn so verpassen die Erwachsenen viele tolle Dinge, die Kinder erleben können.“

„Das ist wirklich schade... Guckt Papa deshalb immer so ernst?“

„Wahrscheinlich.“

„Armer Papa... Dann möchte ich am liebsten NIE groß werden!“

„Groß werden ist aber etwas anderes.“

„Wirklich?“

„Ja. Auch große Menschen können noch viele, schöne Sachen erleben, wenn sie nur nicht vergessen, wie es ist, ein Kind zu sein und zu träumen.“

„Du kannst noch träumen, oder, Nii-chan?“

„Ja, ich träume gern!“

„Kannst du denn Moko-chan verstehen?“

„... Manchmal.“

„Echt? Was sagt es denn, wenn du es verstehst?“

„Dass es Hunger hat.“

Tomoyo lachte laut auf.

„Moko-chan denkt immer nur ans Fressen! Kein Wunder, dass es so dick ist. Hast du ihm nicht gesagt, dass das nicht gesund ist?“

„Doch, aber es hört wohl nicht auf mich...“

In diesem Moment kam Sakura aufgelöst auf den Blondschopf zugerannt und verkündete ihm verzweifelt: „Ryu-kun hat fast das ganze Papier zerschnitten! Jetzt ist kaum noch etwas für die anderen Kinder übrig...“

„Ich kümmere mich gleich darum, Sakura-chan. Geh du schon mal zurück und schau, dass sich niemand mit den Scheren verletzt.“

„Okay.“

Und damit war sie wieder verschwunden, Fye wandte sich wieder Tomoyo zu, die ihn erneut mit großen, besorgten Augen anblickte.

„Kann mein Papa denn nie mehr lachen, wenn er einmal erwachsen geworden ist?“

„Doch, ich denke schon. Er hat vielleicht vergessen, wie es ist, ein Kind zu sein, aber was man vergisst, das hat man zumindest schon einmal gewusst und deshalb kann es einem auch irgendwann wieder einfallen. Und ich glaube, du hilfst ihm dabei, sich wieder daran zu erinnern.“

„Wirklich? Wie?“

Fye lächelte sie sanft an und streichelte ihr durchs Haar, während er langsam aufstand, um sich dann um Ryu kümmern zu können.

„Bleib einfach, wie du bist. Sei bei ihm und lache immer mal. Das wird ihm bestimmt helfen.“

„Ehrlich? Mehr muss ich nicht tun?“

„Nein, mehr nicht. – Sag, möchtest du dein hübsches Deckchen nachher noch anmalen? In den Holzkisten liegen Stifte, die kannst du dir nehmen.“

„Au ja!“

Freudig sprang das kleine Kind auf und machte sich auf die Suche nach hübschen Farben, während Fye nach seinem kleinen Wildfang sah.
 

Verdammt...! Wenn er das nächste Mal Süßkram einkaufen ging, würde er Tomoyo mitnehmen. Wer hätte auch ahnen können, dass es so viel davon gab?

Kurogane stand – zum wahrscheinlich ersten Mal in seinem Leben – vor einem Regal mit süßen Brotaufstrichen und war fast am Verzweifeln. Nicht nur, dass er sich hier zwischen hundert verschiedenen Sorten Marmelade – Erdbeere, Kirsche, Aprikose, Himbeere, Waldfrucht, Johannesbeere, Heidelbeere, Brombeere, Pfirsich sowie unzähligen Kombinationen besagter Früchte – praktisch verlaufen konnte, nein, selbst von etwas so Einfachem wie Honig und Schokolade musste es zig verschiedene Sorten geben, die eh alle gleich aussahen! Gut, das Schokoladen- und Honigproblem behob er dann damit, dass er sich einfach jeweils die Sorte herausnahm, die gerade preisreduziert im Angebot war, denn das war in beiden Fällen zum Glück auch je eine, doch mit der Marmelade wurde es wirklich kritisch. Was, wenn irgendeine von diesen Sorten seiner Tochter nicht schmeckte? Er hatte keine Lust, das Zeug für umsonst gekauft zu haben.

Es war zum Verzweifeln. Er hatte eine Kaufhalle sowieso noch nicht allzu oft von innen gesehen, denn wenn er beruflich unterwegs gewesen war, dann war er meist die ganze Woche weg gewesen und hatte seine Verpflegung komplett gestellt bekommen. Und so anspruchsvoll war er nicht, dass er nebenher extra noch in eine Kaufhalle gerannt wäre, um sich irgendwelche Sonderwünsche zu erfüllen. Auch an Wochenenden hatte er nur sehr selten etwas kaufen müssen, denn Soma hatte schon dafür gesorgt, dass immer etwas da war, wovon er sich auch bedienen konnte. Oder er hatte sich einfach eine Pizza bestellt. Fazit: Kaufhallen waren für ihn tatsächlich noch Neuland!

So stand der Schwarzhaarige noch eine ganze Weile ratlos vor dem langen Regal herum, bis er sich schließlich entschied, zur Sicherheit zwei Marmeladensorten statt einer mitzunehmen. Nach einem weiteren kurzen Moment des Zögerns entschied er sich für eine der dunklen Sorten – Waldbeere, wie er beim Lesen des Etiketts feststellte – und packte sie zum Obst, das er glücklicherweise unter weit geringeren Umständen bekommen hatte, zum Honig und zur Schokolade. Dann ging das Rätseln weiter: Welche Marmelade noch? Kirsche? Aber da stand drauf, dass die aus Sauerkirschen hergestellt würde. Wenn die nun tatsächlich sauer wäre, würde Tomoyo sie ganz sicher nicht essen. Aprikose? Aber das gelb sah schon so ekelhaft aus...

„Kann ich Ihnen helfen, junger Mann?“

Ein altes Ömchen war mit ihrem Rollwagen unbemerkt neben ihm erschienen und sah zu ihm auf.

„Überlegen Sie, welche Sorte Marmelade Sie ihrem Kind mitnehmen sollten? Nun, meine Enkel mögen Erdbeere sehr gern. Das mögen eigentlich alle Kinder.“

Okay, dann also Erdbeere. Erleichtert über den Ratschlag der alten Frau nahm er ein Glas aus dem Erdbeermarmeladen-Fach und packte es zu den restlichen Utensilien in den Wagen.

„Danke.“

„Keine Ursache, mein Junge.“

Der Schwarzhaarige überhörte die letzten Worte. Schließlich war sie nur eine alte Oma... Damit gingen beide wieder ihres Weges.
 

Als Kurogane mit seinem Einkaufsbeutel den Rückweg durch den Park antrat, fühlte er sich schon ein wenig besser als vorhin, als er von zu Hause losgegangen war. Die Ablenkung hatte das bedrückende Gefühl, welches er seit seinem Gespräch mit Fye mit sich herumschleppte, etwas abgeschwächt. Auch wenn er es immer noch deutlich spüren konnte.

‚Und deshalb bin ich mir sicher, dass du tief in deinem Innern gar nicht wollen kannst, dass aus ihr so schnell einer dieser unzähligen seelenlosen Erwachsenen wird, wie man sie heutzutage zu Tausenden auf den Straßen sieht...’

Es war fast schon beängstigend gewesen, wie der Blonde so Mitleid erregend über Erwachsene gesprochen hatte. Aber das Schlimmste war gewesen, dass er das Gefühl hatte, als hätte er über ihn gesprochen. Das war es wohl auch, was so sehr an seinem Gemüt nagte. Diese Bestätigung einer Tatsache, die er tief in seinem Innern eigentlich schon lange wusste: Dass er gar nicht mehr richtig lebte, sondern nur noch existierte. Sein gesamtes, jämmerliches Dasein damit fristete, Tag für Tag unberührt verstreichen zu lassen. Und am schlimmsten war, dass er das schon gar nicht mehr mitbekommen hatte! Er hatte es einfach als gegeben hingenommen und sich nicht weiter darum gekümmert. Es war egal geworden. Doch seit er mehr oder minder unfreiwillig mehr Zeit mit seiner Tochter verbrachte, war etwas in ihm geschehen. Das kleine Mädchen berührte einen Teil seiner Seele, von dem er nicht einmal gewusst hatte, dass er ihn noch besaß: Die Erinnerungen an seine eigene Kindheit und Jugend. Ja, sie erinnerte ihn an sich selbst, daran, dass er ihr einst, vor scheinbar endlos langer Zeit, gar nicht mal so unähnlich gewesen war. Doch irgendwann war ihm das einfach abhanden gekommen. Wann eigentlich? Als er selbst die Welt der Erwachsenen betreten hatte. Als er angefangen hatte zu arbeiten, hatte er sich Stück für Stück von seiner Vergangenheit verabschiedet und es nicht einmal richtig gemerkt. Bis er jetzt plötzlich sah, dass ihm nichts mehr von damals geblieben war...

Er hatte den Park schon zur Hälfte durchquert. Als nächstes kam der große Kinderspielplatz in Sicht, an dem sich am Nachmittag immer viele Eltern mit ihren Sprösslingen aufhielten. Jetzt, kurz vor der Mittagszeit, war er verständlicherweise leer. Fast leer, um genau zu sein. Eine einzige Person saß ruhig auf einer der Schaukeln, die weiter hinten, etwas abseits der anderen Spiel- und Klettergeräte, angebracht waren. Es war ein Mädchen – verglichen mit den Kindern, die sich sonst auf dem Spielplatz aufhielten, eigentlich eher eine junge Frau – mit langen, glatten, platinblonden Haaren, die sich sanft in der spätsommerlichen Brise aufbauschten. Sie hatte vorhin schon hier gesessen, als Kurogane zum ersten Mal vorbei gekommen war. Und sie saß noch immer in derselben zurückgezogenen Haltung da. Hatte sie sich die ganze Zeit über nicht einmal bewegt?

Kurogane hielt einen Moment inne und betrachtete das Mädchen genauer. Wie sie so dasaß – mit leicht nach vorn gebeugtem Oberkörper, gesenktem Kopf, die Beine leicht angezogen – erinnerte sie ihn ein wenig an sich selbst. Sie sah so aus, wie er sich gerade fühlte, schoss es ihm durch den Kopf. In diesem Moment hob das Mädchen den Blick und ihre rotbraunen Augen trafen für einige Augenblicke seine karminroten. Kurogane konnte den Blick nicht abwenden, obwohl er normalerweise sofort wegsah, wenn ihn jemand anders so direkt ansah. Aber diese Augen...der Blick, den diese Augen trugen, hielt ihn einfach gefangen. Sie wirkten so verlassen, so einsam... Es kam Kurogane sonderbar vertraut vor. Selbst als das Mädchen ihren Blick wieder gesenkt hatte, verschwand dieses Gefühl nicht mehr. Für einige Augenblicke blieb er wie angewurzelt stehen, wusste nichts mit sich anzufangen, bis er sich schließlich einen Ruck gab und langsam auf sie zuschlenderte. Er war neugierig geworden, wer sie war und warum sie hier so allein saß. Außerdem waren sie momentan eh allein.

Gemütlich ging Kurogane auf eine neben dem Mädchen stehende Schaukel zu, setzte sich ebenfalls darauf, wippte ein wenig mit seinen langen Beinen vor und zurück. Es war ein seltsames Gefühl. Er hatte ewig keiner Schaukel mehr Beachtung geschenkt, geschweige denn auf einer drauf gesessen! Und nun saß er hier, mit seinem Einkaufsbeutel in der Hand, schaukelte sanft vor und zurück und überblickte den Park von einer Perspektive aus, die sonst den kleinen Kindern vorbehalten war, wenn sie hier saßen.

Plötzlich beendete die sanfte Stimme des Mädchens die Stille.

„Es ist schön hier um diese Zeit. Man hat den Park ganz für sich allein.“

Aus dem Augenwinkel heraus sah Kurogane, dass das Mädchen unverändert zu Boden schaute.

„Hm“, gab er monoton zurück und ließ seinen Blick noch einmal schweifen.

„Sind Sie öfters hier?“

„Nein...eigentlich nicht.“

„Ich komme gern her. In der ganzen Stadt ist es nirgends so ruhig wie hier. Das hat etwas Beruhigendes. Vielleicht sollten Sie auch öfters herkommen.“

Sie musste bei ihrem Blickkontakt dasselbe gespürt haben wie er, das wurde Kurogane in diesem Moment klar. Aber was konnte ihr widerfahren sein, dass sie in ihrem so jungen Alter schon solch trübe Gedanken plagten?

„Fühlst du dich nicht einsam hier?“

„Nicht einsamer als irgendwo anders.“

„Und was ist mit deinen Freunden? Warum gehst du nicht zu ihnen, wenn dich etwas bedrückt?“

„Meine Freunde... Ich habe einen guten Freund. Er ist sehr lieb und hilft mir viel. Aber er hat auch viele eigene Probleme, die seine Seele belasten, daher möchte ich ihm nicht noch mehr aufbürden.“

„Du machst dir Sorgen um ihn, was?“

„Ja. Er tut so viel für mich, aber ich kann gar nichts für ihn tun. Das tut mir Leid.“

„Warum nicht?“

„Ich bin wohl einfach nicht die Richtige.“

Nicht die Richtige? Was meinte sie damit? Kurogane verstand ihre letzte Bemerkung nicht so ganz und das Mädchen schien es zu bemerken, als sie ihren Kopf aufgrund seines Schweigens erneut hob und ihn zum zweiten Mal direkt ansah. Diesmal brach sie den Blickkontakt nicht wieder ab, während sie sprach:

„Er ist ein Mensch mit einer sehr guten Seele. Er sorgt sich viel um andere, ohne dabei Rücksicht auf sich selbst zu nehmen, obwohl er die meiste Hilfe von allen braucht. Aber er lässt niemanden an sich heran, selbst mich nicht, obwohl ich ihm so gern helfen würde. Er gehört zu den wenigen Menschen, die noch immer auf ihr passendes Gegenstück warten.“

„Ein Gegenstück?“

„Ein Mensch, der nur für dich allein bestimmt ist. Es gibt ihn für jeden Menschen auf der Welt, doch heutzutage leben alle nur noch so oberflächlich, dass sie den Unterschied nicht mehr spüren und sich einfach mit irgendwem zufrieden geben, selbst wenn die Verbindung zwischen beiden irgendwann wieder auseinander bricht.“

„Und mit dem passenden Gegenstück passiert das nicht?“

Es war nicht so, dass Kurogane daran glaubte, was dieses Mädchen da von Gegenstücken erzählte, aber so, wie sie ihn immer noch ansah, konnte er einfach nicht anders als ihr zuhören.

„Nein, denn zwei Gegenstücke sind wie die zerbrochenen Hälften eines Kreises: Sie passen lückenlos aneinander und bilden eine vollkommene Einheit.“

„Und woher weiß man, wann man sein Gegenstück gefunden hat?“

„Man weiß es einfach, wenn es soweit ist. Wenn sich zwei Leute, die für einander bestimmt sind, einmal getroffen haben, sind ihre Schicksale untrennbar miteinander verwoben.“

Na gut, jetzt wurde es aber arg kitschig. Für ihr Alter war sie ein wenig zu verträumt.

„Sag, willst du nicht langsam nach Hause gehen? Du sitzt schon so lange hier.“

Das Mädchen wandte sich wieder von ihm ab, um ein Weilchen ausgiebig den Park zu betrachten, so als hätte sie ihn gerade zum ersten Mal gesehen.

„Ja... Sie haben Recht. Ich sollte wirklich langsam gehen.“

Mit einer zierlichen Bewegung stand sie von der Schaukel auf und strich ihren Rock glatt. Wie sie jetzt so vor ihm stand, mit ineinander verschränkten Händen, erneut den Park weit überblickend, wirkte sie fast noch verlorener als gerade eben, wo sie auf der Schaukel gesessen hatte.

„Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag“, verabschiedete das Mädchen sich mit einer schüchternen Verbeugung.

„Wenn du möchtest, begleite ich dich nach Hause. Wo wohnst du denn?“

Kurogane hatte die Frage aus einer plötzlichen Eingebung heraus gestellt. Er hatte irgendwie das Gefühl, dass er dieses einsame Geschöpf nicht einfach so allein lassen konnte. Außerdem beruhigte ihre Gesellschaft ihn auf eine undefinierbare Art und Weise. Obwohl sie ein wenig seltsam war in ihren Anschauungen, hatte er das Gefühl, in ihr eine Art Seelenverwandte gefunden zu haben und er war sich sicher, dass sie ihm nicht alles erzählt hatte, was ihr auf dem Herzen lag. Nun, er selbst würde sich auch schwer hüten, dem nächstbesten Fremden sein ganzes Leben darzubieten.

Das Mädchen schaute ihn einen Moment lang erstaunt an, so als hätte sie überhaupt nicht mit dieser Frage gerechnet, bevor sie einen Augenblick leicht lächelte und ihm antwortete:

„Ich wohne im Flussviertel.“

Dieses Viertel befand sich in der Nähe des Kindergartens. Kurogane wusste, wo es war.

„Dann lass uns gehen.“

„Aber dann müssen Sie Ihren schweren Beutel unnötig mit sich herumtragen.“

„Der ist nicht schwer, keine Sorge.“

„... Danke.“

Damit machten sie sich auf den Weg und keiner von beiden sprach noch ein Wort. Erst als sie vor einem der Häuser im Flussviertel zum stehen kamen, in dem das junge Mädchen anscheinend wohnte, sahen sie sich noch einmal an, und nach einer weiteren kurzen Verbeugung bedankte sich das Mädchen für Kuroganes Umstände.

„Ich sagte doch, es ist kein Problem. Das war kein großer Umweg für mich.“

Na ja, eigentlich konnte er den ganzen Weg nun noch einmal laufen, aber auf die 15 Minuten kam es jetzt auch nicht mehr an.

„Trotzdem bin ich Ihnen dankbar, dass Sie mir noch etwas Gesellschaft geleistet haben. Sie sind sehr freundlich, auch wenn Sie einen sehr ernsten Gesichtsausdruck tragen. Ich glaube, wenn Sie lächeln, könnten Sie die Herzen vieler Menschen erwärmen.“

„Meinst du? Aber warum lächelst du dann nicht? Ein hübsches Mädchen wie du hat sicherlich ein bezauberndes Lächeln.“

Bei diesen Worten legte sich dann doch ein lieblicher Hauch auf ihre Gesichtszüge.

„Sie sind wirklich sehr freundlich.“

Als sich unbewusst nun auch ein kleines Lächeln auf Kuroganes Gesicht schlich, fügte das Mädchen hinzu: „Und Sie haben tatsächlich ein sehr warmes Lächeln. Sie sollten es öfters zeigen. Es hilft sicher nicht nur anderen, sondern auch Ihnen selbst.“

Nun wieder eher erstaunt über den letzten Kommentar des Mädchens, wich der weiche Ausdruck in Kuroganes Gesicht dem eines verwunderten. Niemand hatte sich bisher wirklich die Mühe gegeben, sein Inneres zu verstehen, geschweige denn es auch nur ansatzweise geschafft. Wie gelang es diesem Mädchen dann bloß, bei jeder ihrer Bemerkungen dieses Gefühl des Durchschaut-seins bei ihm auszulösen?

„Vergessen Sie es bitte nicht“, fügte sie noch an, als sie bereits einige Schritte in Richtung Hauseingang getan hatte. „Und alles Gute.“

„Dir auch“, gab er noch immer etwas irritiert von diesem ungewöhnlichen Menschen zurück, bevor auch er sich daran machte, den Rückweg anzutreten und den Einkauf endlich nach Hause zu bringen.

Heute war ein ziemlich seltsamer Tag, dachte er bei sich. Alle schienen zweideutige Anspielungen auf sein Leben zu machen und trafen dabei jedes Mal einen empfindlichen Nerv...
 

An diesem Nachmittag stand Kurogane pünktlich im Eingangsbereich des Kindergartens, um seine Tochter abzuholen. Er wollte dem Kindergärtner nicht schon wieder einen Grund liefern, ihm irgendwelches Viehzeug aufzubrummen. Von dem Hasen hatte er erst mal genug! Kurogane wusste schon, warum er sich kein Haustier angeschafft hatte.

„Hallo, Kuro-kuro! Diesmal bist du ja überpünktlich! Da wird sich deine Tochter aber freuen. Sie fragt mir schon die ganze Zeit Löcher in den Bauch, wie spät es ist!“, lachte der Blonde.

„Ich habe schließlich keine Lust, schon wieder Herberge für deinen Streichelzoo spielen zu dürfen.“

„Ooooooch“, meinte der grinsende Mann gespielt traurig, „und ich dachte, du würdest dich einfach nur freuen, deine Tochter wiederzusehen.“

Eine Antwort darauf blieb Kurogane erspart, denn in diesem Moment kam besagte Tochter schon fertig bewaffnet mit Rucksack und Jacke in den Vorraum gerannt und begrüßte ihn höchst erfreut:

„Papiiiiiiiii!!!“

Damit hatte sie sich wieder an seinen Beinen festgeklammert und kuschelte sich an den großen Mann an.

„Heute hast du es aber eilig, von hier wegzukommen, was?“, meinte er grinsend, während er dem Kind durch die Haare wuschelte.

„Nein, aber ich hab dich vermisst!“

Erneut stahl sich ein kleines Lächeln auf Kuroganes Lippen, als er sich vorsichtig zu seiner Tochter herunterkniete.

„Hey, ich komme doch immer, um dich abzuholen! Da mach dir mal keine Sorgen.“

„Okay.“

„Also los, lass uns nach Hause fahren.“

„Ja, aber vorher möchte ich mich noch von Fye-nii-chan verabschieden.“

Und damit wiederholte sie ihre Knuddelattacke, mit der sie gerade eben ihren Vater begrüßt hatte, auch bei dem Kindergärtner, um sich von diesem zu verabschieden. Der war ihr allerdings gleich ein Stück entgegen gekommen, so dass sie ihre kleinen Arme um seinen Oberkörper schlingen und ihr Gesicht in seine Schulter betten konnte.

„Mach’s gut, Nii-chan!“

„Du auch, Tomo-chan. Und bis morgen, ja?“

„Ja, bis morgen!“

Damit löste sie sich wieder von ihm und lief hinüber zu ihrem Vater, ergriff seine Hand, um sie das Stück bis zum Auto halten zu können. Fye sah ihnen lächelnd nach, doch es bekam keiner mehr mit.
 

„Okay, hast du verstanden, wie ich das jetzt gemacht habe?“, fragte Kurogane seine Tochter, nachdem er ein wenig Butter in zwei fließenden Bewegungen auf einer Scheibe Brot verteilt und anschließend den noch am Messer klebenden Rest an der Brotrinde abgeschmiert hatte.

Richtig: Es war Abendbrotszeit im Hause Sugawara und der nun allein erziehende Vater hatte sich vorgenommen, seiner Tochter das Schnitte-Schmieren beizubringen.

„Ich denke schon“, gab seine Tochter, noch immer die gleichmäßig geschmierte Schnitte ansehend, zurück.

„Gut, dann versuch es selbst mal.“

Etwas zögerlich nahm das Kind das extra für sie bereit gelegte Schmiermesser zur Hand und tauchte es geradewegs mit der Spitze in die weiche Butter ein.

„Nein, nicht so“, korrigierte ihr Vater sie. „Du musst es etwas schräger ansetzen.“

Während er es erklärte, nahm er ihre kleine Hand sacht in seine und führte sie in die richtige Position, dirigierte sie beim Herausnehmen der Schmiermasse und ließ dann wieder los, damit seine Tochter den nächsten Schritt allein probieren konnte.

„Und jetzt schön glatt auf die Schnitte schmieren.“

Behutsam strich Tomoyo erst einmal die gesamte Butter an der Scheibe ab, verteilte sie dann halb mit dem Messer drückend, halb schmierend in einem immer größer werdenden, eiförmigen Klecks auf der Brotscheibe. Es dauerte auch nicht lange, bis das erste bisschen Butter über den Rand der Scheibe und auf das Brettchen gestrichen wurde. Mit einem resignierenden Seufzer nahm er dem Kind das Messer kurz aus der Hand und strich das betroffene Stück Butter auf die Schnitte zurück. Tomoyo machte ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter.

„Das ist ganz schön schwer. Warum sieht das bei dir so einfach aus, Papa?“

„Das macht wohl die Übung“, antwortete er schulterzuckend und hielt ihr das Messer wieder hin. „Möchtest du es noch einmal probieren?“

„Ja.“

Damit hatte sie ihm das Messer wieder abgenommen und probierte weiterhin mit langsamen, konzentrierten Bewegungen das für sie neue Werkzeug aus, diesmal besonders darauf bedacht, dass keine Butter über den Rand kam. Und irgendwann konnte man ihr Werk sogar als ‚fertig’ durchgehen lassen.

„Na siehst du, du hast es doch geschafft“, wollte Kurogane sie schließlich aufmuntern, doch er schaffte es nicht so recht, den Enthusiasmus in die Stimme zu legen, den er der Kleinen zuliebe gern rübergebracht hätte. Er hatte sich das Erlernen einer so einfachen Tätigkeit wesentlich unproblematischer vorgestellt.

„Aber es sieht nicht sehr hübsch aus“, meinte Tomoyo resigniert.

„Übung macht den Meister. Wenn wir das jeden Tag ein wenig versuchen, bekommst du es bald richtig hin.“

„Kann ich das dann irgendwann auch so gut wie du?“

„Klar, ich hab schließlich auch mal so angefangen wie du.“

„Wirklich?“

„Na ja...denke ich zumindest. Es ist ja auch schon ewig her, seit ich es gelernt habe, daher kann ich mich nicht mehr richtig daran erinnern... Ach, ist doch jetzt egal! Lass uns endlich essen!“

„Okay.“

Damit nahm sich jeder seinen Löffel und begann, die an diesem Abend aufgetischte Suppe zu löffeln und immer mal vom Brot abzubeißen.

Kurogane war froh, dass der heutige Abend so ruhig verlief und hoffte, dass es auch dabei bleiben würde.
 

Nach dem Abendessen spürte der Schwarzhaarige deutlich, wie müde seine Tochter bereits war. Ihr häufiges Gähnen und der abwesende Blick waren kaum zu übersehen.

„Zeit fürs Bett, kleines Fräulein!“

„Jetzt schon?“

Tomoyo sah ihren Vater aus großen Augen an. Zwar konnte sie die Uhr noch nicht lesen, aber sie wurde normalerweise nicht direkt nach dem Abendessen schlafen geschickt, daher fiel es ihr schon auf, dass es noch nicht so spät sein konnte wie sonst.

„Ja, jetzt schon. Erst werden noch schnell Zähne geputzt und dann wird geschlafen.“

„Aber ich bin doch noch gar nicht müde.“

Nur mit Mühe konnte das Mädchen ein weiteres Gähnen unterdrücken. Kurogane musste in sich hineingrinsen. Sie war so leicht zu durchschauen... Doch er würde sich trotzdem nicht beirren lassen.

„Keine Widerrede! Sonst kommst du morgen früh nur wieder nicht aus dem Bett.“

„Aber Papa...“

„Kein ‚aber’!“

Langsam wurde sein Ton doch forscher. Er mochte es nicht, wenn jemand versuchte, so platt mit ihm zu diskutieren. Und Tomoyo sollte nicht denken, dass sie ihm auf der Nase herumtanzen konnte, bloß wenn er mal etwas freundlicher war.

Das schien sie jetzt auch zu begreifen, denn nach diesen letzten Worten machte sie ein wehleidiges Gesicht und schlurfte betroffen von dannen. Der hochgewachsene Mann sah ihr stirnrunzelnd nach. Was hatte sie denn nun schon wieder? War doch kein Grund, gleich wieder traurig zu sein! Aber da musste sie jetzt durch, sonst setzte sie sich bloß über seinen Beschluss hinweg.

Glücklicherweise versuchte Tomoyo keine weitere Revision Kuroganes Urteils, denn auch wenn er bei seinem Standpunkt blieb, so brachten ihn diese großen, traurigen Kinderaugen irgendwie aus dem Konzept. Sie erinnerten ihn an die Worte des Kindergärtners vom Vormittag und seinen vergangenen, fürchterlich verkorksten, Abend mit Tomoyo. Und darauf hatte er wahrlich kein zweites Mal Lust. Umso beruhigter war er, als sie dann bereits im Schlafanzug noch einmal zu ihm ins Wohnzimmer kam, ihn drückte und eine gute Nacht wünschte.

Wenn er aber dachte, dass damit für diesen Abend endgültig Ruhe hatte, hatte er sich getäuscht. Es dauerte keine zehn Minuten, da kam das Kind schon wieder ins Wohnzimmer zurück geschlichen und blieb unsicher im Türrahmen stehen.

„Was ist denn nun noch?“, fragte Kurogane ein wenig genervt.

„Ich...kann nicht einschlafen“, gab sie kleinlaut zurück.

„Kein Wunder, du liegst ja auch erst seit zehn Minuten im Bett.“

„Aber ich werde einfach nicht richtig müde. Wenn ich mich hinlege, bin ich plötzlich ganz wach.“

„Wenn du denkst, du kannst dich damit vorm Ins-Bett-gehen drücken...“

„Kannst du mir nicht ein Gute-Nacht-Lied vorsingen?“

„...?!“

Kurogane musste sie angesehen haben, als wäre sie ein großes, zottiges Monster, deshalb setzte sie schnell und noch etwas kleinlauter nach: „Oder eine Geschichte vorlesen? Soma hat das auch immer für mich gemacht, wenn ich nicht schlafen konnte...“

Kurogane grummelte ein wenig verstimmt. Soma, immer nur Soma! Wann hörte das endlich auf? Von nun an würde ER sich um seine Tochter kümmern und er würde es bestimmt nicht schlechter machen als seine ehemalige Angestellte. – Na ja, er bemühte sich zumindest darum. Aber wenn sie TATSÄCHLICH glaubte, er würde ihr etwas vorsingen, dann hatte sie sich gewaltig geschnitten! Vorlesen...nun, vielleicht ab und an mal, aber das war wirklich schon das Höchste der Gefühle. Mehr war mit Sicherheit nicht drin, nie im Leben!

Anscheinend muss er bei diesen Gedanken besonders verbissen dreingeblickt haben, denn das kleine Kind wirkte gleich noch verschüchterter und ging vorsichtig einige Schritte zurück, versteckte sich fast schon hinter dem Türrahmen.

„Aber du musst natürlich nicht, wenn du nicht möchtest...“, piepste sie beschwichtigend und machte sich schon daran, sich wieder in ihr Zimmer zu verkrümeln, als Kurogane schließlich mit einem leisen Grummeln und einem resignierten „Also gut“ aufstand und sie in ihr Zimmer begleitete. In einem Regal über ihrem Schreibtisch stand eine Reihe von Kinderbüchern, unter anderem auch die Märchen, die Soma ihr wohl ab und an vorgelesen haben musste. Sie hatte in den Jahren eine recht ansehnliche Auswahl für das Mädchen gekauft.

„Was soll ich dir denn vorlesen?“

„Aschenputtel!“, kam es wie aus der Pistole geschossen. Scheinbar alle kleinen Mädchen liebten Aschenputtel... Also zog er das entsprechende Buch aus dem Regal und setzte sich zu seiner Tochter ans Bett. Irgendwie kam er sich schon komisch dabei vor...

„Aber das bleibt unter uns, dass ich dir hier Märchen vorlese, ist das klar?“ Das wollte er vorher auf jeden Fall noch sicher stellen.

„Klar! Versprochen“, versicherte sie ihm. Na hoffentlich hielt das besser als ihr letztes Versprechen, was sie dem blonden Grinsemann mit dem Hasen gegeben hatte...

„Na gut. – Also... Es war einmal ein armes Mädchen, das lebte zusammen mit ihrer bösen Stiefmutter und ihrer bösen Stiefschwester...“

So begann Kurogane also leise zu lesen und hoffte insgeheim, dass er nicht rot dabei wurde. Oder dass es Tomoyo zumindest nicht bemerkte. Gott, war das peinlich! Er und Märchenonkel, das glaubte doch kein Mensch! Aber der Kleinen schien es zu gefallen. Sie kuschelte sich an seine Seite, klammerte eine Hand in sein schwarzes T-Shirt und schloss allmählich die Augen. Als Kurogane das Märchen zu Ende gelesen hatte, war sie bereits im Land der Träume verschwunden. Vorsichtig nahm er ihre Hand, die inzwischen locker auf seinem Bein ruhte, und legte ihren Arm mit unter die Bettdecke, damit er über Nacht nicht fror.

Na ja...wenn das mit dem Vorlesen wirklich so eine ausgezeichnete Wirkung bei ihr hatte, dann sollte er es vielleicht doch hin und wieder machen. Aber nur, wenn sie wirklich niemandem davon erzählte! Vor allem diesem Hampelmann im Kindergarten nicht! Der würde doch alles darum geben, wenn er ihn damit aufziehen konnte. Blieb jetzt also erst einmal abwarten und hoffen.

Genauso vorsichtig und leise, wie er ihren Arm zugedeckt hatte, erhob er sich nun von ihrem Bett, stellte das Buch in sein Regal zurück und löschte das Licht.

„Schlaf schön, Kleines.“
 

WUMMS!

Eine Tür fiel krachend ins Schloss, hastiges Schlüsselgeklimper löste das Geräusch ab, als umständlich von innen abgeschlossen wurde. Der Atem der Person an der Tür ging keuchend, stoßweise, wie der eines gehetzten Tieres. Erst als die Tür abgesperrt war, konnte man hören, dass die Person sich langsam beruhigte, sich gegen das Holz lehnte und langsam daran zu Boden sank, schließlich mit einem letzten tiefen, verzweifelten Seufzer ganz verstummte.

Vorsichtig blickte Chii um die Ecke, trat dann langsam auf den erschöpften Mann zu, der seinen Kopf tief zwischen seinen Armen verborgen hatte. Schließlich kniete sie neben ihm nieder und legte beruhigend eine Hand auf seine Schulter.

„Es ist alles in Ordnung, Fye-san. Er wird dich nicht finden.“

Ohne auch nur ein Stück aufzusehen, löste er seine rechte Hand, die sich bis dahin noch krampfhaft in seine linke Schulter gekrallt hatte, und legte sie behutsam auf Chiis, die ungerührt auf seiner Schulter verweilte.

„Ich weiß... Danke, Chii.“

Endlich hatte er sich wieder soweit gefangen, dass er aufblicken und sie mit einem müden Lächeln ansehen konnte.

„Mach dir keine Sorgen.“

Sie erinnerte sich an den Fremden, der sie am Nachmittag nach Hause gebracht hatte, dem sie gesagt hatte, dass ein Lächeln den Menschen helfen konnte. Sie wollte ebenfalls lächeln, um Fye ein wenig aufzumuntern, doch ihre Gesichtszüge wollten sich nicht dazu bewegen lassen. Ihre Sorge ließ es einfach nicht zu.

‚Nichts ist in Ordnung... Und ich kann nichts tun, als dir bei deinem Schmerz zuzusehen...’

Bedrückt schloss sie ihn in eine Umarmung, damit er zumindest ihr betrübtes Gesicht nicht mehr sehen musste. Das würde ihm jetzt wahrlich nicht helfen.

„Ist schon gut, Chii“, beruhigte Fye sie, als er die Umarmung sanft erwiderte. „Mir geht es wirklich schon wieder besser. Ich bin froh, dass du bei mir bist. Das hilft mir sehr. – Aber sag, wie war dein Tag heute? Hast du dich sehr gelangweilt?“

Chii beschloss, sich auf diesen Themenwechsel einzulassen. Vielleicht half es ihnen beiden, die trüben Gedanken, die sie im Moment beherrschten, ein wenig zu verjagen.

„Nein, mir war nicht langweilig. Ich habe im Park einen sehr interessanten Menschen getroffen. Er hat mich sogar einfach bis hierher begleitet, obwohl es sicher ein Umweg für ihn war.“

„Ach so?“

„Ja. Auf den ersten Blick sieht er sehr grimmig aus, aber in Wirklichkeit ist er sehr freundlich. Ich glaube, er guckt nur so böse, weil er einsam ist...“

Fye musste bei dieser Beschreibung ein wenig lachen.

„Was ist denn?“, fragte Chii verwundert und lockerte die Umarmung ein bisschen, um Fyes Gesicht sehen zu können.

„Nichts, nichts. Das hat mich bloß an jemanden erinnert, auf den diese Beschreibung auch ganz gut passen könnte. Mit der Ausnahme, dass ich mir bei ihm nicht vorstellen kann, dass er einfach so ein fremdes Mädchen nach Hause begleitet.“

Endlich entspannte sich Chiis Gesicht ein wenig. Sie merkte erleichtert, wie Fye langsam wieder ruhiger wurde und schenkte ihm ein kleines Lächeln, bevor sie aufstand, seinen Einkaufsbeutel nahm, den er achtlos neben sich fallen gelassen hatte, und ihm dann eine Hand ausstreckte, um ihm beim Aufstehen zu helfen.

„Komm, ich habe uns etwas zu Essen gemacht.“

„Klingt gut! Und es riecht auch schon so lecker!“

Damit war der Zwischenfall von eben erst einmal vergessen. Zumindest oberflächlich.
 

TBC...

Du kannst davonlaufen, doch du kannst dich nicht verstecken

Jetzt hab ich doch fast vergessen, das neue Kapitel fertig zu machen! Heute ist es ja schon wieder soweit ^^. Ich hoffe, einige haben sich darauf gefreut.

Auf jeden Fall wird hier ein bisschen was erklärt, was im letzten Kapitel bereits angedeutet wurde. Schließlich können Klayrie und ich ja nicht immer bloß Andeutungen machen und euch in der Luft hängen lassen.
 

Also dann, ich wünsch euch viel Spaß beim Lesen!
 

-~*~-
 

Disclaimer: Die Charas gehören (bis auf wenige Ausnahmen) nicht uns, sondern Clamp. Wir wollen kein Geld damit verdienen, sondern nur unterhalten.
 

Erstschreiber des Kapitels: Klayr_de_Gall, Lady_Ocean

Kapitel: 4/26
 

-~*~-
 

„Zittern vor dem Tode ist ein Lebenszeichen, aber keine Überlebensstrategie.“

(Prof. Michael Marie Jung)
 

-~*~-
 

Du kannst davonlaufen, doch du kannst dich nicht verstecken
 

Draußen dämmerte es noch nicht einmal und in der kleinen Wohnung im Flussviertel herrschten Stille und Dunkelheit, nur durch ruhige, leise Atemzuge und das gelegentliche Rascheln von schwerem Stoff unterbrochen. Irgendwo miaute eine Katze. In diesem Viertel standen viele Häuser leer, ein Paradies für streunende Tiere.

Tief in eine Decke gehüllt schlief eine schlanke Person auf dem Sofa, drehte sich kurz, als auf der gepflasterten Straße, vier Stockwerke tiefer, ein großer LKW vorbeirumpelte, blieb dann mit dem Gesicht im Kissen liegen. So früh am Tag war es ruhig. Keine hupenden Autos, keine keifenden Nachbarn, kein klingelnder...

SCHRILLL!!!!!

Kurz schreckte ein blonder Schopf hoch, kippte dann aber wieder zurück. Irgendwo aus der Tiefe des Kissens erklang ein widerwilliges Murren. Lange, feingliedrige Finger krochen über die Armlehne, tastet sich ihren Weg zu dem laut schepperten alten Wecker auf dem Stubentisch. Verschlafen tappte die Hand ins Leere, mehrere Male, streifte dann, was sie suchte, und schaffte es im nächsten Augenblick, die Ruhe zurückzubringen.

Ein erneutes Murren, dann ein Schnaufen. Dann wieder Ruhe.

Fast fünf Minuten lang war angenehme Stille.

So angenehm, das der junge Mann wieder eindöste.

PIEP PIEP PIEP!!!

Fye ächzte aus tiefstem Herzen.

Diesmal musste er aufsehen und sich ganz schön strecken, um den zweiten Wecker zu erreichen. Ein uralter, bei einer Wohnungsauflösung erstandener, Digitalwecker, der am anderen Ende des Tisches stand. Das penetrante Piepen ging ihm durch Mark und Bein. In seinem frühmorgendlichen Dösen dauerte auch das eine Weile und bevor er dazu kam, sich wieder zurückzulegen...

KLINGELINGELING!!!

Auf dem Regal neben der Stubentür ging der nächste Wecker los. Mit Absicht ein etwas melodischerer analoger Wecker, denn der Blondschopf würde seine Zeit brauchen, bis er dort ankam.

Verschlafen schälte Fye sich aus seiner Decke, zog diese aber sofort wieder um seine Schulter. Es war SO kalt! Fröstelnd hüllte er sich bis zur Nasenspitze ein. Schwindelig war ihm auch... Ein niedriger Blutdruck war echt gemein!

Nachdem der junge Kindergärtner ausgiebig gegähnt hatte, schaffte er es endlich sich aufzurichten. Das Schwindelgefühl war auch recht schnell wieder verschwunden und Fye tapste zum Wecker, schaltete ihn müde aus, da ging in der Küche schon der nächste los.

Der Radiowecker in der Küche stimmte irgendein fröhliches Poplied an.

Eigentlich war der Blondschopf diese morgendliche Weckerorgie leid, aber auf der anderen Seite war er Chii für diese gute Idee dankbar. So - und wirklich nur so - kam er am Morgen aus dem Bett. Sonst schief er immer sofort wieder ein. Aber so wurde er aus dem Bett gescheucht, weil er bei den ganzen Weckergeklingel eh nicht mehr schlafen konnte.

Verpennt lugte er in die Küche.

Natürlich war hier noch niemand. Seine Mitbewohnerin stand zu ihrer eigenen Zeit auf. Immerhin musste sie nicht zur Arbeit und schon um sieben dort sein, um aufzuschließen und alle Kinder in Empfang zu nehmen. Gähnend schüttete er einen Liter Milch in einen kleinen blauen Topf und schob ihn auf den Herd. Es war schon so lange seine morgendliche Routine, dass er derweil ins Bad gehen konnte und sich fertig machte. Gesicht waschen, Zähne putzen, kämmen und fertig. Jeden Tag wie immer. Immer und immer...

Fye seufzte leise, während er in den Spiegel sah. Dann lächelte er.

„Hallo du...“, murmelte er, aber das Lächeln, was auf seinen Lippen lag, erreichte seine traurigen, tiefen Augen nicht.

„Heute wird wieder ein toller Tag...Fye. Solange du nicht aufhörst zu lächeln...“

Der Blonde senkte still seine Augenlieder und das feine Haar glitt ihm vors Gesicht. An manchen Tagen konnte er nicht einmal sein Spiegelbild belügen...

„Fye?“

„Ja-ha?“

Es war, als hätte man einen Hebel herumgelegt. Ein strahlendes Lächeln legte sich auf das fein geschnittene Gesicht, als er schwungvoll herumwirbelte. Chii stand in der Tür zum Bad, die der schlanke Mann früh immer aufließ.

Das Mädchen musterte ihn, wollte wohl etwas sagen, schloss dann aber den Mund doch wieder und hob eine Augenbraue.

„Die Milch kocht über.“

„Oh---?!“
 

Wie ein Wirbelwind war der Blonde an ihr vorbeigefegt.

Es war lange nicht mehr passiert, dass Fye seine Milch vergessen hatte... Irgendetwas beschäftigte ihren wertvollen Freund, aber sie konnte nicht benennen, was es war. Mit einem leisen Seufzen begab die junge Frau sich wieder ins Schlafzimmer der Einraumwohnung, welches ihr Mitbewohner – oder besser: eigentlicher Bewohner der Wohnung – an sie abgegeben hatte, während er selbst im Wohnzimmer schlief.
 

Lachend und vor sich hinredend und harmlos fluchend rettete Fye, was zu retten war.

Gott, wann war ihm das letzte mal die Milch übergekocht?!

Er musste wirklich mit irgendetwas beschäftigt sein. Aber womit?
 

Ein paar Sunden später hatte Fye darauf noch immer keine Antwort, dafür aber einen Haufen kleiner Bälger um sich, was er jeden Tag aufs Neue genoss. Kinder waren so schön erfrischend. Nicht so wie die verkalkten Erwachsenen, die mitunter nur rumgrummelten oder sich hinter einem falschen Lächeln verbargen... Gut, dass sie noch nicht so waren!

So etwas ähnliches hatte er auch zu Kurogane gesagt, heute Morgen. Fye hatte schon geahnt, dass es dem griesgrämigen Schwarzhaarigen nicht gefallen würde, wenn er seiner Tochter solche Geschichten erzählte. Ob er bemerkt hatte, dass seine Worte nicht nur eine Zurechtweißung gewesen waren? Fye hatte unbemerkt auch seinen tiefsten Herzenswunsch in seine kleine Rede hineingelegt: noch einmal Kind sein zu können. Nur für einen Tag... Fye hätte alles dafür gegeben. Warum nur hatte er so schnell erwachsen werden müssen?

Etwas in Gedanken versunken half der Blondschopf seinen Schützlingen, das Bastelzeug wegzuräumen. Ryu hatte es bei seiner Aktion mit der Schere, bei der er fast das gesamte Papier zerschnitten hatte, natürlich auch geschafft, sich in den Finger zu schneiden, und prahlte jetzt mit dem tollen Pflaster, auf dem kleine grüne Drachen aufgedruckt waren.

Kinder...!

„Fye-san, ich deck schon mal den Tisch.“

„Ich bitte darum. Ich komm auch gleich helfen, Sakura-chan!“, rief er seiner Praktikantin zu. Sie nickte lächelnd und verschwand wieder in Richtung Küche, um Teller und Besteck zu holen, im Schlepptau drei der Kinder, die heute Essensdienst hatten.

Sakura war auch zu beneiden. Zwar war sie selbst schon zu erwachsen, um ein Kind zu sein, aber sie war verliebt. Seit über drei Jahren war sie bereits mir ihrem Freund Shaolan zusammen und konnte noch immer so schwärmen wie eine Frischverliebte.

Auch Liebe machte im Herzen jung.

Wenn Fye so darüber nachdachte, kam er sich wirklich schon sehr alt vor. Und der Gedanke brachte ihn zum Schmunzeln. Doch seine Augen blieben so traurig wie immer, wenn ihm niemand ins Gesicht sah.

Er hatte nichts von alldem.

Kind zu sein hatte er verlernt... Es war ihm ausgetrieben worden.

Und Liebe? Schon lange hatte er aufgegeben, daran zu glauben, dass es so etwas für ihn gab. Ja, er hatte Chii, aber das war nicht dasselbe. Er mochte sie sehr und sie tat ihm Leid, weil sie in ihrem jungen Leben auch schon sehr viel hatte durchmachen müssen. Und Chii war ihm zweifelsohne sehr dankbar für seine Fürsorge. Aber von Liebe konnte man dabei nicht sprechen. Doch es rettete ihn immerhin vor der Einsamkeit, also war es mehr, als er verdient hatte.

Fye wusste schon, warum er so gern hier im Kindergarten arbeitete. Hier hatte er nie wirklich Zeit, in Depressionen zu versinken, immer gab es jemanden, auf den er aufpassen musste, oder etwas, das es zu regeln galt. So wie jetzt.

„Du meine Güte, Sorata-kun!!! Du kannst doch nicht so viele Teller auf einmal tragen!“

Aber da schepperte es schon. Und nach der anfänglichen Schrecksekunde folgte langgezogenes Geheule.

„Wääääääh! Nii-chan, es tut mir Leid! Das wollte ich nicht, ehrlich! Wäääääääh!“

Schnell eilte er zu dem weinenden Jungen, zog ihn sanft von den Scherben weg und überzeugte sich davon, dass er sich nicht geschnitten hatte.

„Ist schon okay, Sorata-kun. Hauptsache, dir ist nichts passiert.“

„A-aber jetzt sind alle Teller kapu-huuuut!“, heulte er herzzerreißend weiter.

Fye fuhr ihm sanft durchs Haar und zog den kleinen Jungen tröstend in seine Arme. Er wusste, dass kleine Kinder sich so am schnellsten beruhigen ließen und tatsächlich dauerte es auch nicht lange, bis das laute Gejammer wenigstens auf ein stetiges Schluchzen abgeebbt war.

„Ich – ich wollte meinem Schatzi doch zeigen, wie stark ich schon bin, damit sie weiß, dass ich ein guter Ehemann für sie sein werde. Und jetzt habe ich alles kaputt gemacht.“

„Aber das ist doch nicht so schlimm. Die Teller kann man ersetzen und außerdem haben wir noch genug andere. Ich freue mich sehr darüber, dass du so ein netter Junge bist und Arashi-chan beim Tragen helfen wolltest“, munterte der Blonde seinen Schützling auf. „Also sei nicht traurig! So was kann jedem mal passieren.“

Sorata schniefte immer noch, blieb nun aber tapfer und unterdrückte ein weiteres Schluchzen.

„Na siehst du! Alles halb so schlimm“, meinte Fye mit sorglosem Tonfall und trocknete vorsichtig die Tränenspuren auf dem Gesicht des Jungen mit einem Taschentuch. Er versuchte, Soratas Blick einzufangen, doch dieser wich ihm beschämt aus. Es musste ihm wirklich peinlich gewesen sein, dass er die Teller zerbrochen hatte.

„Wollen wir den anderen beim Aufräumen helfen?“, schlug Fye schließlich vor, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. Der dunkelhaarige Junge nickte eifrig und machte sich sofort daran, dem Vorschlag nachzukommen.

„Aber sei vorsichtig mit den Scherben! Nicht reinfassen, ja?“, rief Fye ihm nach, während er aufstand, um dem Jungen dann folgen zu können. Sakura hatte es geschafft, alle Kinder von den Scherben wegzubekommen und in sicherer Entfernung zum Stillsitzen zu bewegen und räumte bereits vorsichtig die ersten größeren Tellerstücke in einen Mülleimer. Sorata holte auf Fyes Wunsch hin zweimal Handfeger und Kehrblech, damit der Kindergärtner und seine Praktikantin auch den Rest der scharfkantigen Splitter beseitigen konnten. Anschließend normalisierte sich die Situation wieder und die Vorbereitungen für das Mittagessen gingen weiter. Während des Essens versprach Sorata seiner Angebeteten Arashi, fortan jeden Tag zu trainieren, damit ihm so etwas nicht noch einmal passieren würde, was das Mädchen allerdings reichlich kalt ließ. Ryu prahlte herum, dass auch er viele Teller auf einmal getragen hatte und ihm nichts herunter gefallen war, Yuzuriha mäkelte herum, weil sie keine Pilze mochte, und so gab es überall Beschäftigung, sodass es für Fye alles andere als langweilig war.

Da die Jungen heute für das Tischdecken zuständig gewesen waren, blieb das Abräumen für die Mädchen übrig. Als Tomoyo zusammen mit Yuzuriha den Tisch abwischte, nutzte das Mädchen mit den kurzen, schwarzen Haaren die Gelegenheit, um sich ein bisschen mit Tomoyo zu unterhalten.

„Tomo-chan, warum bringt dich eigentlich immer dein Papa in den Kindergarten? Was ist denn mit deiner Mama?“

„Ich hab keine Mama“, antwortete die Kleine wie selbstverständlich. „Ich habe nur meinen Papa.“

„Aber jeder hat doch eine Mama!“, entgegnete Yuzuriha entrüstet.

„Ich habe halt keine“, antwortete sie schulterzuckend.

„Aber du MUSST mal eine gehabt haben! Ist sie vielleicht gestorben, als du noch ganz klein warst?“

„Ich weiß nicht. Papa hat nie von ihr erzählt.“

„Echt? Das ist aber komisch. Du tust mir echt Leid, wenn du keine Mama hast.“

„Es stört mich aber nicht besonders. Papa hab ich sowieso am liebsten“, sagte Tomoyo bestimmt.

Auch wenn sie sich dieser Sache sicher war, hatte sie das Gespräch mit Yuzuriha nachdenklich gemacht. Für ihre Freundin schien eine Mutter ein sehr wichtiger Mensch zu sein, mindestens genauso wichtig wie ein Vater. Aber warum? Wie war überhaupt eine Mutter? Die Frage beschäftigte Tomoyo so sehr, dass sie sie nach dem Wischen schließlich aussprach: „Yuzu-chan, wie ist eine Mama denn so?“

„Tja...“, überlegte die Angesprochene nachdenklich, als sie ihren Wischeimer in die Küche trug. „Meine Mama ist ganz lieb. Immer, wenn sie mich abholt, nimmt sie mich in den Arm und sagt, dass sie mich vermisst hat. Und am Wochenende backen wir oft zusammen Kuchen und gehen spazieren. Manchmal spielt meine Mama sogar mit mir Fange. Und wenn ich abends ins Bett gehe, singt sie mir manchmal ein Schlaflied vor. Oder erzählt mir eine Geschichte. Und immer, wenn ich traurig bin, nimmt sie mich in den Arm und tröstet mich, bis es mir besser geht.“

Zugegeben, so etwas tat ihr Vater nicht, aber dafür war er ihr gegenüber meist etwas nachsichtiger als zu anderen. Und seit Soma nicht mehr da war, machte er jeden Morgen ihr Frühstück für den Kindergarten. Und auch wenn er das nicht so offen sagte, sondern meist sehr ernst dreinblickte, so wusste sie doch, dass er sie auch sehr lieb hatte. Das spürte sie einfach, auch wenn sie es nicht erklären konnte.

„Heute holt mich meine Mama übrigens schon eher ab!“, unterbrach Yuzuriha Tomoyos Gedanken aufgeregt.

„Wir gehen nämlich zusammen ins Kino und dann wollen wir noch einkaufen!“

Yuzuriha klang plötzlich sehr begeistert. Es musste ihr sehr viel bedeuten, den ganzen Nachmittag mit ihrer Mutter verbringen zu können. Und just in diesem Moment erschien auch Fyes Kopf in der Küchentür, der strahlend wie immer verkündete: „Yuzu-chan, hier wartet jemand auf dich!“

Freudig warf die Kleine ihren Lappen in den inzwischen geleerten Eimer zurück und rannte Richtung Ausgang. Als sie um die Ecke gebogen war, konnte sie die Person, die auf sie wartete, anscheinend schon sehen, und rief begeistert: „MAMAAAAAAA!!!“

Tomoyo lugte vorsichtig um die Ecke herum und versuchte, einen Blick auf Yuzurihas Mutter zu erhaschen. Sie war eine hübsche Frau mit denselben glatten, schwarzen Haaren wie ihre Tochter und trug ein warmes Lächeln im Gesicht, als sie sich zu ihrer Tochter herunterbeugte, um sie in ihre Arme schließen zu können.

„Hallo, mein Schatz! Hattest du Spaß heute?“, hörte sie die Frau mit sanfter Stimme fragen.

„Ja! Aber ich finde es noch viel besser, dass du mich jetzt schon abholst“, entgegnete Yuzuriha freudig.

Viel besser als all die Beispiele, was Yuzuriha an ihrer Mutter mochte, zeigte Tomoyo diese Szene, wie sehr das Mädchen seine Mutter lieben musste und wie innig sie miteinander umgehen. Als Tomoyo dies sah, war sie schon ein wenig erstaunt über die innige Beziehung von Mutter und Tochter und sie fragte sich, ob alle Mütter so waren oder ob das etwas ganz Besonderes war, was nur zwischen Yuzuriha und ihrer Mutter existierte.

Ein wenig verwirrt ging sie in die Küche zurück, wrang auch ihren Lappen ein letztes Mal aus und stellte die beiden Eimer in den Schrank zurück. Sie war gerade dabei, wieder in den Aufenthaltsraum zu gehen, als sie die Stimme von Yuzurihas Mutter wieder vernahm und inne hielt. Irgendetwas ließ sie zögern, die beiden noch einmal anzusehen. Tomoyo wusste nicht, warum, aber sie konnte jetzt nicht nach draußen gehen. Es ging einfach nicht. Also drehte sie wieder um und setzte sich allein auf einen der Küchenstühle, fühlte sich plötzlich ein wenig hilflos.
 

„Oh, Tomo-chan! Was machst du denn hier so ganz allein?”

Sakura hatte soeben die Küche betreten, um einen letzten Löffel abzuwaschen, den sie gerade Ryu abgenommen hatte, der ihn als seinen „Schatz“ deklariert und nach dem Essen anscheinend nicht wieder weggelegt hatte. Der Löffel war jedoch schnell vergessen, als sie Tomoyo so verlassen auf dem Stuhl sitzen und ins Leere blicken sah.

„Sakura-chan, hast du eine Mama?“, fragte die Kleine ganz direkt.

„Ja, natürlich. Jeder hat doch eine Mama“, entgegnete sie sanft und setzte sich zu dem kleinen Mädchen.

„... Wie ist deine Mama denn so?“, hakte Tomoyo nach kurzem Zögern weiter nach.

„Na ja...sie ist nett. Wie Mütter halt so sind. Jetzt sehe ich sie natürlich nicht mehr jeden Tag, weil ich doch bei Shaolan-kun wohne, aber ich habe sie trotzdem sehr lieb und freue mich immer, wenn ich sie sehen kann.“

Irritiert stellte Sakura fest, dass Tomoyos Gesichtsausdruck noch eine Spur trauriger wurde.

„Tomo-chan, was hast du denn?“, fragte sie besorgt.

Nach kurzem Zögern antwortete Tomoyo schließlich: „Es ist nichts, nur... Was ist besser, eine Mama oder ein Papa?“

„Das ist eine schwere Frage“, entgegnete Sakura nachdenklich. „Beide sind sehr wichtig, Mama UND Papa. Ich glaube nicht, dass der eine besser oder schlechter ist als der andere. Hast du deine Eltern denn nicht beide gleich lieb?“

„... Ich habe nur meinen Papa“, gab Tomoyo schließlich, diesmal eher kleinlaut, zu.

„Oh, ach so ist das!“

Jetzt verstand Sakura auch, warum Tomoyo so traurig geguckt hatte, als sie ihr von ihrer Mutter erzählt hatte: Tomoyo hatte Angst, dass ein wichtiger Mensch in ihrem Leben fehlte.

„Kannst du dich denn gar nicht an deine Mama erinnern?“

Tomoyo schüttelte schüchtern den Kopf.

„Dann ist dein Papa bestimmt der wichtigste Mensch für dich. Und es ist auch nicht schlimm, wenn du keine Mama hast. Dein Papa hat dich mindestens genauso lieb, wie es deine Mutter gehabt hätte. Vielleicht sogar noch lieber, denn schließlich bist du die Einzige, die er noch hat.“

„Meinst du, er vermisst meine Mama?“

„Das weiß ich nicht. Aber ich bin sicher, dass er ohne dich sehr einsam wäre und deshalb ist er bestimmt froh, dass du bei ihm bist. Dein Papa hat dich sehr lieb, das weißt du doch, oder?“

Diesmal nickte Tomoyo eifrig mit dem Kopf.

„Dann solltest du dir auch keine Gedanken darüber machen, was andere über ihre Mütter denken. Wichtig ist nur, wie viel dein eigener Papa dir bedeutet.“

Wieder nickte Tomoyo, fügte nach einem kurzen Schweigen aber noch ein „Danke, Sakura-chan“ an. Die Praktikantin war von den Gefühlen dieses kleinen Mädchens so gerührt, dass sie sie kurzerhand in die Arme nahm und sacht an sich drückte.

„Du bist ein sehr liebes Mädchen, Tomo-chan. Dein Papa hat dich mit Sicherheit sehr gern.“

Als Sakura sie so tröstend in den Arm nahm, fiel Tomoyo ihr Gespräch mit Fye vom Vormittag wieder ein.

„Sakura-chan?“

„Ja?“

„Ich habe manchmal das Gefühl, dass mein Papa irgendwie traurig ist. Meinst du, ich kann ihm helfen?“

„Ganz bestimmt. Wenn ihm jemand helfen kann, dann du.“

„Aber ich weiß nicht, wie ich das machen soll.“

„Hm...wenn du das Gefühl hast, dass er gerade besonders traurig ist, dann nimm ihn doch einfach mal in den Arm. Umarmungen können sehr tröstend sein, findest du nicht auch?“, schlug sie dem kleinen Mädchen vor.

„Ja“, stimmte Tomoyo ihr zu und kuschelte sich noch enger an sie heran.

Wenn Sakura sie umarmte, dann fühlte sie sich auch gleich viel besser. So konnte sie ihren Papa vielleicht wirklich trösten...
 

„Und wieder ein Tag vorbei.“

Fye ließ sich erschöpft, aber auch zufrieden auf einen Stuhl in der Küche fallen und streckte die Beine von sich. Im Hintergrund war das leise Gedudel des Radios zu hören. Die Kinder waren inzwischen alle abgeholt wurden, selbst das Brummbärchi hatte sein niedliches Töchterlein diesmal pünktlich mitgenommen und Sakura und er waren weitestgehend mit dem Aufräumen fertig. Seine Praktikantin kümmerte sich nur noch draußen um Mokona, dass natürlich nicht ohne ein anständiges Abendbrot hier bleiben konnte.

Nur unterschwellig vernahm Fye, wie das letzte Lied im Radio verklang und an dessen Stelle die Stimme des Nachrichtensprechers trat. ... Preiserhöhungen bei Milchprodukten... Neuer Tarifstreik bei der Bahn... Unternehmer Nishikawa Kenta...bisher keine Spur...

Bei dem letzten Gesprächsfetzen wurde Fye aufmerksam. Den Namen hatte er doch schon einmal gehört... Oder nein! Er hatte ihn gelesen! Nishikawa war doch Vizepräsident des Solaranlagenherstellers SolarTec, deren Unternehmen derzeit so gut florierte, dass sie sogar planten, eine neue Zweigstelle zu eröffnen. Den Namen hatte er sicherlich in seiner alten Firma irgendwann einmal gelesen. Doch was hatte dieser Nachsatz „bisher keine Spur“ zu bedeuten? Fye spürte, wie seine Hände aufgeregt mit dem Rand seines T-Shirts spielten. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Verunsichert wartete er, bis die Nachrichten mit ihren Einzelheiten alle noch einmal erzählt und der Bericht über Nishikawa genauer beleuchtet wurde.

„Seit zwei Tagen ist der Vizepräsident des Solaranlagenherstellers SolarTec, Nishikawa Kenta, spurlos verschwunden. Laut Aussagen von Familie und Kollegen des Unternehmers ist Herr Nishikawa am Dienstagabend nach Dienstschluss nicht nach Hause zurückgekehrt. Bisher fehlt von ihm jede Spur. Die Polizei ist über Zeugenhinweise, wer Nishikawa seit gestern, 20:00 Uhr, gesehen hat, dankbar. Kommen wir nun zum Wetter...“

Fye schaltete wieder ab. Seine Finger hatten sich nun schmerzhaft in dem dünnen Stoff seines T-Shirts verkrampft und er hatte Mühe, das Zittern unter Kontrolle zu behalten. Das...das konnte nur ER gewesen sein! ER hatte schon so viele unschuldige Menschen auf dem Gewissen, die nichts weiter getan hatten, als ihre Arbeit nach bestem Gewissen zu erfüllen. Bloß, weil sie IHM und seiner Machtgier im Weg gestanden hatten. Und er – Fye – wusste davon. Und das wiederum wusste auch ER. Wie lange es wohl noch dauern würde, bis ER ihn gefunden hatte? Ob er dann genauso, wie so viele andere vor ihm, einfach spur- und lautlos verschwinden würde? Ob ER ihn einfach so umbringen würde? Fye glaubte eigentlich nicht daran. Er wusste zu viel, steckte zu tief mit drin und das Schlimmste war: Er hatte IHN verraten, hatte entkommen wollen, aus dieser Hölle! Nein, ein kurzer, schmerzloser Tod würde ihm sicher nicht vergönnt sein–

„Fye-san, was ist denn mit dir los? Du siehst so blass aus!“

Sakuras besorgter Aufruf ließ ihn aus seinen Gedanken aufschrecken. Eher kläglich versuchte er, sein standardisiertes Lächeln auf sein Gesicht zurückzuzaubern, doch es wollte ihm jetzt einfach nicht gelingen. Als Sakuras Blick immer besorgter wurde, versuchte er, sich zumindest mit irgendeiner Ausrede zu retten: „Keine Sorge, Sakura-chan! Ist nur der Kreislauf. Ich habe es beim Aufräumen wohl etwas übertrieben und als ich eben aufstehen wollte, ist mir schwindelig geworden.“

„Dann leg dich lieber hin. Du siehst wirklich nicht gut aus.“

„Es geht schon wieder. Das Schwindelgefühl ist fast weg.“

Endlich hatte Fye das Gefühl, seine Maske würde wieder etwas besser sitzen. Zumindest schien sie Sakuras eingehender Prüfung diesmal besser standzuhalten. Diese nickte schließlich halbwegs zufrieden gestellt und ging zum Kühlschrank, um eine Flasche Wasser herauszuholen.

„Das kommt davon, weil du immer viel zu wenig trinkst, Fye-san! So was ist schlecht für den Körper.“

Damit hatte sie ihm ein Glas Wasser gefüllt und vor ihm auf dem Tisch abgestellt.

„Danke, Sakura-chan“, entgegnete er dankbar. Dankbar zwar eher, weil sie ihm seine Notlüge abgenommen hatte, aber es war gut, wenn sie es auf das Wasserglas bezogen hatte. Dieses setzte er auch sogleich an seine Lippen und trank ein paar Schluck. Nebenbei hörte er, wie im Radio der Refrain eines neuen Liedes erklang.

„... No need to run – and hide

it’s a wonderful, wonderful life…”

Angesäuert stellte Fye das Radio aus. Ironie war das Letzte, was er jetzt brauchte. Er hatte Monate gebraucht, um seine Angst einigermaßen in den Griff zu bekommen, um nicht in jedem Moment zu fürchten, dass sein nächster Atemzug der letzte sein würde, um vor die Tür gehen zu können, ohne in Todesangst zu verfallen und eher blind durch die Gegend zu stolpern als zu laufen. Wie lange hatte es gedauert, bis diese Ängste so weit aus seinem Bewusstsein gewichen waren, dass sie ihn zumindest tagsüber einigermaßen in Ruhe ließen, wenn sie ihn schon nachts so gut wie nie verschonten! So lange...und ohne die Kinder, Chii und Sakura-chan hätte er es wohl nie geschafft, seine Vergangenheit halbwegs zu bewältigen. Allein wäre er doch längst verrückt geworden, auch wenn ER ihn nicht gefunden hätte.

Eine sanfte Berührung an seinem Arm riss ihn erneut aus seinen panischen Gedanken.

„Fye-san, du solltest nachher lieber gleich ins Bett gehen. Du siehst wirklich nicht gut aus...“

Sakura musterte ihn schon wieder mit dieser kummervollen Miene. Er hatte sich heute überhaupt nicht im Griff! Wieder musste er all seine Willenskraft aufbringen, um ein halbwegs echtes Lächeln zustande zu bringen.

„Du hast sicher Recht, Sakura-chan. Etwas Schlaf wird mir gut tun.“

Damit stand er auf und schob seinen Stuhl wieder ordentlich an den Tisch heran.

„Lass uns gehen. Shaolan-kun vermisst dich sicher auch schon.“

„Ach, ich bin doch nur eine halbe Stunde länger geblieben...“

Auch wenn sie es herunterspielen wollte, so hörte Fye deutlich heraus, dass sie ihrem Freund gegenüber ein schlechtes Gewissen hatte. Zumal das mit der halben Stunde auch sehr großzügig abgerundet war.

„Na ja, inzwischen ist es wohl eher eine dreiviertel Stunde. Also los, lass uns gehen. Wir sind schließlich fertig mit allem.“

Als der Blonde sich vor der Tür von Sakura verabschieden wollte, zögerte das Mädchen erst.

„Soll ich dich nicht lieber begleiten? Bevor du noch mitten auf der Straße zusammenklappst.“

„Ach, das geht schon! Mir geht es wirklich wieder besser. Und bis zu mir nach Hause sind es doch nur fünf Schritte.“

Dass er noch einkaufen musste, verschwieg er dem Mädchen lieber. Am Ende bestand sie wirklich darauf, mit ihm mitzugehen, und das wollte er am allerwenigsten, auch wenn er ihre Gesellschaft sehr schätzte. Die Gefahr, dass ER sie bei ihm sah, war zu groß. Am Ende brachte er Sakura-chan damit vielleicht sogar in Schwierigkeiten und das durfte er niemals zulassen!

„Na gut...aber du gehst wirklich gleich ins Bett, wenn du daheim bist, versprochen?“

„Versprochen!“, log Fye mit einem breiten Grinsen im Gesicht, auch wenn in seinem Hinterkopf sein schlechtes Gewissen nagte.

„Du achtest nämlich viel zu wenig auf dich selbst, Fye-san. Um alle anderen kümmerst du dich so rührend, aber zu dir selbst bist du immer viel zu hart.“

„Ich werd mich ausruhen, keine Sorge!“, log er weiter und hoffte, dass Sakura endlich damit aufhörte, solche Dinge zu ihm zu sagen. Es war schon fast schmerzhaft, all das zu hören. Und tatsächlich, endlich gab sie sich zufrieden und trat den Heimweg an. Auch Fye ging vorsorglich erst einmal in seine Richtung, wartete dann aber hinter der nächsten Ecke, bis seine Praktikantin außer Sichtweite war, damit er endlich seinen Umweg in die Kaufhalle antreten konnte.

So unwohl wie heute hatte er sich dabei schon lange nicht mehr gefühlt. Die Nachricht aus dem Radio spukte noch immer in seinem Hinterkopf herum. Nishikawa Kenta war verschwunden. Für SolarTec würde das einen herben Rückschlag bedeuten, genau das, was ER wollte. Vielleicht lauerte ER sogar schon an der nächsten Ecke und wartete nur darauf, dass er IHM in die Arme lief?

Unbewusst wurden Fyes Schritte immer schneller, während seine Blicke permanent von der einen Straßenseite zur anderen huschten. Inzwischen hatte er den Park erreicht, diese große, weitläufige Rasenfläche, die kaum von Bäumen unterbrochen war und somit freie Sicht auf ihn bot. Aber da musste er jetzt durch. Chii und er konnten schließlich nicht verhungern. Außerdem war diese vermaledeite Angst im Moment vollkommen unbegründet. Wann hatte er denn das letzte Mal etwas von IHM gehört? Kurz bevor er geflohen war. Und dann war er ans andere Ende der Stadt gezogen, hatte ein völlig neues Leben begonnen. Es war unwahrscheinlich, dass er ihn gefunden hatte, so selten, wie er sich draußen zeigte. Wann immer es ging, versuchte er, das zu vermeiden.

Die paar Leute, die noch im Park unterwegs waren, fingen bereits an, neugierig nach ihm zu blicken, so verloren, wie Fye am Wegrand herumstand. Als er sich dessen bewusst wurde, gab er sich schließlich einen Ruck und lief etwas steif weiter, den Drang loszurennen mühsam unterdrückend.

Jetzt wäre es sicher praktisch, so auszusehen wie der Brummbär, schoss es Fye durch den Kopf. Bei der Statur und dem mürrischen Blick, den er auflegen konnte, näherte ihm sich sicher keiner freiwillig. Oder ihn wenigstens dabei zu haben, wenn er selbst schon nicht schnell mal so aussehen konnte. ... Oder nein, besser doch nicht. Am Ende würde der Schwarzhaarige nur wissen wollen, warum er sich nicht allein durch einen harmlosen Park traute. Und dieses Wissen behielt er besser für sich...

In der Kaufhalle angekommen fühlte er sich schon wieder etwas besser. Hier gab es jede Menge Regale, die ihn vor Blicken von draußen abschirmten. Außerdem waren ziemlich viele Leute hier, zwischen denen er weniger auffiel. Und ER würde mit Sicherheit keinen einfachen Billigdiscount betreten. So war er zumindest für den Moment in Sicherheit.

Der Schutz währte jedoch nicht lange und Fye war mit seinen Besorgungen schneller fertig, als ihm lieb war. So stand er bald wieder draußen vor dem Laden, den Weg entlang blickend, der ihn durch den Park zurück nach Hause führen würde. Natürlich konnte er auch durch die Häuserviertel in der Stadt gehen, wo die Straßen enger waren und nicht so viel Sicht boten, doch eigentlich ging er da nie lang, weil der Weg mindestens dreimal so lange dauerte. Und mit seinem Einkaufsbeutel in der Hand würde das recht beschwerlich werden. Also musste er wieder durch die freie Fläche. Und es begann gerade erst zu dämmern.

Auch wenn er sich noch so sehr anstrengte, es gelang Fye jetzt immer weniger, sich unter Kontrolle zu halten. Er wäre mehrmals fast über seine eigenen Beine gestolpert, weil sie sich nicht recht zwischen rennen und gehen entscheiden konnten, er erschrak manchmal schon beim kleinsten Rascheln in den Bäumen, wenn irgendwo ein Vogel herausflog, und die allmählich länger werdenden Schatten nahmen in seiner Fantasie skurrile Gestalt an. Zu allem Überfluss drängte eine Erinnerung an die Oberfläche seines Bewusstseins, die er so sehr fürchtete wie keine zweite. Er versuchte, sie zu verscheuchen, krampfhaft an irgendetwas anderes zu denken, aber es funktionierte nicht mehr. Er war zu sehr in seiner eigenen Angst gefangen, konnte ihr nicht mehr entkommen.
 

~
 

Die Rollläden im anderen Zimmer waren diesmal nur zum Teil heruntergelassen worden. Durch die Glasscheiben, die das kleine Zimmer vom Rest des Raumes abtrennten, konnte er daher einen Blick auf die Person werfen, die hinter dem geräumigen, schweren Zedernschreibtisch auf einem schwarzen Ledersessel saß und mit einer Miene auf den ihm gegenüber stehenden Flachbildfernseher sah, als wäre sie ein König, dem gerade verkündet wurde, dass seine Staatsfeinde alle beseitigt worden waren. Das Bild im Fernsehen war jedoch alles andere als erfreulich. Es zeigte ein brennendes und in sich zusammenstürzendes Hochhaus, das einige hundert Feuerwehrleute verzweifelt zu löschen versuchten, wobei es nicht schien, als hätten sie den Hauch einer Chance. Das Gebäude war der Hauptsitz der Inter Bank gewesen, eines international führenden Kreditunternehmens. Fye erinnerte sich nur zu gut an ihre Umsätze und Erfolge der letzten Monate. Er hatte selbst erst vor wenigen Wochen darüber recherchiert. Die Bank hatte seiner Firma den ersten Rang an der Börse abgelaufen, nachdem sie es gerade erst so weit geschafft hatten...

Der Mann hinter dem Schreibtisch bemerkte Fyes Anwesenheit und winkte ihn freundlich zu sich herein. Zögerlich betrat der junge Mann das kleine Zimmer und schloss leise die Glastür hinter sich.

„Ja, Chef?“

„Fye, mein Bester! Sie haben stets hervorragende Arbeit geleistet, habe ich Ihnen das schon einmal gesagt?“

„Nein...aber danke, Chef.“

„Na na, nicht so bescheiden! Immerhin sind sie maßgeblich an unserem Erfolg beteiligt! Nicht auszudenken, was weitere Erfolge von Inter Bank für unsere Bilanz bedeutet hätten! Da haben wir gerade noch mal Glück gehabt.“

Ein kaltes Lachen folgte, das Fye das Blut in den Adern gefrieren ließ. Er musste sich zusammenreißen, dass er nicht sofort aufsprang und den Raum verließ. Dieser Mann war ihm schon immer ein Rätsel gewesen, doch heute erschien er ihm regelrecht unheimlich. Zumal ihm die ganzen Zwischenfälle der letzten Zeit ohnehin schon seltsam genug vorkamen, da machte er jetzt auch noch solch eine Bemerkung!

„Aber Chef, Sie reden ja fast, als hätten Sie damit zu tun!“, entgegnete der Blonde gezwungen scherzhaft und machte eine kurze Geste nach hinten, Richtung Fernseher. Doch sein Gesprächspartner blieb beängstigend ruhig.

„Jetzt kommen Sie schon, Fye! Tun Sie nicht so, als hätten Sie immer noch nicht mitbekommen, wie der Hase läuft!“, antwortete er schließlich fast schon empört.

Fye wurde leichenblass. Fahrig suchten seine Hände nach der Stuhllehne.

„D-dann haben Sie tatsächlich...? Ich meine – all diese Leute... Sie haben...“

„...sie aus dem Weg geschafft? Wenn Sie das meinen, ja“, kam die trockene Antwort.

„Wissen Sie überhaupt, was Sie da tun? Sie haben MENSCHEN auf dem Gewissen!“, entfuhr es dem Blonden schockiert.

„Und Sie wohl nicht? Denken Sie mal darüber nach, Fye.“

„Ich wollte ganz sicher niemanden umbringen!“

Mit einem lauten Poltern flog Fyes Stuhl nach hinten, als er hastig aufgesprungen war. Er war nah daran zu schreien. Einzig die Gewissheit, dass er damit sämtliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte und es vielleicht noch einige Mitwisser dieser Sache gab, die ihm dann gefährlich werden könnten, ließen ihn sein letztes bisschen Selbstbeherrschung behalten.

„Geh ruhig, Fye. Du kannst davonlaufen, doch du kannst dich nicht verstecken.“
 

~
 

Der Blick, den sein ehemaliger Chef in diesem Moment getragen hatte, hatte sich in all seinen Einzelheiten in Fyes Gesicht eingebrannt. Er hatte ausgesehen wie ein ausgehungerter Panther, der endlich seine Beute erspäht hatte und nur noch darauf wartete, dass sie sich bewegte, sodass er sie die letzten paar Meter jagen und ihr dann den Garaus machen konnte. So überstürzt, wie er an jenem Nachmittag seine Firma verlassen hatte, sprintete er jetzt durch den Park, ohne noch irgendeinen klaren Gedanken fassen zu können. Wie eine von der Katze verfolgte Maus beherrschte ihn nur noch ein Gedanke: Das rettende Mäuseloch. Er musste es erreichen, bevor er gefressen wurde. Dass die Leute, an denen er vorbei rannte, die er teilweise anrempelte, ihm seltsame Blicke nachwarfen, registrierte er nicht. Er nahm nicht einmal die Leute selbst wahr. Er sah nur noch die Straße und das Ziel, auf das sie ihn zuführen sollte.
 

WUMMS!

Eine Tür fiel krachend ins Schloss, hastiges Schlüsselgeklimper löste das Geräusch ab, als umständlich von innen abgeschlossen wurde. Als er es endlich geschafft hatte, die Tür zweimal abzuschließen, atmete er keuchend aus, ließ den Einkaufsbeutel neben sich auf den Boden fallen und glitt langsam an dem kühlen Holz nach unten. Er konnte nicht mehr. Seine Nerven lagen blank. So elend war es ihm seit Ewigkeiten nicht mehr gegangen. Am liebsten würde er jetzt nur noch schreien. Schreien und sich übergeben. Eine Hand legte sich behutsam auf seine Schulter.

„Es ist alles in Ordnung, Fye-san. Er wird dich nicht finden.“

Hilfe suchend hob er seine rechte Hand, um sie auf Chiis zu legen, die allein dadurch, dass sie auf seiner Schulter ruhte, schon einen gewissen Trost spendete. Seine Hand – nein, sein ganzer Körper – fühlte sich schwer wie Blei an.

„Ich weiß... Danke, Chii.“

Endlich hatte er sich wieder soweit gefangen, dass er aufblicken und sie mit einem müden Lächeln ansehen konnte.

„Mach dir keine Sorgen.“

Doch Chiis kummervoller Gesichtsausdruck änderte sich nicht. Schließlich kniete sie sich ganz zu ihm herunter und zog ihn in eine beruhigende Umarmung.

„Ist schon gut, Chii“, beruhigte Fye sie, als er die Umarmung sanft erwiderte. „Mir geht es wirklich schon wieder besser. Ich bin froh, dass du bei mir bist. Das hilft mir sehr. – Aber sag, wie war dein Tag heute? Hast du dich sehr gelangweilt?“

„Nein, mir war nicht langweilig. Ich habe im Park einen sehr interessanten Menschen getroffen. Er hat mich sogar einfach bis hierher begleitet, obwohl es sicher ein Umweg für ihn war.“

„Ach so?“

„Ja. Auf den ersten Blick sieht er sehr grimmig aus, aber in Wirklichkeit ist er sehr freundlich. Ich glaube, er guckt nur so böse, weil er einsam ist...“

Fye musste bei dieser Beschreibung ein wenig lachen.

„Was ist denn?“, fragte Chii verwundert und lockerte die Umarmung ein bisschen, um Fyes Gesicht sehen zu können.

„Nichts, nichts. Das hat mich bloß an jemanden erinnert, auf den diese Beschreibung auch ganz gut passen könnte. Mit der Ausnahme, dass ich mir bei ihm nicht vorstellen kann, dass er einfach so ein fremdes Mädchen nach Hause begleitet.“

Fye spürte, wie er sich langsam wieder beruhigte. Er war zu Hause. Chii war bei ihm. Hier konnte ihm nichts passieren. Und auch draußen war nichts passiert. Der Teufel musste ihn geritten haben, dass die Erinnerungen plötzlich so brühwarm wieder in ihm aufgekocht waren.

Chii schenkte ihm ein kleines Lächeln, als sie wieder aufstand, seinen Einkaufsbeutel in die linke Hand nahm und ihm dann ihre rechte anbot, um ihm beim Aufstehen zu helfen.

„Komm, ich habe uns etwas zu Essen gemacht.“

„Klingt gut! Und es riecht auch schon so lecker!“

Damit war der Zwischenfall von eben erst einmal vergessen. Zumindest oberflächlich.
 

TBC...
 

-~*~-
 

Zu dem Lied, aus dem ich zwei Zeilen zitiert habe: Das ist "A wonderful Life" von Black. Ja, ich steh auf den ganzen alten Kram ^^.

Sündenbock

Aufgrund der unerwartet großen Schreibfortschritte der letzten Wochen sind Klayr und ich uns einig, dass wir auch mal früher hochladen können ^^. Das war ja auch der Deal. Sollte es schneller gehen beim Schreiben, dann auch beim Hochladen.

Ich hoffe, ihr freut euch über den verfrühten Upload ^^!
 

-~*~-
 

Erstschreiber des Kapitels: Klayr_de_Gall

Kapitel: 5/26
 

-~*~-
 

„Liebe mich dann, wenn ich es am wenigsten verdient habe, denn dann brauche ich es am meisten.“

(Anonym)
 

-~*~-
 

Sündenbock
 

„... Papa...?“

Ein unwilliges Murren kam von dem schwarzhaarigen Mann im Bett und er drehte sich auf die Seite, versuchte, das weinerliche kleine Stimmchen auszublenden. Doch dieses ließ sich nicht beirren, fuhr ganz leise und verängstigt fort. Sie wurde von kleinen Schluchzern durchbrochen.

„Papa...bitte...ich hab...Angst...“

„Wieso das denn?“, kam die unwillige dunkle Stimme aus den Tiefen des dunkel bezogenen Kopfkissens. Verschlafen und auch genervt klang sie. Der Digitalwecker auf dem Nachttisch blinkte in hingebungsvoller Ruhe ‚03.17.52’ in den stockdunklen Raum.

„Ich hatte...ich hatte einen bösen...Traum...“, fuhr das dünne Kinderstimmchen eingeschüchtert fort und das Rascheln von Stoff war zu hören, als ein Kuscheltier näher an einen zitternden, nur in einem dünnen Schlafanzug steckenden Körper gepresst würde.

„Da sind überall...Monster gewesen...und sie wollten mich fressen...!“

Damit war es um das kleine Mädchen geschehen. Allein wegen der Erinnerung an ihren Alptraum schüttelte es sie am ganzen Leib und ohne auf irgendeine Reaktion von ihrem Vater zu warten, schlüpfte sie unter seine Decke und drückte sich zitternd an ihn, vergrub das tränennasse Gesicht an seiner nackten Brust.

Kurogane ächzte. Sie war ja eiskalt! Wie lange hatte sie wohl schon neben ihm gestanden und ihn zu wecken versucht? Er dankte Gott, dass er aus militärischer Angewohnheit - oder auch Sturheit - in Hosen schlief, sonst wäre er wohl an ihren kalten Füßen erfroren, die seine Beine berührten.

„Es war nur ein Traum, Tomoyo. Träume können dir nichts tun.“

Natürlich versuchte es der Schwarzhaarige erst einmal mit der Logik eines Erwachsenen. Natürlich waren Alpträume nie toll und immer irgendwie erschreckend, für jeden. Aber ein Traum blieb ein Traum. Nur etwas, was in dem eigenen Kopf existierte. Und wenn es IM Kopf war, konnte es nicht nach draußen, um einem irgendwelchen Schaden zuzufügen.

Aber Tomoyo ließ sich durch diese realitätsnahen Worte nicht beruhigen, im Gegenteil, sie schluchzte noch um einiges herzzerreißender und klammerte sich an ihn, als wäre ihr Vater der letzte, der sie vor dem drohenden Unheil beschützen konnte.

„Da waren überall...überALL solche riesigen, großen Spinnen!!! Und die hatten so viele Beine und wollten mich...fressen?!“ Fassungslos hauchte sie das letzte Wort.

Kinder! Tief seufzend legte Kurogane einen Arm um die zitternde Dunkelhaarige.

Aber war er nicht auch einmal Kind gewesen? Hatte er die Schrecken böser Träume nicht genauso hautnah erlebt und sich vor ihnen gefürchtet, egal wie oft seine Eltern ihm gesagt hatten, dass ihm nichts passieren konnte? Wieso vergaß man so etwas als Erwachsener eigentlich? Und wieso nur musste Fye Recht behalten mit seinen Worten von gestern...?

„Hör zu, mein Herz.“ Sanft strich er ihr durchs Haar. „Der Traum ist wieder in die Nacht hinaus verschwunden und wird so schnell nicht wieder kommen. Dafür werde ich schon sorgen, okay?“

„Wirklich...Papa...?“

Unsicher schniefend blickte sie ihn an, immer noch fest an den durchtrainierten Körper gedrückt. Die bloße Anwesenheit ihres Vaters beruhigte sie ungemein, aber dessen Worte noch viel mehr. Auch wenn sie nicht ganz glauben konnte, dass ihr griesgrämiger Papa so etwas sagte. Aber eigentlich war er doch lieb, das wusste sie. Und Nii-chan hatte etwas Ähnliches gesagt...

„Wenn ich’s dir doch sage. Die sollen sich noch einmal hier blicken lassen!“

Gespielt böse blickte Kurogane sich um, als würde er nach Alpträumen spähen. Er kam sich sehr albern bei diesem Spiel vor, aber wenn es half, seine Tochter zu beruhigen...

Diese schein jedenfalls zutiefst erleichtert, dass ihr Vater versprach, sie zu beschützen, und kuschelte sich vertrauensvoll in seine Arme.

„Danke, Papa...“

„Hmm...“

Es dauerte nicht lange, bis Tomoyos Atemzüge wieder ruhiger wurden, sich ihr klammernder Griff allmählich löste und ihre kleinen Arme auf die Matratze sanken. Die Gewissheit, ihren Vater als Beschützer an ihrer Seite zu haben, ließ sie bald wieder tief schlafen, und die Schrecken der bösen Träume waren schnell vergessen in dieser behütenden Umarmung.

Kurogane seufzte erleichtert. Er wusste vielleicht nicht viel vom Vatersein, noch nicht, aber zumindest das hier wusste und konnte er, das hatte er gerade bewiesen.

Noch lange lag er in der Dunkelheit, strich dem kleinen Mädchen sanft durch die dunkle Mähne und hing seinen Gedanken nach. Er dachte daran, dass er Tomoyo am vorletzten Abend so angebrüllt hatte, nur weil sie noch glauben und träumen konnte, und wusste gleichzeitig, dass es ihm immer noch wahnsinnig Leid tat, auch wenn sie ihm längst verziehen hatte. Er dachte an das, was Fye zu ihm gesagt hatte und was diese Worte für ein Durcheinander in seinen vergessen geglaubten Gefühlen geweckt hatten. Und er dachte über den Kindergärtner selbst nach. Der Blonde, mit seinem immerwährenden Lächeln und den eisblauen Augen, die so viel Tiefe zu haben schienen, aber keinen Blick auf den Grund freigaben. Kurogane wusste nicht warum, aber wenn er diesem Mann in die hellen Augen sah, hatte er das Gefühl, dass dort mehr war, als Preis gegeben wurde, sehr viel mehr. Mehr Dunkelheit und Vergangenheit, die Fye vor sich selbst und vor anderen hinter seinem Lächeln verbarg.

Was würde er sehen, wenn er ihm diese Maske abnahm? Was für einen Menschen?

Abwesend blickte Kurogane aus halb geöffneten Augen vor sich hin, seine Finger unablässig durch lange, dunkle Locken flechtend. Er war gelinde überrascht über seine Gedankengänge. Interessierte er sich hier gerade ernsthaft für diesen Menschen, der Fye hinter dem ganzen Lächeln und der Witzelei war? Wirklich?

Vielleicht...ja...

Mit diesen Gedanken schlief der Schwarzhaarige schließlich ein.

Es war weit nach vier Uhr.
 

Kurogane fühlte sich ein klein wenig gerädert, als der Wecker gegen sechs Uhr klingelte. Obwohl das wahrscheinlich die Übertreibung des Jahrhunderts war, denn ehrlich gesagt fühlte er sich besch...eiden. Hauptsächlich müde. Und seiner kleinen Tochter schien es auch nicht besser zu gehen.

„Noch nicht...Papa~, mach das aus...“, nörgelte sie verschlafen gegen seinen Bauch, denn während der Nacht hatte sie sich zusammengerollt, sodass sie jetzt weiter unten lag.

Zuerst wollte der Schwarzhaarige dem widersprechen, aber so wirklich zu Widerworten durchringen konnte er sich nicht, stattdessen langte er nur grummelnd nach seinem Digitalwacker und drückte den Alarm aus. Kaum war wieder Ruhe, kuschelte Tomoyo sich verschmust an ihn und innerhalb von Augenblicken strich wieder nur ruhiger Atem gegen seine gebräunte Haut und er seufzte. Kindergarten hin oder her, gegen so kollektiven Aufstehunwillen kam noch nicht einmal der Gedanke an, dass sie sich verspäten würden, und zwar gewaltig. Denn auch wenn es Kurogane schon lange nicht mehr gewohnt war, die Wärme einer anderen Person in seinem Bett zu spüren, so kannte er doch noch zu gut seine Bereitschaft, gerade dann einfach wieder einzuschlafen.

Er döste schon wieder, als der nervige Wecker nach zehn Minuten erneut einen eindringlichen Piepton anstimmte und diesmal wurde dem Abhilfe geschafft, indem er ihn einfach ganz ausstellte.

Und damit kehrte für die nächsten Stunden wieder Ruhe ein im Hause Sugawara.
 

Die Rechnung für so viel Verschlafenheit präsentierte sich vier Stunden später in Form von einem Paar riesiger, vorwurfsvoller blauer Augen.

„Kuro-samaaaa!!!“

Fye stemmte die Hände in die Hüfte und blickte ihn beinah erbost von unten herauf an. Es war schon fast amüsant, wie viel kleiner der Kindergärtner doch war als Kurogane oder besser, wie viel größer dieser, aber bei einem solch strafenden Blick hatte der Schwarzhaarige nicht die Zeit sich darüber zu amüsieren.

„Weißt du, wie spät es ist?! Weißt du das???“

Fye tippte ihm anklagend auf die Brust und stellte sich auf Zehenspitzen, sodass seine Nasenspitze fast die seines größeren Gegenübers berührte, was diesen so irritierte, dass er sich automatisch etwas zurücklehnte.

„Ich habe mir verdammt noch mal Sorgen um Tomo-chan und dich gemacht! Du kannst doch nicht einfach drei Stunden zu spät kommen! Ohne ein Wort vorher zu sagen!“

„Du bist nicht meine Mutter, ich muss doch nicht...“

„Und wenn schon!“, fiel ihm Fye respektlos und aufgebracht ins Wort. „Ich war krank vor Sorge, also darf ich jetzt auch schimpfen!“

Mit großen Augen starrte Kurogane den wetternden Blonden an. Ihm blieb geradezu der Mund offen stehen, denn dass der junge Mann dermaßen aufgebracht sein konnte, hätte er nie für möglich gehalten.

Und wieso ließ er sich das von dem überhaupt gefallen??

„Hör mal, ich bin ein erwachsener Mann, ich kann zu spät kommen, wann ich will! Außerdem werde ich ja wohl auf uns beide aufpassen können!“

Damit wies er ruppig auf Tomoyo, die von ihrem Lieblingsversteck, hinter seinen Beinen, aus den lauten Wortwechsel der beiden Männer beobachtete. Der Kindergärtner hatte Vater und Tochter gleich am Eingangstor abgefangen, weil die Kindergruppe eh gerade draußen im Garten gewesen war. Auch jetzt blickten von überall her neugierige Kinderaugen zu ihnen herüber und Sakura wirkte besorgt. Keiner hier war es gewohnt, dass Fye so laut wurde.

„Ich weiß doch! Du kannst trotzdem nicht einfach unpünktlich kommen, wenn man das nicht von dir erwartet!“

„Am Nachmittag neulich hast du doch auch nicht so einen Aufstand gemacht!“

„Da war ich auch noch nicht von deiner Verlässlichkeit überzeugt!“

Fye zupfte aufgebracht an dem schwarzen Hemdkragen seines Gesprächspartners. Er sah so aus als wüsste er selbst nicht, was ihn so an der Unpünktlichkeit des Schwarzhaarigen aufregte, aber das besorgte Funkeln in den azurblauen Augen war noch immer nicht verschwunden. Es schien beinah so, als würde der Blonde sich einfach vergewissern wollen, dass die beiden da waren, denn es wirkte verkrampft und fast schon zwanghaft, wie er sich an Kuroganes Kragen klammerte.

Stumm bewegte der schlanke Mann seine Lippen und starrte wie apathisch in die blutroten Augen vor sich, als wäre es das Letzte, was ihn hier festhielt.

Was war nur los?

Der Schwarzhaarige war wirklich irritiert. Er hatte nie erwartet, dass der fröhliche Blonde ihn so verzweifelt ansehen konnte. Und vor allem wusste er nicht, warum. Und er wusste nicht, was er tun sollte. Unter dem Blick dieser tiefen Augen fühlte er sich ebenso verloren, wie Fye gerade aussah.

„Aber jetzt sind wir ja da...“

Es war Tomoyo, die denn Bann schließlich mit unsicherer Stimme brach.
 

Bei dem Klang der hellen Stimme riss Fye plötzlich seine Hände zurück, als hätte er sich verbrannt.

Was...?

Unsicher sah er Kurogane an, einen kurzen Moment, bevor er seinen Blick auf irgendetwas anderes konzentrierte, Hauptsache nicht auf ihn...nicht auf diese Augen... So rote Augen... Sie schienen ihn zu durchdringen, zu durchschauen und das tat weh, bis ins Innere seiner Seele. Was hatte Kurogane nur gesehen, dass es ihn berechtigte, ihn so anzuschauen? Was war es, was Fye beim Anblick dieses Mannes gerade so aus dem Konzept gebracht hatte?

Die Unruhe beherrschte ihn schon den ganzen Morgen, das Wissen, die Ahnung, dass etwas nicht stimmte, irgendetwas los war, etwas gehörig schief ging, und die Angst...Angst um Tomoyo und ihren Vater.

Aber warum?!

Er wusste es nicht, wirklich absolut nicht. Nur dass er vor Sorge fast gestorben wäre und vor Erleichterung hätte heulen können, als die beiden schließlich doch aufkreuzten. War es einfach nur gewesen, weil er von Kurogane annahm, dass dieser verlässlich und pünktlich war, wenigstens anrufen würde, wenn Tomoyo nicht in den Kindergarten kommen würde, oder das quälende Gefühl, das ihn seit gestern Abend fest im Griff hatte? Und diese Augen...so rot wie Blut...

Fye schüttelte heftig den Kopf.

Genug davon!

„Stimmt, Tomo-chan, jetzt seid ihr ja endlich wieder da!“

Unter Kuroganes stechendem Blick gelang es ihm nur gerade so, seine Maske aufzusetzen und das altbekannte Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern, aber die Hauptsache war, dass es gelang.

„Wieso seid ihr denn so spät gekommen? Ich hatte mir wirklich ganz schöne Sorgen um dich gemacht.“

„Um Papa nicht?“

Kurz schielte Fye zu dem Schwarzhaarigen hinauf. Dessen Blick hing noch immer an ihm und er spürte ganz deutlich, dass seine Maskerade durchschaut worden war. Aber warum ausgerechnet von ihm? Schell blickte er wieder weg.

„Doch, natürlich auch um ihn. Also, warum denn nun?“

„Wir haben verschlafen“, beichtete sie ihm niedergeschlagen. „Ich hatte einen bösen Traum heute Nacht und Papa hat mich vor ihm beschützt und ich durfte bei ihm im Bett schlafen.“

Neben ihnen schlug sich Kurogane mit der flachen Hand gegen die Stirn und wurde rot um die Nasenspitze. Siehe da...da war wohl jemandem sein Beschützerinstinkt peinlich.

„Miau, Kuro-rin!“, strahlt Fye ihn jetzt an. Manchmal fürchtete er diesen Blick, aber wenn Tomoyo ihm dann wieder solche Dinge über ihren ewig mürrischen Vater erzählte, dann erinnerte er sich an den sanften Glanz in den rubinroten Augen. Und er fragte sich, was für ein Ausdruck nun der echte war.

„Naja...“, fuhr Tomoyo dann verunsichert fort, konnte eh nichts mit dem Blickwechsel der beiden Männer anfangen. „Deswegen sind wir ganz spät erst eingeschlafen. Und als heute früh der Wecker geklingelt hat, da hat Papi ihn einfach wieder ausgemacht und Ruhe.“

„Ach so~, also ist Kuro-wanko Schuld!“

„Bin ich nicht!“

„Ist er nicht!“, unterstützte Tomoyo ihren Vater sofort lauthals. „Ich wollte auch weiterschlafen!“

Fye musste kichern, wie sehr sich das kleine Mädchen für ihren Vater einsetzte, und dieser wuschelte ihr auch sogleich durch die dunkle Mähne.

Ganz automatisch sah der blonde Kindergärtner auf und da war es wieder, dieses samtene Funkeln in den beeindruckenden rubinroten Augen. Für den Bruchteil eines Augenblicks stahl sich ein wirklich echtes, aufrichtiges Lächeln auf Fyes helle Lippen. Er wusste nicht warum, aber wenn er den sonst so schlecht gelaunten Schwarzhaarigen mit solch einem sanften Gesichtsausdruck sah, dann wurde ihm warm ums Herz.

Wenn Kurogane nur öfter so schauen würde...

Irgendwo tief in ihm raunte eine leise Stimme, dass er auch lieber einmal so von ihm angesehen werden wollte, als immer nur diese harten, durchschauenden Blicke zu bekommen. Doch der Blondschopf schüttelte verwirrt über seine eigenen Gedanken den Kopf.

Was war nur los?

Wo kamen bloß solche Gedanken her?

Als ob er ein Recht darauf hätte, sich so etwas überhaupt nur wünschen zu dürfen...

„Na gut, Tomo-chan.“

Es war wohl das beste, wenn er einfach so weiter machte wie bisher und alle diese seltsamen Ideen aus seinem Kopf verbannte.

„Ich drück’ noch mal ein Auge zu. Aber das nächste Mal sagst du bitte deinem Papa, er soll mich anrufen, damit ich mir nicht wieder so viele Sorgen machen muss, okay?“

Ein kurzer Blick zu besagtem Papa und dieser zuckte nur mit den Schultern, schien es aber zur Kenntnis zu nehmen.

„Also dann, Kuro-kuro. Ich nehm’ dir deine Tochter jetzt ab. Du hast sicher viel zu tun heute, habe ich Recht?“

Aber zu seiner Überraschung zuckte der größere Mann mal wieder nur mit den Schultern.

Er hatte nichts zu tun? Dabei sah Kurogane eher wie ein viel beschäftigter Mensch aus. Auch wenn das dem Kindergärtner mal wieder bewusst machte, wie wenig er eigentlich über den anderen wusste. Aber es ging ihn ja auch nichts an. Das würde Kurogane sicher sagen, würde er sich zu einer Frage durchringen.

„Trotzdem wünsche ich dir einen schönen Tag!“

Er sollte einfach aufhören, sich über solche Sachen den Kopf zu zerbrechen. Das passte doch gar nicht zu ihm!

„Hmm“, brummte er nur und verabschiedete sich schließlich noch von seiner Tochter.

Da Tomoyo diesmal wartete, bis er sich zu ihr gebeugt hatte, konnte sie ihn richtig zum Abschied umarmen.

„Bis heute Nachmittag, Papi!“

„Ist gut. Bis dann, Kleines.“

Die Dunkelhaarige gluckste erfreut, als erneut eine große Hand durch ihr Haar glitt, und winkte ihrem Vater noch überschwänglich nach, bis dieser vom Kindergartengelände herunter war, dann wandte sie sich mit treuherzigem Blick an den blonden Kindergärtner.

„Aber du bist doch nicht mehr böse, oder Nii-chan?!“
 

Etwas schwungvoller als nötig schlug Kurogane die Autotür zu, nachdem er ausgestiegen war.

‚Du hast sicher viel zu tun heute, habe ich Recht?’

Er war nicht wirklich wütend oder aufgebracht, bloß weil der Blondschopf ihn das gefragt hatte, sondern eher verwirrt. Es hatte ihn erstaunt, dass Fye sich dafür interessierte, aber noch viel irritierender war das Gefühl der Nutzlosigkeit gewesen, was er verspürt hatte, als er verneinen musste. Er brauchte anscheinend dringend etwas zu tun!

Seit er suspendiert worden war, hatte er eigentlich nichts getan, außer sich mit vorlauten Kindern, nervigen Haushaltshilfen und aberwitzigen Kindergärtnern herumzuärgern. Okay, für jemanden mit schwachen Nerven mochte das gänzlich ausreichend sein, aber Kurogane war durch das bisschen Streiten garantiert nicht ausgelastet!

Leise vor sich hingrummelnd betrat der Schwarzhaarige das Apartmenthaus. Hier im Parkviertel traf man vor allem Leute der oberen Zehntausend, worunter Kurogane sich auch zählen konnte, immerhin verdiente er mehr als genug und hatte im Gegenzug kaum Ausgaben, da war schon einiges zusammengekommen. Die Wohnung, in der er mit Tomoyo wohnte, hatte fünf Zimmer plus Bad und Küche. Eigentlich viel zu viel für einen alleinerziehenden Vater, aber ein Umzug war ihm einfach zu stressig, daher blieben sie dort. Und immerhin war die Kleine an die Wohnung gewöhnt.

Aus Gewohnheit benutzte er die Treppe, um in den dritten Stock zu kommen. Wenn er sonst schon nichts mehr für seine Fitness tat, das konnte er wenigsten beibehalten. Obwohl das für jemanden wie ihn, der extreme körperliche Anstrengung gewohnt war, nur Peanuts waren, wenn überhaupt.

Im Hausflur blieb er allerdings verwundert stehen. Etwas weiter den Gang entlang standen drei Personen und klingelten und klopften wie besessenen an einer Tür, die sich beim Näherkommen als die zu seiner eigenen Wohnung entpuppte.

Wer waren die denn? Er hatte die Leute noch nie zu vor gesehen. Oder doch...?

Die aufgebrachten Worte, die ein älterer Herr gegen seine Tür warf, konnte er nun beim Annähern vernehmen und sah sich in seiner Vorahnung bestätigt.

„Machen Sie auf, Sugawara! Wir wissen, das Sie da sind!“

Kurogane hätte am liebsten auf dem Absatz kehrt gemacht. Aber er war kein Feigling. Und früher oder später würde diese Konfrontation eh kommen, warum ihr also jetzt aus dem Weg gehen?

Trotzdem wäre er lieber wieder gegangen...

„Und was macht Sie da so sicher, dass ich daheim bin?“

Die drei fuhren wie von der Tarantel gestochen herum.

Bei den beiden älteren Personen, einem Mann und einer Frau gut über Sechzig, handelte es sich zweifellos um ein Ehepaar, und wenn man den dritten Anwesenden genauer mit ihnen verglich, dann wurde klar, dass es ihr Sohn sein musste. Einer ihrer Söhne, korrigierte der Schwarzhaarige sich und trat an den zur Salzsäule erstarrten Störenfrieden vorbei, um seine Tür zu entriegeln, öffnete aber noch nicht.

„Herr und Frau Dukari, nehme ich an?“

Nur eine Floskel, er hatte die beiden schon ein paar Mal bei militärischen Feierlichkeiten gesehen, aber nie mit ihnen gesprochen.

„Natürlich!“, empörte sich nun die alte Dame in einem weitaus weniger höflichen Ton als ihr jüngerer Gegenüber. „Tun Sie nicht so scheinheilig, Sie...Sie...!“

„Jeanette, bitte. Wir wollen uns doch nicht auf sein Niveau herablassen.“

‚Wessen Niveau?’ Kurogane runzelte die Stirn, sparte sich aber des weiteren jeden Kommentar dazu. Soweit er sich erinnern konnte, hatte er eben nicht eine Beschimpfung benutzt, oder hatte er etwas verpasst? Na ja, also konnte nicht sein Niveau gemeint sein. Innerlich zuckte er mit den Schultern.

„Und was verschafft mir die Ehre Ihres Besuchs?“

„Stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie sind! Was denken Sie wohl, wieso wir hergekommen sind! Es ist sowieso eine Unart, dass die Regierung Sie noch frei herumlaufen lässt!“

Die Stimme der „guten Frau“ hatte mittlerweile eine gewisse Höhe auf der Tonleiter überschritten, sodass man sie durchaus als schrill bezeichnen konnte, und lauter wurde sie auch von Wort zu Wort. Demzufolge dauerte es auch nicht besonders lange, bis ein paar Türen weiter den Gang hinunter jemand neugierig in den Flur lugte.

„Alles okay bei dir, Kurogane?“, wollte die junge rosahaarige Frau wissen. Er winkte ab und sie lächelte.

„Dann seit bitte ein bisschen leiser. Ich hatte heute bis spät in die Nacht Schicht und brauche den Schlaf.“

Damit verschwand Cardina wieder. Sie arbeitete als Barkeeperin in einem Café nicht weit von hier und sie kannten sich auch schon eine halbe Ewigkeit. Demzufolge war der Schwarzhaarige ausnahmsweise gewillt, dieser Bitte nachzukommen und öffnete seine Wohnungstür nun doch.

„Wenn ich bitten dürfte. Sie haben gehört, was meine Nachbarin gesagt hat.“

Mit einem vernichtenden Blick stolzierte Jeanette Dukari an ihm vorbei, gefolgt von einem etwas unterbuttert wirkenden Ehemann und dem jüngeren Sohn, der Kurogane einfach im Ganzen komplett ignorierte. Es war nicht schwer zu erraten, wer in dem Haushalt die Hosen an hatte.

Der Vormittag würde hart werden. Wenn nicht sogar die Hölle. Aber auch wenn er das wusste, bemühte er sich, höflich zu bleiben und seinen ungebetenen Gästen keinen Grund zu geben, sich noch mehr über ihn aufzuregen. Denn den hatten sie ja anscheinend schon genug.

„Kann ich Ihnen etwas anbieten?“

„Als ob wir von Ihnen etwas annehmen würden! Am Ende setzten Sie uns noch sonst was vor! Und tun Sie nicht so verständnisvoll, wir brauchen Ihr geheucheltes Mitleid nicht, Sie Mörder!“

Das saß.

Kurogane ballte für einen Moment die Hände zu Fäusten, behielt aber die Kontrolle über sich. Niemand ließ sich gern als Mörder beschimpfen. Selbst er nicht, auch wenn er sonst eine Menge gewohnt war. Und vor allem nicht dann, wenn man das gar nicht verdiente.

„Ich habe nur gefragt, ob...“

„Ach, seinen Sie still!“, fiel ihm die ältere Dame respektlos ins Wort. Sie scherte sich eindeutig einen Dreck um das, was er sagen wollte.

„Sie brauchen gar nicht versuchen, sich zu rechtfertigen! Der Fall ist für mich klar. Sie gehören lebenslänglich ins Gefängnis! Schade nur, dass es keine Todesstrafe mehr gibt!!!“

„...“

„Nicht wahr, Schatz? Tim?“

„Absolut, Mutter.“

„So jemand gehört hingerichtet, ganz recht.“

Jedes Wort stach wie eine kleine, böse Nadel. Und auch wenn Kurogane keine Miene verzog, traf es ihn innerlich sehr hart, verletzte ihn zutiefst. Wieso musste er sich so etwas von Personen sagen lassen, die nicht einmal bereit waren, sich seine Version der Geschichte anzuhören, die nur aus zusammengereimten Dingen das Geschehen kannten und nicht aus Fakten?

Er wusste doch wohl am besten, was in jener Nacht wirklich passiert war! Er wusste, dass diese drei einfältigen Personen Unrecht hatten. Und trotzdem schmerzte es bis ins Tiefste seiner Seele, so etwas an den Kopf geworfen zu bekommen.

„Was denn?!“, höhnte jetzt der Sohn los und blickte ihn vernichtend an. „So erschüttert darüber, dass Ihnen endlich mal jemand die Wahrheit so gerade heraus sagt, dass Sie sich nicht einmal rechtfertigen können?“

„Wieso sollte ich...“

„Ha!!! Versuchen Sie gar nicht erst, sich rauszureden! Es hat doch eh keinen Sinn!“

Kurogane platzte der Kragen, als ihm diese alte Vettel schon wieder ins Wort fiel.

„Wie soll man hier irgendetwas erklären, WENN MAN STÄNDIG UNTERBROCHEN WIRD??!“

Auf seinen Ausbruch folgte verdattertes Schweigen und der Schwarzhaarige hatte Zeit, erst einmal tief durchzuatmen. Es brachte rein gar nichts, hier die Fassung zu verlieren.

Aber jetzt kam er wenigstens auch mal zu Wort.

„Wenn Sie mir wenigstens mal einen kompletten Satz lassen würden, könnte ich Ihnen sagen, dass ich Stephan nicht...“

„WIE KÖNNEN SIE ES WAGEN??!“ Und damit war’s mit der Ruhe auch schon wieder vorbei. „Wagen Sie es nie wieder, den Namen meines Sohnes in den Mund zu nehmen, Sie hinterhältiger Mörder!“

Schon wieder sagte sie es, ohne die Wahrheit zu kennen und schon wieder zuckte er zusammen. Als wäre er schuldig...aber das war doch nicht wahr!

Da Jeanette Dukari wohl noch nicht genug hatte und ihm noch eine rein drücken wollte, sah sie sich mit Argusaugen in dem Teil der Wohnung um, der ihrem Blicken im Moment zugänglich war. Sehr schnell hatte sie etwas gefunden, was ihr nützlich erschien. Ein weißer Stoffteddy und ein Foto von einem kleinen Mädchen. Sie glaubte, Kuroganes absoluten Schwachpunkt gefunden zu haben. Und legte sofort wieder los.

„Unfassbar! Wie kann man in die Obhut eine Menschen wie Ihnen nur ein Kind geben? Das arme Mädchen! Einen Mörder als Vater! Aus der kann ja nichts werden!“

Die Alte hielt sich für sehr schlau und genau genommen traf sie auch einen sehr wunden Punkt bei ihrem jüngeren Gegenüber. Nur ging die ganze Sache sehr viel mehr nach hinten los, als sie es sich hatte erträumen lassen.

„Raus...“, presste Kurogane mit vor Wut bebender Stimme hervor. Er ließ sich beschimpfen und beleidigen und konnte dabei ruhig bleiben, aber wenn sie Tomoyo da mit rein zog, dann hörte bei ihm alle Vernunft auf. Denn die Kleine hatte absolut gar nichts damit zu tun, was ihr Vater verbrochen oder nicht verbrochen hatte.

Jeanette blinzelte ihn irritiert an und schien die Lage nicht richtig einschätzen zu können. Wäre sie schlau gewesen, hätte sie ihren Mann und ihren Sohn geschnappt und hätte fluchtartig die Wohnung verlassen. Aber sie war selbst zu sehr in Rage, als dass sie die Anzeichen dafür erkennen würde, dass Kuroganes Gemütszustand langsam kritisch wurde. Nur der Junge, fünfundzwanzig und wohnte sicherlich noch immer bei Mama, bekam mit, dass hier etwas gehörig schief lief und begann unauffällig den Rückzug in Richtung Wohnungstür.

„Was haben Sie gesagt? Ich glaube, ich habe mich verhört! Sie sind nicht in der Position, Forderungen zu...“

„ICH SAGTE RAUS!!! UND ZWAR AUF DER STELLE!“

„Wie können Sie es wagen, so mit mir zu reden?!“

Sie begriff es nicht. Sie begriff es einfach nicht! Der Schwarzhaarige hätte ihr am liebsten eine kräftige Ohrfeige verpasst, hielt sich aber zurück, denn dann hätte er sicher schneller eine Anzeige wegen Körperverletzung am Hals, als er schauen konnte. Doch beruhigen konnte er sich auch nicht wieder, dazu war er viel zu aufgebracht.

„Aber SIE können es sich erlauben, so mit mir und über mich zu reden?! Verlassen Sie sofort meine Wohnung oder ich vergesse mich!“

„Was fällt Ihnen ein?!“, kreischte sie, als der muskulöse Mann sie und ihren Ehegatten ohne viel Federlesen am Schlafittchen packte und grob zur Tür bugsierte. Da ihr Sohn diese in weiser Voraussicht schon geöffnet hatte, um zu flüchten, musste Kurogane seine beiden ungebetenen Gäste nur noch nach draußen auf den Flur stoßen.

Jeanette fauchte wie eine wild gewordene Katze.

„Das wird ein Nachspiel haben!“

„Ist mir scheißegal!“

WAMM!!!

Vor Wut am ganzen Körper bebend ließ Kurogane sich gegen die Tür sinken. Draußen war das Gezeter der alten Schachtel zu hören, aber er achtete nicht auf den Wortlaut, wollte nicht darauf achten. Irgendwann mischte sich die Stimme Cardinas unter den Lärm, die sie wohl wieder um etwas Ruhe zum Schlafen bat.

Es verging vielleicht eine halbe Stunde, dann kehrte im Flur des dritten Stocks endlich wieder Ruhe ein. In der ganzen Zeit hatte er sich nicht einen Millimeter bewegt. Nur sein Gemüt war ganz langsam abgekühlt. Nicht ganz, aber es reichte, um einen klaren Gedanken zu fassen.

Lieber Gott im Himmel, das hätte so schief gehen können!

Kurogane kannte sich und er kannte sein Temperament. In solchen Extremsituationen hatte er sich schon ganz andere Sachen geleistet. Aber heute war Fassung bewahren wirklich angebrachter gewesen und bei allem, was ihm wichtig war, er wäre bis zum Ende ruhig geblieben, hätte die alte Schreckschraube nicht plötzlich mit Tomoyo angefangen.

Mit einem tonnenschweren Ächzen rappelte der Schwarzhaarige sich auf und wanderte erst einmal ziellos in die Küche. Zuerst...Kaffee... Ja, das würde ihn wieder beruhigen. Heute früh war er nicht dazu gekommen, seinen allmorgendlichen obligatorischen schwarzen Kaffee zu trinken, weil sie eh schon viel zu spät gewesen waren und dafür nun wirklich keine Zeit gewesen war.

Nachdem er sich eine Tasse des frisch aufgebrühten Getränks eingeschenkt hatte, leerte er diese auf ex, was aber nicht gerade half, sondern nur dazu führte, dass Kurogane sich verschluckte. Die nächsten fünf Minuten röchelte er nach Luft und sah durch das heftige Husten schon die ersten schwarzen Punkte vor seinen Augen.

Der Tag wurde einfach nicht besser...

Ohne weitere selbstmörderische Absichten genehmigte sich der durchtrainierte Mann dann noch eine zweite Tasse.

Am besten ging er eiskalt duschen und legte sich dann für ein paar Stunden hin...

Ja, das klang nach einer sehr guten Idee.

Und das tat Kurogane dann auch.
 

„Du~hu, Nii-chan?“

„Ja, Tomo-chan?“

„Wie spät ist es denn?“

Fye seufzte schwer. „Hör zu, Kleines. Du fragst mich das seit einer halben Stunde alle fünf Minuten. Ich habe dir doch versprochen, dass ich dir Bescheid gebe, wenn es um drei ist, oder?“

„Ja, hast du.“ Die kleine Dunkelhaarige nickte eifrig und lächelte ihn treu an. „Aber wie spät ist es den nun?“

„Punkt fünfzehn Uhr. Also verbitte ich mir irgendwelche Beschwerden!“, erklang plötzlich eine tiefe Stimme hinter ihnen. Der Kindergärtner schrak zusammen, hatte den größeren Mann ja nicht einmal kommen hören, aber Tomoyo gluckste begeistert.

„Papa?!“

Und schon wurde er stürmisch auf Kniehöhe umarmt und geriet wieder leicht ins Straucheln, sodass der Blondschopf schnell nach seinem Arm griff.

„Alles okay, Kuro-mine?“, wollte Fye leise wissen, bekam aber nur einen Blick aus mattroten und sehr müden Augen als Antwort, während sich der Schwarzhaarige seinem Griff wieder entzog.

Was war den nun los? Der Blonde hätte vieles erwartet, in erster Linie, dass der Schwarzhaarige ihn ignorierte oder sich mal wieder über den Spitznamen beschwerte, aber...

Er wirkte so unendlich erschöpft...

„Papi! Ich dachte schon, du kommst wieder zu spät!“, verschaffte sich die Vierjährige Aufmerksamkeit, indem sie an der dunklen Hose ihres Vaters zog. Tomoyo war sonst immer ein sehr ruhiges Kind und hielt sich zurück, aber wenn es darum ging, dass sie ihren Papa endlich nach einem langen Kindergartentag wieder hatte, dann wollte sie erst einmal seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit und zeigte das auch sehr deutlich.

Und sie wusste, wie sie bekam, was sie wollte.

Sanft streichelte der große Mann ihr durch die dunklen Locken und für Augeblicke wich der müde Ausdruck in seinen Augen einem liebevollen Glänzen.

Ganz unbewusst strich Fye sich durch das eigene hellblonde Haar.

Es berührte ihn immer wieder aufs Neue, wie sanft der sonst so unnahbare Schwarzhaarige sein konnte. Wie glücklich er die kleine Tomo-chan damit machte.

Glücklich...

Fye verspürte einen unangenehmen Stich im Herzen. Wie es wohl wäre, wenn...

Doch schnell schüttelte er unmerklich den Kopf. Weg mit diesen Gedanken! Die gehörten nicht hierher. Außerdem hatte er überhaupt nicht das Recht darauf, sich so etwas wie Geborgenheit auch nur zu wünschen!

„Schön, dass du so pünktlich bist. Wie du siehst, Kuro-rin, wurde deine Ankunft sehnsüchtig erwartet.“

Kurogane hatte sicher auch so seine schlechten Seiten, den Jähzorn zum Beispiel und dass er so schnell laut wurde, aber für seine kleine Tochter schien er ein richtiger Bilderbuchpapa zu sein und das war ja wohl das Wichtigste. Nach ihren ersten beiden Begegnungen hätte er ihm das gar nicht zugetraut, aber allein diese eine Woche hatte ihn eines Besseren belehrt. Nur heute schien irgendetwas nicht zu stimmen und Fye war überzeugt, dass es etwas sehr Fatales sein musste, wenn sogar er das mitbekam. Sich einzureden, er hätte ein Gespür für Menschen, war pures Wunschdenken...absoluter Schwachsinn.

„Wir sind dann weg.“

„Ähm, was? Oh...ja. Ja, natürlich. Ich wünsche euch noch einen schönen Nachmittag und bis morgen. Und Kuro-wanko! Vergiss nicht, morgen ist dein wichtiger Tag! Der~ Tag überhaupt!“

„Ja, ja.“

Wie jetzt? Kein Gezeter? Nicht einmal ein böser Blick?

Der schwarzhaarige Mann wandte sich nur ab und wartete, bis Tomoyo sich strahlend von dem Kindergärtner verabschiedet hatte, dann gingen die beiden. Während Kurogane schwieg und sich nicht mehr umsah, winkte ihm die Kleine noch fröhlich vom Tor aus zu, dann eilte sie ihrem Vater zum Wagen nach.

Und Fye blieb zurück.

Inmitten spielender und tobender Kinder. Und dennoch einsam.

Warum nur?

Warum schaffte es der Anblick des miesepetrigen Schwarzhaarigen, seine Gefühle und Gedanken so auf den Kopf zu stellen? Seine Verbrechen wogen zu schwer, wie konnte er sich da die Frechheit herausnehmen, sich nach Verständnis, nach Vergebung zu sehnen?

Was hatte dieser Mann nur an sich, dass er dennoch jedes Mal, wenn er ihn sah, insgeheim hoffte, er würde ihn von seinem Leid befreien?

Sie kannten sich gerade mal ein paar Tage – wobei „kennen“ eigentlich schon übertrieben war – und trotzdem... Wenn Kurogane die zwei Mal am Tag, die er hier war, nur ein kleines Stück Aufmerksamkeit für ihn übrig hatte, dann kam ihm die Welt ein klein wenig besser vor...

„Fye-san? Kannst du mal eben helfen?!“

„Ich ko~mme, Sakura-chan!“
 

Der Nachmittag und der Abend vergingen.

Langsam.

Von Seiten Kuroganes meist in nachdenklichem Schweigen, aber seine kleine Tochter ließ sich davon kaum beirren, sondern redete munter für zwei.

Nur ab und zu sah sie besorgt zu ihrem Vater auf, aber sie wusste nicht genau, was er hatte, also ließ sie ihn in Frieden.

Zum Abendbrot aßen sie zusammen Wiener Würstchen und Brot und das in der Stube, weil Tomoyo gebettelt hatte, einen Film sehen zu dürfen. Also gluckste sie begeistert zum bunten Trickfilmtreiben auf dem Bildschirm und Kurogane schien halb in Gedanken, halb schlafend durch den Fernseher hindurch zu sehen.

„Was für ein toller Film! Schade, dass er schon zu Ende ist!“, „weckte“ Tomoyo ihren Vater schließlich recht unsanft. Und der Schwarzhaarige stellte fest, dass der Film wirklich aus war und stattdessen jetzt der Abspann lief.

„Na, dann wird’s ja allerhöchste Zeit fürs Bett, Fräulein.“

Die Kleine wollte widersprechen, klappte nach einem warnenden Blick ihres Vaters den Mund aber wieder zu. Und rutschte von der Couch.

„Okay.“

Und damit verschwand sie, um sich umzuziehen und sich bettfertig zu machen.

Kurogane seufzte.

Was für ein Abend! Er fühlte sich ausgebrannt und nicht einmal die Fröhlichkeit seiner Tochter schien ihn heute aufmuntern zu können. Den Film hatte er kaum registriert. Dauernd schoben sich Gedankenfetzen an die Begegnung vom Mittag in sein Bewusstsein. An diese hysterische Furie einer Mutter, die mit ihrem Schmerz nicht anders umgehen konnte, als möglichst alles davon auf ihn abzuwälzen, ihn als „Mörder“ abzustempeln, obwohl sie überhaupt keine Ahnung davon hatte – ja, nicht mal haben wollte! – was in Wirklichkeit geschehen war. Auf die Idee, dass er selbst unter dem Geschehenen litt und es am liebsten irgendwie rückgängig gemacht hätte, würde es nur irgendwie möglich sein, darauf kam sie natürlich nicht. Nein, sie bohrte nur gnadenlos in seinen Wunden herum. Und als ob das nicht reichte, zog sie auch noch seine Tochter mit hinein! Gut, er hatte sich anfangs etwas überfordert gefühlt mit der neuen Situation und der Kindererziehung, aber inzwischen hatte er sich ganz gut daran gewöhnt. Im Grunde war er sogar froh darüber, wenn die Kleine bei ihm war. Er wäre niemals auf den Gedanken gekommen, ihr irgendetwas anzutun! Hoffentlich ließ die alte Schnepfe sich nicht einfallen, sich in seine Erziehung einzumischen. Das bereitete ihm schon seit dem Zwischenfall am Mittag Sorgen...
 

Aus Richtung Bad erklang ein lautes Rumpeln gefolgt von einem Kichern. Dann erschien Tomoyo auch schon in der Tür, ihr langes, dunkles Haar zu dicken Zöpfen gebunden und so hoppelte sie herum.

„Guck mal, Papa! Ich bin ein Hase! Nuffnuff!“

Das war ihre Art, ihren Vater aufzumuntern, aber dieser sah im ersten Moment nur sehr verrutscht drein und hob dann skeptisch eine Augenbraue.

„Du hast echt nur Flausen im Kopf. Woher hast du das?“

„Fye-nii-chan hat’s mir beigebracht!“

Kurogane ächze genervt.

„Ist der Typ eigentlich nur dazu da, um dir irgendwelche sinnlosen Sachen zu zeigen?“

„Aber es macht doch Spaß!“, rief Tomoyo empört und sah ihn groß und fast schon anklagend an, sodass der Schwarzhaarige nicht mal ruhig bleiben konnte, wenn er es gewollt hätte.

„Das Leben macht aber keinen...“

Dann stockte er plötzlich. Schwieg.

...

‚Und deshalb bin ich mir sicher, dass du tief in deinem Innern gar nicht wollen kannst, dass aus ihr so schnell einer dieser unzähligen seelenlosen Erwachsenen wird, wie man sie heutzutage zu Tausenden auf den Straßen sieht.’

Diese Worte des Blondschopfs schossen ihm plötzlich durch den Kopf und er wusste, dass Fye Recht hatte, wusste es selbst in den entferntesten Tiefen seines Herzens.

Wieso beharrte er also immer noch darauf, dass seine Tochter erwachsener sein sollte, als es mit vier Jahren gut für sie war?

Wieso konnte er seine verstockte, erwachsene Denkweise nicht endlich einmal ablegen und es so akzeptieren, wie es gut für sie war? War er wirklich schon so verbittert und innerlich versteinert, dass er das nicht mehr konnte?

Wirklich...?

In manchen Momenten sagte ihm sein Herz aber etwas anderes...

„Du, Papa?“

Tomoyo schien verunsichert aufgrund seines Schweigens, krabbelte aber langsam auf seinen Schoß und machte es sich dort bequem, lehnte den Kopf zufrieden an die starke, warme Brust. Damit riss sie ihren Vater aus den trüben Gedanken.

„Was denn?“

„Bist du aus Schokolade?“

„Hä? Nein, wieso sollte ich...? Wie kommst du den jetzt darauf?“

Er aus Schokolade? Jetzt wurde es aber wirklich verrückt!

„Nii-chan hat gesagt, du bist wie Schokolade. Wie die bittere! Und dabei schmeckt die doch gar nicht.“

Sie schüttelte sich gespielt, während ihr Vater vor lauter Irritation den Mund gar nicht mehr zubekam. Zartbitterschokolade? Er und...das war ja wohl ein dummer Witz! Aber Tomoyo erzählte schon weiter.

„Und das habe ich Fye-nii-chan auch gesagt. Und weißt du, was er gesagt hat, Papi? Das war albern. Erst ist sie bitter, wenn man das erste Mal davon kostet, aber dann wird sie viel besser und leckerer und manchmal richtig süß. Dabei hat er dreingeschaut, als könnte er nie genug davon bekommen.“

Die Dunkelhaarige kicherte begeistert, als wäre das der beste Scherz, den sie je gehört hatte. Und wahrscheinlich war er das auch. Zumindest für sie.

Kurogane fand das überhaupt nicht lustig. Es verwirrte ihn nur noch sehr viel mehr.

Zu sehr.

Es war doch nur ein Vergleich. Zumal auch noch ein verdammt sinnloser, warum konnte er sich nicht einfach darüber aufregen und es abhaken? Aber es ging nicht. Weil es irgendwo hängen blieb. Und zwar genau dort, wo man es nicht so schnell wieder vergaß, weil es viele Gefühle beherbergte. Ein Ort namens Herz...

Er war heute als Mörder beschimpft worden, und jetzt verglich man ihn mit Zartbitterschokolade. Was war wohl schlimmer?

„Ich glaube, Nii-chan hat nur manchmal Recht...diesmal nicht...Schokolade kann nämlich nicht traurig sein, oder?“

Aus treuen violetten Augen blickte sie zu ihm hinauf.

„Was? Nein, kann sie nicht, wieso auch?“

„Weil...dann kannst du nicht aus Schokolade sein, Papa. Auch nicht aus ganz süßer Bitterschokolade...“

Langsam rappelte Tomoyo sich von seinem Schoß auf, sodass sie etwas wackelig neben ihrem Vater auf dem Sofa stehen konnte und so direkt auf einer Höhe mit ihm war.

„Hier nämlich...“

Ganz vorsichtig streckte sie ihre kleine Hand aus und Kurogane schloss seine rubinroten Augen, in denen heute noch mehr Schwere lag als sonst, als sie sacht seine Augenlider berührte. So behutsam, als fürchtete sie, den großen Mann bei der kleinsten falschen Bewegung verletzen zu können.

Zwar erkannte der Schwarzhaarige keinen Sinn hinter dem, was die Kleine tat, aber vielleicht merkte sie ja auch etwas von seiner Bedrückung. Und wahrscheinlich war es auch dumm zu glauben, dass sie es nicht tat.

Als Tomoyo ihre Hand wieder zurückzog, wollte er schon die Augen öffnen, als er plötzlich zierliche Arme um seinen Hals spürte und sein Kopf sanft, aber bestimmt gegen die vom Schlafanzug bedeckte Brust der Vierjährigen gedrückt wurde. Er blinzelte. Scheue Finger strichen ihm durchs Haar. Auf eine Art unbeholfen, unerfahren, denn Tomoyo umarmte zum ersten Mal jemanden so, war bisher immer nur selbst umarmt worden.

„Was machst du denn, Kleines?“

Kuroganes Stimme klang ruhig, entspannt und er hatte die Augen weiterhin geschlossen, lauschte dem ruhigen, gleichmäßigen Herzschlag seiner Tochter

„Sakura-chan hat mir das erklärt“, antwortete sie ebenso leise. „Wenn jemand traurig ist und man ihn ganz doll und ganz lieb umarmt, dann geht es ihm gleich viel besser.“

Sie mochte das Gefühl der rabenschwarzen, weichen Haare und kraulte spielend und sanft hindurch.

„Geht es dir denn jetzt besser, Papa?“

Er schwieg einen Moment, bevor er mit einem sanften Lächeln auf den Lippen antwortete.

„Ja. Dank dir, mein Herz.“
 

TBC...

Knirpse, Kleckse, Krisen

Monat ist um, ihr bekommt ein neues Kapitel. Ich bin sehr gespannt, wie es bei euch ankommt, weil es mir selbst diesmal wirklich ans Herz gewachsen ist. Der Kindergarten spielt wieder eine größere Rolle, denn...es ist FREITAG (in der FF)! Schreiberling war es ja schon aufgefallen. Aber lest selbst, was der gute Kurogane heute so alles erlebt :).
 

-~*~-
 

Disclaimer: Die Charas gehören (bis auf wenige Ausnahmen) nicht uns, sondern Clamp. Wir wollen kein Geld damit verdienen, sondern nur unterhalten.
 

Erstschreiber des Kapitels: Lady_Ocean

Kapitel: 6/26
 

-~*~-
 

„Sollen wir Kinder ziehen, so müssen wir auch Kinder mit ihnen werden.“

(Martin Luther)
 

-~*~-
 

Knirpse, Kleckse, Krisen
 

Ungeduldig trommelte Jeanette Dukari mit den Fingernägeln auf dem Wohnzimmertischchen, während sie darauf wartete, dass am anderen Ende der Leitung jemand den Hörer abnahm.

„Jugendamt von Okabe, guten Morgen“, meldete sich endlich jemand an der anderen Seite.

„Ein Glück, dass ich Sie endlich erreiche!“, sprudelte Frau Dukari vor Erleichterung los. „Ich versuche es bereits seit gestern Abend.“

„Am Donnerstag haben wir nur bis 15:00 Uhr geöffnet, werte Dame.“

„Nun, jetzt habe ich Sie ja erreicht. Ich muss Ihnen nämlich einen Notfall melden.“

„Oh, und der wäre?“

„Sie sollten unbedingt im Zedernweg 12 im Parkviertel vorbeischauen. Dort wohnt ein Herr Kurogane Sugawara, Offizier bei der Armee, der suspendiert wurde, weil er einen seiner Kollegen erschossen hat. Und dieser Mann hat eine vierjährige Tochter! Sie müssen das arme Kind unbedingt von diesem Mörder wegholen!“, schilderte die Frau mit opernreifer Dramatik.

„Sugawara also...“, begann der Mann langsam. „Und mit wem habe ich gerade das Vergnügen, werte Dame?“

„Mein Name ist Jeannette Dukari.“

„Ah, Frau Dukari...ich habe es fast schon vermutet. Mein aufrichtiges Beileid zum Verlust Ihres Sohnes.“

„Dann haben Sie bereits von dem Vorfall gehört? Und noch nichts unternommen?!“, hauchte die Frau fassungslos.

„Ja, wir haben von dem Vorfall gehört und natürlich sofort die Situation überprüft. Herr Sugawaras Tochter war bisher stets in guten Händen. Bis vor kurzem wurde sie von einer privaten Erzieherin aufgezogen und nun geht sie in einen ganz normalen Kindergarten, der ebenfalls keinerlei Makel aufweist. Zudem haben wir uns auch mit der Leiterin des Kindergartens und der ehemaligen Erzieherin des Mädchens in Verbindung gesetzt und nach ihrem Wohlergehen erkundigt, und beide konnten nur Positives über den Zustand des Mädchens berichten. Hinzu kommt, dass die Untersuchungen in dem Todesfall, in den Herr Sugawara verwickelt ist, noch nicht abgeschlossen sind. Man darf daher nicht davon ausgehen, dass es vorsätzlicher Mord war, und sollte den Mann nicht voreilig verurteilen.“

„Aber...“

„Ich verstehe Ihren Schmerz, gute Frau. Und ich verspreche Ihnen, sobald wir irgendeinen Hinweis haben, dass es dem Kind bei seinem Vater schlecht geht oder dass der Mord an Ihrem Sohn wirklich vorsätzlich geschehen ist, greifen wir ein und nehmen das Mädchen in unsere Obhut. Zuvor können wir aber nichts unternehmen.“

„Aber das...“

„Bitte, werte Frau, versuchen Sie, mich zu verstehen. Es gibt wirklich nichts, was ich oder irgendwer sonst im Moment für Sie tun kann.“

Jeanette Dukati wollte zu einem erneuten Protestversuch ansetzen, auch wenn sie nach wie vor keine richtigen Worte dafür finden konnte. Zu tief saß der Schock über das gerade Gehörte. Keine Möglichkeiten...? Sie konnte es einfach nicht glauben! In diesem Moment legte jedoch ihr Mann behutsam eine Hand über ihre linke, deren Finger sich zitternd in das kleine Tischdeckchen verhakt hatten, und suggerierte ihr somit wortlosen Trost. Jeanette spürte, dass sie verloren hatte.

„... Ist gut, ich habe verstanden.“

„Ich bin froh, dass Sie so vernünftig sind. Bitte verzweifeln Sie nicht. Am Ende wird es auf jeden Fall eine Lösung geben, mit der wir alle leben können.“

Was für eine leer dahingedroschene Phrase, das wussten beide, aber was sollte man sonst noch groß sagen? Und was erwidern? Frau Dukari hatte das Ziel ihres Telefonats nicht erreicht und das Gespräch war beendet.

„Aber danke, dass Sie mir zumindest diese Auskunft gegeben haben. Auf Wiederhören!“

„Auf Wiederhören“

Klack. Die Verbindung wurde beendet.

Für einen Moment sah man ganz deutlich die Niedergeschlagenheit und Resignation in Jeanette Dukaris Augen, doch bereits einen Augenaufschlag später war das altbekannte Feuer in ihnen wieder entfacht. Verwundert zog ihr Mann die Augenbrauen kraus.

„Was willst du nun tun, Jeannette?“

„Ich werde versuchen, Oruha zu erreichen.“

„ORUHA?! Aber sie ist längst gestorben! Sie war schwer krank!“

„Ich kann nicht glauben, dass sie gestorben ist! Ich weiß doch selbst, dass sie damals ganz plötzlich verschwunden ist, weil sie krank war und niemanden damit belasten wollte. Aber wir haben nie davon erfahren, dass sie gestorben ist. Und ich bin mir sicher, dass wir das inzwischen längst wüssten, sollte das der Fall sein. Jemanden mit einer Krankheit nicht belasten zu wollen und jemanden um den letzten Abschied von der geliebten Person zu bringen, sind zwei Paar Schuhe. Letzteres wäre taktlos und das war Oruha nicht! Außerdem hatte sie mir erzählt, dass sie ihr Testament verfasst hatte, bevor sie verschwunden ist, damit ihre Angehörigen und Freunde ihr Hab und Gut nach ihrem Ableben bekommen würden. Und einen kleinen Teil davon sollten auch wir bekommen, hast du das schon vergessen? Wir haben nie etwas davon gehört oder gesehen. Oruha MUSS also noch leben!“

„Da hast du schon Recht, aber...wie wollen wir sie denn finden? Wir haben seit über vier Jahren nichts mehr von ihr gehört!“

„Das weiß ich noch nicht, aber ich werde einen Weg finden. Verlass dich drauf!“
 

-~*~-
 

Kurogane fühlte sich fürchterlich, als er an diesem Morgen aufwachte. Oder zumindest wünschte er sich, er würde sich fürchterlich fühlen, damit er nur nicht aufstehen musste! Die letzten fünfzehn Minuten hatte er sich auch noch ganz gut davor drücken können, doch inzwischen war seine Tochter aufgestanden und stand unbeirrt neben seinem Bett, um ihn aus den Federn zu bekommen.

„Papa! Jetzt steh endlich auf!“

„Mir ist aber nicht gut!“, brummte er leicht genervt zurück.

„Sonst klingt das aber anders, wenn es dir nicht gut geht!“

Warum mussten Kinder bloß jede noch so feine Nuance in der Stimme bemerken? Man konnte ihnen einfach nichts vormachen! Innerlich stöhnte Kurogane entnervt auf.

„Ich stehe trotzdem nicht auf!“

„Aber dann kann ich doch nicht in den Kindergarten.“

ARGH! Da war es, dieses verflixte Wort mit „K“!

„...Und du sollst doch heute mitkommen!“

NEIN!!! Das war das Letzte, was er jetzt hatte hören wollen! Schlimm genug, dass er diesen Umstand auch so kaum aus seinen Gedanken verbannen konnte – jetzt musste seine Tochter das auch noch AUSSPRECHEN!

„Ich habe aber überhaupt keine Lust darauf, mich den ganzen Vormittag mit einem Sack Flöhen auseinander setzen zu müssen!“

„Im Kindergarten sind keine Flöhe! Wir machen jeden Abend zusammen sauber, Fye-nii-chan, Sakura-chan, die anderen Kinder und ich.“

Gut, das mit den Flöhen hatte sie nicht so richtig verstanden. Aber vielleicht war das auch besser so.

„Und außerdem hab ich mich schon sooooooo darauf gefreut, dass du heute mitkommst, Papi! Und die anderen auch!“

‚Ich mich aber nicht!’, fauchte er in Gedanken und zog sich die Decke tiefer ins Gesicht. Das half jedoch nicht viel, denn im nächsten Moment wurde sie ihm gänzlich vom Körper gezogen und schnell in einiger Entfernung zum Bett verstaut, damit er sie sich nicht wieder überwerfen konnte. Kurogane machte ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter, als er seine Tochter dabei beobachtete, wie eifrig sie die Decke verstaute. Dann tapste sie flink zu ihm zurück und nahm seinen locker auf dem Bettlaken ruhenden Arm in ihre zarten Finger, um ihm dann ganz tief in die Augen zu blicken.

„Bitte, Papi~!“
 

Zerknirscht und deswegen wohl auch etwas zu ruckartig riss Kurogane das Lenkrad seines Wagens herum, als er in die letzte Straße einbog, die ihn noch von der Realität gewordenen Hölle – namentlich Kindergarten – trennte.

Seit wann war er eigentlich so weich geworden, dass er sich schon von einem kleinen Kind vorschreiben ließ, was er zu tun hatte? Er musste unbedingt an seiner Selbstkontrolle arbeiten! Wenigstens in solchen Fällen. Denn das KONNTE doch nicht gut gehen! Ein ganzer Vormittag zusammen mit diesen vorlauten Bälgern! Er brauchte nur an diesen kleinen braunhaarigen Wicht zu denken, der sofort einen dieser schrecklichen Spitznamen nachgeäfft hatte, die der Blonde Luftikus ihm andauern verpasste, und seine Laune sank nur noch weiter in den Keller. Dann das ewige Geschrei, Gerenne, Gestreite, Gejammer... Ein Kind reichte ihm da vollkommen!

Aber nun konnte er nicht mehr zurück. Der Wagen stand auf dem Parkplatz, Tomoyo war bereits ausgestiegen und hatte auch seine Tür geöffnet, um nun geduldig darauf zu warten, dass auch er ausstieg. Also stellte er schließlich mit einem abgrundtiefen Seufzen den Motor ab, schnallte sich ab und stieg lustlos aus seinem Auto. Noch nie hatte er sich so deplaziert gefühlt. Dass gerade der blonde Frohsinn in Person auf sie zugetänzelt kam, trug wenig zur Besserung seiner Laune bei...

„Ah, Tomo-chan! Da bist du ja! Und du hast es geschafft, deinen Papa mitzubringen! Ich dachte mir schon, dass du dafür wohl ein bisschen brauchen wirst...“

„Au ja! Papi war überhaupt nicht aus dem Bett zu bekommen heute! Und dann war er bockig wie Ryu-kun, wenn er etwas nicht bekommt“, pflichtete die Kleine ihm begeistert bei.

„WAS?!“, war die fassungslose Reaktion ob Tomoyos letzten Statements. Er konnte es nicht fassen! Jetzt wurde er schon mit einem dieser Knirpse verglichen! Und das von seiner EIGENEN Tochter! Er würde ihr schon zeigen, was er drauf hatte! Und dass er sich ganz sicher nicht mit diesen Bälgern vergleichen ließ!

„Na, Kuro-puu? Schon voller Tatendrang?”, neckte Fye ihn weiter, als er den zerknirschten Ausdruck in Kuroganes Gesicht sah.

„Pah! Sag mir einfach, was ich machen soll, und ich bring es hinter mich.“

„Aber nicht doch“, mahnte Fye ihn mit erhobenem Finger. „Doch nicht du allein! Wir beschäftigen uns immer alle zusammen. Und was wir heute machen, das wirst du sehen, wenn wir drinnen sind.“
 

Fye konnte es kaum erwarten, den griesgrämigen Gesellen ins Innere zu geleiten. Dort war Sakura bereits eifrig damit beschäftigt, die Vorbereitungen für die heutige Vormittagsbeschäftigung zu treffen. Es war einfach immer wieder ein köstlicher Anblick, wenn Kuro-chan das Gesicht entgleiste. Und auch diesmal wurde er nicht enttäuscht, als sie den großen Aufenthaltsraum betraten und der große Schwarzhaarige erkannte, was heute auf dem Programm stand.

„Ihr wollt...nicht im Ernst...!“, stammelte er fassungslos.

„Doch, aber natürlich!“, frohlockte der Kindergärtner.

„WIR BACKEN!!!“, quiekte Tomoyo begeistert und sprang auch gleich auf Sakura zu, um sich zu erkundigen, wie sie mithelfen konnte. Kurogane schüttelte nur noch immer fassungslos den Kopf.

„Warum ausgerechnet BACKEN? Ich hätte mit einigem gerechnet. Draußen Spiele spielen, spazieren gehen, die Kiddies malen lassen – alles okay, also warum muss es unbedingt BACKEN sein? Als ob es nicht so viele andere Beschäftigungen gäbe!“

„Tja, ich habe die Kinder gestern gefragt, was sie machen wollen, wenn du heute den Vormittag mit uns verbringst, und sie waren einstimmig dafür. Da kann man wohl nichts machen. Aber Backen ist doch etwas Tolles! Du wirst sehen, es macht großen Spaß“, munterte der Blondschopf ihn auf und klopfte ihm freundschaftlich auf den Rücken. Zu helfen schien dies jedoch nicht.

„Backen KANN gar keinen Spaß machen! Der ganze Dreck, das Geklecker und die viele Arbeit mit dem Aufräumen hinterher – was soll daran spaßig sein?“

„Ach, das ist halb so wild! Wir räumen immer alle gemeinsam auf, dann muss jeder nur ein bisschen machen. Und Plätzchen backen ist eine richtig kreative Sache. Da können die Kinder ihrer Fantasie freien Lauf lassen.“

„Na klasse. Aber ich mag diese...Kreationen...am Ende nicht probieren! Mal ganz davon abgesehen, dass süßes Zeug sowieso nicht schmecken kann.“

Fye schüttelte resigniert den Kopf. Wie konnte jemand nur so durch und durch verstockt sein? Das würde ein sehr langer Weg werden, wenn er aus ihm noch ein bisschen Leben herauskitzeln wollte...

In diesem Moment tippte ihn ein kleines Mädchen mit langen, glatten Haaren und dunklen Augen an der Seite an und zog somit alle Aufmerksamkeit auf sich.

„Hilfst du uns beim Kneten vom Teig, Kuro-pyon?“

Oh-oh... Und schon sah man die Zornesader an Kuroganes Stirn wieder pulsieren.

„Jetzt fängt die Nächste damit an! Diese fürchterlichen Namen verbitte ich mir!“, donnerte der schwarzhaarige Riese los und brachte die kleine Arashi damit augenblicklich zum Weinen. Und schon war der nächste Knirps zur Stelle, ein schwarzhaariger Zauskopf, der das aufgelöste Mädchen sogleich in den Arm nahm und sich schützend vor sie stellte.

„Lassen Sie meine holde Maid in Ruhe, ehrloser Schurke! Sie hat Ihnen kein Unrecht getan, also warum zürnen Sie ihr so?“

Jetzt entgleiste Kuroganes Gesichtsausdruck schon zum zweiten Mal an diesem Tag. Was war denn das für einer? Lief hier denn nicht ein normales Kind herum? Von Tomoyo einmal abgesehen natürlich...

„Ah, Arashi-chan, Sorata-kun! Es tut mir Leid, dass er euch so angeschrieen hat. Glaubt mir, Kuro-muu meint es gar nicht so böse. Er mag es bloß nicht so gern, wenn man ihm Spitznamen gibt-“

„Und du machst es trotzdem dauernd! Kein Wunder, dass sogar die Kinder schon damit anfangen!“, fiel er dem Blonden fauchend ins Wort, doch dieser sprach unbeirrt weiter: „Aber im Grunde ist er ganz nett. Ihr müsst ihn nur erst mal richtig kennen lernen.“

„Genau!“, mischte sich nun auch Tomoyo ein, die durch das Geschrei angelockt worden war. „Fye-nii-chan hat Recht! Mein Papa ist wirklich nicht so böse! Auch wenn er manchmal schimpft...“

„Hört zu“, mischte sich nun auch Kurogane mit einem Augenrollen ein. „Tut mir Leid, dass ich so laut geworden bin und dich erschreckt hab, ja, Kleine? Aber wenn ich eins nicht mag, dann sind es diese fürchterlichen Namen. Wenn ihr das sein lasst, kommen wir schon irgendwie miteinander klar.“

Ein Weilchen sahen Sorata und Arashi, die sich immer noch aneinander geklammert hatten, ihn nur etwas eingeschüchtert an, bis Sorata schließlich seinen Mut wieder zusammennahm und antworte: „Und wie nennt man Sie dann, werter Herr?“

Den seltsamen Ausdruck des Jungen ignorierend, stieß Kurogane einen hörbaren Seufzer aus und lenkte dann ein Stück ein. Als Entschuldigung für seinen schroffen Ausraster sozusagen. Denn die Kinder konnten ja nichts dafür, wenn ihr Erzieher nur Blödsinn im Kopf hatte und vor allem redete.

„Eigentlich ‚Sugawara-san’, aber da sich hier eh niemand daran hält, sagt zumindest ‚Kurogane-san’, okay? ‚KuroGANE’ – und nichts anderes!“

Tomoyo strahlte ihren Papa an, als er ihnen das Zugeständnis machte, Sorata und Arashi nickten angedeutet, wobei das langhaarige Mädchen sogar ein kleines Lächeln zeigte, was auch Soratas restliches Misstrauen dem großen Mann gegenüber verschwinden ließ. Mit einer überschwänglichen Verbeugung verabschiedete er sich vorerst von ihm: „Also gut, Kurogane-san, Ihre Entschuldigung ist angenommen. Ihr unangemessenes Verhalten meiner zukünftigen Braut gegenüber sei Ihnen verziehen.“

Damit dirigierte er Arashi behutsam Richtung Küche zurück, Tomoyo folgte ihnen. Als sie außer Hörweite waren, wandte Kurogane sich leise an den noch neben ihm stehenden Kindergärtner: „Wo hat er diese seltsame Redensart her?“

„Sorata-kun? Sein Vater ist Schriftsteller, schreibt viele historische Romane. Sorata-kun vergöttert ihn regelrecht, deshalb imitiert er wohl so gern seine Sprechweise.“

Kurogane blickte in die Richtung zurück, in die die Kinder verschwunden waren. Sorata liebte seinen Vater also so sehr...?

„Tomo-chan vergöttert dich genauso“, fügte Fye hinzu, als er den Blick des Schwarzhaarigen sah. Seine Gedanken standen ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.

„Oh, ähm...Kurogane-san?“ Arashis Kopf lugte noch einmal hinter dem Türrahmen hervor. „Hilfst du uns nun beim Teigkneten?“

Kurogane zuckte ergeben mit den Schultern. Warum eigentlich nicht? Das war schließlich keine schwere Arbeit. So machte er sich auch auf den Weg in die Küche, gefolgt von Fye, der ihn kurz vor Betreten des Raumes allerdings noch einmal anhielt.

„Wegen Ryu-kun... Er ist manchmal ein kleiner Draufgänger und wird wohl nicht darauf hören, wenn du ihm sagst, er soll die Spitznamen sein lassen. Reiß ihm bitte nicht den Kopf ab deswegen. Du musst bedenken, die Kinder sind alle nicht älter als vier, fünf Jahre.“

„Das hättest du vielleicht auch bedenken sollen, als du mit dieser dämlichen Spitznamen-Sache angefangen hast!“

„Sei doch nicht so streng, Kuro-wan! Es ist doch viel schöner, wenn man einen Spitznamen hat! Außerdem ist es was Besonderes.“

„Ja, ja“, winkte er gleichgültig ab. Fye bemerkte ein wenig enttäuscht, dass Kurogane das Thema anscheinend schon aufgegeben hatte. Wenn er ihm damit schon keine Freude machen konnte, dann wollte er ihn zumindest etwas necken, um diesem grauen Felsen von einem Mann wenigstens irgendein Lebenszeichen entlocken zu können. Andererseits machte es ihm auch ein wenig Hoffnung, vor allem, wenn er an Ryus übermütiges Wesen dachte.

„Wenn es dich schon so wenig berührt, dass ich dir einen Spitznamen gebe – wobei ich mir immer uuuuuuunheimlich viel Mühe gebe, mir einen schönen für dich auszusuchen, Kuro-nyan – dann sei bitte Ryu-kun gegenüber auch neutral. Er wird schon irgendwann wieder damit aufhören.“

„Ja, ja.“

‚Also ‚ja’’, quittierte Fye die Antwort in Gedanken einigermaßen zufrieden gestellt. Wenigstens war Kurogane seit Beginn der Woche etwas ruhiger geworden.
 

Beim Teigkneten stellte Kurogane sich als sehr ausdauernder Gehilfe heraus. Da der Plätzchenteig ziemlich zäh war, konnten die Kinder ihn noch nicht selbst rühren, weil ihnen die Kraft fehlte. Und bei Sakura, die bereits die dritte Schüssel in Angriff genommen hatte, sah man ganz eindeutig die Kräfte schwinden, auch wenn sie sich sehr bemühte. Fye wollte eigentlich mithelfen beim Kneten, doch kaum dass er zusammen mit Kurogane den Raum betreten hatte, hatte Ryu auch schon angefangen, die Befürchtungen des Blonden Wirklichkeit werden zu lassen.

„Kuro-pyo! Du hilfst uns heute beim Plätzchenbacken, ja? Aber das heißt nicht, dass du deshalb welche abbekommst!“

„Ryu-kun!“, empörte Fye sich. „Das ist ungerecht! Jeder, der mithilft, bekommt auch Plätzchen ab.“

Der freche Junge zog einen Schmollmund und sah betreten zur Seite. Der Kindergärtner war heilfroh, dass der Junge recht gut auf ihn hörte.

„Na gut...aber von meinen Plätzchen bekommt er nichts!“

Na ja...RECHT gut halt. Nicht immer perfekt...

Kurogane kümmerte es nicht weiter. Er hatte sich vorgenommen, die Rotznase zu ignorieren. Der Zwischenfall vor wenigen Augenblicken, als er nur wegen dieses komischen Spitznamens der kleinen Arashi gegenüber so ausfällig geworden war, war ihm immer noch ein wenig peinlich. Er würde sich nicht noch einmal so leicht von einem Kind aus der Reserve locken lassen.

Um einem eventuellen Ernstfall vorzubeugen, bemühte Fye sich dennoch, Ryu erst einmal aus Kuroganes Reichweite herauszuhalten.

„Ryu-kun, du kannst mit den anderen schon einmal anfangen, alles auf den Tisch zu räumen, damit es dann gleich losgehen kann“, schlug er dem Jungen vor. „Und sei vorsichtig, wenn du eines der Bleche tragen möchtest. Die sind schwer.“

„Kein Problem! Ich bin doch stark!“, verkündete der kleine Junge stolz und machte sich auch sogleich daran, eines der Bleche in den Aufenthaltsraum zu tragen. Fye lächelte in sich hinein. Wenn man auf seine Stärke anspielte, dann konnte man Ryu wirklich sehr leicht für sich gewinnen.
 

Die Ruhe währte jedoch nicht lange, denn als alle gemeinsam um den großen Tisch herum saßen und Ryu sich zu allem Überfluss auch nicht davon hatte abbringen lassen, in Kuroganes Nähe zu sitzen, gingen die Sticheleien von Neuem los.

„Kuro-pyo, gibst du mir mal bitte die Schokostreusel?“

Der Schwarzhaarige ignorierte ihn geflissentlich. Fye beobachtete dies mit einem etwas mulmigen Gefühl im Magen. Er wusste, dass alle beide nicht zu der Sorte Mensch gehörten, die viel Spaß verstanden, wenn sie etwas wollten, was sie nicht bekamen. Auch Sakura warf immer wieder unsichere Blicke in ihre Richtung.

„Hey, Kuro-pyo, ich rede mit dir!“, sprach der Kleine seinen Gegenüber erneut an, diesmal bereits lauter, ungeduldiger, doch noch immer gab Kurogane keinen Mucks von sich, sondern stocherte nur weiter lustlos in dem Teigfladen herum, der vor ihm ausgerollt dalag. „Figuren herausschneiden“ nannte er die eher an Gulasch erinnernden Teigstücke.

„Kuro-pyo! Wenn du mir nicht sofort die Schokostreusel gibst, dann...!“

Kuroganes Wangenknochen begannen zu arbeiten. Fye wollte gerade aufstehen, um das Schlimmste zu verhindern, da war es auch schon zu spät. In seiner Wut griff Ryu in die neben ihm stehende Mehltüte, holte eine Hand voll heraus und warf sie Kurogane ins Gesicht, der darauf hin wie von der Tarantel gestochen hochschoss, seinen Stuhl dabei laut zu Boden befördernd, und den aufmüpfigen Jungen schneller am Hemdkragen gepackt hatte, als dieser gucken konnte.

„Du mieser, kleiner Giftzwerg-“, fing Kurogane bereits an zu fauchen, doch in diesem Moment hatte Fye ihn erreicht, sich halb auf den Tisch gehechtet und Kuroganes Handgelenke gepackt, damit dieser den Jungen loslassen musste, der noch immer irritiert zurücktaumelte, hinfiel und anfing, wie ein Schlosshund zu heulen.

„Kurogane, du kannst den Jungen doch nicht einfach packen und hochziehen! Oder was auch immer du sonst noch mit ihm vorhattest!“, rief Fye fassungslos, noch immer die Handgelenke des Größeren umklammernd.

„Ach so? Aber ER darf mich nach allen Regeln der Kunst beleidigen und ärgern, ja?!“, brüllte Kurogane nun auch Fye an. Dieser erkannte schnell, dass er gerade kein Vorwärtskommen in diesem Fall erwarten konnte und widmete sich erst einmal seinem anderen Problem, namentlich Ryu, der noch immer lauthals schreiend auf dem Boden lag, obwohl Sakura inzwischen über ihn gebeugt kniete und ihr Möglichstes versuchte, um ihn zu beruhigen, was nicht so recht gelingen wollte. Mit einigen großen Schritten hatte Fye den Tisch umrundet und sich nun auch zu Ryu auf den Boden gekniet. Doch er hatte nicht vor, ihn mit irgendwelchen Beschwichtigungen aufzumuntern und damit alle Schuld von ihm zu nehmen. Ihm war klar, dass das der falsche Weg wäre, zum einen weil er damit Kurogane unrecht tun würde und zum anderen weil Ryu davon erst recht nicht begreifen würde, dass das, was er getan hatte, falsch war.

„Da siehst du nun, was passiert, wenn du immer so frech bist, Ryu-kun“, sprach Fye ihn so ruhig wie möglich an. Unnötig Salz in die Wunde streuen wollte er schließlich auch nicht.

„Aber er hat doch angefa~hangen!“, verteidigte sich der Kleine jammernd. „Er hat mich ei-einfach ignorieeeeert!“

„Aber nur, weil du so unhöflich warst! Du hast doch vorhin gehört, dass er ‚Kurogane-san’ von euch genannt werden will.“

„Aber du nennst ihn doch auch nicht so!“, protestierte der Kleine. Und Fye wusste, dass er damit einen Punkt hatte. Hätte er sich nun zu Kurogane umgedreht, würde dieser bestimmt einen eingeschnappten ‚Ich-habe-es-dir-doch-gesagt’-Blick zurückschauen. – Nun, damit konnte er sich später auseinander setzen.

„Ich bin ja auch schon groß.“

Wie sehr er dieses Argument eigentlich hasste! Weil es kein wirkliches Argument war. Natürlich hatte Fye seine Gründe, warum er das mit den Spitznamen nicht aufgab, aber das jetzt vor Ryu groß und breit darzulegen, wäre einfach zu viel. Er würde es eh nicht verstehen.

„Ich bin aber auch schon groß!“, stritt Ryu weiter.

„Aber noch nicht so groß wie Kurogane. Deshalb musst du höflich zu ihm sein, genauso wie zu mir und deinen Freunden hier im Kindergarten. Es ist auch eine Form von Stärke, jedem Menschen gegenüber höflich zu sein, auch wenn man es nicht möchte, Ryu-kun.“

Allmählich verstummte das Wehklagen und wich einem leisen, unterdrückten Schluchzen.

„... Na gut...“

„Dann entschuldige dich bitte bei Kurogane-san, dass du so unhöflich zu ihm warst.“

„...“

„Ryu-kun, bitte“, wiederholte Fye. Und schließlich gab sich der kleine Querkopf auch geschlagen, schielte kurz ein wenig scheu in Kuroganes Richtung und nuschelte ein leises „Entschuldigung“ in seine Richtung.

„Das hat aber niemand gehört“, empörte der Kindergärtner sich und sah den Jungen abwartend an.

„Entschuldigung!“, antwortete dieser nun noch einmal laut und deutlich, wenn auch schon wieder mit einer Spur Trotz in der Stimme.

„Na bitte, so ist es besser“, kommentierte Fye zufrieden. Dann drehte er sich zu dem anderen Streithahn zurück.

„Und nun du.“

„Was ‚ich’?“

„Du musst dich auch entschuldigen.“

„WAS?! ER hat angefangen, nicht ICH!“, empörte Kurogane sich.

„Trotzdem hast du falsch reagiert. Du hättest ihn nicht so grob anfassen dürfen. Also musst du dich dafür entschuldigen.“

„Das sehe ich überhaupt nicht ein!“, protestierte Kurogane weiter.

‚Einer wie der andere’, dachte Fye entnervt, aber aufgeben würde er ganz sicher nicht!

„Dann hätte Ryu-kun sich auch nicht entschuldigen müssen. Hat er aber, also bist du jetzt dran! Oder willst du ein schlechtes Vorbild für die Kinder sein?“

„Tze!“

Der noch immer über und über mit Mehl beschmierte Mann lehnte sich in seinem – inzwischen wieder aufgestellten – Stuhl zurück und verschränkte die Arme, bedachte dann noch einmal die ganze Runde mit einem abschätzigen Blick. Jeder schien gespannt auf seine Antwort zu warten.

„Also schön – Entschuldigung! Reicht das jetzt?“

„Ja, das reicht“, meinte Fye mit einem leichten Lächeln. „Nun haben sich alle entschuldigt und es ist wieder in Ordnung, okay? – OKAY?!“

„Ja~“, kam es auf die zweite, wesentlich schärfer gestellte Frage schließlich gelangweilt von beiden. Aber zumindest in einem Punkt waren sie sich einig: Für den Rest des Tages würden sie sich aus dem Weg gehen.
 

Nachdem dieser Zwischenfall also geklärt war, widmete sich wieder jeder seinen Plätzchen – mit dem kleinen Unterschied, dass Fye und Ryu nun ihre Plätze getauscht hatten. Der Kindergärtner beobachtete seine zwei „Problemkinder“ noch immer sehr häufig, doch langsam begann er, dem Frieden – oder zumindest Waffenstillstand – zwischen den beiden zu vertrauen, und entspannte sich ein wenig. Ihm fiel auf, dass Kurogane aus seinem Plätzchenteig nun noch mehr Geschnetzeltes machte und dass auf dem Blech, auf dem sich eigentlich die bereits dekorierten Plätzchen befinden sollten, die fertig für den Ofen waren, nur ein wilder Wust aus Teig, Streuseln und Glasurklecksen zu finden war. Schmunzelnd begutachtete er das Schlachtfeld genauer.

„Backen ist nicht unbedingt deine Stärke, was?“

„So was braucht normalerweise ja auch kein Mensch!“, gab er halblaut zurück, sodass die Kinder ihn nicht unbedingt hörten.

„Oh, aber es macht großen Spaß!“, versicherte Fye mit ungebremstem Eifer.

„Wenn man betrunken ist vielleicht...“

„Und man kann seine Fantasie ausleben!“

„Das ist doch eher ein Delirium als Fantasie!“

Mit einem abgrundtiefen Seufzen schüttelte Fye den Kopf.

„Du bist wirklich erstaunlich, Kuro-rin! Wie kann man nur mit so wenig Spaß leben?“

„Es kann ja nicht jeder so ein Träumer sein wie du. Wo kämen wir denn da hin?“

Eine weitere Erwiderung konnte Fye nicht geben, denn in diesem Moment fing Yuzuriha schmerzvoll an zu stöhnen.“

„Was hast du denn, Yuzu-chan?“, fragte Sakura erschrocken.

„Mein Bauch tut so weh!“, jammerte die Kleine.

„Hast du etwa den rohen Teig gegessen?“

Das Mädchen verneinte mit schmerzverzerrtem Gesicht, doch die Krümel rund um ihren Mund sagten etwas ganz anderes.

„Ach Yuzu-chan! Ich habe euch doch vorhin extra gesagt, dass man von rohem Plätzchenteig Bauchweh bekommt”, schaltete der Kindergärtner sich in die Debatte ein, stand auf und lief zu seiner kleinen Patientin hinüber, um sie mit in die Küche zu nehmen.

„Sakura-chan, hältst du ein Auge auf alle? Und du bitte auch, Kuro-kuro? Ich bereite unsere Wärmflasche vor, damit Yuzu-chans Bauchschmerzen etwas gelindert werden.“

„Natürlich, Fye-san!“, antwortete Sakura bereitwillig.

„Wehe, du bleibst länger weg als nötig!“, warf Kurogane ihm hinterher. Fye grinste in sich hinein. Das war ja fast schon so etwas wie eine richtige Zustimmung gewesen! Und das ganz ohne betteln und bitten! Bisweilen überraschte der Schwarz-...na ja, derzeit eher Grauhaarige ihn wirklich.

Nachdem Yuzurihas Bauchschmerzen behandelt waren, dauerte es auch nicht mehr lange, bis die Kinder soweit waren, dass die Plätzchen in den Ofen geschoben werden konnten. Kuroganes Laune war inzwischen wieder in den Keller gesunken, was sein verbiesterter Gesichtsausdruck nur zu deutlich zeigte. Selbst den Kindern entging das nicht, einige sahen immer wieder unsicher zu ihm herüber. Fye beobachtete ihn aus dem Augenwinkel heraus, wie er ungeduldig zum wahrscheinlich fünften Mal in den letzten zehn Minuten auf die Uhr sah, bloß um feststellen zu müssen, dass noch nicht einmal elf Uhr vorbei war. Ein wenig geknickt blickte er in den Ofen zurück und sah dem aktuellen Blech voller Plätzchen beim Braunwerden zu.

Wie konnte jemand nur so ungern backen? Ob er sich beim Kochen wohl genauso steif anstellte? Noch ein Blick in Richtung Kurogane und der Blonde musste sich eingestehen, dass es beim Kochen wahrscheinlich wirklich nicht anders war.

Sein Blick wanderte herüber zu Tomoyo, die ebenfalls auffällig häufig mit besorgtem Blick in die Richtung ihres Vaters sah und schließlich von ihrem Spiel mit Yuzuriha aufstand, um zu ihm herüberzulaufen und auf seinen Schoß zu klettern.

‚Bekommt Tomo-chan wenigstens immer ihre warmen Mahlzeiten, wenn sie zu Hause bei ihrem Papa ist?’, schoss es Fye durch den Kopf. ‚Wahrscheinlich bekommt sie die meist erst am Abend, wenn ihre Mutter nach Hause kommt. Apropos...nach ihr scheint Tomo-chan wirklich gar nicht zu kommen. Von der dunklen Haut und den exotischen Gesichtszügen sieht man bei ihr überhaupt nichts...’

Verträumt beobachtete er, wie das Mädchen begeistert auf seinen Vater einredete und diesem damit sogar ein ungezwungenes Lächeln entlocken konnte. Fye wüsste nur zu gern, was sie ihm wohl erzählte, dass sich seine Laune gleich so sehr verbesserte, aber durch den allgemein vorherrschenden Kinderlärm – hauptsächlich verursacht von Ryu – war leider nichts zu verstehen.

Zum dritten Mal an diesem Mittag schallte die Küchenuhr und zum dritten Mal stürmten alle Kinder wie auf Kommando zum Ofen, wurden mit Mühe und Not von Fye davon abgehalten, zu nah an den heißen Gegenstand heranzutreten, während Sakura vorsichtig das soeben fertig gewordene Blech herausholte und gegen ein neues eintauschte.

„Das sind meine Plätzchen!“, quiekte Yuzuriha erfreut.

„Du kannst sie doch gleich kosten, Yuzu-chan, nur noch ein bisschen Geduld! Jetzt sind sie heiß, da verbrennst du dir den Mund, wenn du sie isst. Und die Plätzchen der anderen Kinder sind doch auch gleich fertig, dann können wir sie alle zusammen essen“, versprach Fye ihr, genauso wie schon Sorata und Subaru zuvor.

„Jetzt kommen meine Plätzchen in den Ofen!“, jubelte Ryu. „Das werden die besten Plätzchen von allen!“

„Dann musst du aber jeden einmal kosten lassen, damit wir uns alle davon überzeugen können, Ryu-kun“, wandte Sakura ein.

„Ich will aber nicht, dass alle meine Plätzchen aufessen!“, protestierte der Junge beleidigt.

„Wenn du mir ein Plätzchen abgibst, bekommst du auch eins von meinen“, bot Tomoyo ihm an. Er bedachte sie kurz mit einem abschätzenden Blick, dann das Blech mit ihren Plätzchen, befand dann, dass ihre in etwa dieselbe Größe hatten wie seine und willigte dann ein: „Na gut. Aber wir tauschen nur gleich große Plätzchen!“

„Okay!“

„Tauschen wir auch, Ryu-kun? Ich möchte auch wissen, wie deine Plätzchen schmecken“, mischte sich nun auch Sorata ein und so lief es schließlich darauf hinaus, dass jeder einmal jeden kosten lassen würde – und dass ohne, dass Fye oder Sakura als Vermittler sich hätten einmischen müssen. Ja, er hatte schon eine tolle Kindergartengruppe, dachte der Blondschopf mit Stolz.
 

Das Plätzchenessen war, wie nicht anders zu erwarten, laut und bunt. Kurogane verzichtete freiwillig auf sein Blech, woran auch alles Bitten und Betteln von Fye und Tomoyo nichts ändern konnte, doch das freute zumindest die anderen Kinder der Gruppe. So hatten sie schließlich mehr für sich. Zwar sahen Kuroganes Plätzchen bei weitem nicht so hübsch aus wie die aller anderen, doch die Zutaten, die er verwendet hatte, waren dieselben gewesen und so schmeckten seine Plätzchen nicht unbedingt schlechter als die restlichen. Und ein paar Plätzchen mehr essen zu können, das war die Hauptsache für die Kinder. Selbst Ryu fragte, wenn auch noch immer etwas verschüchtert von dem Zwischenfall am Vormittag, ob er sich ebenfalls ein paar von Kuroganes Plätzchen nehmen durfte. Der Schwarzhaarige hatte nichts dagegen. Anscheinend war die Sache vom Vormittag für ihn erledigt. Das schien auch Ryu so zu deuten, denn als er sich die Plätzchen nahm und wieder verschwand, stand ihm die Erleichterung deutlich ins Gesicht geschrieben.

Den einzigen Streitpunkt gab es dann wieder, als Ryu nicht von seiner Behauptung abweichen wollte, dass seine Plätzchen die leckersten waren. Arashi stellte einfach die Gegenbehauptung auf, dass ihre Plätzchen dafür die schönsten seien, und wenn man ihre mit allen anderen verglich, so konnte wirklich niemand das Gegenteil behaupten. Auch Subaru, Kamui und Tomoyo gaben schnell nach und aßen einfach genüsslich weiter, als sie merkten, dass sie gegen Ryus Dickkopf mal wieder nicht ankamen. Yuzuriha und Sorata hingegen wollten die Behauptung des braunhaarigen Jungen jedoch einfach nicht auf sich sitzen lassen und hätten sich vielleicht sogar bis zu einer handfesten Rangelei provozieren lassen, wenn Fye nicht schließlich eingegriffen hätte.

„Jeder findet seine Plätzchen am leckersten, das ist doch normal! Ryu-kun hat sich für seine besonders viel Mühe gegeben, Sorata-kun für seine ebenfalls und Yuzu-chan genauso.“

„Dann sag du uns, welche Plätzchen am besten schmecken, Nii-chan!“, forderte Sorata seinen Kindergärtner auf. So nahm Fye also von allen dreien jeweils ein kleines Plätzchen und kostete sie nacheinander, jedes Mal einen sehr bedeutsamen Gesichtsausdruck dabei aufsetzend, so als würde er das Gebäck in all seinen Einzelheiten analysieren. Als er alle drei probiert hatte, meinte er schließlich: „Eure Plätzchen schmecken alle suuuuuuuuperlecker! Da kann ich mich gar nicht entscheiden, welches das beste war.“

Ein wenig enttäuscht sahen die drei sich wieder an. Nun waren sie immer noch nicht weiter.

„Na gut, dann sind eben alle unsere Plätzchen die besten“, lenkte Yuzuriha schließlich ein.

„Na gut...“, stimmte auch Ryu widerwillig zu. „Aber unsere Plätzchen sind auf JEDEN FALL besser als die von den anderen!“

„JA!“, kam es einstimmig von den zweien. Die besagten anderen sahen eindringlich zu ihnen hinüber, doch bevor ein weiterer Streit ausbrechen konnte, mischte sich auch Kurogane ein: „Lasst sie reden. Ihr habt doch auch die Plätzchen von allen probiert. Die schmecken alle gleich. Keiner war besser als ein anderer. Und wenn die drei meinen, ihre Plätzchen sind besser als eure, dann müsst ihr ihnen ja nichts mehr abgeben.“

Damit waren die vier durchaus einverstanden und widmeten sich wieder ihrem eigenen Gebäck.
 

Inzwischen war es kurz nach zwölf Uhr und Kuroganes erste Sonderschicht somit beendet. Erleichtert schnappte er sich seine Jacke und verabschiedete sich dann von seiner Tochter.

„Ich fahre jetzt wieder nach Hause, Kleines. Möchtest du gleich mitkommen?“

„Ich würde gern noch ein bisschen hier bleiben. Magst du nicht auch noch bleiben, Papi? Nur noch ein bisschen! Bitte!“

„Tut mir Leid, aber das hier ist nichts für mich. Ich will mich jetzt erst mal ein bisschen ausruhen. Und Haare waschen, damit ich das Mehl endlich wegbekomme. Aber du kannst trotzdem noch bleiben. Ich komme dann am Nachmittag wieder und hole dich ab.“

„Och, schaaaaaaaade“, seufzte Tomoyo, untermalt mit einem steinerweichenden Blick. „Aber nächste Woche kommst du wieder mit, oder?“

„Was anderes bleibt mir ja nicht übrig“, antwortete er mit wehleidigem Blick. Tomoyo schien sich an seiner Wortwahl und seinem Gesichtsausdruck aber überhaupt nicht zu stören, sondern freute sich trotzdem wie ein Honigkuchenpferd.

„Juhuuuuu! Das ist toll! Ich finde es prima, wenn du mit bei mir im Kindergarten bist!“

„Na wenn es dich glücklich macht...“

Mit einem Grinsen wuschelte er dem kichernden Mädchen durchs Haar. Fye, der bis jetzt ebenfalls grinsend im Türrahmen gestanden hatte, trat nun einige Schritte auf die kleine Familie zu, um Tomoyo wieder in seine Obhut zu übernehmen.

„Du warst gar nicht mal schlecht, Kuro-won! Da schlummern wohl verborgene Talente in dir?“

„Na sicher! Noch ein paar Stunden und ich hätte mit Sicherheit die Krise bekommen.“

„Och, so sahst du aber gar nicht aus!“

„Dann mach die Augen auf! Und wehe, du lässt dir für nächste Woche wieder so was Beklopptes einfallen. Dann siehst du mich nicht noch mal.“

„Aber das Backen war doch toll!“, protestierte Fye, immer noch grinsend.

„Genau!“, pflichtete Tomoyo ihm bei.

„Jetzt fall du mir nicht auch noch in den Rücken!“, empörte Kurogane sich über die Antwort seiner Tochter, die sich auch gleich ein Stück näher an die Beine ihres Kindergärtners drückte.

„Och Papi! Aber es hat doch WIRKLICH großen Spaß gemacht!“

„Was würdest du denn gern machen, wenn du unsere Beschäftigung heute so schlimm fandest?“, wollte Fye wissen.

„Was weiß ich“, meinte Kurogane achselzuckend. „Irgendwas, was NICHT mit Basteln, Backen oder Kochen zu tun hat. Irgendein Spiel spielen vielleicht.“

„Okay, dein Wunsch wurde registriert. Wir werden uns dann nächste Woche alle gemeinsam etwas für dich einfallen lassen“, versprach Fye ihm, wobei der Schwarzhaarige noch nicht so recht wusste, ob er nun froh sein sollte über das Versprechen oder nicht. Egal, grübeln brachte ihn hier nicht weiter. Er würde sich einfach überraschen lassen müssen.

„Ich bin gespannt...“, antwortete er dem Blonden daher monoton. Dann wandte er sich noch einmal an seine Tochter, um sich ein letztes Mal kurz von ihr zu verabschieden.

„Also dann, Kleines. Viel Spaß noch! Und bis nachher, ja?“

Noch einmal löste sie sich von ihrem Kindergärtner und lief zu ihrem Vater herüber, um ihn fest zu umarmen. Inzwischen kannte er dieses Ritual bei ihr und ging daher gleich in die Hocke, sodass sie ihn richtig in die Arme nehmen konnte.

„Ja, bis dann, Papi!“

Kurogane stand wieder auf, verabschiedete sich mit einem „Also dann“ und einem angedeuteten Nicken auch von Fye und verließ das Gebäude. Als er wieder in seinem Auto saß, atmete er erst einmal erleichtert auf, bevor er den Motor anließ und nach Hause zurückfuhr.

‚Was für ein Tag!’, schoss es ihm durch den Kopf, wobei er wieder an den frechen Ryu, den seltsam sprechenden Sorata, die ein wenig eitel wirkende Arashi, die beiden eigenbrötlerischen Zwillinge Kamui und Subaru und den allgemeinen Lautstärke- und Chaospegel denken musste.

‚Aber eigentlich...’

Er sank noch ein Stück tiefer in seinen Sitz hinein und schloss für einen Moment die Augen.

‚...habe ich es mir wesentlich schlimmer vorgestellt. Nicht, dass das jetzt unbedingt toll war, aber es hätte wirklich noch schlimmer kommen können.’

Und nun stahl sich noch ein kleines Lächeln auf seine Lippen.

‚Und meine Tomoyo scheint für ihr Alter wirklich eins der liebsten Kinder zu sein, die man so sieht. Vielleicht war Somas Erziehung der letzten Jahre doch nicht so schlecht gewesen. Aber das muss ich ihr nicht noch auf die Nase binden. Ihr Ego ist auch so groß genug.’

Der Motor des schwarzen BMW sprang an und wenige Sekunden später hatte er den Parkplatz verlassen.
 

TBC...

Wer mit dem Feuer spielt...

Diesmal hat es ein klein wenig länger gedauert als eingeplant, ich weiß, aber ich war die letzten zwei Tage auf Exkursion und bin damit nur in der Weltgeschichte herumgelaufen/-gefahren, also war da nix mit Computer und allem, was so damit zusammenhängt ^^. Na ja, ihr habt es überlebt, oder *g*?
 

Eine kleine Bitte hätte ich noch, wenn euch Rechtschreibfehler auffallen: Ich bin ziemlich perfektionistisch, daher würde es mich freuen, wenn ihr mir die Sachen konkret sagen könntet, die noch nicht stimmen, falls es euch nicht zu viel Mühe macht. Denn auch bei der Beta geht ja gelegentlich noch das ein oder andere Fehlerchen durch die Lappen. Das wär lieb ^^.
 

Und ansonsten - die meisten haben es inzwischen wahrscheinlich sowieso schon mitbekommen - gibt es zu dieser FF jetzt auch einen Zeichenwettbewerb! Klayr und ich würden uns natürlich freuen, wenn ihr fleißig mitmacht ^^.

http://animexx.onlinewelten.com/wettbewerbe/wettbewerb.php?id=29181
 

Und nun wünsche ich euch viel Spaß beim Lesen!
 

-~*~-
 

Disclaimer: Die Charas gehören (bis auf wenige Ausnahmen) nicht uns, sondern Clamp. Wir wollen kein Geld damit verdienen, sondern nur unterhalten.
 

Erstschreiber des Kapitels: Klayr_de_Gall

Kapitel: 7/26
 

-~*~-
 

„Die großen Tugenden machen einen Menschen bewundernswert, die kleinen Fehler machen ihn liebenswert.“

(Pearl S. Buck)
 

-~*~-
 

Wer mit dem Feuer spielt…
 

„Papa, Papa, Papa! Kann ich biiiitte noch ein paar Cornflakes haben?“ Fröhlich wippte Tomoyo mit den nackten Füßen, während sie ihrem Vater eifrig die Schüssel so weit wie möglich über den großen Küchentisch entgegenstreckte. Dieser gähnte erst einmal hingebungsvoll.

„Du hattest doch schon zwei Schüsseln.“

„Aber wenn sie doch so super lecker sind!“

„Da ist eine halbe Tonne Zucker drin. Wie können die lecker sein?“, kommentierte Kurogane, der skeptisch auf die große Pappverpackung starrte, auf der bunte Flakes in Ringform abgebildet waren. Den süßlichen Geruch nahm er bis hierher war.

„Na genau deswegen ja! Bitte!“ Da die Kleine so schnell nicht aufgab, gab sich der Schwarzhaarige bald geschlagen und füllte die Schüssel noch ein weiteres Mal mit diesen Zuckerbomben. So früh am Morgen – wohlgemerkt, acht Uhr war früh! Zumindest am Wochenende brauchte er erst einmal eine anständige Tasse schwarzen Kaffee, um diskussionsfähig zu sein.

Und zu Tomoyos Glück hatte er die noch nicht intus, denn die Kaffeemaschine hört gerade erst auf zu gluckern. Brummend erhob der Schwarzhaarige sich und schenkte sich eine große Tasse von dem diesmal recht stark geratenem Getränk ein. Es war wohl bezeichnend für die Essgeschwindigkeit seiner Tochter, dass sie in der Zeit, in der eine Kanne Wasser durch die Maschine lief, zwei Schüsseln voller ungesunder Getreideflockendinger schaffte.

Sollte er sich vielleicht Sorgen machen...?

„Yummi, war das lecker!“, verkündete Tomoyo schließlich nach kürzester Zeit. „Ich glaube, jetzt bin ich echt satt.“

„Na, das glaub ich. Hast ja auch mehr als genug von diesem komischen Zeug gegessen.“ Nachdem Kurogane sich mitsamt der Kaffeekanne zurück an den Tisch verzogen hatte, angelte er nach der Morgenzeitung und verschwand augenblicklich dahinter. Es war ja nicht so, dass er sich nicht für seine kleine Tochter interessierte, aber deswegen musste er noch lange nicht an allem, was sie sagte oder tat, Interesse zeigen.

Und die Vierjährige machte ihm eh mal wieder einen Strich durch die Rechnung und störte seine Ruhepause. Sie schlüpfte einfach unter der Zeitung hindurch und kletterte frech auf seinen Schoß. So hatte sie augenblicklich wieder die volle Aufmerksamkeit ihres grummeligen Vaters.

„Aber Papa, wie kannst du sagen, dass es komisch ist? Du hast es doch noch nie gekostet!“

„Hab auch nicht das Bedürfnis. Und jetzt geh spielen.“

Konnte man nicht einmal morgens eine halbe Stunde Ruhe haben?

Doch die Kleine dachte natürlich nicht daran, sich schon geschlagen zu geben, und fischte nach der großen Pappverpackung, holte eines der süßen Knusperdinger heraus und hielt es ihrem Vater unter die Nase.

„Probier doch mal. Die schmecken wirklich gut.“

Trauherzig sah sie ihn an.

Kurogane seufzte gequält.

„Ich mag nichts Süßes.“

„Dann später?“

„Ich mag überhaupt nie etwas Süßes!“

Wieso waren Kinder nur so schwer von Begriff? Die Vierjährige blickte ihren Papa verständnislos an.

„Aber wieso denn nicht? Dabei schmeckt es doch so gut.“

„Frag nicht nach dem Wieso. Wenn ich so was nicht mag, dann mag ich’s halt nicht, okay?“

„Aber wenn du nicht mal gekostet hast...“

Oh Mann! Woher hatte sie diese Logik? Aus dem Kindergarten oder von Soma? Von ihm jedenfalls nicht, so viel stand fest, denn dann wäre er ja schön dämlich. Aber innerlich grinsen musste Kurogane schon. Sie würde mal genau so ein Dickkopf werden wie ihr Vater.

Jetzt tippte sie mit dem gezuckerten Getreideflockenring gegen die Lippen.

„Mach ‚Ahhh~’!“

„Ich hab doch gesagt, dass ich nicht wi-“

Aber Tomoyo nutzte die Chance und schob dem Schwarzhaarigen den Kringel in den Mund. Kurogane musste erschrocken husten und verzog sofort das Gesicht.

„Bäh! Ist das eklig süß!“

Kichernd flüchtete seine Tochter schnell aus seiner Reichweite. Nicht, dass er sie noch zu fassen bekam und schimpfte.

„Gar nicht! Das ist lecker!

„Mach das ja nie wieder!“

Natürlich regte Kurogane sich darüber auf. So ließ er sich ungern behandeln, selbst von seiner Tochter nicht. Aber die Dunkelhaarige war schneller und darauf vorbereitet gewesen, immerhin konnte sie doch langsam ein wenig einschätzen, wie ihr Vater reagierte, und lief immer noch kichernd zur Küchentür.

„Ich geh spielen!“

Und husch - war sie weg.

Etwas angesäuert blickte der Schwarzhaarige ihr nach und nahm erst einmal einen großen Schluck Kaffee, um den Zuckergeschmack los zu werden. Widerlich!!! Kinder dachten auch echt, die durften sich alles erlauben!

Nachdem der Tag so blendend begonnen hatte, verging der Rest des Vormittags dann aber doch noch friedlich. Tomoyo beschäftigte sich die meiste Zeit über allein, also konnte ihr Vater in alle Ruhe weiterlesen und schließlich den Frühstückstisch abdecken.

Über Zeitung und Kaffee schnell die Zeit vergessend, war es schon bald nach Zwölf und nachdem beide zum Mittag eine leichte Nudelsuppe gegessen hatten, ging die Vierjährig ohne Protest in ihr Bett, Mittagschlaf machen. Nachdem sie sich im Schlafanzug noch ein „Schlaf-Schön-Küsschen“ von ihrem Papa abgeholt hatte, ließ sie keinen Ton mehr verlauten und kuschelte sich ein, war schon bald im Land der Träume versunken. Kinder in dem Alter brauchten halt wirklich noch ihren Mittagschlaf.
 

„Papa~?“

Es waren etwas mehr als zwei Stunden vergangen, bis Tomoyo schließlich ihren vom Schlaf verwuschelten Schopf zur Wohnzimmertür hereinsteckte. Kaum hatte sie ihren Vater entdeckt, der gelangweilt auf der Couch lag, kam sie auch schon zu ihm hinüber und kletterte ebenfalls hoch, um es sich auf seinem Bauch für einen Moment gemütlich zu machen. Das Mädchen teilte die Ansicht vieler kleiner Kinder: Väter waren die bequemste Matratze der Welt!

Kurogane ließ sie gewähren.

„Was gibt’s?“

Dass die Kleine sich schon wieder umgezogen hatte, registrierte er mit Zufriedenheit.

„Ich bin wieder wach“, erklärte sie ihm, als ob er es noch nicht selbst gemerkt hätte. „Und auch gar nicht mehr müde!“

Lächelnd wuschelte er ihr durch die dunklen Locken und brachte sie nur noch mehr durcheinender.

„Und, gut geschlafen?“

„Japp! Hast du auch geschlafen, Papa?“

„Nein, fern gesehen.“

Nachdenklich und neugierig blickte sie in das markante Gesicht ihres Vaters, der recht desinteressiert für einen Moment auf die Mattscheibe sah, wo gerade Werbung für ein Medikament lief.

„Warum müssen Erwachsene keinen Mittagschlaf machen?“, erkundigte sie sich dann todernst. Das war eine der Fragen, die ein Kind wirklich beschäftigten.

Kurogane verdrehte die Augen.

„Ist halt so. Ihr macht doch im Kindergarten auch Mittagschlaf, oder?“

Sie nickte.

„Dann frag doch mal dort, warum ihr das macht.“

„Hm...du, Papa?“ Jetzt sah sie ihn ganz groß an. „Gestern im Kindergarten...das Backen hat soooo viel Spaß gemacht! Können wir heute nicht auch backen?“

Vor Schreck wäre der Schwarzhaarige fast von der Couch gefallen. Um Gottes Willen, bloß nicht!!! Ihm war der gestrige Tag nur zu gut in Erinnerung geblieben, mit all den grausigen und nervigen Kindern, dem Geschrei und dem herumfliegenden Mehl. Und allen voran dieser ewig grinsende Vollidiot! Okay, weder der noch die anderen Kindergartenkinder waren hier, aber trotzdem! Nein, Danke!

„Kommt nicht in Frage!“

Tomoyo zog bei seinem rüden Ton einen Schmollmund. Sie hatte doch nicht ernsthaft erwartet, er würde zusagen? Doch noch wollte sie keinen Rückzieher machen.

„Aber es macht doch Spaß!“

„Ich sagte nein! Ich bin doch nicht lebensmüde, das hat mir gestern vollkommen gereicht!“

Er wurde schon wieder eine Spur zu laut, aber wenn er nun einmal „nein“ sagte, regte es ihn erst recht auf, dass sie immer weiter bettelte! Hatte Soma dem Kind keine Manieren beigebracht oder was?

Okay, unterm Strich sollte ER sich darüber nicht aufregen, denn es wäre seine Aufgabe gewesen, das Mädchen zu erziehen, und nicht die irgendeiner eigentlich fremden Frau. Aber das war jetzt nicht der Knackpunkt. Der Punkt war-

„Hat es dir denn gestern gar nicht gefallen, Papa?“

DA! Sie versuchte es schon wieder!

„Kein Stück! Wie sollte es auch - bei den Plagegeistern!“

„Das sind keine Plagegeister, das sind meine Freunde!“

Jetzt wurde auch Tomoyo langsam böse. Sie hatte ihren Papa lieber als alle anderen, aber wenn er so böse Sachen sagte, dann mochte sie ihn gar nicht mehr. Und jetzt beleidigte er auch noch ihre Freunde!

„Tze! Die sind genauso nervig und frech wie alle anderen kleinen Kinder!“

Mit einem empörten Schnauben rutschte Tomoyo vom Sofa und blickte ihren Vater strafend an.

„Papa, du bist gemein!“

Dann drehte sie sich um und stampfte beleidigt aus der Stube.

„Jetzt schmoll nicht auch noch rum wie ein zickiges Kleinkind!“, beschwerte sich Kurogane lauthals, bekam aber keine Antwort. Immerhin WAR sie ein Kleinkind! Und im Moment auch noch ein recht nerviges!
 

Von dem eigentlich eindeutigen Verbot ihres Vaters nahm Tomoyo nur zur Kenntnis, dass er nicht mitmachen wollte.

Immer noch schmollend darüber, was er gesagt hatte, setzte sie sich in der Küche auf einen Stuhl und sah sich um.

Moment...wofür brauchte sie denn ihren Papa zum Backen?

Die Idee, die ihr kam, gefiel ihr auf Anhieb fabelhaft und sie sprang auf. Wäre doch gelacht, wenn sie das nicht allein konnte! Schließlich war sie schon groß! Und sie wusste ja nun, wie das ging!

Mit fröhlichem Gekicher lief sie zum Herd. Da würde ihr Paps aber Augen machen, wenn sie ihm schließlich ihre tollen Plätzchen präsentierte! Neugierig betrachtete sie die Knöpfe am Bedienfeld. Ärgerlich, dass die alle gleich aussahen. Aber dennoch drehte sie aufs Geratewohl einfach mal an allen etwas herum. Der richtige würde schon dabei sein.

Dann tänzelte sie zum Stuhl und schob ihn mit Müh und Not bis zu der Anrichte, genau unter den Hängeschrank, den Soma immer als „Bäckerschrank“ bezeichnet hatte. Da war alles drin. Mehl, Zucker und...ähm, alles, was man halt noch so gebrauchen konnte. Auch der scharfe Chili von ihrem Papa.

Es war gar nicht so leicht für die Vierjährige, auf den Stuhl zu klettern, und schließlich auch noch auf die Arbeitsfläche, denn nur von da aus kam sie an den Schrank heran. Hier gab es echt viele Sachen... Tomoyo betrachtete alles staunend. Die Packung Mehl erkannte sie an dem Bild, das darauf abgebildet war, und musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um nach ihr zu angeln.

Aber die schwere Packung entglitt ihren kleinen Fingern und fiel neben ihr auf die Anrichte, platzte mit einem lautem PUFF auf und verstreute das ganze Mehl über den Boden, die Platte und ihre Füße.

Tomoyo kicherte.

„Oh-oh. Jetzt ist sie explodiert.“

Aber immerhin hatte sie das Mehl nun draußen! Nachdem sie auch noch den Zucker – diesen bei weitem sicherer und im Ganzen – aus dem Schrank genommen hatte, tappte sie über die Anrichte weiter, kletterte durch die Spüle und nahm aus einem Schrank auf der anderen Seite eine große Schüssel heraus. Über die weißen Mehlfußabdrücke, die sie hinterließ, musste die Kleine glucksen.

Schließlich kletterte sie wieder wohlbehalten hinunter und nachdem sie alles zum Tisch getragen und ihren Zutaten auch noch Milch aus dem Kühlschrank hinzugefügt hatte, erklomm sie den nächsten Stuhl und machte sich munter ans Teigmischen.

So schüttete Tomoyo das Mehl und den Zucker zusammen, um dann alles mit Milch zu verrühren, und sang nebenher ein Kinderlied.
 

Backe, backe Kuchen, der Bäcker hat gerufen.

Wer will schönen Kuchen backen,

der muss haben sieben Sachen,

Zucker und Salz,

Eier und Schmalz,

Milch und Mehl,

...
 

Schließlich stoppte sie abrupt und sah auf ihre verklebten Hände.

„Eier! Die fehlen noch!“

Begeistert von ihrem Einfall und in der Hoffnung, dass der suppige Teig dadurch besser werden würde, lief sie zum Kühlschrank und nahm zwei Eier heraus, zögerte, tat sie wieder rein und nahm dann statt der braunen die weißen. Eier sollten schon weiß sein, sonst waren es keine Eier.

Aber diese entglitten ihren klebrigen Fingern und zermatschten laut auf dem Boden.
 

Auf das leise, aber dennoch alarmierende Geräusch, dass etwas zerbrochen war, hob Kurogane seinen Blick von dem Buch, in dem er gerade las. Bis eben hatte er noch stur alles ignoriert, was er gehört hatte, zumal durch die geschlossene Küchentür eh kaum etwas nach draußen dringen konnte.

Aber nun fragte sich der schwarzhaarige Mann zum ersten Mal ernsthaft, was seine Tochter da eigentlich tat. Er hatte angenommen, sie spielte in ihrem Zimmer, denn von der Küche aus gelangte sie auch dorthin, ohne durchs Wohnzimmer gehen zu müssen, aber anscheinend hatte er sich getäuscht.

Aufgestanden und zur Tür gegangen war er schnell, aber kaum dass er dieser geöffnet hatte, erstarrte er mitten in der Bewegung. Dass in der Küche ein heilloses Chaos herrschte, nahm er gar nicht wirklich wahr, seine ganze entsetze Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf Tomoyo, die sich mit einer Hand am Herd festhielt und sich nach den darüber hängenden Küchentüchern ausstreckte. Und ihre Hand lag nur wenige Zentimeter neben der rot leuchtenden Herdplatte.

Während sie wackelig auf Zehenspitzen stand, rutschte ihre Hand noch näher an den glühenden Kreis.

So schnell war der Schwarzhaarige noch nie durch die Küche gesprintet.

„TOMOYO!!! Was fällt dir ein?!“ Kurogane packte sie am Arm und zog sie mit einem Ruck vom Herd weg, drehte alle Platten aus. Nicht nur, dass man die zum Backen gar nicht brauchte...!

„Das ist kein Kinderspielzeug!!! Ohne die Aufsicht eines Erwachsenen hast du da nicht ranzugehen, hast du verstanden?!“

„Aber...“

„HAST DU VERSTANDEN??!“

Tomoyo schluchzte auf, als ihr Vater sie plötzlich so anschrie, denn sie verstand nicht warum, sie wollte doch nur backen...

„Ja...aber du hast...du wolltest...“

„Nichts, ich! Wie dumm bist du eigentlich, am Herd herumzuspielen! Den hast du nicht anzufassen, da kann sonst was passieren!“

„Ich bin nicht dumm!!!“, heulte sie.

„Doch, verdammt! Dumm und leichtsinnig und ein Sturkopf! Was hast du dir dabei gedacht?!“

„Ich wollte doch nur Plätzchen backen.“

„Und ich hab gesagt, wir backen keine! Geht das nicht in deinen Dickschädel oder was?!“

Wild schüttelte sie ihren Kopf, so dass die lange, dunkle Mähne von einer Seite auf die andere flog.

„Ich hab dich nicht mehr lieb!!!“

Dann drehte sich Tomoyo heulend um und stürmte in ihr Zimmer. Auch auf das „Hier geblieben, du freches Biest!“ von ihrem Vater reagierte sie nicht.

Ihre Kinderzimmertür krachte laut ins Schloss.

Verdammte Göre!!! Als ob sie auch noch ein Recht darauf hatte, ihm nun eine Szene zu machen! Was dachte sie, wer sie war? Vielleicht die Queen? Noch nicht mal die durfte sich alles erlauben! Und so eine kreuzgefährliche Aktion schon gar nicht!

Kurogane spürte immer noch, dass sich sein Herz noch nicht ganz dazu durchringen konnte, wieder normal und regelmäßig zu schlagen, aber wenigstens war Tomoyo nichts Schlimmes passiert. Sie heulte zwar jetzt wie ein Schlosshund und hasste ihn wahrscheinlich dafür, aber ihre Finger waren noch dran und das war die Hauptsache. Wenn sie sich beruhigt hatte, würde er versuchen, es ihr noch einmal in Ruhe zu erklären.

Mit einem gereizten Knurren besah er sich das Chaos, das sie angerichtet hatte, verspürte aber wenig Lust, es zu beseitigen. Das würde die Kleine dann schön selber machen, vorher würde er sich rigoros weigern, etwas zum Abendbrot zuzubereiten!

Schweigend verließ Kurogane die Küche und betrat sein Arbeitszimmer. Ablenkung. Das war es, was er jetzt brauchte. Irgendwo hier müssten eigentlich noch Berichte herumliegen, die es fertig zu schreiben galt, Suspendierung hin oder her. So richtig frei hatte man halt nicht mal dann, wenn man zwangsbeurlaubt war.

Leise vor sich hinfluchend wühlte er die Unterlagen auf seinem Schreibtisch durch. Der Schwarzhaarige führte hier ein System nach dem Motto: „Nur ein Kleingeist schafft Ordnung, ein Genie überblickt das Chaos“, was sich in einer Regelmäßigkeit von drei Tagen darin äußerte, dass sich ein gut zwanzig Zentimeter hoher Berg an Schreibzeug dort auftürmte und immer weiter anzuwachsen pflegte, bis entweder alles einfach in den Müll flog, egal ob es wichtig war oder nicht, oder er die Muse hatte aufzuräumen. Wohlgemerkt, die hatte er recht selten.

Desinteressiert begann Kurogane, in dem Berg aus Blättern, Berichten und Arbeitszeug herumzustochern. Etwas geriet hier und da ins Rutschen, mit Ach und Krach bewahrte er seinen Laptop davor, auf den Boden zu scheppern und ein paar Stifte klapperten hinter dem Schreibtisch herunter, wo er sie nur wieder würde hervorholen können, wenn er das ganze Mobiliar verschob. Der Schwarzhaarige fluchte leiste, aber nur halbherzig. In Gedanken war er immer noch bei den Folgen, die Tomoyos Abenteuer hätte haben können, wenn er nicht im letzten Moment dazwischen gegangen wäre.

Nach ein paar Minuten hatte er endlich gefunden, was er suchte, und zog den schwarzen Schnellhefter aus einem wackligen Turm von beruflichen und persönlichen Unterlagen, der sich dadurch gefährlich verschob und nach einigen kritischen Sekunden zur Seite kippte. Laut klatschten die Hefter und Broschüren auf den Teppich.

„Verdammte Scheiße!“

Mies gelaunt trat Kurogane den Blätterhaufen und einzelne Seiten flatterten durchs Zimmer. Gerade als er erneute zutreten wollte, fiel sein Blick auf eine bunte Mappe, an die er sich nicht erinnern konnte, sie je besessen zu haben. Was tat dieses widerwärtig bunte Ding auf seinem Schreibtisch? Das gehörte bestimmt Tomoyo. Aber warum war es dann hier? Wenn die Kleine eins begriffen hatte, dann dass das Arbeitszimmer ihres Vaters für sie und vor allem für ihre Spielsachen Tabu war, denn er neigte zu Wutanfällen, wenn er hier auch nur ein Kuscheltier oder sonst etwas Buntes vorfand.

Auch beim Anblick dieser Pappmappe stieg sofort die Wut in ihm wieder hoch, aber er schluckte sie herunter. Sie hatte etwas von bitterer Galle.

Statt die Mappe wieder wegzuschmeißen, wie er es ursprünglich wollte, ließ er sich auf seinem Schreibtisch nieder, wodurch erneut irgendwelche Dinge zu Boden segelten. Es störte ihn wenig. Stattdessen schlug er neugierig geworden seinen Fund auf.

Im nächsten Augenblick fühlte er sich wie ins Gesicht geschlagen.

Was er hier vor sich hatte, war eine Kinderzeichnung, zweifellos. Trotz anfänglicher Schwierigkeiten gelang es ihm, das, was er früher schnell als sinnloses Gekritzel abgestempelt hätte, zu erkennen. Bald war Kurogane klar, dass die beiden Strichmännchen auf dem Blatt ihn und Tomoyo darstellen sollten. Unbeholfen und doch liebevoll hingemalt mit vielfarbigen Wachsstiften.

... Seit wann lag das wohl hier? Wieso hatte seine Tochter ihm das nicht direkt gegeben?

Plötzlich fühlte sich Kurogane nur noch mies, seine Kleine so angeschrieen zu haben. Seine Wut war mit einem Mal verraucht. Natürlich hatte sie eine große Dummheit begangen, das stand außer Frage, aber wie sollte man da noch sauer sein können, wo sie es doch so lieb gemeint hatte...? Eine böse Absicht hatte auf keinen Fall dahinter gesteckt, das war ihm klar, nur die Folgen - das, was hätte passieren können - hatten ihn so aus der Fassung gebracht. Aber er hatte überreagiert. Das merkte er jetzt, wo sich sein überhitztes Gemüt wieder abgekühlt hatte.

Seufzend verließ er sein Arbeitszimmer und ging den Flur hinunter, klopfte an Tomoyos verschlossene Tür.

„Tomoyo? Kleines...darf ich reinkommen?“ Kurogane schwieg betreten, als eine Antwort ausblieb und seufzte schwer. Oh, was hatte er da nur wieder angerichtet? Wieso musste er sich nur immer so vergessen? Dabei hatte er doch nichts Böses gewollt...

Er warf einen Blick auf die Mappe, die er noch immer in der Hand hielt, und fasste einen Entschluss.

„Ich komm jetzt rein.“ Doch kaum dass er die Kinderzimmertür geöffnet hatte, wurde er von einem Kuscheltier an der Schulter getroffen. Mit verheultem Gesicht blickte ihm seine kleine Tochter vom Bett aus griesgrämig an.

„Geh weg!!!“

„Tomoyo, ich...“

Dem nächsten Flugobjekt konnte er gerade so ausweichen.

„Du bist ungerecht! Geh weg, weg, WEG!!!“

Er hatte sie wirklich schwer verletzt mit seinem Gebrüll vorhin. Um Tomoyo nicht noch mehr Gründe zum Aufregen zu geben, verließ der Schwarzhaarige das Zimmer wieder und lehnte sich an die Wand. Auch wenn sie ihn nun nicht mehr sah, hören konnte sie ihn weiterhin durch die offen stehende Tür.

„Hör zu, Kleines. Es tut mir leid, dass ich dich angeschrieen habe“, begann er nun ruhig und hoffte, dass sie ihm Gehör schenkte. „Lass uns reden. Lass mich dir erklären, warum ich so reagiert habe, okay?“ Das Geräusch leiser Schritte wurde hörbar und er wusste, dass Tomoyo jetzt am Türrahmen stand. Sie mussten sich beide überwinden, die beiden Dickköpfe.

„Es tut mir wirklich leid, glaub mir bitte.“

„... Na gut...“ Unsicher schniefend lugte sie um die Ecke und sah mit rot geweinten Augen zu ihm auf. Ein Anblick, bei dem sich Kuroganes Magen verkrampfte. Und das alles nur seinetwegen...

„Danke, Schatz.“

Langsam ging er vor ihr in die Hocke und strich behutsam ein paar Tränen von den hellen Wangen. Mit einem lauten Schluchzer drückte das kleine Mädchen sich fest an ihren Vater und die nächsten Tränen kullerten unaufhaltsam, sickerten in den Stoff seines schwarzen Hemdes.

Sanft nahm Kurogane sie in den Arm.

„Shh~shhhh~.“

Ach, was hatte er nur angestellt? Er kam sich so mies vor, seine Kleine dermaßen zum Weinen gebracht zu haben. Natürlich war es sein Recht gewesen, mit ihr zu schimpfen, immerhin hatte sie die Küche in ein Schlachtfeld verwandelt und sich obendrein noch selbst gefährdet, aber er war wirklich viel zu laut geworden.

„Ist ja gut, Liebes...ist ja gut.“

So richtig konnte sie sich noch nicht beruhigen und so nahm der Schwarzhaarige sie auf den Arm und ging wieder in das Kinderzimmer, nahm mit Tomoyo auf dem Schoß auf dem Bett Platz. Sie klammerte sich noch immer an ihn, das Gesicht in seiner Brust vergraben.

„Hör zu, Tomoyo... Es war nicht böse gemeint, das musst du mir glauben.“ Beruhigend strich er durch die langen, weichen Locken. „Ich wollte nicht so gemein werden. Ich bin nur so wahnsinnig erschrocken, als ich in die Küche gekommen bin. Was alles hätte passieren können... Du hast dir fast die Hand verbrannt - und das hätte sehr, sehr weh getan.“

Schon allein bei der Erinnerung daran, wie ihm bei dem Anblick fast das Herz stehen geblieben wäre, schüttelte ihn etwas.

„Deswegen bin ich auch so wütend geworden. Ich hatte Angst, dass du dir weh tust.“

Dunkle, wässrige Augen sahen scheu zu ihm auf.

„Hast du...mich denn jetzt noch lieb, Papa...?“

„Aber natürlich, Kleines. Wie könnte ich nicht? Ich hatte nur Angst um dich in dem Moment. Und deshalb bin ich etwas zu laut geworden. Das tut mir leid.“

Es war fast schon seltsam, aber es fiel ihm nicht halb so schwer wie angenommen, sich so ernsthaft bei seiner Tochter zu entschuldigen.

„Ist schon gut Papa.“ Tomoyo umarmte ihn ganz fest. „Ich bin ja auch Schuld...und ich hab dich immer noch genauso doll lieb wie immer!“

„Da bin ich aber erleichtert!“

So schnell konnte man also so groß gemachte Probleme aus der Welt schaffen. Zufrieden kuschelte sich Tomoyo an ihn, während nun endlich auch die letzten Tränen trockneten.

„Du...Papa?“, flüsterte sie irgendwann schüchtern und da er sich schon denken konnte, was sie wollte, seufzte er schwer.

„Okay, dann lass uns halt zusammen backen. Es kann ja nicht so schwer sein.“
 

Keine zehn Minuten später, als sie endlich zusammen in der ohnehin schon verwüsteten Küche standen, sah das mit dem Schwierigkeitsgrad dann aber ganz anders aus.

„Papa, ich denke, Zucker muss auf jeden Fall rein!“

„Wieso das denn? Dann wird es doch süß.“ Schon bei der Vorstellung wurde Kurogane etwas anders und er verzog demonstrativ das Gesicht. „Lieber sollten wir Salz rein tun, das gehört in jedes anständige Gericht.“

„Igitt!!! Man kann doch nicht überall Salz reintun!“

„Doch, ich kann das.“

„Du tust auch überall Chili rein, Papa!“, rief Tomoyo vorwurfsvoll.

Im nächsten Moment war sie entsetzt, denn ihr Vater schien das auch noch für eine gute Idee zu halten.

„Warum eigentlich nicht?“

Er war schon auf halbem Weg zu dem Schrank, in dem er das Chilipulver aufbewahrte, da packte ihn Tomoyo um die Knie und brachte ihn beinahe zu Fall.

„Nicht, Papa! Kein Chili! Ich mag es doch nicht, wenn es scharf ist!“

Somit war diese Zutat schon einmal abgehakt und sie wandten sich anderen Sachen zu. Da Tomoyo sich zu erinnern meinte, sie hätten auf jeden Fall Mehl genommen und auch Milch und Eier, waren diese drei Dinge die Grundlage ihres Teiges. Aber selbst mit viel Fantasie hatte sich die glitschige weiße Masse nicht als Plätzchenteig identifizieren lassen, und so waren sie – schon über und über mit Mehl beschmiert – zu dem Schluss gekommen, dass das nicht alles gewesen sein konnte, dass noch irgendwas Wichtiges fehlte.

„Wie wär’s damit?“

Die Vierjährig zog ein Glas aus dem Kühlschrank, was ihr Vater kritisch in Augenschein nahm.

„Majonaise?“

„Ich finde, sie sieht lecker aus! Können wir was davon rein tun, Papa? Bittebitte!“

„Na meinetwegen.“

Der Schwarzhaarige sah zwar nicht unbedingt überzeugt aus, aber es konnte ja nicht mehr schlimmer werden.

Mit der Zeit gesellten sich noch Cornflakes, eine handvoll Weintrauben und ein beherzter Schwapp Speiseöl zu ihrem „Experiment“, bis sie schließlich aber einsehen mussten, das hier irgendetwas gehörig schief gelaufen war.

Die Masse – Kurogane sah seit etwa einer halben Stunde davon ab, es noch „Teig“ zu nennen – war zähflüssig und gelblich braun und roch grauenhaft!

„Also, Papa...“, begann Tomoyo, die auf einem Stuhl stand und skeptisch in die Schüssel blickte. „Ich glaube, wir haben etwas falsch gemacht.“

„So, glaubst du? Und wie kommst du darauf?“

Der Sarkasmus in Kuroganes Stimme war deutlich hörbar, aber da die Kleine nichts damit anfangen könnte, überging sie den Ton.

„Irgendwie sah der Teig gestern ganz anders aus. Tun wir ihn trotzdem in den Ofen?“

„Wenn du darauf bestehst.“

Und das tat sie.

Also portionierten sie das klebrige Zeug mit Löffeln zu kleinen Haufen und schoben es dann in den Backofen, wobei Tomoyo lieber aus sicherer Entfernung zusah, damit sie nicht aus Versehen etwas Falsches tun und ihren Papa reizen konnte.

Nachdem Vater und Tochter sich nach kurzer Beratung auf die höchste Temperatur und eine halbe Stunde Backzeit geeinigt hatten – schließlich war ihre Kreation wesentlich flüssiger als die vom Vortag – hieß es nur noch warten.
 

Als das Telefon im Flur klingelte, war Fye gerade fertig mit Abwaschen und wechselte einen überraschten Blick mit Chii. Das blonde Mädchen lächelte kurz und ging dann aus der Küche um abzunehmen, denn ihr blonder Mitbewohner hatte noch immer nasse Hände.

„Hallo? Hier bei Flourite, was kann ich für Sie tun?“

„Hallo!“, meldete sich eine helle Kinderstimme am anderen Ende. „Hallo, hallo? Hörst du mich, du da?“

Ein „Tomoyo, bitte“, war im Hintergrund zu hören, offensichtlich ihr Vater, denn die Kleine nannte ihn auch kichernd „Papa“, bevor sie wieder in den Hörer sprach. Chii hielt nachdenklich den Kopf schief. Diese Männerstimme...irgendwoher...

„Hallo? Hier ist Tomoyo“, fing das kleine Mädchen schließlich noch einmal an. „Ist Nii-chan da?“

„Nii-chan?“ Verwirrt runzelte das langhaarige Mädchen die Stirn.

„Oh, jemand aus dem Kindergarten?“, kam es aus der Küche und Fyes blonder Schopf tauchte im Türrahmen auf. „Wer ist denn dran?“

Ach so!

„Du meinst Fye-san, nicht wahr, Tomoyo-chan?“

Am anderen Ende der Leitung war ein heftiges Rascheln zu hören, gefolgt von einem genervten Seufzen.

„Sie sieht doch nicht, dass du nickst.“

„Oh, ach so. Ja. Ja, ich meine Fye-nii-chan!“

Ach, die Kleine war ja goldig!

‚Für dich’, formte Chii lautlos mit den Lippen und der Kindergärtner, der sich das bei der Erwähnung des Namens „Tomoyo“ schon gedacht hatte, beeilte sich, die Hände abzutrocknen.

„Gleich.“

„Ja, er ist da, Tomoyo-chan, er kommt gleich.“

„Fein!“

Da die junge Frau Kinder sehr mochte, sprach sie einfach noch etwas mit der Kleinen. Manchmal wünschte sie sich, sie könnte mit ihrem Mitbewohner im Kindergarten arbeiten, aber das ging ja nicht, schließlich musste sie eigentlich in die Schule.

„Wie alt bist du denn, kleine Tomoyo?“

„Ich bin schon vier!“, kam es wie aus der Pistole geschossen, was Chii ein wenig kichern lies.

Kleine Kinder waren immer so unheimlich stolz auf ihr Alter. Richtig niedlich.

„Und du? Bist du Nii-chans Freundin?“

„Aber nicht doch! Ich bin so was wie eine kleine Schwester. Er ist übrigens jetzt fertig, ich geb ihn dir mal, Tomoyo-chan. Hat mich gefreut, dich kennen zu lernen.“

Während Tomoyo noch ein „Tschüß!“ rief, reichte sie Fye, der gerade neben sie getreten war, den Hörer.

„Zu süß.“

„Zusammen mit ihrem Vater ist sie noch besser“, zwinkerte er ihr zu und wandte sich dann dem Telefon zu.

Chii betrachtete ihn schweigend, überrascht von der letzten Bemerkung. Es gab nicht viele erwachsene Menschen, die Fye als angenehm empfand, weswegen er lieber bei seinen Kindern auf Arbeit war. ‚Zusammen mit ihrem Vater...’ Die Schülerin lächelte sanftmütig in sich hinein. Vielleicht wurde ja nun doch alles gut. Oder zumindest besser. Wenn Fye jemand gefunden hatte, für den er sich ehrlich interessierte...
 

„Hallo, Tomoyo-chan, hier bin ich! Was gibt’s?“

„Nii-chan!!!“ Dass die Kleine sich so freute, ließ den blonden Kindergärtner leicht schmunzeln. Er war gespannt, warum sie anrief, und wartete auf eine Antwort.

„Nii-chan, du musst uns bitte unbedingt helfen! Ich und Papa backen nämlich und da wollten wir dich was fragen.“

„Was? Ihr backt? Dein Papa bäckt? Freiwillig?!“

„Ruhe da!“

Die Stimme aus dem Hintergrund erschreckte Fye im ersten Moment, weil er damit nicht gerechnet hatte, dann grinste er aber. Da war wohl die Freisprechanlage an!

„Hyuu~! Kuro-rin ist ja auch da! Hallo du Meisterbäcker! Hat es dir gestern doch so viel Spaß gemacht, dass du nicht genug davon bekommst, was?“

Das genervte Gebrummel und Tomoyos Kichern waren Antwort genug, so dass auch er lachen musste. Es tat gut, die beiden zu hören und es heiterte ihn ungemein auf. Allein sich vorzustellen, wie die Vierjährige ihren schwarzhaarigen Griesgrampapa mit großen, treuen Augen anbettelte, dass er doch mit ihr backen möge, war so witzig! Er konnte kaum wieder aufhören zu glucksen. Wie sie ihn wohl rumgekriegt hatte? Das würde er sich am Montag ganz haargenau berichten lassen. Dann hatte er wieder etwas, womit er den lieben Kuro-sama auf die Palme bringen konnte.

„Also, wie kann ich euch helfen, Tomo-chan?“, lenkte er schließlich die Gesprächsrichtung wieder auf das eigentliche Ausgangsthema.

„Naja...“ Herumdrucksend nuschelte das Mädchen in den Hörer. „So richtig mag der Teig nicht werden... Wir haben nämlich kein Rezept, weißt du, Nii-chan?“
 

Selbst jetzt, fünf Stunden und etliches Backchaos später, hallte Kurogane noch das haltlose Lachen des Blondschopfes in den Ohren, als dieser sich partout nicht mehr einkriegen wollte, nachdem Tomoyo ihm den Grund ihres Anrufes eröffnet hatte. Was war denn daran bitte so lustig? Sie machten halt zum ersten Mal Plätzchen, woher sollten sie denn bitte wissen, wie es ging, verdammt!

Der schwere, süße Duft von frischen Plätzchen schien nun in jedem Zimmer zu hängen. Und es war zum Glück nicht so schlimm, dass man sich nicht zumindest heute damit arrangieren konnte.

„Papa, kommst du, ‚Gute Nacht’ sagen?“

Tomoyo blickte treuherzig in die Küche und wuselte bereits voraus ins Bett, nachdem ihr Vater genickt hatte. Sie von dem Plätzchen wegzubekommen hatte ewig gedauert. Hoffentlich würde sie jetzt keine Bauchschmerzen bekommen.

Erwartungsvoll blickte ihm die Vierjährige aus dem Bett entgegen, ein dickes Buch auf dem Schoß, was sie ganz fest umklammerte. Kurogane runzelte darüber die Stirn, setzte sich aber auf den Bettrand.

„Heute war ein richtig toller Tag, Papa!“

„Bis auf gewisse Kleinigkeiten...“ Zum Beispiel die mit dem Herd. „Aber schön, wenn du Spaß hattest.“

Sie strahlte.

„Weißt du, wie ich noch mehr Spaß hätte? Liest du mir noch was vor?“

„Muss das sein, du Krümelmonster?“

„Ja~ha!!!“

Tomoyo streckte ihm strahlend das große Buch hin, die gewünschte Geschichte schon aufgeschlagen. Und da ihr Vater heute recht gut gelaunt war, gab er sich mit einem verschmitzten Kopfschütteln geschlagen und nahm es doch entgegen. „Rumpelstilzchen“ stand ganz oben über einem bunten Bild. Kurogane erinnerte sich schemenhaft an die Geschichte, denn er hatte sie als Kind auch ab und an gehört.

Soweit er es noch wusste, ging es um eine Bettlerin, die angeblich Stroh zu Gold spinnen konnte und daraufhin sperrte der König sie ein und ließ sie spinnen. Natürlich konnte sie es NICHT! Als sie dann aber ganz verzweifelt war, erschien ein Männlein und half ihr, gegen einen entsprechenden Preis natürlich.

Es kam, wie es kommen musste: Als der König sah, dass sie wirklich Gold gesponnen hatte, musste sie am nächsten Tag viel mehr Stroh spinnen und wieder half ihr das Männlein, und beim dritten Mal, nach dem der König sie zu seiner Frau nehmen wollte, ebenfalls. Nur verlangte es diesmal das Erstgeborene der baldigen Königin, sobald es ein Jahr alt sein würde. Natürlich stimmte die Frau zu, bekam ihr Gold, wurde Königin und obendrein auch noch glücklich. Ihr erstes Kind kam zur Welt.

Doch kurz vor dessen erstem Geburtstag erschien das Männlein und erinnerte die Königin an ihren Handel. Da sie ihr Kind sehr liebte, flehte sie natürlich um Erbarmen, aber es half nichts. Am Ende lenkte das Männlein ein, dass er ihr das Kind nur lassen würde, wenn sie seinen Namen erriet. Dann verschwand es wieder.

Daraufhin sandte die verzweifelte Königin Männer und Boten ins ganze Land aus, ob nicht jemand den Namen wusste, jedoch ohne Erfolg. So wurde sie immer trauriger und verzweifelter.

Aber am letzten Tag vor Ablauf der Frist beobachtete der Jäger im Wald, wie ein altes Männlein um ein Feuer tanzte und rief: „Oh wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß’!“

Und natürlich eilte er sofort zu seiner Herrin, um das Gehörte zu berichten.

So erfuhr sie von dem Namen und konnte ihr Kind behalten und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage.

Während Kurogane die Geschichte erzählt hatte, klebte Tomoyo förmlich an seinen Lippen. Sie war nämlich der Meinung, ihr Papa war der Meistervorleser schlechthin! Ein richtiger Geschichtenonkel!

Als das Märchen schließlich zu Ende war, schwieg sie andächtig.

„Die Königin muss ihr Baby wirklich gern gehabt haben, nicht wahr, Papa?“

„Hmm, kann schon sein.“

„Alle Mamas haben ihre Kinder gern, oder?“, fragte sie weiter und der Schwarzhaarige zuckte wieder mit den Schultern, sah nicht von dem Buch auf.

Ihm lag es auf der Zunge, ihr zu sagen, das ihre Mutter sie vielleicht gar nicht so gern gehabt hatte, denn immerhin war sie ohne ein Wort abgehauen, aber er wollte die Kleine nicht damit belasten.

„Sakura-chan hat gesagt, dass mich meine Mama auch ganz doll lieb hat. Ganz bestimmt.“

Kurogane schluckte. Der Kloß in seinem Hals, der zusammen mit seiner Wut plötzlich hochkam, schnürte ihm jedes Wort ab. War es nicht das gewesen, was er irgendwann befürchtet hatte? Er kümmerte sich nicht sehr gut um seine Tochter, das wusste er selbst, hatte ihr kaum etwas zu bieten, weil er mit Kindern keine Erfahrung hatte; aber verdammt noch mal, er gab sich Mühe!!! Und sie? Sie sprach von ihrer Mutter, die abgehauen war, als sie noch nicht mal ein Jahr alt gewesen war, an die sie sich nicht einmal erinnern konnte!

Wieso?

Natürlich, sie war nur ein kleines Kind. Sie konnte all das noch nicht verstehen. Aber trotzdem... Der Schwarzhaarige kam sich plötzlich ungerecht behandelt vor. Es machte ihn wütend, aber noch viel mehr machte es ihn traurig. Das war einfach ungerecht...

Schweigend stand Kurogane auf und deckte die Kleine zu. Er wollte sich nicht aufregen. Es war Tomoyos Recht zu lieben, wen sie wollte, sie schuldete ihm nichts, wie konnte er nur so denken.

„Gute Nacht, Kleines.“

Als der große Mann sich noch einmal hinunterbeugte, um sie auf die Stirn zu küssen, legten sich plötzlich dünne Ärmchen um seinen Hals und er wäre fast zu ihr aufs Bett gefallen. Die Vierjährige kicherte leise.

„Ich hab dich ganz doll lieb! Ich brauch keine Mama, denn ich hab doch den besten Papa der Welt!“

Für einen Moment schloss er die Augen und ließ die Umarmung zu, spürte, wie ihm ganz warm bei den Worten wurde. Ob Kinder vielleicht instinktiv wussten, wenn ihre Eltern traurig waren?

„Danke, Tomoyo. Aber wenn das ein Versuch war, länger wach bleiben zu dürfen, muss ich dich leider enttäuschen.“

Er grinste.

„Papa!“
 

TBC...

Ein Schlag zurück - ein Schritt nach vorn

Disclaimer: Die Charas gehören (bis auf wenige Ausnahmen) nicht uns, sondern Clamp. Wir wollen kein Geld damit verdienen, sondern nur unterhalten.
 

Erstschreiber des Kapitels: Lady_Ocean

Kapitel: 8/26
 

-~*~-
 

„Geliebte Menschen kann man nicht wegschicken. Man muss sie gehen lassen.“

(Tommy Schmidle)
 

-~*~-
 

„Ein Schlag zurück – ein Schritt nach vorn“
 

Nachdem das kleine Drama vom Samstag überwunden war, spürte man deutlich, dass sich die Atmosphäre im Hause Sugawara etwas geändert hatte. Kurogane bemühte sich, seine Tochter ernster zu nehmen, wenn sie etwas von ihm wollte, und Tomoyo hatte versprochen, fortan auf ihren Vater zu hören, wenn dieser ihr etwas sagte. Sie hatte ihn am Sonntagmorgen, als er beim obligatorischen Kaffee gerade die Tageszeitung gelesen hatte, nicht unnötig abgelenkt, nicht gegen den Mittagschlaf protestiert und ihre Spielsachen, nachdem sie sie zur Benutzung im ganzen Wohnzimmer ausgebreitet hatte, alle wieder dorthin zurückgeräumt, wo sie hergekommen waren. Kurogane hatte seinerseits eingewilligt, als die Kleine mit ihm in den Park gehen und spielen wollte, und dadurch einen guten Teil des Nachmittags draußen auf einer Bank sitzend verbracht, den Rest der Zeitung vom Vormittag lesend. Und abends hatte er ihr wieder eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen. Inzwischen hatte er sich schon fast daran gewöhnt. Da von der blonden Ulknudel im Kindergarten noch keine peinlichen Bemerkungen in der Hinsicht gekommen waren, vermutete er, dass Tomoyo dieses „Geheimnis“ wirklich hütete, und so sank auch seine Befürchtung, dass er öffentlich bloßgestellt werden könnte. Außerdem waren es ja nur Märchen. Und da seine Tochter nach so einer Geschichte anscheinend wirklich besser schlafen konnte – warum nicht?
 

„Du, Papa?“

„Hm?“

Inzwischen war das Wochenende vorbei und Vater und Tochter befanden sich wieder auf den Weg zum Kindergarten.

„Du bleibst doch bald wieder mit mir im Kindergarten, oder?“

„Hm.“

Den gedanklichen Nachtrag ‚Mir bleibt ja nichts anders übrig’ sprach er besser nicht laut aus. Tomoyo wäre bloß wieder enttäuscht gewesen und das wollte er nach dem insgesamt doch ganz harmonischen Wochenende nicht riskieren. Irgendwie war er empfindlicher darauf geworden, wenn die Kleine traurig war...

„Juhu!“, frohlockte das Mädchen glücklich und entlockte Kurogane damit ein Grinsen. Erstaunlich, wie leicht es manchmal war, kleine Kinder glücklich zu machen.

„Heute schon?“, strahlte sie voller Vorfreude weiter.

„Nein, heute nicht“, verneinte der Schwarzhaarige entschieden, aber nicht unfreundlich und unterstrich seine Entscheidung mit einem Kopfschütteln.

„Um...okay.“

Ein wenig kleinlaut senkte das Kind den Kopf und sah einen Moment enttäuscht aus, widersprach aber nicht.

„Aber bald!“ Den Nachtrag hatte sie sich dann doch nicht verkneifen können.

„Ja, bald!“, grinste Kurogane. „Am Freitag wieder, okay?“

„Ja!“

Geschmeidig bog der Wagen auf den Parkplatz ein und kam zum Stehen, Augenblicke später hatte Tomoyo sich bereits abgeschnallt und war heraus gesprungen, um zu dem blauen Eisentor zu eilen, das sie noch vom Kindergarten trennte. Da sie selbst aber zu klein und zu schwach war, um das große Tor zu bewegen, musste sie warten, bis ihr Vater gemütlich ebenfalls ausgestiegen und zu ihr getreten war. Dann lief sie schnell weiter und rief schon nach ihrem Kindergärtner und dessen Praktikantin.

„Nii-chan! Sakura-chan! Ich bin da~a!“

Schon öffnete sich die Tür und sie wurde vom Sonnenschein persönlich begrüßt.

„Tomo-chan! Hallöchen! Wie war dein Wochenende?“

„Super! Mit deiner Hilfe haben wir noch ganz tolle Plätzchen backen können. Ich hab dir sogar eins mitgebracht“, verkündete sie stolz.

„Ehrlich?“ Geschmeichelt legte Fye seine Hände über die Wangen. „Ich bin ganz gerührt!“

Dann schaute er zu Kurogane herüber, der seine Tochter von ein paar Meter weiter hinten aus beobachtete.

„Und Kuro-sama sieht zur Abwechslung ja auch mal richtig entspannt aus!“

Als wäre es das Stichwort gewesen, verhärtete sich die Miene des Schwarzen in Sekundenschnelle und zeigte nun wieder das üblich genervt-schlechtlaunige Antlitz, das er in Gegenwart des Blonden immer trug. Bei dem Grinsen konnte man ja auch nur schlechte Laune bekommen! Nicht nur, dass ihm dieses permanente Herumgealber sowieso auf die Nerven ging, der Schwarzhaarige hatte auch jedes Mal das Gefühl, dass alles an diesem Grinsen falsch war. Es hatte einfach zu viel von allem. Zu breit, zu malerisch, zu lange andauernd. Und das störte ihn einfach, sodass sich sogleich das bekannte Gefühl wieder einstellte, diesen Ort schnellstmöglich verlassen zu wollen. Seine Tochter war hier gut aufgehoben, da machte er sich keine Sorgen, aber er gehörte hier einfach nicht hin.

„Also dann, Kleines. Mach dir einen schönen Tag. Ich muss wieder los.“

Sofort löste sich das Mädchen von dem Blonden und lief zu ihrem Vater zurück, um ihn fest zu umarmen.

„Mach’s gut, Papa. Und bis heute Nachmittag, ja?“

„Ja. Bis heute Nachmittag.“

Er strich ihr noch einmal sanft durchs Haar und löste sich dann von ihr, um wieder aufstehen zu können. Als er ihr und dem Kindergarten schon den Rücken gekehrt hatte, bekam er auch von Tomoyos Erzieher noch ein fröhliches: „Bis später, Kuro-pon!“ nachgeworfen, was er aber nur mit einem undeutlichen „Ja, ja“ erwiderte.
 

Als Kurogane wieder in seinem Auto saß und damit aus Tomoyos Sichtweite verschwunden war, machte sie sich mit Fye auf dem Weg nach drinnen.

„Was machen wir heute, Nii-chan?“, fragte sie neugierig.

„Oooooooh, was gaaaaaaaaanz Tolles!“, versprach er begeistert.

„WAS denn Tolles?“, hakte die Kleine nach.

„Etwas absolut Super-Tolles!“, neckte er die Kleine.

„Menno, Nii-chan!“, quengelte Tomoyo und zog ungeduldig am Arm des Blonden. Dieser lachte und lenkte dann ein Stück weit ein: „Ich erzähle es dir, wenn alle Kinder da sind, okay?“

Einen Moment überlegte Tomoyo und sah den Mann mit den sanften, blauen Augen prüfend an. Dann befand sie, dass sie ihm das glauben konnte und sich noch so lange gedulden würde. Also griff sie jetzt nur noch locker nach Fyes Hand und nickte zur Bestätigung.

„Okay.“
 

Zehn Minuten später hatte auch Ryus Mutter ihren Schützling abgegeben und die Gruppe war vollzählig. Tomoyo hatte natürlich sofort herumerzählt, dass Fye etwas Tolles für diesen Tag geplant hatte, und so warteten nun natürlich alle ganz gespannt darauf, was diese „tolle Sache“ nun sein sollte. Und im Zentrum aller Aufmerksamkeit verkündete es der Blonde schließlich: „Wir gehen heute nach dem Mittagschlaf alle zusammen in den Park und spielen dort auf dem großen Spielplatz. Dort gibt es nämlich viel größere Klettergerüste als hier.“

„Cool!“, jubelte Ryu.

„Dürfen wir auch mit der Seilbahn fahren?“, fragte Yuzuriha begeistert.

„Klar. Warum nicht?“

„Dann musst du auch mit uns wippen, Nii-chan!“

Dieser Einwurf kam von Tomoyo und er fand unter allen Anwesenden große Zustimmung. Nach ein paar Minuten hatte sich die Euphorie schließlich gelegt und der Lautstärkepegel im Raum sank enorm. Obwohl es im Grunde gar nicht so eine weltbewegende Sache war, reichte es schon, wenn er selbst die nötige Begeisterung in seine Worte legte, um seine Schützlinge damit anstecken zu können.

Das war eine der Sachen, die Fye an den Kindern so liebte: Sie erkannten das Glück noch, wenn es ihnen über den Weg lief. Egal wie unscheinbar es sich auch manchmal vorbeischleichen mochte. Manch einem Erwachsenen konnte es regelrecht ins Gesicht springen und er erkannte es immer noch nicht...

„Fye-san?“

Es war Sakuras Stimme, die ihn aus seinen Gedanken holte.

„Hm? Ja?“, fragte er ein wenig irritiert.

„Ist alles in Ordnung? Du schienst grad so weit weg...“

„Ja, keine Sorge!“ Er lächelte er ihr sanft zu. „Ich dachte mir nur, wie glücklich die Kleinen doch aussehen...“

Ein Blick in die muntere Runde und auch auf Sakuras Gesicht legte sich wie von Geisterhand ein ganz warmer Ausdruck.

„Ja, das ist wahr...“
 

Da der Park nicht allzu weit vom Kindergarten entfernt lag und die Straßen dorthin um die Mittagszeit nicht sehr belebt, konnte Fye sich solche Ausflüge mit seinen Schützlingen gelegentlich erlauben. Schließlich hatte er auch Sakura dabei, die ein weiteres wachendes Auge auf die Kinder hatte. Und von Ryu einmal abgesehen hörten auch alle aufs erste Wort.

Am Zielort angekommen stellte Fye zufrieden fest, dass sie momentan die einzigen Leute auf weiter Flur waren. Von einem einsamen Spaziergänger mit Hund einmal abgesehen, doch der war so weit weg, dass er gerade mal als kleines Männchen mit schwarzem Fleck auszumachen war. So würde sich allzu bald sicher niemand bei ihm beschweren wollen, wenn die Kinder beim Spielen lauter wurden.

„Wer zuerst ganz oben auf dem Kletterturm ist!“

Mit dieser Herausforderung sprintete Ryu davon und der Rest seiner Gruppe folgte ihm auf dem Fuße. Nur Tomoyo blieb, nachdem sie im ersten Moment auch mit den anderen hatte davonrennen wollen, abrupt wieder stehen und drehte sich zu ihrem Kindergärtner um.

„Nii-chan, du hast versprochen, dass du noch mit uns wippen wirst!“, erinnerte sie ihn an sein Versprechen.

„Und das halte ich auch! Ehrenwort! Aber jetzt sind alle so begeistert von dem Kletterturm, dass sie bestimmt nicht wippen wollen. Warten wir noch ein bisschen, dann machen die anderen sicher auch mit.“

„Uhm, ist gut.“

Doch noch immer zögerte sie, blickte ein wenig unentschlossen zur Spitze des Klettergerüsts hinauf, von der aus Ryu ihr begeistert zuwinkte.

„Was ist denn, Tomo-chan?“

„... Ob die anderen böse auf mich sind, wenn ich nicht mit auf den Turm klettere?“

„Ach was! Das sind sie bestimmt nicht. Du musst nicht mit raufklettern, wenn du nicht möchtest.“

„Ich mag den großen Turm nämlich nicht so“, gestand sie dem Blonden leise und sah beschämt zu Boden.

„Das muss dir doch nicht peinlich sein, Tomo-chan! Jeder hat etwas, was er nicht mag! Und außerdem ist der Spielplatz soooooooo groß! Du kannst doch auch woanders spielen! Im Sand, auf der Hängebrücke, auf der Rutsche. Du kannst auch schaukeln...“, zählte Fye auf und fuhr dabei die einzelnen Möglichkeiten mit dem Blick ab.

„Ich glaube, dann gehe ich schaukeln“, entschied die Kleine schließlich. „Kommst du mit mir, Sakura-chan?“

Das braunhaarige Mädchen, welches bisher still neben Fye gestanden und der Unterhaltung zugehört hatte, sah Tomoyo nun lächelnd an und nickte.

„Gern! Soll ich dich anschubsen?“

„Nicht nötig, das kann ich schon. Aber du kannst doch neben mir schaukeln und wir gucken, wer höher kommt.“

„Ja, das können wir machen.“

Damit reichte Sakura der Kleinen ihre Hand und sie schlenderten ebenfalls gemütlich in Richtung Spielbereich, wo sich der Rest der Kinder bereits zu verteilen begann. Eher zufällig glitt Fyes Blick in die Richtung, in der er kurz zuvor den Spaziergänger mit seinem Hund noch gesehen hatte und bemerkte ein wenig verstimmt, dass der Mann sein Tier scheinbar gar nicht an der Leine hatte, denn es rannte nun unbeirrt in seine Richtung, das Herrchen hinterher. Wenige Augenblicke später weiteten sich Fyes Augen vor Schreck, denn er erkannte, dass der Mann anscheinend gar nicht mit seinem Hund spielte, sondern einen hoffnungslosen Versuch gestartet hatte, ihn wieder einzufangen. An der Leine war der schwarze Strubbel nämlich noch, nur dass diese wie eine Fahne frei hinter ihm herflatterte. Der Ausdruck auf seinem Gesicht bereitete Fye gleich noch mehr Sorgen. So guckte bestimmt kein Hund, der bloß ein bisschen spielen wollte! Und er rannte auch nicht genau auf ihn zu, sondern...!

„Tomo-chan!!! Sakura-chan!!!“
 

Das Telefon klingelte nun schon zum dritten Mal in Folge und Kurogane war langsam aber sicher genervt von diesem aufdringlichen Anrufer, der ihm die Ruhe seines Bades gestört hatte. Warum rief dieser Depp – wer auch immer es war – nicht einfach später wieder an? Kapierte der nicht, dass er jetzt entweder nicht da war oder seine Ruhe haben wollte?

Er sollte endlich seinen Anrufbeantworter reparieren lassen, damit die Leute wieder aufs Band quatschen konnten, wenn sie was von ihm wollten.

Reichlich genervt stapfte er auf den noch immer monoton ringenden Gegenstand zu, um diesem Lärm endlich ein Ende zu setzen.

„Ja?“, meldete er sich deutlich genervt. Der Mensch am anderen Ende der Leitung schien solch eine Unfreundlichkeit nicht erwartet zu haben und brauchte erst einmal einen Moment, um sich wieder zu sammeln, bis er endlich antworten konnte.

„Guten Tag, spreche ich mit Kurogane Sugawara?“

„Ja, das bin ich. Und wer sind Sie?“, kam die immer noch genervte Antwort. Diesmal war sein Gesprächspartner darauf vorbereitet und sprach sofort weiter.

„Doktor Ryuichi Akayama vom Krankenhaus Okabe. Können Sie kurz vorbei kommen? Ihre Tochter befindet sich bei uns.“

‚Nein...!’

Das war der einzige Gedanke, zu dem Kurogane in diesem Moment fähig war. Das Zimmer schien sich plötzlich um ihn herum zu drehen und zusammenzuziehen. Oder war er es, der sich drehte?

Für einen kurzen Moment schloss er die Augen, atmete tief durch, um die Kontrolle über sich nicht zu verlieren. In Panik ausbrechen war das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte. Und nach einigen Atemzügen hatte er sich zumindest soweit wieder unter Kontrolle, dass das Zimmer wieder klar und real schien und der Boden unter seinen Füßen nicht mehr schwankte. Mit einigen Schritten hatte der Schwarzhaarige den nächsten Stuhl erreicht und ließ sich vorsichtig darauf nieder.

„Was ist passiert?“, presste er mit mühsam unterdrückten Zittern in der Stimme heraus.

„Sie wäre beinah von einem freilaufenden Hund angefallen worden und ist dabei gestürzt. Neben ein paar Schürfwunden und dem Schreck, den sie davongetragen hat, fehlt ihr aber soweit nichts. Sie können sie also gleich wieder mit nach Hause nehmen.“

Im ersten Moment hätte Kurogane ihn am liebsten durch den Hörer gezerrt und gewaltig durch die Mangel gedreht. Konnte dieser Quacksalber das nicht gleich sagen?! Musste er ihn erst glauben lassen, dass seiner Tochter sonst was passiert war?! Einen Moment lang hatte er wirklich geglaubt, er würde die Kontrolle über sich verlieren und in Panik ausbrechen. Dabei war er jahrelang dafür trainiert worden, selbst in den schlimmsten Situationen immer den Überblick zu behalten, und auch in der Realität war er schon unzählige Male auf die Probe gestellt worden. So knapp wie gerade eben war es schon lange nicht mehr gewesen...

Neben all der Wut auf diesen taktlosen Menschen spürte er aber auch eine Welle der Erleichterung über sich hereinbrechen. Tomoyo ging es gut. Ihr war nichts weiter passiert, nur ein Schreck...

„Was genau war denn los?“, fragte Kurogane schließlich weiter, nachdem er all diese Empfindungen und Gedanken, die ihn mit einem Mal überschwemmt und ein heilloses Chaos in seinem Innern hinterlassen hatten, halbwegs geordnet hatte.

„Die genauen Einzelheiten erklären ich Ihnen lieber, wenn Sie hier sind. Ein weiterer Patient ist im Moment noch in Behandlung und er kann wahrscheinlich bessere Aussagen geben als ich, wenn ihn mein Kollege fertig versorgt hat.“

„Einverstanden.“

Es wurden noch die genaue Anschrift des Krankenhauses und die Nummer des Zimmers, in dem Tomoyo sich befand, übermittelt, und Kurogane machte sich auf den Weg.
 

Als die Tür zum Krankenzimmer aufging, löste Tomoyo sich von Fye, an dem sie bis dahin wie eine Klette geklebt hatte, und rannte, gleich wieder in Tränen ausbrechend, auf ihren Vater zu, dessen hochgewachsene Gestalt soeben im Türrahmen erschien.

„Papiiiiiiiiiii!“

Sofort ging der Schwarzhaarige in die Hocke und umarmte seine Tochter fest, als diese sich ihm an den Hals warf. Das Gesicht tief in sein schwarzes T-Shirt vergraben, weinte sie zum wiederholten Male in der letzten Stunde bitterlich und neben der Erleichterung, die Kurogane deutlich ins Gesicht geschrieben stand, mischte sich nun auch ein bitterer Zug dazu.

„Es ist alles in Ordnung, Kleines. Ich bin bei dir. Hab keine Angst“, versuchte er sie zu trösten, doch es dauerte eine Weile, bis sich der gewünschte Erfolg einstellte. Immer wieder strich er ihr beruhigend über den Rücken und durch das lange, dichte Haar, bis das Weinen schließlich zu einem erschöpften Schluchzen abebbte und sich der Griff der zierlichen Arme lockerte, das Mädchen sich mehr an den Körper ihres Vaters ankuschelte, anstatt sich an ihm festzuklammern.

Erst dann wandte er seinen Blick zu Fye, der die familiäre Wiedervereinigung mit einem stummen Lächeln von seinem Bett aus beobachtet hatte. Ein Großteil seines rechten Unterarms war in einen dicken Verband eingewickelt und auch am linken Arm klebten einige Pflaster.

Behutsam nahm Kurogane seine Tochter hoch und setzte sich mit ihr auf einen der Stühle, die an der Wand neben der Tür standen, um endlich aus dem Eingangsbereich herauszukommen.

„Dann schieß mal los. Deinem Zustand nach zu urteilen, müsstest du ja wissen, was da vorhin passiert ist, dass meine Tochter jetzt hier im Krankenhaus ist und dauernd in Tränen ausbricht.“

Kurogane war ein wenig angespannt. Wie immer, wenn er dieses Grinsen ertragen musste. Doch im Moment kam noch die brennende Frage hinzu: Wie hatte es zu dieser Situation kommen können? Wo hatte sich dieser Möchtegern-Erzieher rumgetrieben, dass er – und um ein Haar scheinbar auch seine Tochter – von einem freilaufenden Hund angegriffen wurde?

„Tja, das war eine echt blöde Sache...“, begann Fye. „Eigentlich wollten wir, also Sakura-chan und ich, mit den Kindern einfach nur einen Ausflug in den Park machen, damit die Kleinen dort auf dem großen Spielplatz spielen konnten. Der ist schließlich viel schöner als unserer! Und jedenfalls... Wir waren noch gar nicht lange dort, da kam plötzlich so ein großer, schwarzer Hund auf mich zugerannt und zack! Noch ehe ich ganz begriffen hatte, hat der Hund mich auch schon angesprungen und mir in den Arm gebissen!“

„Gar nicht wahr!“, rief Tomoyo empört dazwischen. „Der Hund wollte gar nicht dich angreifen! Er ist auf Sakura-chan und mich zugerannt, ich hab es genau gesehen! Und wenn du dich nicht dazwischen geworfen hättest, dann...dann hätte er MICH gebissen!“

Wieder brach das Kind in Tränen aus, doch diesmal konnte Kurogane nicht mehr tun, als sie unterbewusst fester an sich zu drücken und für ein paar endlos lange Sekunden fassungslos den Kindergärtner anzustarren, der im ersten Moment genauso perplex zurückschaute, dann aber ein wenig verlegen auflachte und sich mit der linken Hand am Hinterkopf kratzte.

„Ach, das hast du in dem Schreck bestimmt falsch gesehen, Tomo-chan! Vielleicht ist der Hund zuerst wirklich auf dich zugelaufen, doch dann hat er seine Richtung geändert und kam zu mir. Ganz sicher!“

„Das stimmt doch gar nicht!“, protestierte die Kleine wieder. „Nii-chan, ich hab es ganz genau gesehen! Warum sagst du so was? Warum willst du nicht sagen, dass du mich vor dem bösen Hund gerettet hast?“

Der Ausdruck in Fyes Augen bekam etwas Resigniertes. Gegen dieses Kind kam er nicht an. Er konnte ihr nichts vormachen. Und seinem Vater konnte er damit auch nichts mehr vormachen.

„Also gut, wenn du darauf bestehst, dann habe ich dich vor dem Hund gerettet“, lenkte er daher schließlich mit einem halben Geständnis ein.

Kurogane hatte seine Gesichtszüge inzwischen wieder unter Kontrolle und starrte mit forschender Miene auf den Blonden, der sich durch sein ewig gleiches, irgendwie alles und irgendwie auch nichts sagendes Lächeln aber jeglicher Prüfung entzog. Der Schwarzhaarige wurde einfach nicht schlau aus ihm. Ihm war bewusst geworden, dass er diesem geheimnisvollen Mann wohl mehr zu verdanken hatte, als er anfangs geglaubt hatte. Seine Tochter hatte mit ihrem Gefühlsausbruch unbarmherzig eine Wahrheit ans Licht gezerrt, die nicht einmal diese ewig ungewisse Verschwiegenheit des Kindergärtners wieder zu überdecken vermochte. Und Kurogane verstand keineswegs, warum er das vor ihm geheim halten wollte. Er sah absolut keinen Grund darin. Natürlich würde er von dem anderen auch keinen genannt bekommen, das wusste er, aber dieses „Warum?“ nagte dennoch an seinen Knochen. Und was noch schlimmer war...

Besorgt musterten die rubinroten Augen das zierliche Mädchen, das sich verweint und erschöpft an seiner Brust zusammengekauert hatte und auf einmal so zerbrechlich schien, wie Kurogane es noch nie erlebt hatte. Unbewusst schlang er seine Arme ein wenig enger um den kleinen Körper, so als könnte er ihn allein dadurch vor weiteren Schäden bewahren.

... Was noch alles hätte passieren können. Es gehörte zwar nicht viel dazu, so ein schlaksiges Fliegengewicht wie den Blonden aus dem Gleichgewicht zu bringen und zu Boden zu befördern, doch der Verband an dessen rechtem Arm zeigte deutlich, dass es ein ziemlich großes Tier mit kräftigem Gebiss gewesen sein musste, wenn es so eine Verletzung zufügen konnte. Am Oberarm waren noch einige rote, parallel verlaufende Schrammen zu erkennen. Kratzspuren von den Krallen. Die Abdrücke waren ziemlich dick, also musste das Tier große Pfoten gehabt haben. Nicht auszudenken, wenn es wirklich seine Tochter anstelle ihres Erziehers erwischt hätte. Und wie knapp es wahrscheinlich gewesen war, dass dieses Unglück noch hatte abgewendet werden können...

Noch etwas fiel Kurogane plötzlich auf: Tomoyo hatte auch die Praktikantin erwähnt. Ob sie auch verletzt worden war?

„Wo ist eigentlich deine Aushilfe?“, fragte der Schwarzhaarige daher, aber mit gedämpfter Lautstärke, um seine Tochter nicht gleich wieder aufzuwecken.

„Sakura-chan geht es gut. Ihr ist nichts passiert. Nachdem der Besitzer seinen Hund wieder unter Kontrolle hatte, hat sie sich gleich um die anderen Kinder gekümmert, die natürlich ziemlich erschrocken waren. Wir haben auch gleich Yuuko und natürlich einen Arzt angerufen und sie ist dann mit Sakura-chan und den anderen Kindern in den Kindergarten zurückgegangen, während Tomoyo und ich hierher gefahren wurden.“

„Und der Besitzer und sein Hund?“

Fye zuckte mit den Schulter, verzog aber gleich darauf für einen kurzen Moment das Gesicht. Scheinbar war diese Bewegung mit Schmerzen verbunden. Die Bisswunde musste sehr tief sein.

„Ich weiß es nicht genau. Der Mann war selbst ganz schön aufgelöst und schien nicht so recht zu begreifen, was sein Hund da überhaupt gemacht hat. Er hat uns beteuert, dass das Tier alle seine Impfungen hat, dass er noch nie jemanden angegriffen hat und sonst sehr brav ist und alles so was. Aber ich schätze, er muss sich jetzt dennoch vor der Polizei verantworten.“

Kurogane nickte zustimmen. Das würde dem Besitzer garantiert nicht erspart bleiben.

Ein erneuter Blick auf seine Tochter verriet dem Schwarzhaarigen, dass das Mädchen jetzt wirklich tief und fest eingeschlafen sein musste. Er entschied, dem Blonden nun doch die Frage zu stellen, die ihm am meisten auf der Zunge brannte, auch wenn er sich keine besonders großen Hoffnungen machte, diese auch zufriedenstellend beantwortet zu bekommen.

„Warum hast du vorhin nicht die Wahrheit gesagt, als ich wissen wollte, was passiert ist?“

„Warum sollte ich dir nicht die Wahrheit erzählt haben?“

„Weil meine Tochter etwas anderes behauptet hat!“

„Sie stand sehr nah bei mir, als der Hund auf uns zugerannt kam. Bei dem Schreck hat sie es bestimmt nicht richtig einschätzen können.“

„Sie ist nicht dumm und weiß sehr wohl, was da passiert ist. Was verbirgst du? Es ist doch nicht normal, dass jemand solche Probleme damit hat, die Wahrheit zu sagen. Du wolltest nicht, dass ich weiß, dass du meine Tochter gerettet hast. Warum? Aber davon mal abgesehen - dass ein einfacher Mensch in so einer Krisensituation überhaupt in der Lage ist, solch eine Entscheidung zu fällen, ist schon erstaunlich genug. Was hast du bloß für eine Einstellung zum Leben, dass du ohne zu zögern deinen eigenen Körper als Schild für andere benutzt?“

„Nicht für andere, für die Kinder!“, korrigierte ihn Fye sofort und sah ihn zum ersten Mal, seit Kurogane sich erinnerte, mit einem wirklich ernsthaften und unverstellten Ausdruck direkt in die Augen. Das kam so unerwartet, dass er sich im ersten Moment verspannte und kurz die Luft anhielt, als ihn dieser völlig fremde Blick traf. Von jedem anderen Menschen hätte er es erwartet, dass dieser ihm direkt in die Augen sah, wenn er sich mit ihm unterhielt, aber nicht von diesem! Der Blonde hatte direkten Blickkontakt bisher immer gemieden.

Doch genauso schnell, wie dieser Augenblick gekommen war, war er auch schon wieder verschwunden und Kurogane fragte sich einen Moment, ob er sich das nicht vielleicht nur eingebildet hatte.

„Kinder sind doch das Schönste, was man haben kann! Wie kann da irgendwer wollen, dass ihnen ein Leid geschieht?“, fragte Fye nun wieder wie selbstverständlich in den Raum hinein und grinste dabei heiter.

Kurogane stöhnte. Der Moment war wirklich vorbei. Genauso schnell, wie die undurchsichtige Fassade dieses Menschen für einen Moment gebröckelt war und einen Blick dahinter erlaubt hatte, so schnell hatte sie sich auch wieder aufgebaut und ihre Geheimnisse wieder tief in sich verschlossen. Er gab es auf. Dieser Mann war einfach nur frustrierend.

Behutsam stand der Schwarzhaarige auf, um seine Tochter durch die Bewegung nicht aufzuwecken, und ging mit ihr Richtung Tür. Er sollte sich besser nach Hause machen, damit seine Tochter sich richtig hinlegen und anständig schlafen konnte. Bevor er die Klinke jedoch herunter drückte, um den Blonden allein zurückzulassen, hielt er noch einmal inne. Lügen und Geheimnisse hin oder her – dieser Kerl hatte dennoch seine Tochter gerettet und das konnte er nicht einfach mit einem Schulterzucken abtun und die Tatsache damit zu den Akten legen.

„Trotzdem danke...“, murmelte er daher leise gegen den Türrahmen. Im Zimmer war es ruhig. Er hatte ihn sicherlich gehört. Dann drückte er endlich die Klinke hinunter und ging.
 

Draußen musste Kurogane wieder an dem öffentlichen Wartebereich vorbei, der vor dem Gang lag, in dem sich auch das Zimmer befand, in dem Tomoyo gewartet hatte. Ein Mann in weißem Kittel saß dort auf einem der Sessel und stand auf, als er den Schwarzhaarigen bemerkte. An der Brusttasche des Kleidungsstücks steckte ein Kärtchen mit der Aufschrift „Doktor Ryuichi Akayama“. Der Arzt also, der Kurogane zu Hause angerufen hatte...

„Herr Sugawara, ich bin Doktor Akayama“, begrüßte ihn der ältere Mann.

Das sah Kurogane selbst. Was wollte er nun noch von ihm?

„Sind Ihre Fragen ausreichend beantwortet worden?“, fragte er mit einem Kopfnicken in Richtung des Ganges, aus dem er gekommen war.

„Na ja...mehr oder weniger. Ich kann mir jetzt ganz gut vorstellen, was passiert sein muss.“

Auch wenn er das Wenigste davon von dem Kindergärtner direkt erfahren hatte...

„Gut. Dann möchte ich Ihnen nur noch eins mit auf den Weg geben: Ihre Tochter musste leider in einem sehr jungen Alter eine schlimme Erfahrung machen. Sie ist noch zu klein, um zwischen einem einzelnen Unfall und einem Regelfall unterscheiden zu können. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie in Zukunft eine große Angst vor Hunden entwickelt, vielleicht sogar vor großen Tieren generell. Noch ist sie klein und sehr aufnahmefähig, daher würde ich Ihnen raten, Sie versuchen, etwas gegen ihre Angst zu tun, bevor diese sich zu stark verfestigt hat.“

„Und wie soll das Ihrer Meinung nach gehen?“

„Versuchen Sie, das Kind langsam an den Kontakt mit Hunden heranzuführen. Gehen Sie mit ihr zu Bekannten, falls diese einen Hund haben, und zeigen Sie ihr, dass sie sich nicht fürchten muss. Das wird sicher nicht von heute auf morgen helfen, aber wenn Sie etwas Geduld haben, dann wird das Kind mit Sicherheit Fortschritte machen.“

„Ich werde sehen, was ich tun kann.“

„Und wenn sonst noch irgendwelche Probleme aufgrund dieses Angriffs auftreten sollten, melden Sie sich bitte umgehend hier.“

„Werd ich machen.“

Kurogane fühlte sich schon wieder ein wenig genervt. Für wen hielt der Typ ihn eigentlich? Es war doch klar, dass er mit seiner Tochter zum Arzt gehen würde, wenn sie irgendwelche Probleme hatte! So schlimm war er als Vater ja nun auch wieder nicht...

„Wenn es sonst nichts mehr gibt, würde ich jetzt gern gehen. Die Kleine ist völlig erschöpft.“

„Natürlich. Gute Heimfahrt.“

Endlich konnte Kurogane seinen Weg fortsetzen und seine Tochter zurück nach Hause bringen.
 

Währenddessen schaute Fye verträumt aus dem Fenster, beobachtete die vorbeiziehenden Wolken und summte leise vor sich hin.

Der große Brummbär Kuro-wanko hatte sich tatsächlich bei ihm bedankt. Daran hätte er im Traum nicht gedacht! Dass der Eisklotz grundsätzlich nie grüßte, daran hatte er sich inzwischen so sehr gewöhnt, dass er auch diesmal keine Reaktion von ihm erwartet hatte. Zumal er mal wieder ziemlich genervt ausgesehen hatte, als er aufgestanden und gegangen war.

Ein amüsiertes Grinsen umspielte Fyes Lippen.

Anscheinend hatte er sich nicht getäuscht. Kuro-pii war wirklich wie Zartbitterschokolade: Erst unangenehm, vor allem, wenn man zu viel auf einmal aß. Aber wenn man dann ganz langsam kleine Stückchen kostete, dann schmeckte sie echt lecker.

Ganz vorzüglich.
 

TBC...

Hunde, die bellen, beißen nicht

Hier kommt das neue Kapitel und ich hoffe, Klayr und ich können euch wieder ein wenig damit begeistern ^^. Ihr begeistert uns mit dem vielen Feedback ja auf alle Fälle :D. Jetzt sind wir schon fast bei 100 Kommentaren... WOW! Da bleibt einem echt die Spucke weg! *euch alle umknuddel* ^-^
 

Über gefundene Rechtschreibfehler bin ich wie immer dankbar =).
 

-~*~-
 

Disclaimer: Die Charas gehören (bis auf wenige Ausnahmen) nicht uns, sondern Clamp. Wir wollen kein Geld damit verdienen, sondern nur unterhalten.
 

Erstschreiber des Kapitels: Klayr_de_Gall

Kapitel: 9/26
 

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„Nicht weil es schwer ist, wagen wir es nicht, sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwer.“

(Lucius Annaeus Seneca)
 

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Hunde, die bellen, beißen nicht
 

Tomoyo hatte noch in der Nacht jedes hundeähnliche Kuscheltier aus ihrem Kinderzimmer verbannt, war aber irgendwann nach Mitternacht trotzdem zu ihrem Vater ins Bett gekrochen, was dieser nur mit einem Brummen zur Kenntnis genommen und weitergeschlafen hatte. Das Mädchen nahm ihm das nicht übel, denn sie war davon überzeugt, dass ihr Papi sie ihm Notfall trotzdem beschützen würde. Nii-chan hatte sie ja auch beschützt! Ja, wenn Fye-nii-chan jetzt hier wäre, würde sie wohl noch beruhigter schlafen können. Aber na ja, bei ihrem Lieblingspapa war es auch schön.
 

Als Kurogane am nächsten Morgen aufwachte, stellte er mit einem Blick auf den Wecker fest, dass es noch gut eine halbe Stunde hin war, bis dieser klingeln würde. Aber nach wieder einschlafen war ihm nun auch nicht besonders zumute. Fast lautlos murrend erhob er sich, vorsichtig, um Tomoyo nicht zu wecken, und verließ auf leisen Sohlen das Schlafzimmer. Nur kam er nicht sehr weit. Mitten im Flur machte er unliebsame Bekanntschaft mit einem großen Schäferhund-Stofftier, über das er unvorbereitet stolperte.

„Was?!“

Erschrocken hielt er sich an der Kommode fest und warf dabei die Schale mit den Schlüsseln und allerlei Kram herunter, welcher sich laut scheppernd auf dem Parkettboden verteilte. Aber er stürzte zumindest nicht und brach sich das Bein.

‚Oh, dieses Kind! Die kann sich was anhören, ihr blödes Spielzeug hier liegen zu lassen!’

„Tomoyo!“

Gereizt vor sich hingrollend ging er wieder zurück in sein Zimmer, wo sich die Vierjährige auf dem großen Bett breit gemacht hatte. Anscheinend hatte der Lärm sie geweckt, denn sie blinzelte müde zu ihrem Vater hinauf.

„Jaa?“

„Wieso liegen deine Stofftiere im Flur?“

Nun rappelte die Kleine sich auf und blickte verschlafen vor sich hin.„Na weil...nicht, dass die mich beißen.“

Oh ja. Was für eine Logik! So was konnte echt nur von einem kleinen Kind stammen!

„Spielzeug beißt nicht!“, hielt Kurogane wie immer mit handfester Logik dagegen, konnte den Gedankengang seiner Tochter nicht verstehen, geschweige denn nachvollziehen, obwohl wohl viele Vierjährige nach solch traumatischen Ereignissen so handeln würden.

„Und wenn doch?“, trotzig sah sie ihn an.

„Es gibt kein ‚doch’, Kleine.“ Entnervt schüttelte der Schwarzhaarige seinen Kopf. „Kuscheltiere können nicht beißen!“

Aber Tomoyo war und blieb der Überzeugung, dass die Stofftiere eine absolute Gefahr für ihr Leben darstellten und blieb stur, da konnte selbst ein noch so griesgrämiger Vater nichts daran ändern. Und da Kurogane nach diesem Start in den Morgen nicht die Geduld dafür hatte, sich stundenlang solch sinnlosen Diskussionen seiner sturen Tochter zu widmen, gab er es kurzerhand auf und verließ mit dem Statement „Steh auf und zieh dich an, es gibt gleich Frühstück“ wieder sein Zimmer. Es hatte doch eh keinen Sinn! Und wenn er daran dachte, dass er am Nachmittag noch vorhatte, mit dem kleinen Dickschädel ins Tierheim zu fahren... Na schönen Dank!

Die Dunkelhaarige fand sich schließlich gähnend und mit einer Bürste in der Hand im Rahmen der Küchentür wieder, während ihr Vater gerade am Kaffeeaufsetzen war.

„Papa? Machst du mir Zöpfe?“

„Seh ich aus wie der Friseur?“, war die knappe Antwort. War er hier ein Kindermädchen oder was? Na ja okay...eigentlich war er noch mehr, ihr Vater, aber woher sollte er denn bitte wissen, wie man Zöpfe machte?

„Soma hat das aber auch immer gemacht!“

Tomoyos patzige Worte trugen nicht gerade zur Steigerung seiner Laune bei und er warf ihr nur einen gereizten Blick über die Schulter zu, bevor er sie dann einfach ignorierte, sich wieder wichtigeren Dingen – in dem Fall dem Kaffee – widmete. Als die Vierjährige das bemerkte, plusterte sie schmollend die Backen auf und machte auf dem Absatz kehrt.

„SO! Dann geh ich eben zu Soma!“

Und ehe Kurogane sich versah, geschweige denn reagieren konnte, hörte er auch schon, wie die Wohnungstür laut zuschlug. Was zum Teufel...? Die ging doch jetzt nicht wirklich zu Soma?! Zwar wohnte die Kindererzieherin nur zwei Etagen weiter unten, denn sie war vor vier Jahren hergezogen, als absehbar wurde, dass der Job lange dauern und all ihre Aufmerksamkeit beanspruchen würde, aber was würde sich Kurogane wieder anhören können, wenn jetzt die Kleine bei ihr klingelte, nur um die Haare gemacht zu bekommen? Soma würde ihm den Kopf waschen. Und das nicht gerade zimperlich!

„Verdammt, Tomoyo!“

Kaum hatte er die Haustür aufgerissen, rief er das seiner Tochter auch schon nach. „Lass den Quatsch!“ Doch sie streckte ihm nur vom Ende des Ganges frech die Zunge heraus, bevor sie ins Treppenhaus verschwand.

‚Miststück!’, dachte der Schwarzhaarige nur, bevor er ihr auch schon nachjagte. Oberkörperfrei und barfuss! Was tat man nicht alles, um einer Furie zu entgehen! Aber der Zwerg war entgegen aller Erwartungen für ihr Alter sehr flink, wenn sie wollte, und drückte schon fest auf die Klingel von Wohnung Nummer 2 und von drinnen erklang auch gleich ein „Komme sofort!“, als Kurogane unten ankam. Gerade als er hinter Tomoyo zum Stehen kam, um sie sich zu schnappen und zum ersten Mal mit dem Gedanken spielte, ihr wirklich den Hintern zu versohlen, ging die Tür auf und ihnen gegenüber stand Soma, recht verschlafen, mit einer Tasse Tee in einer Hand und im oberschenkellangen Bademantel.

„Guten Morgen?“ Verwirrt musterte sie die beiden Sugawaras, die wohl auch ein recht absurdes Bild abgeben mussten. Immerhin war Tomoyo nicht mal gekämmt und recht exotisch angezogen. Und ihr Vater ein Anblick ohnegleichen!

„Ähm...“, begann Kurogane, wurde aber von der Vierjährigen prompt unterbrochen.

„Soma! Kannst du mir Zöpfe machen? Papa will nicht.“

„Ach so? Ich denke eher, er kann nicht.“

Mit einem abwertenden Blick maß sie den schwarzhaarigen Mann vor sich und ließ sich nicht im Geringsten von dem ansehnlichen Körperbau beeindrucken. Mann blieb Mann. Und da sie Kurogane gut kannte, beurteilte sie ihn zunächst erst einmal nach dem Charakter und nicht nach dem Aussehen. Auch wenn er, zugegebenermaßen, seinen Job in Bezug auf sportliche Betätigung recht gut genutzt hatte, das konnte selbst sie nicht abstreiten.

„Na dann komm mal rein, Kleines. Ich nehme an, du hast noch nicht gefrühstückt? Wahrscheinlich würde es eh schon wieder Cornflakes geben.“

„Hm. Ich mag die aber!“

„Die bestehen ja auch fast nur aus Zucker.“

Mit einem freundlichen Lächeln lotste Soma das Mädchen in ihre Wohnung und war sogar so freundlich, die Tür offen zu lassen, falls ihr ehemaliger Arbeitgeber das Bedürfnis verspüren sollte, sich ein wenig weiterzubilden. So schwer war es ja nun nicht, einen Zopf zu binden, aber anscheinend lernte man das nicht unbedingt bei der Armee.

„Was möchtest du denn für einen Zopf, Tomo-chan?“, fragte die junge Erzieherin gerade, als Kurogane ihre aufgeräumte Küche betrat und sich befremdet umsah. Bei ihm sah es zwar auch nicht schlecht aus, aber so blitzblank? Soma hatte wohl einen ziemlich ausgeprägten Putzfimmel.

„Einen Geflochtenen!“

Soma lächelte auf den Wunsch der Kleinen hin und setzte sich, teilte ihr Haar ordentlich und begann dann den Anfang zu flechten, bevor ihr Blick auf den hochgewachsenen Mann fiel, der nun etwas nutzlos in ihrer Küche stand.

„Wie wär’s, wenn ich dir zeige, wie man Haare flechtet, dann muss deine Tochter nicht jedes Mal bis zu mir runter kommen.“

Gleich noch etwas Salz in die Wunde gestreut, und entsprechend bissig sah Kurogane sie dann auch an. Irgendetwas in seinen nicht vorhandenen Bart knurrend, kam er dann aber doch und setzte sich auf den Stuhl, von dem Soma sich erhob, ihm die dunklen Strähnen seiner Tochter in die Hände drückend. Dann vergingen gut zehn Minuten, in der die gebräunte Erzieherin all ihre Geduld aufbringen musste, um Kurogane anständig zu erklären, wie man einen Zopf flocht, denn er stellte sich wirklich blöd an. Schließlich schien er es wenigstens etwas verstanden zu haben und sie ließ es ihn allein probieren. Leider recht erfolglos.

„Kurogane!“ Soma stemmte empört die Hände in die Hüfte. „Du sollst keinen Seemannsknoten knüpfen, sondern ihr die Haare flechten! Hast du so was als Kind nie von deiner Mutter gezeigt bekommen?“

„Seh ich vielleicht aus wie ein Kind?“

Soma öffnete auf die gefauchten Worte sogleich den Mund, um eine spitze Bemerkung von sich zu geben, klappte ihn dann aber ohne ein Wort wieder zu, betrachtete den schwarzhaarigen Mann stattdessen. Trotz seiner markanten, immer ernsten Züge, wirkte dieser nicht älter, als er eigentlich war. Mitte Zwanzig. Dennoch konnte sie sich irgendwie nicht vorstellen, dass Kurogane jemals ein Kind gewesen sein sollte. Gerade er, der nicht mal Verständnis für die Gefühle seiner eigenen Tochter hatte, geschweige denn sich in sie hineinversetzen, sie nachvollziehen konnte...

Natürlich WAR er mal klein gewesen, das war der Erzieherin schon klar, aber trotzdem. Schon als sie den alleinerziehenden Vater zum ersten Mal getroffen hatte, hatte er ausgebrannt und reizbar gewirkt, sie erfuhr lediglich, dass er wegen einer Versetzung längst nicht in der Lage sein würde, sich unter der Woche um seine kleine Tochter zu kümmern. Leicht verdientes Geld. Außerdem durfte sie anfangs in seiner Wohnung wohnen, nahm sich aber später im selben Haus eine eigene. Denn wenn Kurogane am Wochenende mal nach Hause kam oder ein, zwei Tage Urlaub hatte, dann war er unausstehlich. Wenn man ihn nur falsch ansah, dann explodierte er schon, von ansprechen ganz zu schweigen. So war sie oft mit Tomoyo zu sich geflüchtet. Der junge Mann wäre mit der Kleinen ja sowieso überfordert gewesen. Vielleicht war es ja dieser jahrelangen unliebsamen Konfrontation mit ihm zu verschulden, dass Soma nicht glauben konnte, dass der Schwarzhaarige je ein Kind gewesen war. Hatte sein Job das aus ihm gemacht? Oder das Verschwinden seiner Lebensgefährtin und Mutter seines Kindes?

Andererseits...

„Papa! Du hast schon wieder deine Finger verfitzt!“

„Oh, ehrlich?“

Mit einem nachsichtigen Schmunzeln beobachtete die gebräunte Frau, wie Vater und Tochter nun gemeinsam versuchten, das Ende des langen Zopfes zusammen zu meistern.

Dennoch, Kurogane war ein Soldat, hatte vielleicht schon Menschen töten müssen. Was bewegte also eine liebende Mutter dazu, solch einem Mann das gemeinsame Kind zu überlassen? Diese Oruha – den Namen hatte die Erzieherin schließlich nach langen Diskussionen aus Tomoyos Geburtsakte erfahren – war entweder sehr verantwortungslos oder aber ganz davon überzeugt, dass ihr Ex-Freund doch mit der Kleinen umgehen konnte und ein guter Vater war.

Zugegeben, es hatte vier Jahre gedauert, aber ihre Überzeugung schien sich zu bewahrheiten. Kurogane machte sich. Im Moment saß er hier mit seiner Tochter auf dem Knie, einen knallvioletten Haargummi ums Handgelenk und absolut keinen Schimmer von dem, was er eigentlich tat. Aber er brachte die Vierjährige zum Lachen. Und wenn er das schaffte, konnte er kein schlechter Vater sein.

„Reicht das so, Kleines?“

„Hmm...“

Skeptisch betrachtete Tomoyo den Zopf. Überall standen Strähnen heraus und er war mehr als nur ungleichmäßig. Aber Kinder waren ja genügsam. Und außerdem zählte gerade etwas ganz anderes.

„Ja! Danke Papa, der ist sooooo toll!“

Und damit drückte sie dem verblüfften Mann einen dicken Kuss auf die Wange.

„Ich hab dich superlieb!“

Soma glaubte ihren Augen nicht zu trauen, als sich ein sanftes Lächeln auf das sonst so verkniffene, angespannte Gesicht schlich. Wie anders er doch gleich aussah.

„Du solltest den Zopf noch zusammenbinden. Mit dem Haargummi, du weißt schon.“

Und schon war das Lächeln wieder verschwunden. Stattdessen grummelte Kurogane nur ein „Weiß ich selbst!“ in Richtung der Erzieherin, tat aber wenigstens, was sie ihm gesagt hatte. Dann rutschte das dunkelhaarige Mädchen von seinem Schoß und lief strahlend zu der jungen Frau.

„Guck!“ Dabei drehte sie sich einmal und zeigte stolz den Zopf.

„Ja, sehr schön.“

Nachdem Tomoyo fertig gefrühstückt und Soma ihrem Vater noch eine weitere Moralpredigt darüber gehalten hatte, wie er sich heute früh angestellt hatte, dass Tomoyo überhaupt erst zu ihr gekommen war, ging es wieder in den Kindergarten.
 

Die Vierjährige benahm sich recht sonderbar, wann immer sie auf der Straße liefen, also vom Haus zum Wagen und danach von diesem zum Kindergarten, blickte immer wieder in alle Richtungen, als wäre der Teufel hinter ihr her. Vermutlich hielt sie Ausschau nach Hunden... Kurogane ahnte, dass ihm noch ein anstrengender Nachmittag im Tierheim bevorstehen würde.

Sobald sie allerdings das Gelände des Kindergartens betreten hatte, fiel die Besorgnis schlagartig von der Kleinen ab und sie stürmte gleich zu dem Blondschopf, der, mit einer Schlinge um den verletzten Arm, schon an der Tür wartete.

„Nii-chan!!!“

Die Kleine umarmte ihn so überschwänglich, dass sie ihm wohl ungewollt etwas weh tat, aber er sagte nichts dazu und ihr blieb sein kurzes, schmerzhaft verzogenes Gesicht verborgen. Kurogane nicht.

„Tomoyo, sei etwas vorsichtiger. Immerhin ist er verletzt.“

Erschrocken ließ sie von Fye ab und sah ihn forschend an, aber wie immer lag schon wieder das breite Lächeln, das alle an ihm gewohnt waren, auf seinem Gesicht. Erleichtert, da nichts weiter passiert war, lächelte sie nur kindlich zurück.

„Nii-chan, wie geht es deinem Arm?“
 

Durch Kuroganes Worte fühlte Fye sich plötzlich unwohl.

Warum nur? Warum musste Kurogane alles bemerken? Warum sah er ihn schon wieder so strafend an? Warum konnte er nicht so nett sein wie gestern im Krankenhaus? Beinahe hätte Fye die Hände zu Fäusten geballt, aber er beherrschte sich gerade noch und sah nur kurz zu Boden, wollte nicht, dass der Schwarzhaarige in seinem Gesicht lesen konnte, wie erschüttert er über die plötzliche Erkenntnis war. Kurogane durchschaute so viel...

„So schlimm ist es gar nicht! Ich trage den Verband nur, damit ihr euch nicht erschreckt, denn es ist ein klein wenig dick geworden, aber ansonsten ist alles okay! Ich fühl mich so prächtig wie immer!“

„Sicher? Tut es denn gar nicht weh?“, hakte sie kritisch nach.

„Na ja... Ein ganz kleines bisschen vielleicht, wenn ich mich zu doll bewege“, räumte der Blondschopf ein.

„Dann ist gut. – Das sah wirklich schlimm aus, gestern...“, gab sich Tomoyo schließlich halbwegs überzeugt und erleichtert zufrieden und ließ sich von dem blonden Mann bei der Hand nehmen und in das Gebäude führen. Ihr Vater, der noch ihre kleine Tasche trug, folgte kommentarlos. Drinnen erwartete sie das typische Durcheinader, das aber durch ein paar große, recht schwer aussehende Kartons, die die linke Seite des Raumes einnahmen, etwas befremdlich wirkte.

„Hach...so viel zu tun heute. Das schafft Shaolan-kun bestimmt nicht allein.“

Wehleidig sah Fye sich im chaotischen Aufenthaltsraum um und machte eine allumfassende Geste. Aber da der grummelige Schwarzhaarige nicht genau wusste, ob er das „zu tun“ auf den ganzen Dreck, die Unordnung oder einfach nur auf das viel zu bunte, systemlose Chaos im Allgemeinen bezog, gab er nur ein desinteressiertes „Pff“ zur Antwort und wandte sich schon demonstrativ zum Gehen. Als ob es ihn etwas anging, was der blonde Depp und seine Helferlein zu tun hatten! Und falls das Honigkuchenpferd dachte, er würde sich immer noch zu Dank verpflichtet fühlen, dann hatte er sich gewaltig geirrt! Er hatte sich bedankt und damit war die Sache für ihn erledigt.

„Was denn zum Beispiel, Nii-chan? Und wer ist Shaolan-kun?“

Sich nicht an der Ignoranz ihres Vaters störend, sprich, ihn einfach ignorierend, wandte Tomoyo sich nun an ihren Kindergärtner, der auch sogleich gluckste. Das war ein Bild für die Götter! Wie der liebe Kuro-wanko aus der Wäsche schaute, wenn sein kleines Töchterchen ihn nicht einmal verabschieden wollte! Zu köstlich!

„Ich wollte heute eigentlich das neue Regal für die Spielsachen aufbauen. Shaolan-kun ist der Freund von Sakura-chan. Er ist heute extra vorbei gekommen, um ein bisschen zu helfen.“

Die Vierjährige horchte auf, und er hatte auch das Interesse ihres Griesgrummelvaters, denn anscheinend wollte dieser doch nicht ohne Abschied gehen – nicht MEHR, wohl gemerkt. Schnuckelig, wirklich. Nur schien Tomoyo ganz andere Pläne mit ihrem Vater zu haben, als ihn gehen zu lassen.

„Oh, das kann doch Papa machen!“, verkündete sie strahlend und blickte treu zu dem großen Mann hinauf, als müsste es für ihn ja nichts Tolleres geben, als hier, in seinem „über alles geliebten Kindergarten, wo er schon die Freitage mit Begeisterung verbrachte“ nun auch noch unter der Woche zu helfen. Aber Kurogane reagierte vorhersehbar.

„Kommt nicht infrage!“, wetterte er sogleich giftig los. „Ich hab ganz anderes zu tun, als eure sinnlosen Regale aufzubauen!“

In dem Moment kam ein hoch gewachsener, schlaksiger Junge hereingestolpert, der anscheinend mehr von der großen Kiste, die er trug, gelotst wurde, als dass er diese führte. Noch ein Schritt und er kippte gefährlich weit nach vorn.

„Vorsicht, Junge!“, rief Kurogane noch und war mit einem einzigen großen Satz bei ihm, um die bereits fallende Kiste und damit auch den daran hängenden Jungen aufzufangen. Als der Braunhaarige sein Gleichgewicht wieder gefunden hatte und endlich hinter der großen Kiste hervortrat, konnte man erstmals sein Gesicht richtig sehen. Es war eben erwähnter Shaolan, der Freund der zierlichen Praktikantin. Er erkannte ihn sofort wieder, denn es war noch nicht so lange her, seit er den beiden aus der Patsche geholfen hatte.

„K-Kurogane-san?“, fragte der Junge verwundert, als er das Gesicht seines Retters erkannte. „Sie sind noch hier? Müssen Sie nicht langsam auf Arbeit?“

Den irritierten Worten entnahm Kurogane erleichtert, dass der Junge – und damit sicher auch das Mädchen – noch nicht auf dem aktuellsten Stand war. Und zum ersten Mal war er dem Plappermaul für seine Überschwänglichkeit dankbar, denn diese rettete ihn gerade davor, eine Antwort geben zu müssen.

„Shaolan-kun, du wirst es nicht glauben, aber Kuro-sama bleibt extra hier, um beim Regalbau zu helfen! Ist das nicht toll?“

„Sag mal, hörst du schwer? Mit deinem sinnlosen Kram will ich nichts zu tun haben!“ Auch wenn er sich insgeheim fragte, ob es der Gesundheit des Jungen so gut tun würde, wenn er jetzt einfach wieder verschwand, das Ganze war nicht seine Sache.

„Aber Kuro-sama, das ist doch nicht sinnlos! Wir brauchen das Regal, um das ganze Spielzeug hineinstapeln zu können. Damit es nicht immer rumliegt, weißt du.“

Doch der Schwarzhaarige verschränkte uneinsichtig die Arme und blickte grimmig in eine andere Richtung, schien absolut nicht einzusehen, warum gerade er das machen sollte.

„Mir egal, musst du halt mehr Ordnung halten“, hatte er auch gleich als Einwand parat.

„Ähm, also meinetwegen müssen Sie nicht extra hier bleiben...“, meldete sich Shaolan vorsichtig zu Wort und Fye kratzte sich etwas hilflos am Kopf, denn so hatte er sich das nicht vorgestellt, aber dann fiel sein Blick auf das dunkelhaarige Mädchen, das neugierig die großen Pappkisten bestaunte, und ihm kam eine ausgezeichnete Idee. Eine, die den lieben Herrn Papa garantiert umstimmen würde.

„Da hörst du’s, Tomoyo-chan...“, der Kindergärtner vollführte eine theaterlichte Geste und fasste sich an die Brust, womit er die ungeteilte Aufmerksamkeit der Vierjährigen hatte. „Es gibt wichtigeres als unser Spielzeug!“

„Aber Fye-san!“, versuchte es Shaolan erneut.

„Gar nicht wahr!“

Doch ihn schien gerade keiner mehr wahrzunehmen. Was für eine Äußerung, also wirklich! Das war natürlich jedem Kind unbegreiflich und Tomoyo war da nicht anders. Es KONNTE gar nichts Wichtigeres geben als Spielzeug!

„Nun, dein Papa hat es so gesagt.“

Entrüstet blickte sie zu ihrem „Rabenenvater“ auf. „Das stimmt gar nicht!“

„Kann sein.“

Da Kinderlogik dem hochgewachsenen Mann sowieso unbegreiflich war, widersprach er dennoch. „Aber ich bau das Regal nicht auf, und damit basta!“

„Aber Papa!“ Und nun kam Tomoyo zugute, dass sie die gleichen großen, dunklen Rehaugen hatte, wie ihre Mutter. Lieb blinkerte sie ihren Vater daraus an und hatte ihn bittend an der Hand gefasst. So konnte sie nur gewinnen, denn Kurogane war zwar recht stur, aber wann immer Oruha diese Masche angewandt hatte, hatte sie ihn zu fast allem gebracht. Und ihre vierjährige Tochter hatte dieses Talent offensichtlich geerbt.

„Och bitte!“
 

„Hey Kleiner! Lass die Finger von dem Hammer, wie oft denn noch!"

Ob es nun Tomoyos Rehblick zu verdanken war oder Fyes überzeugendem Lächeln, Fakt war, dass der Sturkopf der Nation sich hatte überreden lassen und nun inmitten von einem Chaos aus leeren Kartons, langen und kurzen Brettern und den verschiedensten Schrauben saß, die er hereingetragen hatte, während Shaolan andauernd die Wand vermaß und die Werte mit den verschiedenen Skizzen, die er als mögliche Regalanordnung aufgemalt hatte, abglich. Und Ryu machte seinem Ruf als neugieriger Frechdachs alle Ehre und kramte in allem herum, was dem ohnehin nervlich vorbelasteten „Handwerker“ nicht besonders zusagte.

„Aber ich will doch helfen!“, widersprach ihm der Bengel jetzt auch noch.

„Dann hilf mir, indem du dich verziehst!“

„Ich will aber richtig helfen, Kuro-ron!“

„Was hast du eben gesagt, Zwerg?“

Der braunhaarige Wuschelkopf hatte sich mit dem Missbrauch des Spitznamensverbots ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt, worauf er jetzt mit gefährlich blitzenden blutroten Augen angesehen wurde. Natürlich schüchterte das den Zwerg kaum ein; zumindest verbarg er das gut.

„Werter Freund, mir deucht, es wäre angebracht, mit klügeren Argumenten zu parieren.“

Kurogane ächzte tonnenschwer. Hilfe, jetzt nicht auch noch dieser Dummquatscher!

„Ich habe ein „schlaues Argument“ für euch, also spitzt die Lauscher! Verzieht euch und spielt mit den anderen laufenden Metern, oder hier passiert gleich ein Arbeitsunfall!“

„Kuro-sama!“

Nun steckte der blonde Kindergärtner seinen Kopf in den Vorraum, angelockt von dem Lärm. Schmunzelnd betrachtete er die Szene, die sich ihm bot, auch wenn es langsam Zeit wurde zu schlichten.

„Sei doch nicht so streng zu ihnen, Kuro-kuro. Sie wollen doch nur helfen.“

„Am meisten hilft es mir, wenn die verschwinden und mich in Ruhe arbeiten lassen. Ich hatte nämlich nicht vor, hier den Rest des Tages zu verbringen!“

DER hatte ihm nun echt noch gefehlt!

„Aber wieso denn, Kuro-rin?“

Der junge Mann kam lächelnd zu ihm und nahm mit auf dem Boden Platz, spielte mit ein paar der längeren Schrauben, während er dem Schwarzhaarigen in die Augen sah.

„Lass sie doch mitmachen. Sicher gibt es etwas, was Ryu-kun erledigen kann, ohne dass er etwas kaputt macht. Und außerdem“, fuhr er schnell fort, bevor sein Gegenüber widersprechen konnte, „außerdem ist er dann wenigstens beschäftigt und lässt dich in Ruhe, ist das nichts?“

Ein widerwilliges Grummeln war die Antwort. So ungern Kurogane das auch zugab, aber der Sinn dieser Logik war nur schwer vom Tisch zu weisen. Und da der Blondschopf das wusste, lächelte er nur um so gewinnender und klapste leicht auf seinen gebräunte Handrücken. Diesem Griesgram war auch wirklich nur mit entwaffnender Logik beizukommen.

„Wie wär's, wenn du Ryu-kun die Schrauben festdrehen lässt? Damit wäre doch allen geholfen. Und ich wäre dir obendrein auch noch dankbar.“

„Au ja!!! Darf ich, darf ich, darf ich?? Bittäääää!“

Der ältere Mann war überstimmt und hatte nichts Sinnvolles mehr entgegenzusetzen, auch wenn es ihm nach wie vor nicht gefiel. Aber mittlerweile wusste er, wie Fye tickte und dass dieser nicht aufhören würde zu nerven, bis er nachgab. Und der Kleine würde auch keine Ruhe mehr geben.

„Na gut...“

Freudig sprang der braunhaarige Zwerg auf und begann ziellos irgendwelche kleinen Bretter zu nehmen, die Löcher hatten. Damit wurde das Chaos nur noch unübersichtlicher, aber zum Glück war der Schwarzhaarige gerade abgelenkt, denn Fye lächelte ihn lieb an und streichelte für einen Moment wie zufällig über die größere Hand.

„Danke. Du schaffst das schon, oder? Ryu-kun ist eigentlich ein ganz Lieber.“

„Hm...“

„Du doch auch.“

Aber diesmal wartete Fye keine Antwort ab, sondern stand schnell auf, lächelte scheu und nachdem er die Kinder ermahnt hatte, dass sie sich benehmen sollten, huschte er flink wieder in das Spielzimmer. Der Schwarzhaarige blieb still sitzen und blickte ihm nachdenklich nach. Was war das denn gewesen? Und es schien ihm, als wäre der Blondschopf selbst über seine Worte verwirrt gewesen.

Weiter zum Nachdenken kam er nicht, denn er bemerkte, dass Shaolan ihn aus seiner Ecke heraus unschlüssig musterte.

„Was ist?“, fragte er mit noch immer leicht genervtem Tonfall.

„Äh, nichts. Ich hab nur etwas überlegt, aber ist egal“, wimmelte der Braunhaarige ab. Kurogane, der solches Um-den-heißen-Brei-Gerede überhaupt nicht mochte, hakte noch eine Spur genervter nach.

„Na los, raus mit der Sprache! Wenn es dich von der Arbeit ablenkt, dann bring es lieber hinter dich. Ich will heute noch damit fertig werden.“

Durch ein etwas lauteres Krachen wurde Kurogane dann allerdings von dem Gespräch abgelenkt.

„Was tust du denn, verdammt!“

Der kleine Ryu stand in einem Haufen Bretter, der ihm gerade aus den Armen gefallen war, und blickte trotzig zu dem Erwachsenen.

„Ich rate zu bedachterem Handeln, Ryu-kun, nicht dass noch etwas zerbricht und es unseren großen Freund wieder erzürnt.“

„Pha! Ich hab nichts gemacht!“

„Aber WENN du was kaputt gemacht hast, dann gibt es Ärger“, knurrte der Schwarzhaarige und erhob sich, um den Schaden zu begutachten, was Ryu trotzig und Sorata leicht besorgt beobachtete. Zum Glück der Kinder hatten die Bretter ihren Sturz heil überstanden und er nahm sie nur und trug sie zu ihrem eigentlichen Lagerungsort zurück.

„Nii-chan hat gesagt, ich darf helfen!“

„Dann halt die Klappe und tu das, was ich dir sage!“

Schmollend blickte der Rotzbengel zu ihm auf, schwieg aber erstaunlicherweise. Der strenge Ton seiner Aufsichtsperson schien endlich anzuschlagen. Dadurch etwas milder gestimmt, reichte Kurogane dem Jungen einen kleinen Schraubenzieher und suchte zwei Bretter heraus, die zusammengeschraubt gehörten.

„Okay. Hier hast du eine Schraube. Die Bretter müssen hier und hier zusammengeschraubt werden. Kannst du das? Und wehe, das wird nicht ordentlich. Dann war das das letzte Mal, dass du mir helfen durftest.“

„Klar kann ich das!“

Damit war Ryus Ehrgeiz geweckt und der Knilch setzte sich hin und begann eifrig zu arbeiten, die Zunge konzentriert zwischen die Lippen gesteckt. Der kleine Schwarzhaarige mit dem viel zu großen Wortschatz setzte sich dazu und überschüttete ihn mit gut gemeinten Ratschlägen. Nach einer Weile, in der der unfreiwillige Handwerker ungestört Bretter zusammengesetzt und regelähnliche Gestelle gebaut hatte, nebenher Ryu immer mal wieder was zu tun gab, gesellten sich auch zwei der Mädchen zu der kleinen Gruppe. Ganz zur Freude Soratas seine „Verlobte“ Arashi und die fröhliche Yuzuriha.

„Meine Holde! Welch Augenweide, dich zu erblicken!“

Natürlich ignorierte ihn die kühle Vierjährige und betrachtete gelinde interessiert das Durcheinander von Brettern und Schrauben.

Kurogane beachtete die beiden nicht weiter, was sich fast als riesiger Fehler herausstellte, denn auch Shaolan war wieder so sehr in seine Arbeit vertieft, dass er nicht mehr mitbekam, was die Kinder um ihn herum trieben.

Und während der Schwarzhaarige damit beschäftigt war, eine Querstrebe zu fixieren, schafften es die Mädchen mit vereinten Kräften, ein großes, schweres Brett aufzurichten. Yuzuriha war so begeistert von ihrem Werk, dass sie losließ, um in die Hände zu klatschen. Und das Brett verhielt sich, wie man es von ihm erwartete: Es kippte.

Nur Soratas erschrockenes „Vorsicht meine Liebe!“ und Kuroganes Geistesgegenwart bewahrte die kleinen Damen vor ein paar Schrammen oder Schlimmerem. Denn kaum dass der Schwarzhaarige sich umgedreht hatte, reagierte er blitzschnell und bekam das dicke Brett gerade so zu fassen, bevor es Schaden anrichten konnte. Den kurzen, stechenden Schmerz, als ein scharfkantiger Holzkeil in seine Handfläche stach, nahm er nur am Rande wahr.

Seine geschulten Reflexe konnten sogar in einem Kindergarten nützlich sein!

Vor Schreck ganz blass um die Nase, sackte Yuzuriha auf dem Boden zusammen und begann zu weinen, und auch Arashi kullerten ein paar Schocktränen über die Wangen, denn es war wirklich verdammt knapp gewesen. Die drei anwesenden Herren waren überfordert, vor allem Kurogane und Ryu, aber der kleine Sorata kniete sich mit zu den Mädchen und sprach ihnen gut zu. Auch Fye wurde von dem Kinderweinen angelockt, erfasste die Situation schnell und half, die beiden wieder aufzumuntern.

Nachdem Ryu-kun ihm begeistert geschildert hatte, wie schnell Kurogane nach dem Brett gegriffen hatte, warf ihm der Kindergärtner für seine Unachtsamkeit einen halb strafenden, aber auch halb dankbaren Blick zu und verzichtete auf eine Rüge. Der unfreiwillige Handwerker hätte sowieso das Argument „Du wolltest, dass sie hier helfen!“ entgegengehalten.

„Na, Yuzuriha-chan, Arashi-chan? Ist doch alles wieder gut, hm? Oder habt ihr euch doch wehgetan?“

Auf die Frage des Blonden schüttelten beide tapfer den Kopf und wischten die letzten Tränen weg.

„Ihr müsst in Zukunft vorsichtiger sein mit den großen, schweren Sachen, okay? Immer kann der starke Kuro-sama euch nicht beschützen.“

Erneut nickten die beiden Mädchen und blickten zu dem schwarzhaarigen Mann auf, der sie kurz von oben herab musterte und sich dann wieder um seine Arbeit kümmerte.

Auch als seine Tochter sich noch zu der immer größer werdenden Gruppe gesellte, drehte er sich nicht um.

Tomoyo und ihre Freundinnen, die sich nun wieder von allem erholt zu haben schienen, begannen unter der Aufsicht ihres Nii-chans die Schrauben zu sortieren.

Ja, wenn alle so friedlich und Hand in Hand arbeiteten, dann konnte Fye wirklich stolz auf sie sein. Jetzt, wo alle wussten, was sie tun sollten und was sie durften, ging es richtig schnell, und sogar Ryu, der kleine Stänkerfritze, gab sich alle Mühe, keinen weiteren Streit zu beginnen.
 

Mit einem ungewohnt ruhigen Blick betrachtete Kurogane sein Werk, die Gruppe der Kleinkinder, die stolz auf ihre gemeinsame Arbeit war, und Shaolan, der nicht minder zufrieden aussah. Im Schneidersitz, die Arme hinter dem Körper abgestützt, war der erwachsene Mann etwa so groß wie die Knirpse und konnte alles aus ihrem Blickwinkel betrachten. So ein großes Regal...

Kurogane war zu sehr in seine Betrachtungen versunken, als dass er bemerkte, wie sich ihm leise Schritte näherten, und er schrak auf, als er plötzlich lange, kühle Finger durch sein Haar huschen spürte. Nur einen Moment, dann waren sie so schnell verschwunden, wie sie dort gewesen waren, und als er zu Fye aufsah, hatte dieser die Hände fest hinter dem Rücken verschränkt.

„Danke für deine Hilfe, Kuro-sama. Du warst wirklich toll heute.“

Bildete er sich das ein, oder hatte der Kindergärtner etwas mehr Farbe im Gesicht als sonst?

Kurogane brummte undeutbar und erhob sich.

„Dann geh ich jetzt.“

Aber noch bevor Fye irgendetwas darauf erwidern konnte, wurden sie beide unterbrochen, denn Shaolan trat auf sie zu und blieb etwas nervös vor dem großen, schwarzhaarigen Mann stehen. Schon wieder trug er diesen unschlüssigen Ausdruck im Gesicht.

„Kurogane-san... Ich weiß, Sie haben Sakura-chans Angebot neulich abgelehnt, aber haben Sie Ihre Meinung inzwischen vielleicht geändert? Wir würden uns wirklich sehr freuen, wenn wir uns RICHTIG bei ihnen bedanken könnten.“

Unruhig, weil von seinem Gegenüber statt einer Antwort eher ein resignierter Blick kam, sah er auf, fuhr aber fort. „Deshalb wollten wir Sie noch einmal fragen. Wollen Sie nicht doch einmal mit uns zu Abend essen? Es würde uns wirklich sehr freuen...“

Verwirrt blickte der Blondschopf zwischen den beiden hin und her und versuchte zu verstehen, wovon Shaolan gerade sprach.

Kurogane schwieg ziemlich lange dazu und als die beiden jüngeren Männer schon glaubten, dass er keine Antwort mehr geben würde, setzte er dann doch zum Sprechen an.

„Okay. Wenn es euch dann besser geht...“

Keine besonders weltbewegende Rede, dennoch hellte sich das Gesicht des Studenten freudig auf.

„Ja? Schön, dass Sie sich doch noch umentschieden haben! Wie wäre es gleich mit heute Abend?“

Über so viel Eifer konnte Kurogane nur grinsen, auch wenn er ablehnen musste.

„Nein, heute geht es nicht. Ich will nachher mit Tomoyo ins Tierheim fahren und mit ihr einen Hund aussuchen, mit dem sie sich anfreunden soll.“

Das würde ja hoffentlich nicht so viel Zeit in Anspruch nehmen, immerhin ging es nur um einen Hund! Aber seine Tochter, die bei dem klang ihres Namens und dem Wort „Hund“ hellhörig geworden war, musste sich natürlich gleich einmischen.

„Ich mag aber keine Hunde!“, rief sie trotzig aus und verschränkte die Arme. „Die sind immer so laut und sie beißen!“

Damit versteckte sie sich hinter Fyes langen, schlanken Beinen und lugte dahinter hervor zu ihrem Vater, offensichtlich bereit, jederzeit zu flüchten, sollte er vorhaben sie mitzunehmen.

Mit einem nachsichtigen Lächeln strich der Kindergärtner dem kleinen Mädchen durchs Haar.

„Keine Sorge, Tomo-chan! Hunde, die bellen, beißen nicht!“

Über die Worte musste er versteckt schmunzeln und ohne, dass er etwas dagegen tun konnte, huschten seine klaren, blauen Augen für einen Moment zu Kurogane, blieben an dem markanten Gesicht hängen.

Ja...er war sich sicher. Hunde, die bellten, bissen nicht. Bellen war ein Zeichen von Wachsamkeit. Viel gefährlicher waren die stillen Hunde, die jederzeit, ohne Vorwarnung, zubeißen konnten. Vor denen musste man sich in Acht nehmen. Aber ein bellender Hund...? So einer würde bestimmt Leben ins Haus bringen. Und das war hin und wieder auch ganz wichtig. Nicht unbedingt für ihn, doch wenigstens Chii sollte immer mal erleben dürfen, wie es war zu leben. Sie blieb bei ihm, freiwillig, doch damit hatte sie sich auch einem Leben in Isolation verschrieben. Das war nicht richtig. Sie sollte nicht genauso scheu und unnahbar werden wie er. Das konnte und wollte er diesem lieben Mädchen nicht antun. Also warum nicht mal einen lauten Wauwau mit nach Hause bringen? Er würde schon nicht beißen.

Bestimmt nicht.

„Hey Shaolan-kun, Kuro-rin! Kann ich mich eurem Dankes-Essen anschließen? Ich glaube, das bin ich Kuro-wanwan heute schuldig.“

Tomoyo war natürlich begeistert von der Idee und jauchzte laut auf, hatte das Tierheim und die Hunde schon wieder total vergessen.

„Au ja!“

„Aber ich bin mir nicht sicher, ob genug Platz bei uns ist.“

Dem Jungen schien das peinlich zu sein, aber Fye wäre nicht Fye, wenn er ihn nicht daraus erretten könnte. Und die passende Idee hatte er ja längst. Also legte er ihm strahlend den Arm um die Schultern und gluckste.

„Dann feiern wir einfach bei mir! Was sagt ihr dazu? Die Wohnung ist groß genug. Und Chii freut sich bestimmt über Gäste.“

„Und wer sagt, dass ich ihn dabei haben will?! Ich seh ihn doch auch so schon jeden Tag! Und wenn er sich schon unbedingt für die Sache mit dem Regal bedanken will, dann soll er das tun, indem er mich NICHT zum Essen einladen will!“, platzte Kurogane seine an Shaolan gerichtete Beschwerde heraus. Der Grinsemann war in letzter Zeit seltsam genug, wenn es um ihn ging. Wer weiß, auf was für Gedanken der noch kam, wenn er länger in seiner Nähe blieb... Kuroganes Miene wurde gleich noch eine Spur finsterer.

Shaolan wich eingeschüchtert zwei Schritte zurück und hob abwehrend die Hände.

„Aber Fye-san ist doch ein netter Mensch. Es wird sicher lustig mit ihm. Außerdem ist er ein begnadeter Koch. Viel besser als Sakura-chan oder ich.“

„Und dein süßes Töchterchen freut sich sicher auch, wenn ich noch ein bisschen mit ihr spielen kann“, wandte der Blondschopf ein – und traf damit genau ins Schwarze.

„Jaaaaaaa!“, quiekte die Kleine begeistert auf. „Bitte, Papi! Das wird sooooo toll! Ich kann mit Nii-chan spielen!“

„Das kannst du doch jeden Tag“, wandte Kurogane genervt ein.

„Aber nur bis zum Nachmittag... Und mir wird bestimmt langweilig, wenn ich meine Spielsachen nicht mitnehmen kann und niemand mit mir spielen möchte.“

„Das Mädchen kann doch mit dir spielen“, schlug Kurogane mit einem Wink Richtung Sakura vor.

„Und der arme Shaolan hat den ganzen Abend nichts von seiner Freundin“, wandte Fye ein und wie zur Bestätigung griff der Junge sanft nach Sakuras Hand, die halb hinter ihm stand.

Ja, hatten die sich jetzt gemeinsam gegen ihn verschworen?! Wie sollte er denn dagegen noch ankommen? Das war einfach nur ungerecht...

Da der grummelige Herr Papa sich dazu nicht mehr äußerte, wurden sich Fye und Shaolan schnell einig und schließlich wurde der Donnerstag als Termin für das gemeinsame Essen beschlossen.
 

„Guten Tag. Kann ich Ihnen behilflich sein?“

Kaum dass Kurogane und seine Tochter das kleine, am Rande der Stadt gelegene Tierheim betreten hatten, kam ihnen ein junger Mann entgegen, der die beiden Neuankömmlinge vorbehaltlos und offen begrüßte. Zwar registrierte Kurogane den Namen, der auf dem kleinen Schild an der Jacke stand – er hieß Sumeragi Subaru – aber er kam nicht dazu, etwas zu antworten.

„Nein!“

Ungewohnt frech verschränkte Tomoyo die Arme, was den jungen Tierpfleger zu überraschen schien.

Genervt rollte ihr Vater mit den Augen. So und ähnlich hatte sie sich schon aufgeführt, seit er sie aus dem Kindergarten abgeholt hatte, und es war sowieso nur dem einfühlsamen Zureden ihres blonden Kindergärtners zu verdanken, dass die Kleine ins Auto ihres Vaters gestiegen war.

Was für eine Tortour!

„Ich denke schon“, ignorierte er schlichtweg das Schmollen der Vierjährigen. „Wir wären daran interessiert, so was wie eine Patenschaft für einen Hund zu übernehmen, oder wie auch immer man das nennt.“

„Eine Patenschaft? Sie wollen also regelmäßig mit dem Hund spazieren gehen und ähnliches?“

Normalerweise freute der Tierpfleger sich, wenn Besucher solches Interesse mitbrachten, aber bei diesen beiden hatte er seine Bedenken. Warum brachte der Vater seine Tochter hierher, wenn diese ganz offensichtlich überhaupt keinen Hund wollte? Und der große Schwarzhaarige wirkte einfach nur entnervt, gerade so, als ob er bei einer einzigen falschen Bemerkung in die Luft gehen würde. Das kleine, süße Mädchen hingegen verteilte trotzige Blicke in alle Richtungen und stand stur auf einem Fleck. Und wenn irgendwo weiter hinten im Gebäude ein Bellen erklang, zuckte sie leicht zusammen und rückte unauffällig immer näher an ihren Vater, bis sie schließlich hinter den schwarz bekleideten Beinen verschwand.

Dieser ließ sich von dem sonderbaren, ja schon besorgniserregenden Verhalten nicht aus der Ruhe bringen.

„Ja, genau.“

„Ich will aber nicht!“, quakte es von unten.

Der Tierpfleger hob irritiert die Augenbrauen. Eigentlich kamen hier nur Leute her, die unbedingt einen Hund haben wollten, und es war ungewöhnlich, dass es auf einmal so anders lief.

„Ihre Tochter wirkt nicht sehr begeistert. Darf man fragen, wieso?“

„Ich wüsste nicht, was Sie das angeht.“

Kurogane fauchte natürlich sofort los. Er war heute einfach nicht mehr in der Verfassung, mit irgendjemandem zu diskutieren! Erst die Kinder, dann Fye und immer und immer wieder Tomoyos nervtötendes Gequengel, das reichte ihm locker für den Rest der Woche! Und jetzt kam auch noch dieser Möchtegern-Heini daher und stellte Fragen nach Dingen, die ihn auf den Teufel nicht zu interessieren hatten!

Und um allem noch ein Sahnehäubchen aufzusetzen: „Papa! Lass uns wieder gehen! Bitte! Ich hab Angst!“

Konnte die nicht endlich ihre Klappe halten?!

Das hatte der hochgewachsene Mann heute schon dermaßen oft gehört, dass er inzwischen regelrecht allergisch darauf reagierte. Gerade als er die Kleine anfahren wollte, dass sie endlich still sein sollte – und das wahrscheinlich nicht so freundlich formuliert – redete sein jüngerer Gesprächspartner auch schon weiter.

„Aber ich glaube nicht, dass ich Ihnen unter diesen Umständen einen Hund anvertrauen kann. Immerhin sagt die Kleine ja selbst, dass sie es nicht möchte.“

„Hören Sie...“ Wieso dachte hier niemand an SEINE Nerven?! „Meine Tochter ist vor kurzem von einem Hund angefallen worden, und man riet mir, sie sobald wie möglich wieder mit Hunden in Kontakt zu bringen, damit sie nicht den Rest ihres Lebens Angst vor ihnen hat. Natürlich ist sie darüber nicht begeistert!“

Der junge Mann war schlau genug, nicht mehr zu widersprechen, denn das wäre wohl gesundheitsschädigend gewesen, so wie der grimmige Mann in gerade ansah. Unter dem Blick musste doch die Hölle einfrieren...

„Ach so, ich verstehe. Also dann liegt die Sache natürlich ganz anders. Folgen sie mir doch. Erst vor kurzem hat jemand einen jungen Mischling bei uns abgegeben. Er ist ein ganz lieber, und mag Kinder besonders.“

„Ich will aber nicht!!! Der beißt mich bestimmt!“

„Mein Gott!“ Kurogane sah seine quengelnde Tochter gereizt an und gab ein Knurren von sich. „Der wird dich zum Fressen gern haben, klar.“
 

Jaja...

Kurogane wusste, dass seine „Erziehungsmaßnahmen“ nicht gerade die besten waren, aber er war einfach zu gereizt, um nun auch noch DARAUF Rücksicht zu nehmen. Immerhin hatte er genug damit zu tun, niemanden anzuschreien. Und damit hielt er sich wenigstens halbwegs gut.

Schweigend folgte er nun dem jungen Tierpfleger an einer Reihe von Zwingern vorbei, und Tomoyo klebte förmlich an seinen Beinen, versuchte sich so klein wie möglich zu machen. Mal abgesehen davon, dass sie ihn beim Laufen behinderte...

Irgendwann hatte der gestresste Papa genug und hob sie auf seine Arme, wo die Kleine auch prompt ihr Gesicht gegen seine Schulter drückte und keinen Mucks mehr von sich gab.

Mit einem mitfühlenden Lächeln auf den Lippen blieb ihr Führer schließlich fast am Ende des Ganges vor einem karg eingerichteten Zwinger stehen.

„Das ist der Kleine.“

Vor der alten Hundehütte lag eine Promenadenmischung, nicht sonderlich groß, wahrscheinlich noch nicht ausgewachsen, und blickte treuherzig, wenn auch scheu, zu seinen Besuchern auf. Er war schwarzbraun und seine orangefarbenen Augen blickten sie traurig an.

„Warum ist er hier?“

„Seine früheren Besitzer haben ihn einfach am Zaun angebunden.“ Subaru sah genauso traurig drein wie das Tier. „Wahrscheinlich war er ein Geschenk zu Weihnachten, aber als er zu groß wurde und nicht mehr so niedlich war wie als kleiner Welpe, hat man ihn einfach abgeschoben. Aber das ist natürlich nur eine Vermutung. Er selbst wird es uns nicht erzählen können...“

Da Kurogane schwieg, führte der schwarzhaarige Junge fort.

„Aber er ist ein sehr lieber Hund und hört gut. Außerdem mag er Kinder. Eigentlich mag er alles und jeden. Sogar Katzen, es ist erstaunlich.“

„Heißt der auch irgendwie?“, unterbrach der Ältere den Redeschwall schließlich.

„Nein, sie können ihm einen Namen geben. Es ist ein Rüde.“

„Tomoyo?“

Nur kurz sah das Mädchen zu dem Hund hinunter, ängstlich und unwillig, bevor sie sich wieder zurück an ihren Vater kuschelte.

„Hataki“, murmelte sie in den schwarzen Stoff seiner Jacke, und Kurogane verdrehte die Augen.

„Denk nicht, dass ich meine Meinung ändere, nur weil du ihm einen lächerlichen Namen gibst, Fräulein!“

Sie konnte den Köter doch nicht ernsthaft „Staubwedel“ nennen wollen, oder?

Doch das schwarzhaarige Mädchen murmelte irgendetwas, das nach „Doch“ klang und äußerte sich nicht weiter dazu, sodass ihr Vater es aufgab. Man musste sich ja nicht noch mehr Stress als nötig machen. Wenigstens wehrte sie sich gerade nicht dagegen, dass sie einen Hund ausgesucht hatten.

„Bevor ich Ihnen den Hund anvertraue, müsste ich aber noch Ihre Personalien aufnehmen. Aus Sicherheitsgründen, Sie wissen schon.“

Damit führte Subaru die beiden zu einem kleinen Tisch zurück, holte aus einer Schublade das erforderliche Dokument hervor und überließ dies Kurogane, während er eine Leine holte und diese an Hatakis Halsband befestigte. Der Hund war dabei schwanzwedelnd aufgesprungen und blicke nun ungeduldig zur Tür.

„Ich wünsche Ihnen viel Spaß“, verabschiedete Subaru den hochgewachsenen Mann und seine Tochter, als Formular gegen Hundeleine getauscht wurden und er die beiden zurück nach draußen führte.
 

Kurogane folgte der Promenadenmischung einfach in gesittetem Tempo, denn der Kleine hatte es wider Erwarten auch nicht so eilig, blieb ab und an stehen, um zu schnuppern oder zu ihnen zurückzulaufen. Dann tapste er schwanzwedelnd und hechelnd um seine langen Beine, sodass der Schwarzhaarige zusehen musste, ihn nicht zu treten, und erst, als er den Kopf getätschelt bekommen hatte – wenn auch mit reichlich wenig Euphorie – trottete er wieder davon.

Irgendwie schon ein Lieber...

Aber anfangs traute sich Tomoyo nicht einmal von den Armen ihres Vaters herunter, und auch als er sie schließlich überredet hatte, selbst zu gehen, war sie ganz schnell bei ihm, wenn Hataki sich ihr auch nur näherte. Weniger als zwei Meter Abstand schienen einfach nicht drin zu sein, egal was er auch versuchte. Zumal Kuroganes Geduld nicht die beste war und er schließlich alles nur noch schweigend ertrug.

Ein absoluter Reinfall.

Entmutigend, so etwas!
 

„Wie ist es gelaufen?“

Gereizt knallte Kurogane die geliehene Leine auf den nächstbesten Tisch und so, wie er drein sah, war die Frage eigentlich überflüssig gewesen. Subaru seufzte schwer. Ja, es war wirklich ersichtlich. Die Kleine stand ja auch schon wieder an der Tür und blickte flehend, beinah mit Tränen in den Augen, zu ihrem Vater, wollte anschienend nur noch weg. Er selbst konnte das ja nicht verstehen... Dabei war der kleine Mischling doch so ein Lieber und Süßer.

„Nicht so toll“, mutmaßte er schließlich selbst, weil keine Antwort kam, und Tomoyo bestätigte die Worte mit weinerlicher Stimme.

„Ich mag den nicht!“

„Ach, sei still, Tomoyo“, giftete ihr Vater nun aggressiv und sie zog den Kopf zwischen die Schultern und schniefte.

Der Tierpfleger sah sich gezwungen, hier etwas zu schlichten, und lenkte den großen Mann auf ein anderes Thema.

„Ich würde Ihnen empfehlen, ungefähr drei mal die Woche herzukommen, um mit dem Hund Vertrauen zu schließen. Vielleicht wollen Sie ihn später ja auch einmal ein oder zwei Tage mitnehmen, auch das wäre auch kein Problem.“

„Nichts überstürzen. Im Moment sehe ich schwarz.“

Eigentlich eher rot. Aber Kurogane bemühte sich meisterhaft, nicht in die Luft zu gehen, selbst wenn seine Nerven aufgrund einer nörgelnden, zickigen Tochter und dieses besserwisserischen Möchtegern-Tierheimprofis blank lagen.

„Natürlich dauert es etwas, eine solche Angst zu überwinden.“

„Weiß ich selbst!“

Zumindest glaubte er, das zu wissen. Aber nach dem Desaster, was er heute erleben musste, zweifelte er ernsthaft daran. Wie sollte das nur jemals etwas werden? Dem Starrsinn seiner Tochter war selbst er nicht gewachsen, wie Kurogane sich missmutig eingestehen musste. Und was sollte er schon machen, außer sie dazu zu zwingen, mit dem Hund rauszugehen? Er war kein Psychologe! Er war nicht einmal besonders gut darin nachzuvollziehen, was in einem normalen Kinderkopf los war. Wie sollte er da mit so einem Problemfall umgehen können? Doch wenn ihm dieser Abend eine Erkenntnis beschert hatte, dann die, dass es so nicht bleiben konnte. Die Angst seiner Tochter war schlimmer, als er erwartet hatte. Viel schlimmer.

Wie sollte er das nur schaffen...?
 

TBC...

Vertrauen braucht Zeit

Das neue Kapitel ist endlich da! Tut mir Leid, dass es so fürchterlich spät kommt, aber es kam einiges dazwischen. Vorbereitungen für mein Auslandsjahr, Ann-chans Umzug, Studium, Erkältung... Sprich: Niemand hatte Zeit übrig x_x.

Ich hoffe, ihr könnt uns noch mal verzeihen *verbeug* ^^!
 

Und vielen Dank für über 100 Kommentare! Boah, ihr seid der Wahnsinn! Ich könnte euch alle knuddeln ^^. Auch die Favos! *fast bei 50 sind**freusel* Und vielen lieben Dank an die Teilnehmer vom WB! Da hab ich mich auch sehr gefreut.
 

Aber nun genug gelabert. Viel Spaß beim Lesen!
 

-~*~-
 

Disclaimer: Die Charas gehören (bis auf wenige Ausnahmen) nicht uns, sondern Clamp. Wir wollen kein Geld damit verdienen, sondern nur unterhalten.
 

Erstschreiber des Kapitels: Lady_Ocean

Kapitel: 10/26
 

-~*~-
 

„Toleranz ist der Verdacht, daß der andere Recht hat.“

(Kurt Tucholsky)
 

-~*~-
 

Vertrauen braucht Zeit
 

„Nii-chaaaaaaaan!!!“

Noch bevor der Gerufene Tomoyos Gesicht erblicken konnte, denn es war immer noch hinter dem blauen Gartentor versteckt, wusste er, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Die weinerlich-flehende Stimme seines kleinen Schützlings ließ daran gar keinen Zweifel zu. Auch das übermäßig laute Zuschlagen der Tür des schwarzen BMW und der Gesichtsausdruck des ebenso schwarzhaarigen Mannes sprachen für sich. Er sah aus, als wäre er gezwungen worden, eine ganze Zitrone zu essen.

Dann hatte Tomoyo das Tor endlich aufbekommen und rannte geradewegs auf ihren Kindergärtner zu, versteckte ihr verängstigtes Gesicht in seinen Hosenbeinen.

„Ach du meine Güte, Tomo-chan! Was hat das böse Brummbärchi denn bloß mit dir gemacht?!“, rief er teils alarmiert, teils neckend.

„Versuch nicht immer, alles MIR in die Schuhe zu schieben!“, fauchte es weiter hinten.

Kuro-wanko kam wütend hinterhergestapft. Fye taxierte ihn dabei mit seinem Blick, doch der hochgewachsene Mann machte keine Anstalten, sich genauer zu erklären. Da müsste er wohl noch ein bisschen sticheln.

„Aber was soll die süße, kleine Tomo-chan denn angestellt haben? Dafür ist sie doch vieeeel zu lieb!“

„Das glaubst aber auch nur du! Seit neuestem ist sie eine richtige Hexe. Wart’s nur ab, du wirst das mit Sicherheit auch bald erleben!“, rechtfertigte der Miesepeter sich nun doch.

„Gar nicht wahr...“, mischte sich Tomoyo in Fyes Hemd nuschelnd ein. „Papa will mich ärgern mit diesen bösen Hunden. Er weiß ganz genau, dass ich solche Angst vor ihnen habe, und trotzdem will er mich zwingen, so einen anzufassen! Aber...aber wenn der nun wieder beißt...!“

Ihre kleine Rede wurde von einem lauten Schluchzer unterbrochen. Instinktiv zog Fye das zerbrechliche Mädchen noch ein wenig näher an sich und streichelte ihr beruhigend mit der linken Hand über das samtene schwarze Haar.

„Shhhh, ist ja gut...“

Da drückte der Schuh also. Anscheinend war es gestern Abend alles andere als gut gelaufen.

„Jetzt fang nicht schon wieder damit an! So ein winziger Hund kann dir gar nichts tun und außerdem ist er jetzt meilenweit weg!“, echauffierte sich der Papa, der im Moment so gar nicht wie ein Vater wirkte.

Innerlich seufzte der Blondschopf schwer. Wenn es darum ging, die Probleme von Kindern zu verstehen, stellte der Große sich nach wie vor, gelinde gesagt, blöd an. Da hatte er noch ein ganzes Stück Arbeit vor sich.

„Ach, Kuro-wanwan, jetzt brüll doch nicht wie ein Löwe! Du verschreckst die arme Kleine“, witzelte der Kindergärtner, um die geladene Atmosphäre etwas zu entspannen.

Bei seinem Gesprächspartner ging das jedoch zum einen Ohr rein und zum anderen wieder heraus.

„Ja, du hast gut Reden! Du darfst dir das ja nicht schon seit gestern in einer Tour anhören! Ich WEIß, dass sie Angst vor den Viechern hat, und der Quacksalber im Krankenhaus meinte, ich soll ihr die wieder nehmen, indem ich sie mit Hunden in Kontakt bringe! Aber sie stellt sich so was von quer, sie versucht nicht mal, sich ein bisschen anzustrengen und gegen ihre Angst zu kämpfen, obwohl ich ihr hundertmal gesagt habe, dass ich auf sie aufpasse und ihr nichts passiert!“, sprudelte es aus dem Schwarzhaarigen nur so heraus.

Fye staunte nicht schlecht, so viele Worte hintereinander hörte er sicher zum ersten Mal aus dem Munde von Tomoyos maulfaulem Daddy. Und als er mit seinem Beschwerde-Dauerfeuer fertig war, wirkte seine Mimik bereits ein Stück weniger verkrampft. Wahrscheinlich tat es ihm auch mal gut, sich den Frust von der Seele zu reden. Und so, wie es klangt, hatte das Thema nicht nur gestern Abend, sondern auch heute Morgen bereits wieder für schlechte Stimmung gesorgt. Trotzdem musste Fye seinem Kinder-Analphabeten irgendwie begreiflich machen, dass es so nicht ging. Auch wenn er damit riskierte, dass der gutherzige Kuro-chan dann gleich wieder wie eine Rakete an die Decke ging.

„Du verlangst ein bisschen viel von ihr, Kuro-sama“, versuchte er es ruhig, bemerkte aber sofort, wie die Ader an der Schläfe wieder anschwellte, und sprach deshalb schnell weiter. „Sie ist erst vier und das ist noch sooooooo wenig! Du überschätzt sie. Kinder KÖNNEN in diesem Alter gar nicht anders als wegrennen, wenn sie Angst haben, und weißt du, wo sie hinrennen? Zu ihren Eltern; in dem Fall zu dir. Kannst du dir denn gar nicht, nicht ein klitzekleines bisschen vorstellen, wie sich so ein kleines Kind fühlen muss, wenn ihr einziger Zufluchtsort, der sie vor ihrer Angst beschützen könnte, sie von sich weist? Noch dazu, wenn es eine so tief sitzende Furcht ist, die sie quält?“

An dieser Stelle hielt Fye kurz inne, ließ Kurogane etwas Bedenkzeit, während dessen Augen abschätzend zum Hinterkopf seiner Tochter wanderten. Just in diesem Moment ertönte ein ersticktes Schluchzen und der kleine Körper erbebte für einen Moment, sodass die kurz zuvor noch feuerrot glühenden Augen wehmütig zu flackern begannen.

„Ich weiß ja, dass du es gut meinst, aber Tomo-chan versteht das noch nicht. Nicht auf diese Art“, sprach der Kindergärtner in ruhigem Ton weiter, streichelte unaufhörlich Tomoyos Rücken.

„Fein, und was schlägt der Herr Psychologe dann vor?“, schnappte der Schwarzhaarige beleidigt.

Fye konnte sich ein zartes Grinsen nicht verkneifen ob dieser Wortwahl.

„Ein Psychologe bin ich zwar nicht, aber am wichtigsten ist, dass du ruhig bleibst.“

„Das versuche ich doch schon die ganze Zeit!!!“, wetterte das Pulverfass gleich weiter, fühlte sich augenscheinlich auf den Schlips getreten.

Wie nicht anders zu erwarten, schniefte Tomoyo gleich wieder und zuckte ein wenig zusammen, sodass der Gesichtsausdruck des Schwarzhaarigen gleich wieder ins Verzweifelte umschlug. Wenn der Anlass nicht so ernst gewesen wäre, hätte Fye ihn gern noch länger beobachtet. Nicht nur die vielen Worte, die er heute mit ihm wechseln konnte – so ein vielseitiges Mienenspiel durfte er heute auch zum ersten Mal erleben. Aber Tomoyo ging vor.

„Ich weiß doch, dass du dich bemühst. Und dass es dir nicht leicht fällt“, lenkte er mit schwachem Lächeln ein, nahm seine Hand von Tomoyos Rücken und führte sie zu Kurogane, legte sanft die Fingerspitzen an Kuroganes Oberarm und konnte durch das eng anliegende T-Shirt deutlich die Körperwärme des anderen spüren. Fast schon heiß war es im Gegensatz zu seinen stets kalten Fingern...

„Ich bitte dich nur, nicht aufzugeben. Versuch es weiter, langsam. Nur nichts überstürzen. Und lass dich nicht entmutigen, wenn es noch ein wenig dauert, bis sich erste Erfolge zeigen. Solche Wunden sind tief, sie brauchen Zeit, um zu heilen. Aber irgendwann wird es besser, glaub mir. Und wenn du selbst ebenfalls daran glauben kannst, dann fällt es dir auch leichter, ruhig zu bleiben.“

Kuroganes Gesicht war nun wieder die übliche steinerne Maske, die Fye inzwischen so vertraut war. Ein Teil des Blonden seufzte auf und wünschte sich den Kurogane von gerade eben zurück, der so viel von sich offenbart hatte, doch der vernünftige Teil tröstete sich damit, dass diese Reaktion beim Papa in Spe zumindest zeigte, dass dieser zugehört und verstanden hatte.

„Tze, du stellst dir das alles so einfach vor...“, kam dennoch der erwartete Protest, jedoch fehlte ihm der Schwung.

Ja, er nahm seine Worte ernst. Und das war bei Kuro-rin schon fast so was wie ein Kompliment!

„Also, wollt ihr euren Streit nicht endlich vergessen und euch wieder vertragen?“, schlug Fye vor, doch Tomoyo schüttelte bestimmt den Kopf.

„Papa will mir trotzdem nicht zuhören! Heute Abend holt er den schrecklichen Hund schon wieder ab...“, jammerte sie kleinlaut.

Ein Wink mit dem Zaunpfahl. Vier Jahre und schon stellte sie Bedingungen auf und wollte verhandeln! Zu putzig!

Ein Blick auf ihren großen Vater zeigte Fye schnell, dass dieser den Wink auch verstanden hatte, aber das bei weitem nicht so spaßig sah. Schon wieder zogen dunkle Schatten über das angespannte Gesicht...

Um die Situation nicht gleich wieder eskalieren zu lassen, tat Fye etwas, was er normalerweise sehr selten machte, bei Kurogane aber seltsamerweise schon zum zweiten Mal innerhalb der letzten Tage: Er sah seinem Gegenüber direkt ins Gesicht, in die Augen, fing seinen Blick ein. Als der Schwarzhaarige, etwas überrumpelt, ihm seine Aufmerksamkeit schenkte, schüttelte der Blondschopf sacht, aber bestimmt den Kopf, ließ ihn dabei nicht aus den Augen. In dieser knappen Geste lag etwas Warnendes und der andere verstand die Botschaft. Noch einen Moment konnte Fye beobachten, wie er mit sich rang, dann wurde sein Gesichtsausdruck wieder weicher und eine große, gebräunte Hand legte sich sanft auf den schwarzen Hinterkopf des kleinen Mädchens, bedeckte ihn fast vollständig und fuhr sanft darüber.

Hatte Fye nicht gerade etwas Rötliches auf der Hand bemerkt? Doch jetzt war sie schon wieder weg, Richtung Ohr gewandert, wo sie hinter der schwarzen Mähne verschwunden war. Was war da wohl?

„Es tut mir Leid, Kleines. Ich habe schon wieder überreagiert und dich einfach angeschrieen. Glaub mir, es ist besser für dich, wenn du deine Angst überwindest. Irgendwann wirst du das verstehen. Aber ich verspreche dir, dass ich dich nicht mehr so sehr drängen werde, wenn wir in Zukunft mit dem Hund spazieren gehen, okay?“

Er seufzte.

„Ich mute dir immer zu viel zu. Ich weiß, ich bin ein schlechter Vater...“

„Nein, bist du nicht“, kam jetzt endlich eine leise, wenn auch immer noch zögerliche Reaktion von dem kleinen Mädchen.

Schüchtern drehte sie ihr Gesicht ein wenig, sodass sie ihrem Papa wieder in die Augen blicken konnte.

„Du bist kein schlechter Papa. Ich hab dich sehr lieb! Aber...aber ich hab solche Angst vor dem Hund. Ich kann nicht...!“

Ihre Stimme erstickte wieder. Diesmal war es Kurogane, der sie mit einem leisen „Shhhhhh“ tröstete und in seine Arme zog, wobei Tomoyo bereitwillig den bisher so fest umklammerten Oberkörper ihres Kindergärtners losließ und sie stattdessen um den Oberkörper ihres Vaters schlang, sich fest an ihn kuschelte.

„Ich hab verstanden. Das ist viel schwerer für dich, als ich dachte. Ich zwing dich nicht mehr, in der Nähe von diesem Hund zu bleiben. Aber wir gehen trotzdem immer mal mit ihm raus, okay?“, schlug Kurogane nun seinerseits einen Kompromiss für seine Tochter vor.

Einen Moment lang schwieg sie, schien zu überlegen, ob sie annehmen oder ablehnen sollte, doch letztlich gab sie nach und nickte schwach gegen die Brust ihres Vaters.

„Danke, Kleines. Du bist ja doch ganz schön mutig“, flüsterte er mit einem leichten Lächeln.

Als Kurogane seine Tochter sanft streichelte, fiel Fye auf, dass er dabei nur seine rechte Hand benutzte, seine linke verharrte verdächtig ruhig am selben Fleck. Misstrauisch beäugte der Blonde das genauer. War die Hand nicht ein wenig geschwollen? Und zwischen Daumen und Zeigefinger konnte er an der Innenseite eine leichte Rötung erkennen.

„Was ist denn mit deiner Hand, Kuro-chii?“, fragte er betont beiläufig.

„Nichts, wieso?“, war die ebenso betont beiläufige Antwort, doch im gleichen Moment verschwand besagte Hand schnell hinter Tomoyos schwarzen Haaren.

Ohne auf dieses Spiel einzugehen, griff Fye entschlossen nach dem Handgelenk und zog die Hand wieder aus dem Haar heraus, drehte sie zu sich, sodass er die Handfläche sehen konnte.

Und hätte sie vor Schreck beinah wieder losgelassen.

Das Stückchen Röte, was er an der Seite gerade eben noch gesehen hatte, war nur ein Vorgeschmack dessen, was sich über die halbe Handfläche ausstreckte. Eine puterrote, geschwollene Rötung mit einer ziemlich großen punktförmigen Wunde auf Höhe des Daumens, die eine ziemlich ungesunde bläulich-gelblich-rote Färbung angenommen hatte, blickte ihm entgegen.

„Meine Güte...“, hauchte Fye fassungslos und Kurogane nutzte den Moment seines Schocks, um die Hand aus dem gelockerten Griff augenblicklich zurückzuziehen.

Doch natürlich war der Aufruhr auch der kleinen Tomoyo nicht entgangen und sie wollte nun genauso rigoros wissen, was ihr Vater da versteckte.

„Papa, was hast du denn gemacht?“, fragte sie verängstigt, während sie versuchte, mit ganzem Körpereinsatz den an Rücken gepressten Arm hervorzuziehen.

Fyes Schockmoment währte nicht lange, sodass er der Schwarzhaarigen sofort zu Hilfe eilte und sein unfreiwilliger Patient schließlich entnervt nachgab, als er aufgrund des ganzen Gezerres schließlich das Gleichgewicht zu verlieren drohte. Als er den Blick auf die Handfläche geschlagen wieder freigab, zog auch Tomoyo scharf die Luft ein und trat vor Schreck einen Schritt zurück.

„Papa“, hauchte sie fassungslos, „das sieht furchtbar aus! Du musst ganz schnell zum Arzt!“

„Nix da! Diese Quacksalber können mich mal!“, kam die patzige Antwort.

Glücklicherweise war Tomoyo noch viel zu verängstigt, um den gereizten Tonfall wahrzunehmen, bemerkte Fye beruhigt. Sie sollten nicht schon wieder streiten. Doch Tomo-chan hatte schon Recht. Die Wunde sah wirklich schlimm aus. Und sie schien noch frisch zu sein.

„Wie ist das passiert?“, wollte er daher wissen.

„Ist doch unwichtig“, wich der Schwarzhaarige aus.

Doch Fye war nicht dumm. Er sagte nur normalerweise nicht alles, was er wusste. In diesem Fall lag es eigentlich klar auf der Hand. Es sah aus, als hätte er sich etwas Großes, Spitzes mitten durch die Handfläche gerammt, wie bei einem Handwerksunfall. Da Kuroganes Erscheinung jedoch immer makellos war, ging er nicht davon aus, dass sein Job irgendetwas mit dem Bauhandwerk zu tun hatte. Er war gepflegt, roch immer gut...

Jedenfalls musste es außerhalb seiner Arbeit passiert sein. Und wo hatte er in letzter Zeit herumgezimmert? Bei ihm, im Kindergarten. Gestern erst. Mit stapelweise Holzbrettern, die teilweise ganz schön rau gewesen waren.

„Du hast dich verletzt, als du gestern das Regal für uns zusammengebaut hast“, fasste er seine Gedanken schließlich in Worte.

„Wirklich?“, japste Tomoyo sogleich erschrocken. „Und wir haben es gar nicht mitbekommen...!“

„Natürlich nicht! Wegen so einer Lappalie fange ich ja auch nicht an zu jammern!“

„Trotzdem könnte diese...Lappalie, wie du sie so schön nennst, bald ein ernstes Problem sein. Sieht aus, als wäre es schon ein bisschen entzündet. Du hast es bestimmt nicht desinfiziert, was?“, hakte Fye nach.

„Übertreib es nicht! Das geht auch so weg.“

„Von wegen! Das sieht doch ein Blinder, dass da was gemacht werden muss!“

Ohne weitere Widerworte zu dulden, zog Fye den Verletzten am Handgelenk mit nach drinnen.

„Kannst du meinem Papa helfen, Nii-chan?“, fragte Tomoyo mit tellergroßen Augen.

Sie sah aus, als sähe sie in ihm die letzte Hoffnung. Der Blondschopf lächelte die Kleine aufmunternd an.

„Na klar. Alles halb so wild!“

Damit war sie beruhigt und huschte nun schnell auf die andere Seite der beiden Erwachsenen, wo sie die noch freie Hand ihres Vaters zu fassen bekam. Dieser schenkte seinem niedlichen Töchterchen eines dieser warmen Lächeln, die Fye an ihm so mochte, und so drehte er sich schnell weg von dem friedlichen Bild, damit Kurogane das verschmitzte Lächeln nicht bemerkte, das sich auf sein Gesicht gestohlen hatte.

Im nächsten Moment stand die kleine Gruppe auch schon vor den Erste-Hilfe-Schränken, einer Reihe Hängeschränke in der Küche, an die die kleinen Kinder nicht herankamen. Nachdem Fye seinen Patienten auf einen Stuhl gedrückt hatte, suchte er Desinfektionsmittel, Wattepads, ein Stück Binde und Pflasterstreifen heraus, stellte dann alles auf dem Küchentisch ab. Tomoyo hatte sich keinen Zentimeter von ihrem Vater wegbewegt und wartete nun neugierig darauf zu sehen, was Fye tun würde.

Dieser öffnete zuerst etwas umständlich, weil sein rechter Arm immer noch in einer Schlinge ruhte, die Flasche mit dem Desinfektionsmittel und gab dann genauso umständlich etwas davon auf eins der Pads.

„Achtung, das ziept jetzt etwas“, warnte er den Schwarzhaarigen vor, bevor er sich der Wunde näherte.

„Sehe ich aus wie einer der Hosenscheißer?“, kam die wie immer leicht bissige Antwort.

Fye überging die Antwort mit einem sanften Lächeln und begann, die Wunde sauber zu tupfen. Und tatsächlich verzog der große Mann nicht eine Miene, wie er aus dem Augenwinkel beobachten konnte.

Anschließend schnitt er ein Stück von der Binde ab und faltete es ein wenig zusammen, bis es nur noch knapp zwei mal zwei Zentimeter breit war, und versuchte sich dann daran, den Klebestreifen zu lösen. Da er hieran mit seiner einen Hand jedoch vollständig scheiterte, erbarmte Kurogane sich schließlich mit einem entnervten Stöhnen, nahm ihm die Rolle aus der Hand und zog ein Stück Streifen ab.

„Wie lang?“, kam es knapp.

„Ein kleines Stück noch. – Ja, so ist’s prima!“

Und im nächsten Moment wurde das Stück an der entsprechenden Länge mit der Schere durchtrennt. Dann platzierte Fye das Stück Binde in der Mitte des Klebfeldes und befestigte sein selbstgebautes Pflaster auf der Wunde an Kuroganes linker Hand.

Anstatt nun aber ein Stück zurückzutreten, um den anderen Mann aufstehen zu lassen, verharrte er noch etwas in dieser Position, ließ seine Fingerspitzen sanft auf der großen Handfläche ruhen. Als Kurogane in einiger Verwirrung fragend den Blick hob, begegnete Fye ihm bereits mit einem seiner antrainierten Lächeln und antwortete auf die stumme Frage: „Lass es bitte noch ein wenig dran, okay? Die Verletzung ist noch frisch und kann sich leicht öffnen und dann kommt nur neuer Dreck rein. So heilt es schneller.“

„Ja, ja, schon gut“, antwortete der Größere etwas entnervt.

Beide zogen gleichzeitig ihre Hände weg.

Fye trat noch einige Schritte zurück, damit Kurogane problemlos aufstehen konnte. Der große Mann wandte sich nun ohne Umschweife wieder seiner Tochter zu.

„Wird Zeit, dass ich mich wieder losmache, Kleines.“

Sie nickte.

„Ich weiß.“

Dann tappste sie flink auf ihn zu und umarmte ihn erneut. Inzwischen war Kurogane sichtlich daran gewöhnt, erwartete es sogar, denn noch bevor das kleine Mädchen ihn erreicht hatte, hatte er seine Arme schon ausgestreckt und war in die Hocke gegangen, um mit ihr auf einer Höhe sein zu können. Sanft drückte er sie an sich und fuhr ihr noch einmal durchs Haar.

„Dann mach dir noch einen schönen Tag, okay? Ich hol dich heute ein wenig früher ab.“

Für einen Moment schien Tomoyo schwer zu schlucken, doch dann fand sie ihre Stimme wieder und antwortete.

„Okay. Aber ich muss den Hund nicht anfassen, oder?“

„Nein, musst du nicht.“

„Danke, Papa.“

Dann lösten sie sich voneinander und der Große trat den Rückweg an, während sein kleines Töchterchen an Fyes Seite zurückblieb.
 

Der Tag verlief angenehm ruhig. Vor dem Mittagschlaf hatte Fye seinen Schützlingen die Geschichte von Robin Hood vorgelesen, die sich Ryu mit Feuereifer gewünscht hatte, und nach dem Schlafen durften die Kinder sich draußen beschäftigen, wobei die Jungen sogleich die Klettergerüste gestürmt hatten, während die Mädchen sich um Mokona kümmern wollten.

Inzwischen waren alle wieder drinnen und Fye erklärte den Kindern gerade, dass ein Spielzeugregal nicht nur dazu da war, alles Spielzeug herauszuholen, sondern es anschließend auch wieder hineinzulegen. Ryu wollte das allerdings so gar nicht einsehen.

„Aber wir spielen doch immer damit! Warum müssen wir uns dann so viel Arbeit machen, um es wegzuräumen?“

„Weil sonst jemand drüberfallen und sich weh tun kann“, erklärte Fye geduldig. „Nimm Tomo-chan zum Beispiel.“

„Warum ich? Ich kann schon laufen!“, fragte die Kleine empört dazwischen.

„Ich weiß“, antwortete Fye und wuschelte ihr grinsend durchs Haar, sodass sie anfing zu kichern und sich unter der Hand wegduckte, die zerzausten Strähnen wieder aus dem Gesicht sammelnd.

Der Kindergärtner wollte ja eigentlich auch auf etwas anderes hinaus.

„Es könnte ja auch Yuzu-chan oder Arashi-chan drüberstolpern-“

„Wenn meiner holden Maid deiner Unachtsamkeit wegen ein Leid geschieht, Ryu-kun, dann wird mein Zorn dich treffen!“, unterbrach nun Sorata die Erklärungen seines Kindergärtners und plusterte sich vor dem etwas größeren Braunhaarigen auf.

Dieser nahm die Herausforderung ohne Umschweife an und postierte sich genauso stolz vor Sorata.

„Wenn Arashi-chan nicht gucken kann, ist das nicht meine Schuld!“, verteidigte er sich.

Schnell ging Fye dazwischen und schob die beiden sanft auseinander, bevor aus dem kleinen Geplänkel ein richtiger Streit entstehen konnte.

„Jungs, das war doch nur ein Beispiel!“, lachte er. „Kein Grund, gleich den Teufel an die Wand zu malen. Jedenfalls – falls also Tomo-chan über dein Spielzeug fallen sollte, Ryu-kun, weil du es nicht weggeräumt hast, was meinst du denn, wie ihr Vater das finden wird?“

Endlich war er an dem Punkt angekommen, auf den er ursprünglich hinaus gewollt hatte! Denn auch wenn der kleine Kämpfer es niemals zugeben würde, inzwischen hatte er doch Respekt vor dem hochgewachsenen Mann mit dem mürrischen Blick.

„Tze“, machte Ryu dennoch mit einer abwertenden Geste. „Mir doch egal.“

Damit drehte er sich demonstrativ weg und verschränkte die Arme vor der Brust. Doch Fye hatte noch ein weiteres Argument in petto.

„Und wenn Tomo-chan deinetwegen anfängt zu weinen, weil sie sich verletzt hat? Ist dir das auch egal?“

Diesmal zögerte der Braunhaarige. Fye wusste, dass er ihren neuesten Kindergarten-Zuwachs ziemlich gern hatte, auch wenn er das niemals offen zugeben würde. Trotzdem, allein der kurze, verstohlene Blick des Kleinen zu dem schwarzhaarigen Mädchen hinüber zeigte ihm, dass er Recht hatte. Ryu traute sich nicht, in ihrer Gegenwart so offen etwas Schlechtes gegen sie zu sagen, weil er wusste, dass er sie damit verletzen würde. Stattdessen versuchte es nun mit einer ausweichenden Gegenfrage.

„Aber Tomo-chan fällt nicht über die Spielsachen, das hat sie selbst gesagt! Stimmt’s, Tomo-chan?“

Zur Bestätigung nickte die Angesprochene eifrig. Fye seufzte und schüttelte vergnügt den Kopf. Der Kleine war ein Querkopf durch und durch. Und dennoch so niedlich in allem, was er tat.

„Es fällt natürlich niemand mit Absicht über das Spielzeug“, räumte Fye ein. „Doch passieren kann es früher oder später jedem einmal. Und du, Ryu-kun, bist doch der Älteste in unserer Gruppe. Das heißt, du hast eine besonders wichtige Verantwortung.“

„... Und die wäre?“, fragte er zögerlich zurück.

Fye lächelte ihn stolz an. Der Junge klebte förmlich an seinen Lippen. Endlich hatte er angebissen. Wenn es etwas gab, das seiner Sturheit Konkurrenz machen konnte, dann war es sein Beschützerinstinkt den Jüngeren gegenüber. Ryus Vater war Polizist und der Kleine vergötterte ihn dafür, in seinen Augen gab es nichts Größeres, als in den Kampf zu ziehen und die Welt vor fiesen Bösewichten zu retten. Er tat wirklich alles, um diesem Traum Stück für Stück näher zu kommen und irgendwann in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, den diese Einstellung seines Sohnes unheimlich stolz machte.

„Du musst ein bisschen aufpassen, dass den anderen nichts passiert. Zumindest nicht deinetwegen. Und wenn wirklich mal jemand über dein Spielzeug stolpert...“

Fye ließ den Satz offen, zog ein mehr als wehleidiges Gesicht und sah den kleinen Kämpfer flehend an. Dieser schluckte schwer und wusste auf die starke Melodramatik keine passende Widerrede. Die Argumente zeigten endlich Wirkung. Schließlich seufzte der kleine Zauskopf und sah betreten zur Seite.

„Na schön...“

Das Gesicht des Blonden hellte sich schlagartig auf und strahlte, als wollte es der Sonne Konkurrenz machen. Stolz legte er dem Kleinen die linke Hand auf eine Schulter.

„Das ist klasse, Ryu-kun! Ich wusste, du würdest das verstehen. Du bist ja schließlich schon ein großer Junge.“

Der Kleine grinste bei diesem Lob über das ganze Gesicht und machte sich nun endlich daran, auch sein Spielzeug ins Regal zurückzuräumen.

„Das ist unfair! Wir haben viel besser auf dich gehört als Ryu-kun, Nii-chan, aber uns lobst du nicht so“, beschwerte sich Kamui.

Sein Gesicht zeigte deutlich, dass er mit Ryus Bevorzugung nicht einverstanden war. Auch ihm schenkte Fye ein warmes Lächeln und strich ihm sanft durchs Haar.

„Ich bin auf euch alle sehr stolz. Jederzeit. Denn ihr seid alle ganz wunderbare Kinder. Wie wäre es, wenn ich euch deshalb...ein Eis spendiere?“

Auf diese Frage folgte ein ohrenbetäubender Jubel, gemischt mit euphorisch gerufenem „Ja, ja!“, das von allen Seiten zu kommen schien. Genau wie die Kinder, die jetzt auf ihn zurannten, um ihm stürmisch um den Hals zu fallen.

„Woha! V-vorsicht, mein Arm!“, lachte der Blonde, bemüht, das Gleichgewicht nicht zu verlieren, während er versuchte, die Umarmungen der Kinder zu erwidern und gleichzeitig seinen rechten Arm halbwegs zu schützen. Ganz so sehr wie vor zwei Tagen schmerzte es zum Glück schon nicht mehr.

Über das Geschrei hinweg wandte Fye sich an Sakura, die die Szene mit einem versteckten Kichern beobachtete. Als sie seinen Blick bemerkte, bat er sie, eine Packung Eis aus der Kaufhalle zu holen, und das Mädchen kam der Aufforderung sofort nach.
 

Fünfzehn Minuten später – Sakura hatte sich mit ihrem Fahrrad auf den Weg gemacht – war sie mit zwei Packungen Vanille-Erdbeer-Schokoeis wieder da und jedes Kind bekam von ihr ein paar Löffel von seinem Lieblingseis in ein Schälchen. Als kurz darauf alle begeistert am Essen waren, fiel Fye auf, dass ein einziges Kind diese Begeisterung nicht so recht zu teilen schien.

Still und lustlos kratzte Tomoyo ein wenig an dem bereits angeschmolzenen Erdbeereis herum und führte kaum einen Löffel an den Mund.

„Was hast du denn, Tomo-chan?“, fragte der Kindergärtner besorgt, als er hinter ihrem Stuhl angekommen war und ihr Trost spendend seine Hand auf die Schulter legte.

„Es ist schon Nachmittag...“, gab die Kleine flüsternd zur Antwort.

Fye verstand, wo ihr Problem lag. Sein Blick huschte kurz zur großen Uhr über der Tür, die ihm anzeigte, dass es bereits halb vier durch war. Es würde nicht mehr lange dauern, bis ihr Papa sie abholen würde, was an sich kein Grund zum Trübsal blasen war, aber er wusste ja, was die beiden danach noch vorhatten und wie viel Angst Tomoyo davor hatte. Die Kleine tat ihm unheimlich Leid. Selbst wenn ihr Vater sich zusammenreißen und nicht aus der Haut fahren sollte, war es dennoch eine enorme Herausforderung an ein gerade mal vier Jahre altes Mädchen. Aber vielleicht...vielleicht konnte er ja helfen.

„Hm...was hältst du davon, wenn ich euch heute Abend beim Spazierengehen begleite?“

„Aber Nii-chan!“, fuhr die Kleine erschrocken herum. „Das ist doch gefährlich!“

„Ach was! Es ist doch nur ein kleiner Hund, wenn ich deinen Papa richtig verstanden habe. Der kann uns nix tun. Und außerdem haben wir doch deinen starken Papa dabei, der uns beschützt, wenn der Hund tatsächlich etwas Böses machen sollte.“

Tomoyo schwieg nachdenklich.

„Dein Papa hat es dir doch versprochen, dass er dich beschützt, stimmt’s?“, hakte Fye nach.

Tomoyo nickte zögerlich.

„Na siehst du! Kein Grund zur Sorge! Und wenn ich auch dabei bin, dann sind wir schon zu dritt! Was soll dann noch schief gehen? Bei einem einzigen kleinen Hündchen?“, witzelte er lachend daher.

Seine Unbeschwertheit wirkte in diesem Moment so echt, so natürlich, dass sie selbst Tomoyos Ängste ein wenig beiseite schieben konnte. Ein wenig zuversichtlicher lächelte sie und nickte dankbar.

„Ja, wenn du auch dabei bist, muss ich nicht mehr so viel Angst haben. Papa und du, ihr seid beide stark und beschützt mich, stimmt’s?“

„Ganz genau!“, pflichtete Fye ihr bei, hundertprozentig von seinen Worten überzeugt.

Irgendwie wollte das breite Grinsen gar nicht mehr aus seinem Gesicht verschwinden. Er war gespannt, wie der Grummelpapa sich bei seiner Aufgabe mit dem Hund anstellte. Wie er dabei mit seiner Tochter umging. Und...ja. Und einfach so. Er wusste nicht genau, worauf er sich noch freute, aber irgendein Grund war da noch, auch wenn er ihn nicht richtig fassen konnte. Es war einfach so ein Gefühl, dass das ein netter Abend werden würde. Auch wenn er sich dafür draußen zeigen musste. Seltsamerweise machte ihm der Gedanke diesmal gar keine Angst. Ob es daran lag, dass der Schwarzhaarige bei ihm sein würde? Er strahlte immer so eine unbezwingbare Kraft aus, die selbst der schlimmste Sturm nicht brechen konnte. Ja, bei Kurogane hatte er einfach das Gefühl, sicher zu sein.
 

Der Erste, der an diesem Nachmittag abgeholt wurde, war Sorata. Seine Mutter kam schon kurz nach dem Eisessen. Etwas später kam auch Yuzurihas Mutter, die von ihrer Tochter wie immer sehnsüchtig erwartet wurde. Yuzu-chan hatte auch einen Hund, fiel Fye dabei auf. Einen ziemlich großen sogar. Inuki hieß er. Wahrscheinlich würden sie ihn gleich von zu Hause abholen und auch erst einmal eine Runde spazieren gehen.

Fye lächelte bei dem Gedanken. Dasselbe hatte er heute auch noch vor.

Kurz vor vier Uhr stand dann schon Kurogane vor der Tür und wurde überschwänglich von seiner Tochter begrüßt. An der nach oben gehenden Augenbraue konnte der Kindergärtner erkennen, dass dieser nicht mit einer so überschwänglichen Reaktion gerechnet hatte. Doch er wurde auch nicht lange im Unklaren gelassen, denn Tomoyo sprudelte den Grund ihrer Freude sofort heraus.

„Weißt du was, Papi? Nii-chan möchte uns beim Spazierengehen heute begleiten!“

Aufgeregt hüpfte sie vor ihrem Vater auf und ab, ließ seine große Hand dabei nicht los. Im Gesicht des Schwarzhaarigen zeigte sich das ganze Gegenteil von Tomoyos Reaktion. Er sah aus, als wäre er gerade einem schlechten Scherz zum Opfer gefallen. Hinter vorgehaltener Hand grinsend trat Fye auf den großen Mann zu.

„Ich sehe, du bist begeistert von meiner grandiosen Idee, Kuro-pon“, neckte er den anderen.

„So begeistert wie von einem Kopfschuss.“

„Na, na, Kuro-mu, nicht so gefährliche Vergleiche! Es sind Kinder anwesend!“, ermahnte er ihn mit gespielt empörten Tonfall.

„Und was bringt euch auf die irrwitzige Idee, dass ich dem auch nur im Entferntesten zustimmen könnte?“, fragte der Schwarzhaarige kritisch, seine Tochter sanft in den Armen haltend, bereit loszustürmen, falls es erforderlich werden sollte.

„Ganz einfach!“ Stolz baute Fye sich vor dem vor ihm hockenden Mann auf, um ihm seine narrensichere Erklärung zu liefern. „Tomo-chan hat Angst vor Hunden. Weswegen, das wissen wir ja beide. Und ich war dabei, als sie dieses schlimme Erlebnis hatte, und habe davon sogar noch mehr Schaden genommen als sie. Wer könnte ihr also am ehesten deutlich machen, dass sie nicht vor allen Hunden Angst zu haben braucht, na?“, flötete er mit einem gewinnenden Augenaufschlag.

Kurogane sah jedoch wie immer eher abgeschreckt als angetan von dem flapsigen Verhalten aus und so setzte Fye eine Spur ernsthafter nach: „Ich denke, in der Sache wird sie mir eher Glauben schenken können als dir, weil sie denkt, dass es mir so ähnlich gehen muss wie ihr. Wenn ich ihr nun das Gegenteil beweisen kann, könnten wir viel schneller ans Ziel kommen, als wenn du alles allein bewältigen müsstest.“

Der Schwarzhaarige sah nach wie vor nicht begeistert aus. Ein Hauch von Resignation lag in seinen Augen, als er den Kindergärtner abschätzend musterte. Er wusste, dass das ein ganz gewaltiger Punkt war, der für Fyes Vorhaben sprach. Dennoch kam keine Reaktion. Irgendwo in seinem Innern schmerzte etwas, als er realisierte, wie viel Überwindung den hochgewachsenen Mann diese Kleinigkeit zu kosten schien. Doch Fye wäre nicht Fye, wenn er diese Veränderung seiner Stimmung auch nur für einen Bruchteil nach außen gelassen hätte.

Schließlich war es Tomoyo, die mit einem leisen, flehenden „Bitte, Papa...“ die Entscheidung herbeiführte. Die ausdruckslosen, roten Augen ließen nun von ihm ab und wanderten zu dem kleinen Mädchen in seinen Armen, musterten es besorgt. Der Schwarzhaarige stieß einen kleinen Seufzer aus und nickte resigniert.

„Vielleicht wäre es wirklich das Beste...“, nuschelte er mehr zu sich selbst.

Die kleinen Ärmchen schlossen sich noch ein Stück enger um den großen Oberkörper und ein erleichtertes „Danke, Papa“ war zu hören.

Kurzentschlossen nahm der große Mann sein Töchterchen auf die Arme und stand dann wieder auf, blickte sich kritisch im Raum um.

„Und wie lange soll ich dann bitteschön noch warten, bis du hier fertig bist?“

Fye sah noch einmal auf die Uhr. Es war kurz nach vier. Um die Zeit wurden die meisten Kinder von ihren Eltern abgeholt und tatsächlich dauere es auch nur noch Minuten, bis auch Kamui und Subaru von ihrem Vater abgeholt wurden. Inzwischen hatten Sakura und Fye begonnen, in Küche und Bad den Boden zu wischen, während Arashi und Tomoyo die letzten Spielsachen an ihre Plätze zurückstellten und die Schälchen vom Eisessen abtrockneten.

Als Arashis Mutter eine viertel Stunde später kam, war bereits alles fertig, Sakura verabschiedete sich und wünschte einen schönen Abend und Fye fuhr zusammen mit Kurogane und Tomoyo zum Tierheim.
 

„Ach, der ist ja goldig!“, frohlockte der Blondschopf, als er den Hund das erste Mal sah. „Richtig putzig! Findest du nicht auch, Tomo-chan?“

„Nein!“, war die patzige Antwort, während sie sich zerknirscht hinter die Beine ihres Kindergärtners schlich, als ihr Vater mit dem schwarzen Mischling an der Leine aus der Anlage kam. Der Schwarzhaarige verdrehte bei der Reaktion seiner Tochter gleich die Augen.

Lachend wuschelte Fye dem kleinen Mädchen mit seiner linken Hand durchs Haar.

„Du wirst ihn noch lieben lernen, glaub mir! So einem niedlichen Fratz widersteht keiner lange.“

Ein Murren war die Antwort, bevor Tomoyo sich unter der Hand wegduckte und noch ein paar Schritte zurückwich.

Fye sah zurück zu Kurogane, der das Verhalten seiner Tochter mit besorgtem Gesicht verfolgte. Als der Schwarzhaarige kurz zu ihm aufsah, schenkte er ihm ein aufmunterndes Nicken, dann machten sie sich schweigend auf den Weg.

Eine ganze Weile passierte gar nichts, kein Geräusch durchbrach das monotone Rascheln der Schritte. Kurogane hielt die Leine, der Hund tippelte rechts von ihm über die Wiese, soweit es seine Einschränkung zuließ, Fye schlenderte links neben ihm her und Tomoyo schlich ihnen mit einigem Abstand hinterher.

Mit regelmäßigen Seitenblicken versuchte der Blondschopf zu ergründen, was in seinem Begleiter vorgehen mochte, doch dieser zeigte unentwegt denselben verbissenen Gesichtsausdruck. Na wenigstens verlor er nicht die Nerven und zwang seine Tochter zu Dingen, für die sie noch nicht bereit war. Das war schon mal gut.

Gedankenverloren huschten seine Augen weiter über den anderen Mann. Ja, er sah wirklich stets gepflegt aus. Frisch gewaschene, samtig glänzende Haare, makelloses schwarzes T-Shirt, makellose schwarze Hose. Wie immer halt, aber immer ordentlich.

Zwischendurch bekam Fye mit, wie Kurogane seine linke Hand hob und umdrehte, um an der schweren, silbernen Uhr die Zeit abzulesen. Irgendwie trug er die Uhr immer falsch herum am Handgelenk. Dabei fiel ihm jedoch etwas auf, was ihm ein leichtes Lächeln aufs Gesicht zauberte: Das Pflaster, welches er heute morgen auf die Wunde von Kuroganes kleinem Arbeitsunfall geklebt hatte, war noch immer an Ort und Stelle.

Er hatte nicht vor, etwas dazu zu sagen, denn so, wie er den schwarzhaarigen Grummel kannte, würde dieser dann schon aus reinem Trotz das Pflaster abnehmen. Doch der Blick war ihm wohl nicht entgangen, denn eine Antwort auf die stumme Frage folgte dennoch.

„Meinst du, ich hab Lust, mir deine Litanei anhören zu dürfen, wenn du mitkriegst, dass ich das dämliche Pflaster abgemacht habe?“

Hilfe, war Kuro-pon mal wieder aufmerksam! Da wollte Fye lieber nicht wissen, wie viele von den verstohlenen Seitenblicken er bemerkt hatte. Um möglichst effektiv vom Thema abzulenken, begann er, vergnügt vornweg zu tänzeln und blieb schließlich in der Nähe des Hundes stehen.

„Wie hieß er doch gleich? Hataki?“

Kurogane nickte säuerlich beim Klang dieses Namens.

„Okay, dann komm doch mal her, Hataki!“, rief er dem kleinen Mischling über den letzten Meter zu, während er an Ort und Stelle in die Hocke ging.

Ein schockiertes Aufkeuchen war zu hören, als Tomoyo fix zu ihrem Papa tappste und sich an dessen Beine klammerte.

„Nicht, Nii-chan...!“, flehte sie atemlos.

„Keine Sorge. Er ist wirklich ganz lieb, Tomo-chan“, versuchter, sie mit sanfter Stimme zu beruhigen. Dann wandte er sich wieder an den kleinen Hund, der ihn interessiert musterte.

„Na komm schon her, Kleiner“, wiederholte er sanft und streckte einladend seine linke Hand aus.

Zuerst schnupperte der Kleine vorsichtig, dann trat er einen Schritt näher, sodass Fye ihn hinter dem Ohr kraulen konnte. Hataki schien es zu gefallen, denn er reckte sich freudig der Hand entgegen und wedelte leicht mit dem Schwanz. Als der Arm wieder weggezogen wurde, lief er freudig an den Blonden heran, hoffte offensichtlich auf mehr Liebkosungen. Anstatt ihn aber erneut zu kraulen, schob Fye seinen linken Arm nun vorsichtig unter den Körper des Tieres und nahm ihn hoch, stützte ihn ein wenig mit der rechten Hand ab, ohne diese dabei zu belasten. Als der Hund sicher in seinem Arm ruhte, sah er mit einem sanften Lächeln zurück zu Vater und Tochter. Der große Mann musterte ihn mit einiger Erwartung, während die Kleine ihn noch immer mit vor Schreck geweiteten Augen anstarrte.

„Siehst du, wie lieb er ist? Er tut mir gar nix“, versuchte es Fye aufmunternd. „Magst du ihn nicht auch mal streicheln? Sein Fell ist ganz weich. Wie das von Moko-chan.“

Hilfe suchend blickte Tomoyo zu ihrem Vater empor, der sich auch sogleich zu ihr umdrehte und beruhigend seinen Arm um sie legte.

„Was meinst du? Möchtest du nicht mal zu ihm rüber gehen? Ich komme auch mit, wenn du möchtest.“

Noch immer klammerten sich die kleinen Händchen verzweifelt in Kuroganes Hose, doch nach einigen Blickwechseln zwischen Fye, dem Hund und Kurogane brachte sie schließlich ein stockendes Nicken zustande.

Kurogane nahm sie an der Hand, damit er seine Beine wieder zum Laufen benutzen konnte, und wartete noch einen Moment, bis seine Tochter von allein die ersten, zögerlichen Schritte tat. Am Rand der Wiese blieb sie wieder stehen, sah erneut zu ihrem Kindergärtner, der ihr aufmunternd zulächelte, und dann zu ihrem Vater, der sie keine Sekunde aus den Augen ließ, nicht von ihrer Stelle wich.

Noch ein paar Schritte. Langsamer, zögerlicher. Nur noch zwei Meter bis zu Fye und Hataki. Weitere Schritte.

Schritt.

Schritt.

Schritt.

Noch ein Meter.

Schritt...

Schritt...

Wenn sie sich nun weit genug streckte, könnte sie den Hund wirklich berühren. Unsicher blieb sie stehen, sah wieder in das Gesicht des Blondschopfs, der sie freudig anstrahlte.

„Das hast du toll gemacht, Tomo-chan! Du bist wirklich mutig, ich bin ganz stolz auf dich“, schwärmte er und fing dann an, den Hund in seinen Armen etwas am Hals zu kraulen.

Ein weiterer unsicherer Blick zu ihrem Vater, der sie liebevoll anlächelte und aufmunternd die kleine Hand drückte, die er unentwegt festhielt.

Zitternd hob die Kleine ihre rechte Hand an, streckte sie ein wenig nach dem Hund aus, der seinen Kopf in freudiger Erwartung in Richtung der sich nähernden Finger drehte. Tomoyo schreckte vor dieser Geste jedoch sofort zurück und klammerte sich gleich wieder Schutz suchend an die Beine ihres Vaters, der sie zur Beruhigung sanft streichelte.

Fye lachte amüsiert auf, kam dem Hund mit seinem Gesicht dabei etwas näher und der Kleine nahm die Gelegenheit beim Schopfe und leckte dem Blonden einmal kräftig übers Kinn, worauf das Lachen nur noch lauter, fröhlicher wurde, während die rechte Hand vorsichtig ihre Streicheleinheiten wieder aufnahm.

In Tomoyos Augen mischten sich Verwirrung und Erstaunen unter die Angst, als sie das beobachtete. All ihren Mut zusammennehmend, trat sie erneut einen Schritt vor, streckte die rechte Hand zögerlich noch einmal aus und wartete. Wieder drehte Hataki seinen Kopf in ihre Richtung, doch diesmal hatte sie schon damit gerechnet, sodass die Finger nur ein kleines Stück zurückwichen, unsicher in der Luft stehen blieben, sich dann aber langsam, ganz langsam wieder nach vorn bewegten. Keine noch so kleine Bewegung des Tieres entging dem Mädchen, sie wäre jederzeit bereit, wieder davon zu laufen. Doch der Hund tat nicht mehr, als ihr neugierig mit dem Blick zu folgen, als die Hand langsam über seinen Kopf schwebte.

Dann, für einen winzig kleinen Moment, berührten die Fingerspitzen sacht das dunkle Fell am Kopf des Tieres, bevor das Mädchen nur einen Augenaufschlag später schon wieder hinter den Beinen ihres Vaters Schutz gesucht hatte.

Fye strahlte über das ganze Gesicht.

„Tomo-chan, du bist die Größte! Das war soooooo mutig von dir, ich bin absolut begeistert!“

„Aber du bist doch viel mutiger, Nii-chan“, antwortete sie ein wenig verlegen.

„Aber als ich so klein war wie du, hätte ich mich das sicher nieeeeee getraut!“

„Du hattest ja auch keine Angst vor Hunden“, konterte sie.

„Ja, aber WENN ich welche gehabt hätte, dann hätte ich es mich sicher nicht getraut. Wirklich, ich bin unheimlich stolz auf dich, meine Kleine.“

„Gleichfalls“, klinkte Kurogane sich in das Gespräch ein. „Nach dem, wie es gestern gelaufen ist, hätte ich nicht gedacht, dass du dich dem Hund jemals auch nur nähern würdest. Du hast mich schwer beeindruckt, Kleines. Dafür hast du eine Belohnung verdient.“

Stolz wie Oskar strahlte er seine Tochter an, nahm den Kindergärtner in diesem Moment gar nicht wahr, wie dieser beruhigt registrierte. So konnte er die traute Zweisamkeit der beiden ein wenig beobachten.

„Wirklich?!“, jubelte Tomoyo aufgeregt. „Was denn für eine Belohnung?“

„Du darfst dir nachher was aussuchen.“

„Au jaaaaaaa!“

Stürmisch knuddelte die Kleine ihren Vater bzw. dessen Beine ab, wovon dieser nur noch breiter grinsen musste. Als er aus dem Augenwinkel registrierte, wie Fye den Hund wieder absetzte und aufstand, wurde sein Gesichtsausdruck jedoch schlagartig nüchterner.

Nüchterner, nicht verbissener, wie der Blondschopf erstaunt feststellte, als ihre Blicke sich wieder trafen. Nach einer Weile wandte der Schwarzhaarige seine Augen wieder ab.

„Na los, machen wir uns auf den Rückweg“, schlug er vor, was von seiner Tochter natürlich begeistert angenommen wurde.

Für den Rest des Weges blieb sie an seiner Seite, schlich nun nicht mehr allein hinter ihnen her.

„Und, habe ich zu viel versprochen?“, fragte Fye nach einer Weile in das Schweigen hinein.

Kurogane sagte eine Zeitlang nichts. Einen besseren Beweis, dass diese Idee gut gewesen war, hätte es gar nicht geben können als das Verhalten seiner Tochter von vorhin und auch jetzt noch. Sie wirkte viel gelöster als auf dem Hinweg.

Schließlich nickte er betont gleichgültig.

„Hätte schlimmer kommen können.“

Noch ein „Kompliment“! Der Blondschopf sah den anderen Mann freudestrahlend an.

„Also komme ich beim nächsten Mal am besten wieder mit, was?“

Entsetzt fuhr das Gesicht des Schwarzhaarigen herum. Ja, ja, daran hatte dieser offensichtlich noch gar nicht gedacht. Und er hatte auch gleich den Mund aufgerissen, um entschieden zu protestieren, hielt im letzten Moment dann aber doch noch inne.

Ein kurzer Seitenblick zu seiner Tochter, die wieder an dessen rechter Hand hing, folgte. Weiteres Überlegen.

„... Na gut“, gab er sich schließlich geschlagen. „Lässt sich ja scheinbar nicht vermeiden...“

„Ich wusste, du bist vernünftig, Kuro-puu“, frohlockte der Blonde grinsend.

Sofort wurde Kuroganes Gesichtsausdruck wieder entnervter, was Fye jedoch nicht im mindesten störte. Ein solches Zugeständnis vom misanthropen Kuro-wanko! Das war ja fast wie ein Sechser im Lotto! Ostern und Weihnachten zusammen! Aber im Grunde bestätigte es die Meinung, die er sich von dem vermeintlichen Miesepeter gebildet hatte, nur. Denn eigentlich war er ein ganz lieber Kerl, was er nur niemandem zeigen wollte. Warum bloß? Falscher Stolz? Selbstschutz? Fye wüsste zu gern, was diesem Menschen im Leben schon alles widerfahren war, dass er einen solch dicken Panzer gegen seine gesamte Außenwelt aufgebaut hatte.

Wie seine Freundin wohl damit klar kam? Ihr gegenüber war er sicherlich sanfter, wenn sie allein waren. Doch auch sonst würde sie mit Kuro-rins Ecken und Kanten schon umgehen können. Die braun gebräunte Frau machte einen sehr couragierten Eindruck auf ihn. Sicher wusste sie, dass er das meiste gar nicht so meinte, wie er es sagte.

Aber eigentlich sollte er darüber gar nicht so genau nachdenken, schollt Fye sich. Kuroganes Privatleben ging in schließlich nun wirklich nichts an.
 

TBC...

Chiis Bitte

Klayrchen und ich hatten uns zu Beginn eigentlich vorgenommen, die Kapitel nicht länger als 15 Seiten werden zu lassen (außer beim Höhepunkt), weils sonst einfach zu anstrengend wird für den Leser. Allerdings kommen wir nun doch immer mal darüber. Das also schon mal als Vorwarnung. Ich hoffe, ihr bringt Zeit mit beim Lesen ^^.
 

Und nun viel Spaß!
 

-~*~-
 

Disclaimer: Die Charas gehören (bis auf wenige Ausnahmen) nicht uns, sondern Clamp. Wir wollen kein Geld damit verdienen, sondern nur unterhalten.

Erstschreiber des Kapitels: Klayr_de_Gall

Kapitel: 11/26
 

-~*~-
 

„Viele Menschen wissen, dass sie unglücklich sind. Aber noch mehr Menschen wissen nicht, dass sie glücklich sind.“

(Albert Schweizer)
 

-~*~-
 

Chiis Bitte
 

„Du Papa?“

„Ah?“

„Wieso- uiii!“

Kurogane war mit einem so heftigen Ruck angefahren, dass seine kleine Tochter zurück in den Sitz gedrückt wurde und kichern musste. Es war ihr neu, dass ihr Vater so ruppig fuhr, denn zumindest im Straßenverkehr war er eigentlich immer ziemlich bedacht, damit nicht aus Versehen irgendetwas passierte. Aber heute schien er leicht gereizt.

„Papaa~?“

Erneut versuchte die Schwarzhaarige, die Aufmerksamkeit ihres mies gelaunten Erziehungsberechtigten zu erhaschen, der gerade irgendeine Antwort knurrte, bevor er auch schon etwas härter als nötig auf die Bremse trat.

„Deine Kaffeetasse fällt gleich runter.“

„Wa-? Verdammt!“

Im allerletzten Moment konnte Kurogane nach seiner Tasse greifen, die heute wegen leichter Übernächtigung seinerseits und nervigem Getue seiner Tochter irgendwie ihren Weg mit hinunter in seinen BMW gefunden hatte und nun recht wackelig auf dem Armaturenbrett hin und her klapperte.

Immer noch fluchend gönnte er sich einen tiefen Zug des viel zu starken Gebräus, bevor es wieder zurück auf den instabilen Ausgangspunkt gestellt wurde.

„Sag mal, Papa, warum fahren wir heute einen anderen Weg?“

Neugierig blickte die Vierjährige aus dem Wagenfenster. Hier, wo sie gerade lang fuhren, herrschte reger Verkehr. Oder wohl eher träger, denn es ging nur stockend voran. Eigentlich fuhr ihr Papa immer ein paar andere kleinere Straßen entlang, denn da ging es schneller und es war morgens nicht so voll. Diese Straße hier, die in Richtung Stadtmitte führte, kannte Tomoyo nur, weil sie zusammen mit Soma ab und an ins Zentrum gefahren war, um Sachen oder Schuhe einzukaufen.

„Wir fahren doch aber in den Kindergarten, oder?“, hakte die Kleine erneut nach, denn von ihrem Vater war noch immer keine Antwort gekommen.

Entnervt rollte er mit den Augen.

„Wohin denn sonst?“

Es war noch nicht einmal neun Uhr und Kuroganes Nerven hatten sich bereits verabschiedet. Der Schwarzhaarige spürte jedenfalls im Moment nichts davon, dass er jemals welche besessen hätte. Vielmehr hatte er Mühe, die ganzen Sonntagsfahrer nicht laut zu beschimpfen, die einfach nicht aus dem Knick kamen! Aber ganz ruhig, immerhin waren ja Kinder...

„Pa~pa?!“

„Was IST denn, verdammt noch mal?!“

Okay, so viel dazu.

Von dem plötzlichen Wutausbruch ihres Vaters eingeschüchtert, zog Tomoyo ihren Kopf zwischen die schmalen Schultern und murmelte irgendetwas, was aber in dem Hupen des morgendlichen Arbeitsverkehrs gänzlich unterging. Dann schwieg sie verunsichert und zupfte am Saum ihres Kleides herum.

‚Na klasse. Hundert Punkte für den Bilderbuchvater...’

Mit einem leisen Aufstöhnen strich Kurogane sich die Haare aus der Stirn und atmete tief durch. Nach einem weiteren Schluck Kaffee fühlte er sich schon gesellschaftsfähiger.

„Entschuldige, Kleines“, begann er jetzt wesentlich ruhiger, auch wenn sich der missmutige Ton aus seiner Stimme noch immer nicht ganz verbannen ließ. „Ich wollte dich nicht anschreien. Es...stört mich nur etwas, dass wir nicht vorankommen.“

Das kurze Stocken, weil der Miesepeter erst einmal nach einer kinderfreundlicheren Formulierung suchen musste als „das kotzt mich an“, ließ Tomoyo wenigstens aufsehen, und nachdem sie sich vergewissert hatte, dass ihr Papa es auch wirklich so meinte, wie er es sagte, nickte sie zögerlich.

Es war für beide immer noch ziemlich leicht, in Missverständnisse zu geraten, aber zugleich auch wesentlich einfacher, sich wieder zu vertragen.

„Also, was wolltest du wissen?“

„Warum fahren wir den heute hier lang, Papa?“

Sofort wieder grummelig blickte der Schwarzhaarige nach draußen, wo scheinbar endlos viele Autos nur im Schritttempo vorankamen. Er hasste den Arbeitsverkehr!

„Bei uns auf der Straße wird gebaut. Deswegen müssen wir den Umweg fahren.“

„Oh.“

Auch die Vierjährige blickte wieder raus und schwieg eine ganze Weile, in welcher der schwarze Wagen immer nur ein kleines Stück fahren konnte und ihr Herr Papa die Ruhe manchmal mit leisem Fluchen störte, da seine Tasse schon wieder auf Abwege geriet.

„Und bauen sie denn noch lange? Es macht nämlich keinen Spaß, hier lang zu fahren!“

„Du sagst es.“

Kurogane würde drei Kreuze machen, wenn sie endlich am Kindergarten waren. „Aber soviel ich weiß, bauen sie nur noch morgen.“

„Das ist gut, oder, Papa?“

Auch wenn seine Tochter erst vier war, konnte der hochgewachsene Mann manchmal nur staunen, wie logisch und bedacht sie schon war. Außerdem hatte es etwas Rührendes, denn Tomoyos Abneigung gegen die Strecke ruhte offensichtlich nicht nur daher, dass es so lange dauerte, sondern auch daher, dass ihr Vater deswegen gleich wieder schlechte Laune bekam. Und das gefiel ihr nicht.

„Es ist nämlich langweilig! Ich möchte endlich zu Nii-chan und den anderen!“

Mit einem humorlosen Lächeln verwarf Kurogane diesen Gedanken schnell wieder. Die Kleine war nun einmal einfach noch zu jung, als dass sie so weitsichtig denken könnte. Für sein süßes Töchterchen, egal wie erwachsen sie ab und an auftrat, zählte doch in erster Linie der Spaß.

Dass es eben nicht so war und vor allem Kinder ein feines Gespür für das Herz ihrer Eltern hatten, kam ihm gar nicht in den Sinn.

„Fahrt zu ihr...! Argh!“

Unter dem interessierten Blick seiner Kleinen besann Kurogane sich, dass gewisse Kraftausdrücke in ihrer Gegenwart nicht angebracht waren, und schwieg den Rest der Fahrt angesäuert.
 

Irgendwann – nach endlos langen Stunden, wie es den beiden schien – konnte der schwarze BMW endlich aus dem Arbeitsverkehr ausfädeln und den Rest des Weges auf einer weniger befahrenen Straße bis zum Kindergarten zurücklegen.

„Wir sind endlich da!“, freute Tomoyo sich überschwänglich und kaum dass der Wagen gehalten hatte, war sie auch schon ungeduldig zur Tür hinausgeklettert und lief über den kleinen Parkplatz hinüber zu dem blauen Tor, an dem sie schon erwartet wurde.

„Niiiiiii-chan!!!“

Kurogane rollte mit den Augen, während er selbst langsam ausstieg, seine Tasse in der Hand, die Autotür hinter sich schwungvoll ins Schloss fallen lassend. Kaum waren sie ein paar Minuten zu spät, stand der Blondschopf also schon wieder auf der Matte? Na, da durfte man gespannt sein, wie die Standpauke heute ausfallen würde.

Und Tatsache.

Zwar hatte der Kindergärtner sich neben Tomoyo gekniet und dem dunkelhaarigen Mädchen lächelnd durchs Haar gestreichelt, aber als ihr Vater dazukam, blickte er auch schon aus tadelnden blauen Augen zu ihm auf.

„Und?“, stichelte er ein wenig eingeschnappt.

Obwohl Kurogane wusste, was er hören wollte, stellte er sich unwissend.

„Was ‚und’?“

„Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?“

Fye war flink auf die Beine gesprungen und baute sich nun vor dem Größeren auf, tippte anklagend gegen seine Brust. „Also? Du weißt doch ganz genau, dass ich es nicht mag, wenn du...ihr, zu spät kommt, oder, Kuro-wanko?!“

Abwehrend hob der Angeklagte beide Hände, wobei er fast Kaffee über sich und den blonden Mann geschüttet hätte.

„Ganz sachte! Ich kann nichts dafür!“

„Genau!“, krähte seine Tochter nun von unten herauf. Als ob sie ihren Vater schützen wollte, schob sie sich zwischen die beiden Erwachsenen und streckte die Arme abwehrend aus. „Papa ist ganz pünktlich losgefahren!“

Vollkommen überzeugt schien Fye zwar nicht zu sein, das sagte der misstrauische Blick, den er dem Schwarzhaarigen zuwarf, aber er ging wieder vor der Vierjährigen in die Hocke.

„Na dann schieß mal los, Tomo-chan. Wieso seid ihr dann zu spät?“

„Unsere Straße ist weggebaut worden!“ Trotzig verschränkte sie die Arme.

Ihr Kindergärtner wirkte erst verwirrt, musste dann aber über den kindlichen Versprecher grinsen. Doch als er sie gerade berichtigen wollte, erklang hinter den beiden ein leises Prusten, und sie blickten verwirrt auf.
 

Fye hatte Mühe, dass ihm nicht der Mund aufklappte.

Da stand der muffelige Schwarzhaarige, halb von ihnen abgewandt und die Tasse an den Lippen, aber das breite Grinsen konnte er dennoch nicht verbergen.

„Papa!“, rief Tomoyo empört, die es auch bemerkt hatte, und sogleich griff sie nach den langen Beinen ihres Vaters, um kräftig an ihnen zu rütteln, was dem sonst so ernsten Mann erneut ein leises Lachen entlockte.

„Lachst du mich etwa aus?! Wie gemein!“

„Aber nicht doch, Tomoyo!“

So heftig, wie sie schüttelte, schien ihr Vater Probleme zu haben, das Gleichgewicht zu bewahren, und zur Sicherheit ging er mit in die Knie. Das hatte auch den Vorteil, dass er mit dem dunkelhaarigen Mädchen auf einer Höhe war.

„Wieso sollte ich denn so was machen, Kleines?“

„Na weil...äh...deshalb!“

Und wieder lachte er sanft und fuhr seiner kleinen Tochter zärtlich durchs Haar.

Mit großen juwelenblauen Augen beobachtete Fye die vertraute Zweisamkeit. Bei diesem Anblick wurde ihm so wunderbar warm ums Herz, dass er es kaum beschreiben konnte. Kuroganes Lachen schien ihm so etwas unglaublich Kostbares zu sein...

Er hatte gar nicht gewusst, dass dieser Mann überhaupt lachen konnte, oder zumindest niemals geglaubt, dass gerade er so etwas sehen durfte. Und gerade weil er wusste, dass es so etwas Seltenes war, erschien Fye dieser Anblick umso wertvoller.

Wie gern hätte er diesen Augenblick für immer festgehalten. Wie sehr wünschte er sich in diesem Moment, ebenfalls in der Lage zu sein, dem anderen solch eine warme Reaktion entlocken zu können...

„Aber warum lachst du den nun...?“

Schmunzelnd spielte Kurogane mit den weichen Locken seiner Tochter.

„Unsere Straße wird doch nicht weggebaut, Kleines. Es wird nur neues Abwasser verlegt. Alles wird nachher wieder genauso sein wie zuvor.“

„Also um...gebaut? Und nicht weggebaut?“

„Genau.“

Schweigend hatte Fye seine Finger fest ineinander verschränkt, als müsste er sich zwingen, nichts Dummes zu tun. Lieber wollte er noch ein wenig unsichtbarer Zeuge dieser harmonischen Szene bleiben, in die er einfach nicht reingehörte.

Dieser Gedanke tat weh. Aber er war traurige Realität. Denn egal, wie liebenswert er doch lächeln konnte, es war nicht echt, und wie sehr er sich auch wünschte, dass Kurogane einmal, wenigstens ein einziges Mal, so zu ihm sein würde... Es würde niemals geschehen. Er brauchte sich gar keine Hoffnungen machen.

„Also, Nii-chan“, riss Tomoyos helle Stimme ihn schließlich aus seinen bitteren Gedanken und der Blondschopf schrak ertappt zusammen.

Kurz huschten seine Augen zu Kurogane, in der Erwartung, dass ihn gleich wieder ein Blick aus den gewohnt kalten roten Augen treffen würde, aber nichts dergleichen geschah. Stattdessen hockte der große Mann noch immer ganz gemütlich auf dem Fußweg, was man von ihm nicht gewohnt war, mit Tomoyo auf einem seiner Knie, und nippte gedankenverloren an seiner Tasse.

Er wirkte so anders...so viel jünger als sonst.

Irgendwie kam bei diesem Anblick das Bedürfnis in ihm auf, seine Arme um ihn zu legen und ihm kräftig durch das kurze, nach seinen eigenen Regeln abstehende Haar zu strubbeln. So wie er es bei seinen Schützlingen so gern tat.

Warum...? Was machte dieser Mann nur mit ihm?

„Wir sind zu spät gekommen, weil unsere Straße umgebaut wird. Nämlich weil die da neues Abgewässer-“

„Abwasser“, verbesserte ihr Vater geistesabwesend.

„Ja, genau. Das machen die da neu.“

„Aha. So war das also?“

Am besten lenkte er sich einfach von seinen seltsamen Gedankengängen ab, um dieses wehmütige Gefühl in seinem Innern zu vertreiben, so wie er es immer tat. Was sollte er auch anderes tun? Umdrehen und weglaufen. Das hatte er schon immer getan, es war ihm praktisch in Fleisch und Blut übergegangen.

Aber...

War das wirklich die beste Lösung...?

„Ich schwör’s!“

Zögerlich kam Fye auf den Knien etwas näher, störte sich nicht daran, dass er gerade über einen Fußweg krabbelte. Kaum dass er nah genug war, damit Tomoyo ihn erreichen konnte, zog die Kleine ihn mit kindlicher Naivität in eine feste Umarmung und somit näher an sich und ihren Papa heran.

„Bist du uns sehr böse?“

„Na ja...“

Der Geruch von frischem Kaffee, der von Kurogane ausging, hatte etwas seltsam Verwirrendes, und der Blonde musste erst einmal die Augen schließen und sich konzentrieren, bevor er endlich antworten konnte.

„Eine kleine Strafe muss schon sein. Schließlich habe ich mir ziemliche Sorgen gemacht.“

„Wir waren gerade mal eine viertel Stunde zu spät!“, wandte der hochgewachsene Mann sich nun direkt an ihn, eine Augenbraue leicht hochgezogen, aber bei weitem nicht so grimmig wie sonst.

Wieder dieses seltsame Gefühl, als ob er die Kontrolle über sich verlieren würde. Es ging nicht! Irgendwas lief falsch, wenn er so nah bei ihm war, er musste weg von Kurogane!

Ruckartig richtete Fye sich auf. Da Tomoyo ihn noch immer fest umarmte, musste er sie auf die Arme nehmen, damit sie ihn nicht erstickte, aber die Kleine war ja nicht so schwer.

In Kuroganes rubinroten Augen spiegelte sich Verwirrung wieder. Es war ihm scheinbar unbegreiflich, warum der Blonde plötzlich so reagiert hatte, geradezu vor ihm geflüchtet war, was auch verständlich war, denn normalerweise machten Fye diese kleinen Gesten und beiläufigen Berührungen nichts aus. Heute stimmte irgendetwas nicht, er konnte seine sorglose Erscheinung einfach nicht aufrecht erhalten. Trotzdem würde er nicht auf Kuroganes stumme Frage eingehen, er versuchte dem Blick zu entkommen und drehte sich und Tomoyo einmal im Kreis.

Nur nicht in diese klaren Augen sehen...

„Aber ich hab mir trotzdem Sorgen gemacht! Also ist es nur gerecht, wenn ihr es wieder gutmacht!“

„Aber Nii-chan!“

Kichernd trug er das dunkelhaarige Mädchen ein paar Schritte Richtung Kindergarten und konnte ihr so etwas ins Ohr flüstern, ganz unbemerkt von ihrem Papa, der das alles sehr misstrauisch beäugte.

„Keine Sorge, Tomo-chan. Ich möchte nur eine klitze-, klitzekleine Entschuldigung. Und auch nur von deinem Papa.“

„Aber Papa ist doch gar nicht schuld.“

„Ich weiß, Liebes.“

Und bevor er ins Gebäude verschwand, rief er Kurogane über seine Schulter etwas lauter zu: „Was ist, Kuro-rin? Willst du dein kleines Töchterchen nicht vor mir beschützen?“

Der Schwarzhaarige nahm ihn offensichtlich nicht ganz ernst, denn durch die geöffnete Tür war nur ein halbherziges Brummen zu hören, aber wenigstens wiesen die Schritte darauf hin, dass ihnen jemand folgte. Grinsend schlüpfte der Kindergärtner hinter die Haustür und hielt Tomoyo zwinkernd den Finger gegen die Lippen.

Als Kurogane eingetreten war, schob er die Tür ganz schnell hinter ihm zu. Erstaunlicherweise blieb der hochgewachsene Mann ruhig stehen und drehte sich auch nicht herum, sondern wartete nur mit hochgezogener Augenbraue ab. Er sah Fye offensichtlich nicht als Bedrohung an. Warum auch? Oder er war sich seiner Überlegenheit sehr sicher.

„Los, Tomo-chan, zum Angriff!“

Begeistert glucksend ließ das Mädchen sich auf dem Rücken ihres Vaters absetzen und klammerte sich an ihn, er hielt sie reflexartig fest, während Fye den kurzen Überraschungsmoment nutzte und die dunkelrote Tasse aus seiner großen Hand stahl.

„Hey!“

„Ja, Kuro-sama?“, grinsend tänzelte der Blonde zur anderen Seite des Zimmers, von wo aus er schelmisch zu seinem „Opfer“ herüberfunkelte, bevor er sich auf seine Beute konzentrierte. Interessiert schnupperte er daran und musste lächeln. Es roch genau wie Kurogane, nur hundertmal intensiver.

„Gib mir meinen Kaffee wieder!“

„Na na, Kuro-chan. Wenn du ihn schon mitbringst, musst du mir auch etwas davon abgeben!“

Als ob er sich das entgehen lassen würde. Es hatte ihn zwar nicht zu interessieren, aber wenn er wenigstens etwas über Kurogane erfahren konnte – und wenn es nur die Angewohnheit war, wie er seinen Kaffee trank – so war es doch immerhin etwas, worauf er stolz sein konnte.

Als wäre es etwas ganz Besonderes, nippte Fye andächtig an der Kaffeetasse, ignorierte den grimmigen Blick, der auf ihm ruhte.

Und bereute es gleich darauf.

„Urgs!“
 

Hustend stellte er die Tasse weg.

„Wie kannst du nur so starken Kaffee trinken? Das schmeckt doch gar nicht!“

„Ich hab dich nicht gebeten zu kosten, also hör auf zu meckern!“
 

Leise summend schlenderte Fye durch den Aufenthaltsraum, während seine kleinen Schützlinge nebenan ihren Mittagsschlaf hielten. Seine fleißige Mitarbeiterin machte den Abwasch und er räumte etwas auf, damit er zumindest nicht ganz unnütz war, denn mit nur einem Arm konnte der Blonde immer noch nicht allzu viel erledigen.

Jedes Mal, wenn er zum Regal zurückkehrte, schmunzelte Fye verzückt, denn auf dem obersten Brett stand seine heutige Errungenschaft, die rote Kaffeetasse. Kurogane hatte sie ihm großherzig überlassen. Zwar war es diese Art von Großherzigkeit gewesen, die sich bei ihm mit einem genervten Blick und einer wegwerfenden Geste äußerte, aber das war dem Kindergärtner egal.

Gelegentlich nahm er die Tasse herunter und nippte zögerlich, aber der Kaffee schmeckte noch genauso stark wie beim letzten Schluck. Dennoch wollte der junge Mann weder Milch noch Zucker hineintun.

Warum? Das wusste er selbst nicht so richtig. Es kam ihm vor, als würde er sonst eine einzigartige Sinfonie zerstören.

Mit einem schiefen Lächeln stellte er die Tasse auch nach der erneuten Kostprobe wieder weg. Vielleicht erklärte das ja, warum Kuroganes Blutdruck immer auf Hundertachtzig war. Er sollte morgens lieber Milch trinken.

Schwer vorstellbar, dass der gute Kuro-sama jeden Morgen artig sein Glas Milch trank, und der Gedanke brachte Fye zum Kichern. Oh weh. Das sollte er dem Schwarzhaarigen lieber doch nicht vorschlagen.

Gerade als der schlanke Kindergärtner das letzte Kuscheltier ordentlich in das neue Regal gelegt hatte, hörte er, wie hinter ihm leise die Tür zum Schlafsaal geöffnet wurde, und er war kaum erstaunt, Tomoyo zu entdecken, die ein wenig verloren dastand in ihrem gelben Schlafanzug und eingekuschelt in ihre Decke.

Behutsam zog Fye sie von der Tür weg und schloss diese, um die anderen Kinder nicht zu stören, dann kniete er sich zu dem Mädchen und streichelte ihm über die Wange.

„Was ist denn los, Tomo-chan? Kannst du nicht schlafen?“

Die Dunkelhaarige nickte kurz und kuschelte sich dann fest an ihren Lieblingskindergärtner, suchte bei ihm Schutz. Und Fye gewährte ihr diesen gern und nahm sie fest in den Arm. Eine ganze Weile hielt er sie nur schweigend, bis Tomoyos leise Stimme gedämpft durch sein Oberteil erklang.

„Nii-chan? Tut denn dein Arm noch doll weh?“

Ach, daher wehte also der Wind. Tomoyo hatte Schuldgefühle...

Der Blondschopf musste liebevoll lächeln.

„Aber nicht doch, Liebes. Mein Arm ist schon fast wieder ganz okay. Es gibt gar keinen Grund, sich Sorgen zu machen.“

„Mach ich aber!“ Schniefend blickte sie aus ihren dunklen, besorgten Augen zu dem Kindergärtner auf. „Immerhin ist es meine Schuld.“

„Aber Tomo-chan. Wer sagt denn, dass es deine Schuld ist? Habe ich das jemals gesagt?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Dein Papa vielleicht?“

Erneutes Kopfschütteln.

„Na siehst du. Und auf alle anderen brauchst du gar nicht zu hören.“

„Aber...aber es tut mir doch so Leid...“

„Ich weiß doch, Kleines.“

Liebevoll drückte Fye das traurige Mädchen wieder an sich und bettete ihren Kopf sanft in seine Halsbeuge. „Ich weiß...“

Es musste doch einen Weg geben, Tomoyo ihre Last irgendwie zu erleichtern. Nur was? Sicherlich tat Kurogane schon sein Bestes, aber die Kleine suchte ja auch nicht bei ihrem Vater Vergebung, sondern bei ihm. Aber wie sollte er ihr noch deutlicher zeigen, dass er ihr gar nicht böse war?

Vielleicht...

„Weißt du was, Tomo-chan? Wir treffen uns doch heute Abend alle bei mir zu Hause. Du und dein Papa, Sakura-chan und Shaolan-kun. Und um was Leckeres kochen zu können, wollte ich heute noch einmal einkaufen gehen. Nun wird das aber sicher nicht wenig sein und garantiert ganz schön schwer... Also wie wär’s, wenn du mir beim Einkaufen hilfst? Dann sind wir quitt und du musst dir keine Sorgen mehr machen, okay?“

Erstaunt blickte die Vierjährige ihn an, schien aber recht begeistert von der Idee.

„Aber wenn das so schwer ist, Nii-chan. Ich bin doch gar nicht so stark.“

„Hm, da hast du allerdings Recht. Was machen wir da bloß?“

Der Einwand war gar nicht mal so dumm, denn Tomoyo war viel zu jung, um so schwere Beutel schon tragen zu können. Außerdem hieß es ja noch lange nicht, dass sie mit durfte, denn Kurogane hütete seine Tochter schließlich wie den Schatz, der sie auch war.

„Nii-chan, ich weiß was!“ Tomoyo klatschte begeistert in die Hände. „Papa kommt mit!“
 

Natürlich war besagter Vater von der Idee kein bisschen angetan, aber zu Fyes Glück nahm Tomoyo den Vorschlag ganz auf ihre Kappe, sodass er nicht mit dem Schwarzhaarigen diskutieren musste, denn die Kleine brauchte nur einen Augenaufschlag und ein flehendes „Bitte!“ und sie hatte Kurogane herumbekommen. Kinder waren halt auf ihre ganz eigene Art Erpresser.

Nun kletterte der Blondschopf also zum wiederholten Male innerhalb von zwei Tagen aus dem bequemen schwarzen Wagen, mit dem sie – welch ein Luxus – zum Supermarkt kutschiert worden waren, und strahlte Kurogane gewinnend an.

„Wirklich schön, dass du mitkommst, Kuro-rin. Ich freu mich ehrlich.“

„Ja ja“, tat der Griesgram die eigentlich ernst gemeinte Beteuerung gelangweilt ab und ging mit Tomoyo einen Einkaufswagen hohlen. Fye blieb allein am Eingang stehen. Abwesend strich er sich über die Arme, als würde er frösteln.

„Ehrlich...“

Auch wenn seine Vernunft ihn immer lauter warnte, dass er sich nicht zu sehr an den großen Mann hängen sollte, ihm schon gar nicht vertrauen durfte, so fiel das Fye doch immer schwerer. Denn auch wenn Kuroganes Art meist aufbrausend und gereizt war, so spürte man doch die Ruhe und Bedachtheit, die hinter dem lagen. Absolute Sicherheit und Selbstkontrolle. Zwei Eigenschaften, die es ihm überhaupt erst ermöglichten, sich manchmal so gehen zu lassen. Und der blonde Kindergärtner spürte und mochte das, denn es waren Eigenschaften, die ihm fehlten. Dann war da noch etwas Beschützendes, was von Kurogane ausging. Besonders dann, wenn Tomoyo bei ihm war. Und Fye fühlte sich in seiner Nähe ebenfalls sicher. Es mochte Wunschdenken sein zu glauben, dass der Schwarzhaarige ihn beschützen würde, aber es war trotzdem tröstlich.

Und schließlich die ganzen Dinge, die er nicht von dem anderen wusste. Geheimnisse, Vergangenheit. Seinen Tagesablauf, selbst die banalsten Dinge. Das alles wusste Fye nicht. Umso mehr Freude hatte es ihm bereitet, heute etwas Neues herauszufinden, auch wenn es nur die Kaffeetrinkgewohnheit Kuroganes war. Etwas total Unwichtiges, aber Fye hatte sich für einen Moment ehrlich darüber gefreut.

Er konnte nicht einordnen warum, aber er war darüber glücklich gewesen. Über einen einfache halbvolle Tasse Kaffee.

Glück...

Kurogane tat ihm nicht gut.

Es wäre besser, wenn er sich von dem hochgewachsenen Mann fernhielt.

„Da seid ihr ja endlich! Hat ja ganz schön gedauert, habt ihr euch mit dem Wagen verfahren?“

Lächelnd ging der Blondschopf seinen Begleitern ein Stück entgegen und hakte sich bei Kurogane unter, damit er mit seinem unverletzten Arm den Wagen schieben konnte. Mit einem empörten „Hey!“ wurde der muskulöse Arm weggezogen, aber zumindest blieb der Schwarzhaarige an seiner Seite und hielt ebenfalls den Einkaufswagen, in dem seine Tochter saß, denn wenn der Kindergärtner ihn allein hätte schieben müssen, wäre das ganz sicher schief gegangen.

„Wir mussten auf dem Parkplatz ziemlich aufpassen. Die sind da ganz schön schnell gefahren, deswegen hat das auch etwas gedauert, stimmt’s, Papa?“

„Hm.“

Ein leichtes Kribbeln führte dazu, dass sich die feinen Härchen in Fyes Nacken aufstellten, als die ruhige, tiefe Stimme so nah an seinem Ohr eine Zustimmung brummte, und er blickte unsicher zu Kurogane auf. Dieser schien ihre momentane Nähe geflissentlich zu ignorieren, und dirigierte die kleine Gruppe endlich in den Laden hinein. Und da der blonde Mann sich nicht anders zu helfen wusste, als irgendwo nach einer Ablenkung zu suchen, flüchtete er in eine kleine, belanglose Plänkelei mit Tomoyo, auch wenn es ihm schwer fiel. Denn obwohl sie sich noch nicht berührten, glaubte Fye, die Wärme seines Begleiters spüren zu können und dann roch es auch immer noch so angenehm nach Kaffee...

Halt! Stopp!

Es wurde schon wieder zu viel!

Also flüchtete Fye, geschickt getarnt durch sein spielerisches Tänzeln, hinaus auf den Gang, um sich die Auslagen anzusehen, war sich aber des kurzen, irritierten Blickes bewusst, der für einen Moment seinen Hinterkopf fixiert hatte. Heute schien aber auch alles schief zu laufen. Kurogane merkte einfach viel zu viel!

„Was meinst du, Tomo-chan, wollen wir zum Abendbrot lieber Spagetti oder Spirelli, oder wie wär’s mit diesen hübschen Nudeln da? Oder vielleicht die bunten? Die ganz breiten sollen aber auch lecker sein.“

Sofort erhielt er die Aufmerksamkeit des kleinen Mädchens, welche nun ebenfalls anfing, fragend zwischen den vielen Nudelsorten hin und her zu schauen.

Obwohl Fye sich mit vollem Einsatz in diese Ablenkung gestürzt hatte, kam er nicht umhin, doch noch einen schnellen Seitenblick auf Kurogane zu riskieren. Der Schwarzhaarige beobachtete ihn immer noch mit diesem seltsam forschenden Ausdruck. War Fye das vorher nur nie so bewusst geworden oder musterten ihn die rubinroten Augen neuerdings wirklich häufiger als sonst?

„Ja, was nehmen wir denn nun?“, versuchte Fye seine Unsicherheit und Grübelei zu überspielen und hoffte dabei, dass er dies vor allem Kurogane einigermaßen glaubhaft machen konnte.

„Ich mag Spaghetti am liebsten. Die kann man so lustig schlürfen“, meinte Tomoyo schließlich.

„Gut, dann nehmen wir die!“

Damit landete besagte Tüte in dem Einkaufswagen und das Grüppchen konnte weitergehen. Bald gesellten sich Brot, Gemüse, Wurst und Käse, Obst und noch so mancherlei Sachen mit zu ihrem Einkauf, und langsam wuchs der Inhalt des Wagens auf eine beträchtliche Größe an.

Letzter Halt war das Süßigkeitenregal.

„Also los, Tomo-chan. Dein Papa hat sicher nichts dagegen, wenn du dir etwas aussuchst. Oder, Kuro-daddy?“

Ein ungeduldiges Schnauben war die Antwort, das durchaus als „Ja“ interpretiert werden konnte, und freudig jauchzend stob das dunkelhaarige Mädchen davon, um sich eine besonders tolle Leckerei auszusuchen. Das könnte dauern, bei den vielen Sachen, die es hier gab.

Kurogane hatte inzwischen seinen deutlich genervten Gesichtsausdruck wieder aufgelegt – Einkäufe von über einer Stunde zählten wohl nicht unbedingt zu seinen Hobbies – aber bisher hatte er sein Schicksal ergeben und miesepetrig ertragen, egal welchen Schabernack die beiden Kindsköpfe sich mit ihm erlaubt hatten.

„Sag, Kuro-puu...“

Mit einem auffordernden Lächeln winkte Fye den Schwarzhaarigen zu sich und wandte sich dann wieder dem Regal zu, als dieser neben ihn trat. „Magst du eigentlich Schokolade?“

„Nein. Ich mag generell keine süßen Sachen.“

„Wirklich nicht?“

Für einen Moment blickten ihn die klaren, blauen Augen direkt an, bevor sie wieder zurück zu dem Angebot wanderten und einem langen, blassen Finger folgten, der geistesabwesend über die Preisschilder strich.

„Magst du deine süße Tochter etwa nicht?“

„Ich glaub nicht, dass man sie essen kann.“

Fye schenkte ihm ein echtes, warmes Lächeln.

„Nein, ich denke nicht. Schau, anscheinend hat sie was gefunden. Zeig, was hast du denn da, Kleines?“

Tomoyo war neben den Erwachsenen stehen geblieben und hielt stolz eine große, durchsichtige Plastikschale hoch, in der weiße Schaumhäubchen.

„Das sieht lecker aus! Aber was ist das, Nii-chan?“

„Du hast einen guten Geschmack, Tomo-chan. Das sind ‚Baiser’, sie werden aus Eischnee und Zucker gemacht und sind wirklich ganz köstlich.“

„Ui! Klingt gut!“

„Klingt nach purem Zucker“, kommentierte Kurogane, was aber ignoriert wurde.

„Dann nehmen wir die mit, was?“

Da die Vierjährige ganz begeistert davon war, legte Fye die Schachtel mit zu den anderen Sachen im Korb, vergewisserte sich aber mit einem fragenden Blick zu ihrem Herrn Papa, ob es auch wirklich okay war. Erst nachdem dieser genickt hatte, ließ er die Süßigkeit ganz los. Dann fischte er sich selbst noch etwas aus dem Regal.

„Also dann, auf zur Kasse!“

Allein das Bezahlen dauerte eine halbe Ewigkeit, denn erst mussten sie lange anstehen, dann alles auf das Fließband räumen und schließlich alles wieder zurück in den Einkaufskorb packen. Im Anschluss lagen Kuroganes Nerven blank und er schien gar nicht schnell genug zurück nach draußen kommen zu können. Tomoyo, der währenddessen natürlich furchtbar langweilig geworden war, hörte wieder auf zu quengeln und konnte es stattdessen kaum erwarten, bis der blonde Kindergärtner ihre Schachtel geöffnet hatte, damit sie nun endlich von den Süßigkeiten probieren konnte.

Während die beiden es sich schmecken ließen, räumte der Schwarzhaarige recht verbissen den Kofferraum seines BMW voll, packte aber schon vorher alles in Tüten, was ihm später einiges an Arbeit ersparen würde. Dann knallte er die Kofferraumklappe zu und brachte den Einkaufswagen weg.

Als er zurückkam, hatte Fye gerade seine Tochter ordentlich angeschnallt und fing den missmutigen Mann noch vor seiner Tür ab.

„Warte, Kuro-sama!“

Verblüfft hielt der Angesprochene inne, als Fye wie selbstverständlich an ihn herantrat, sich lässig neben ihn an den Wagen lehnte. Diesmal zeigte der er keine Scheu vor der ungewohnten Nähe, eher war es Kurogane, der nicht zu wissen schien, wie er damit umgehen sollte, und seine Verwirrung stieg noch, als er spürte, wie ihm geschickt etwas in die Seitentasche der Hose geschoben wurde.

„Danke für deine Hilfe, Kuro-chii.“

Dann erst zog er seine Hand zurück und verschwand schnell aus der Reichweite des Schwarzhaarigen.

„Sie ist auch ganz sicher nicht zu süß, versprochen.“

Ohne eine Reaktion abzuwarten, kletterte Fye in den Wagen und ließ seinen Begleiter ein wenig überrumpelt allein zurück. Seine ganze Gereiztheit schien verpufft, Kurogane wirkte eher überfordert.

Auch ein wenig wie bestellt und nicht abgeholt.

Für einige Augenblicke sah er ihm nach wie ein Mondkalb, dann kam endlich wieder Bewegung in den hochgewachsenen Mann und er zog den gerade erhaltenen Gegenstand aus seiner Tasche.

Eine Tafel Schokolade.

Zartbitter.
 

„Okay! Wir sind da! Hier kannst du parken!“

Kurogane kam der fröhlichen Aufforderung nach und lenkte sein Auto an den Straßenrand, stellte den Motor aus. Dann blickte er nachdenklich aus dem Fenster. Sie waren im Flussviertel, einer der Mittelklasse-Gegenden der Stadt. Was aber nichts heißen sollte. Die Menschen hier mussten teilweise mit viel weniger Mitteln auskommen, waren aber wahrscheinlich bei weitem rechtschaffener und freundlicher als bei ihm in der Gegend.

Noch etwas fiel Kurogane auf. Das war genau die Straße, in die er vor ein paar Tagen das blonde Mädchen vom Spielplatz gebracht hatte, oder?

„Ich weiß, es ist nicht sonderlich schön...“, begann Fye leise, aber der Schwarzhaarige schnitt ihm mit einer kurzen Geste das Wort ab und stieg aus, half seiner Tochter aus dem Wagen und verlor kein einziges Wort zu der Wohngegend.

„Guck mal, Papa! Die ganzen Katzen, die es hier gibt! Ob ich die streicheln kann?“

„Wenn sie nicht weglaufen, sicher.“

Neugierig lief das Mädchen zu einem dicken, roten Kater, der sich auf dem Fußweg sonnte, und sich auch widerstandslos streicheln ließ, sogar sofort laut zu schnurren begann.

Wenn es im Flussviertel etwas gab, dann Katzen!

„Vor Katzen hast du wohl keine Angst, was, Tomo-chan?“

„Aber nein! Katzen sind süß!“

Fye schmunzelte leicht. Welches Kind fand Katzen nicht kuschelig und liebenswert? Also er kannte keines.

Während die beiden den Kater verwöhnten, plagte sich Kurogane damit ab, alle Tüten und Beutel auszuladen, und wartete schließlich darauf, dass er gesagt bekam, wo er sie denn nun genau hinzubringen hatte.

Irgendwie peinlich schien Fye seine Wohnung dann doch zu sein, als er Vater und Tochter in einen großen Wohnblock führte, und sie zusammen im Fahrstuhl bis in den sechsten Stock fuhren. An der Wohnungstür, vor der er hielt, hing in kleines, in fein säuberlicher Handschrift geschriebenes Schildchen, auf dem der Name „de Flourite“ zu lesen war. Kurogane konnte sich nicht erinnern, vorher schon einmal gehört zu haben, wie der Kindergärtner seiner Tochter eigentlich mit Nachnamen hieß. Dieser passte zu ihm. Ein wenig abgedreht, genau wie der Blondschopf selber.

„Oh...“

Mit einer Hand in der Jackentasche blickte der blonde Wuschelkopf nun betreten auf und lächelte entschuldigend. Kein gutes Omen.

„Oh-Oh...“

„Jetzt sag nicht, du hast deinen Schlüssel vergessen!“

„Also na ja... doch. Irgendwie schon.“

Der Schwarzhaarige rollte genervt mit den Augen und schien kurz davor, alle Einkäufe einfach auf den Boden zu schmeißen und wieder zu gehen. Fye hatte sein breitestes Grinsen aufgesetzt, doch es schien der Laune seines genervten Freundes nicht wirklich zu helfen.

„Und was machen wir jetzt Fye-Nii-chan? Müssen wir am Ende auf dem Flur essen?“

Etwas bange blickte Tomoyo zu ihm auf, aber Fye kicherte nur amüsiert und drückte auf die Klingel.

„Aber nein.“

Drinnen waren Schritte zu hören, dann kurz Ruhe. Anscheinend wurden sie durch den Türspion gemustert.

„Fye? Bist du das?“

Eine Frauenstimme? Kuroganes Augenbrauen gingen in die Höhe. Der Kerl hatte eine Freundin? Was für eine Überraschung! Das hätte er ja nun gar nicht gedacht, dass es eine Frau mit diesem nervigen Individuum aushielt. Und noch etwas fiel ihm auf: Diese Stimme hatte er schon einmal gehört...

„Jepp. Lässt du uns bitte rein, Chii? Ich hab meinen Schlüssel vergessen.“

„Mal wieder“, kam es amüsiert von der anderen Seite der Tür und ihnen wurde geöffnet.

Kurogane stand die Überraschung förmlich ins Gesicht geschrieben. Es war unverkennbar, dass die beiden sich nicht zum ersten Mal begegneten. Doch noch bevor Fye seine eigene Verwunderung über diese Erkenntnis überwunden hatte und nachfragen konnte, hatte das blonde Mädchen sich bereits aus ihrer Starre gelöst und zog den blonden Kindergärtner in eine freudige Umarmung, begrüßte ihn herzlich.

Derweil bewegte Kurogane sich bereits Richtung Küche – also dorthin, wo er die Küche wohl richtigerweise vermutete. Fye, sich an seine Pflichten als Gastgeber erinnernd, eilte ihm und seinem Töchterchen nun schnell nach, um wenigstens beim Auspacken helfen zu können.

„Vielen Dank. Du kannst dich ja mit Tomoyo derweil ins Wohnzimmer setzen, ich räume nur schnell ein.“

„Ich will aber helfen!“, protestierte die Kleine eifrig und machte demonstrativ einen Schritt von ihrem Vater weg. Dass Kurogane überhaupt auf die Idee kam, bei etwas mitzumachen, schien für die Kleine schon abwegig. Anscheinend machte bei ihnen zu Hause auch alles Kuroganes Freundin.

„Ich helfe auch mit, Fye.“

Nun betrat auch noch Chii die kleine Küche, die eigentlich nicht für vier Personen gedacht war, und nahm die Gefriertasche hoch. Ohne dass sie irgendwelche Vorbehalte zu haben schien, drückte sie diese dann dem Schwarzhaarigen in die Hand und lächelte sanft zu ihm auf.

„Die Kühltruhe steht draußen auf dem Balkon. Würden Sie das bitte einräumen?“

Und nicht nur, dass sich das Mädchen traute, einem Wildfremden um so etwas zu bitten, nein, Kurogane kam der Bitte auch noch ohne jeglichen Widerspruch nach!

Fye war fassungslos.

Es war ihm einfach unbegreiflich. Und so sehr es ihn auch freute, dass Kurogane mit half, es brachte ihn genauso sehr durcheinander. Er wagte gar nicht sich auszumalen, was hier passiert wäre, hätte er den ohnehin schon schlechtgelaunten Mann um so etwas gebeten. Wahrscheinlich hätte dieser ihn so richtig zusammengestaucht. Aber warum tat er dann einfach so, worum Chii ihn bat? Das war doch nicht Kurogane, oder? Schwer vorstellbar, dass ausgerechnet dieser rüpelhafte Kerl ein Gentleman sein sollte, der bei den Ladys zahm wurde. Oh, sicher nicht!

Nicht Kurogane!

Oder...?

Total aufgelöst räumte er fast alles falsch ein und warf sogar eine Packung Spaghetti herunter, die aufplatze und ihren Inhalt über den ganzen Küchenboden verstreute.

„Mist!“

Es war weniger das Wort als die Art, wie er es aussprach, die auf einen sehr heftigen Fluch hinwies. Auf allen Vieren robbte der Blondschopf über den Küchenboden, um alles wieder einzusammeln. Zum Glück dekorierte Chii gerade mit Tomoyo die Obstschale im Wohnzimmer, da mussten die beiden Mädchen wenigstens das verwirrte Gewusel nicht mit ansehen. Nur war Fye ganz entfallen, dass noch jemand in der Wohnung herumlief, und umso erschrockener fuhr er zurück, als seine schlanken Finger plötzlich einen andere warme Hand berührten.

Mit total verrutschten Gesichtszügen starrte er den Mann gegenüber an, der ebenfalls am Boden kniete und kommentarlos trockene Spagetti aufsammelte.

„Kuro?“

Der Schwarzhaarige blickte kurz auf, hielt aber bei dem verstörten Ausdruck in den blauen Augen inne.

„Was ist los?“

Ertappt senkte Fye den Blick. Er wusste doch selbst nicht, was ihn gerade so aus der Ruhe brachte. Aber der Gedanke, dass Kurogane nur zu ihm so ruppig war, schnürte irgendetwas in ihm zusammen und seine Hände leicht zittern. Aber das war doch Einbildung, oder?

Ganz bestimmt! Es gab sicher eine logische Erklärung, warum der alte Brummbär gerade so freundlich zu seiner kleinen Mitbewohnern gewesen war.

„Es...nichts. Es ist alles okay.“

Aber er brauchte nur kurz in die blutroten Augen zu blicken, um zu wissen, dass Kurogane ihm das nicht glaubte. Er konnte diesem Mann einfach nichts vormachen.

Als der Schwarzhaarige sich erhob, beugte er sich in der Bewegung leicht vor, sodass er sich seitlich ganz nah an dem Kopf des Blondschopfs vorbei bewegte und unbemerkt etwas in dessen Ohr flüstern konnte.

„Lügner.“
 

Still hatte Chii im Türrahmen an der Küche gestanden und die beiden Männer beobachtet, die zusammen auf dem Boden gekniet und nur ein paar wenige Worte gewechselt haben. Aber das hatte ausgereicht, um einige Erkenntnisse aus ihrem Verhalten zu gewinnen, welche den beiden selbst wahrscheinlich gar nicht bewusst waren. Sie wirkten befangen und doch konnten sie sich in die Augen blicken und berühren, ohne dass bei der stummen Betrachterin der Eindruck entstand, es würde unter Zwang geschehen.

Fye wirkte verstört, aber es schien nicht wegen der Nähe des Schwarzhaarigen zu sein, vielmehr hatte Chii das Gefühl, dass er ein wenig ruhiger wurde, wenn er in die Augen seines Gegenübers sah. Und als der größere Mann sich vorlehnte, um noch etwas zu sagen, was offensichtlich nur für die Ohren des Blonden bestimmt gewesen war, schloss dieser für einen Moment die Lieder und verharrte ruhig. Eine Geste von Sicherheit und Vertrauen, die das Mädchen bei ihrem Freund bisher nur selten beobachtet hatte. Denn selbst bei ihr wollte Fye lieber Schutz spenden, als ihn sich zu hohlen.

Dieser Mann war also wirklich so besonders, wie Chii es anfangs schon geglaubt hatte. Wenn selbst Fye, der sonst jedem gegenüber misstrauisch war, bei ihm Geborgenheit zu finden schien...

Was verband die beiden wohl?

„Ich wusste gar nicht, dass Sie Fye kennen.“

Jetzt, als das Mädchen sicher sein konnte, die beiden Männer nicht mehr zu stören, machte sie sich bemerkbar und tat, als würde sie den Raum gerade erst betreten. Der Angesprochene zuckte nur die Schultern.

„Ich wusste auch nicht, dass du ihn kennst. Woher sollte ich auch.“

„Ich wusste generell nicht, das ihr euch kennt!“, warf Fye ein, aber die indirekte Frage wurde übergangen.

„Ich freue mich sehr, dass wir uns noch einmal begegnen. Es war wirklich nett von Ihnen, dass sie mich neulich begleitet haben.“

Der Blonde, der immer noch zu Kuroganes Füßen kniete, horchte interessiert auf, und Chii musste schmunzeln. War das der Grund, warum Fye gerade so durcheinander war? Weil er nicht wusste, warum sie und der schwarzhaarige Mann sich kannten? Vielleicht nicht ganz. Aber sicherlich teilweise.

„Geschenkt.“

„Ich weiß“, schmunzelte das Mädchen, bevor es sich an ihren Mitbewohner wandte. „Ich geh schnell neue Spagetti kaufen, okay? Diese hier können wir wohl nicht mehr benutzen.“

„Chii, warte! Woher...?“

Aber statt eine direkten Antwort auf die verzweifelte Frage zu geben, umarmte sie ihren Freund liebevoll.

„Frag ihn doch einfach, dann kann ich in der Zeit einkaufen gehen.“

Und damit huschte sie aus der Wohnung.
 

Heute war wirklich alles etwas komisch, oder?

Kurogane blickte nachdenklich zur Wohnungstür, die hinter dem Mädchen ins Schloss gefallen war, und seufzte leise. Was für ein Zufall, dass ausgerechnet sie mit Fye zusammenwohnte. So etwas musste man doch beinahe Schicksal nennen. Zumindest war so viel Zufall geradezu rätselhaft.

Aber nicht so rätselhaft wie das seltsame Verhalten des blonden Mannes, der ihn nur vor wenigen Augenblicken noch so verstört angestarrt hatte, wovon jetzt jedoch keine Spur mehr zu finden war. Stattdessen grinste ihn nun wieder diese verschmitzt-neckende Maske eines Lächelns an.

„Also: Woher kennst du Chii?“

„Ich hab sie vor ein paar Tagen auf dem Heimweg im Park getroffen. Auf einem Spielplatz, wenn du es genau wissen willst. Und weil sie so verloren aussah, habe ich sie halt nach Hause gebracht.“

Er würde jetzt nicht weiter nachbohren, was das seltsame Verhalten des Blonden nun schon wieder sollte. Es brachte doch eh nichts, wenn dieser geheimnisvolle Kerl es sich erst einmal in den Kopf gesetzt hatte.

„Du?“

Fassungslos blickte Fye zu ihm auf.

„Kannst du dir nicht vorstellen, was?“, war die bissige, ein wenig eingeschnappte Erwiderung, aber noch bevor Kurogane sich abwenden konnte, griff der Blondschopf nach seiner Hand und hielt ihn fest.

„Kuro-sama...bitte... So war das nicht gemeint.“

Warum zitterten die langen, kühlen Finger so?

„Wie dann?“

„Chii hat mir davon erzählt und ich musste augenblicklich an dich denken. Aber ich hätte nicht gedacht... Danke. Danke, dass du sie sicher heim gebracht hast. Das wollte ich eigentlich sagen.“

Als ob er Angst hätte, sein Gegenüber könnte einfach weggehen, ohne irgendeine Antwort oder wenigstens ein Reaktion zu geben, klammerte er sich fast verzweifelt an die braungebrannte Hand.

Kurogane konnte erneut nur lautlos seufzen.

„Okay, schon gut.“

Und der Tag wurde immer komischer.
 

KLINGLING

„Nii-chan! Ich geh aufmachen!“

Geschwind schlüpfte Tomoyo zwischen den Beinen ihres Vaters hindurch, der fast gestolpert wäre und damit den Stapel Teller auf den Boden geworfen hätte. Augenrollend stellte Kurogane sie auf den Tisch und verteilte sie ordentlich.

Vom Flur her kündigte ein begeistertes „Sakura-chan! Shaolan-kun!“ ihre neuen Besucher an und während die Vierjährige begeistert auf die beiden Neuankömmlinge einredete, balancierte Fye ein Tablett mit Gläsern herbei.

„Sie ist wirklich ein liebes Mädchen.“

Von der Aufgewühltheit des blonden Zauselkopfes war gar nichts mehr zu spüren und er lächelte so vergnügt wie eh und je, während er den Tisch mit fertig deckte und dann ebenfalls in den Flur eilte, um seine Praktikantin und ihren Freund zu begrüßen.

„Schön, dass ihr gekommen seid. Ich war so frei, schon mal was zu kochen, was hier garantiert jeder gern isst!“

„Wetten, ich weiß es. Spaghetti?“

„Hundert Punkte, Sakura-chan!“

„Außerdem duftet der ganze Flur danach!“, lachte ihr Freund Shaolan.

Anscheinend war das etwas, was Fye oft zubereitete, und dass jeder, allen voran Kinder, es mochten, wusste sogar Kurogane. Und zugegeben, die selbstgemachte Soße roch wirklich ziemlich verlockend. Woraus auch immer der Witzbold sie gemacht hatte.

„Kommt, kommt. Wir können gleich essen und nachher plaudern. Ihr kommt nämlich gerade recht.“

„Wir wären auch eher hier gewesen, aber wir haben die richtige Hausnummer nicht gleich gefunden. Hier im Flussviertel gibt es wirklich kein System!“, beschwerte sich Shaolan, doch seine Stimme hatte noch immer den freundlichen, unbeschwerten Ton.

„Das macht das Wohnen hier umso lustiger!“, lachte Fye. „Man kann den Leuten so schön leicht Streiche spielen. – Soll ich dir das abnehmen?“

„Ah, nein, das geht schon“, antwortete der Junge abwehrend.

Was brauchten die da draußen so lange? Langsam wurde Kurogane neugierig, doch das geheimnisvolle Gespräch klärte sich bald auf, denn in diesem Moment betraten die beiden Neuankömmlinge das Wohnzimmer.

„Kurogane-san!“

Sakura war die erste, die ihn entdeckte und auf ihn zulief.

„Es freut mich wirklich sehr, dass Sie sich extra die Zeit nehmen und heute mit uns allen zusammen essen.“

„Mich freut es auch sehr“, schloss Shaolan sich ihr an, bedachte dann den Beutel in seiner linken Hand mit einigen zögerlichen Blicken. „Und...ich weiß, Sie wollten nichts Großartiges, aber Sakura-chan und mir bedeutet das doch sehr viel, daher...“

Er griff in den Beutel hinein und brachte eine verpackte Flasche zum Vorschein.

„Also wir hoffen, Sie mögen Bordeaux, trocken.“, erklärte der Braunhaarige mit einem schiefen Grinsen.

Kurogane stöhnte gequält auf. Die Kinder konnten es einfach nicht lassen! Egal, wie oft man ihnen etwas sagte, sie wollten nicht hören. Mit einem Mal schwankten die Gesichtsausdrücke des Pärchens und sie sahen aus, als glaubten sie, das Falsche geholt zu haben.

„Versteht mich nicht falsch. Ich mag Bordeaux.“

Den mochte er wirklich.

„Aber ich hab euch doch gesagt, dass ich nichts will. Es war nur eine Kleinigkeit, längst vergessen.“

„Uns hat es aber sehr viel bedeutet“, nuschelte Sakura kleinlaut.

Wieder seufzte Kurogane niedergeschlagen. Da konnte er genauso gut versuchen, das einer Wand begreiflich zu machen. Na ja, und außerdem...

„Aber jetzt haben wir den Wein ja schon gekauft. Wir können ihn ja schlecht wieder zurückbringen“, warf Shaolan ein.

Ja, das hatte der Schwarzhaarige sich auch gerade gedacht. Also gut. Dann nahm er ihn eben einfach an und die liebe Seele hatte endlich ihre Ruh. Und als er das begeisterte Leuchten in den Augen der beiden Jugendlichen sah, konnte er ihnen auch nicht mehr böse sein.

Kaum dass Kurogane den Wein sicher weggepackt hatte, hörte man erneut jemanden zur Tür hereinkommen. Chii war mit den neuen Spaghetti zurückgekehrt. Shaolan und Sakura kannten das blonde Mädchen noch nicht und so stellte Fye sie als seine zeitweilige Mitbewohnerin vor. Dann wurden schnell die Nudeln angesetzt, bevor die Soße wieder abgekühlt war, sodass zehn Minuten später mit dem Essen begonnen werden konnte.
 

Weitere zwei Stunden später war alles alle und jeder ausreichend satt und die Gespräche – hauptsächlich zwischen Fye, Shaolan und Sakura – verstummten allmählich.

Fye hatte die Gelegenheit genutzt, seine Praktikantin danach zu fragen, warum sie und Shaolan sich unbedingt bei Kurogane bedanken wollten, doch der Schwarzhaarige hatte nur mit einer wegwischenden Handbewegung erklärt, dass die beiden mal von einem Betrunkenen belästigt worden waren und er ihnen den Kerl vom Leib geschafft hatte, mehr nicht. Keine weltbewegende Sache. Zumindest zu dem Zeitpunkt noch nicht. Aber das mussten keiner der hier Anwesenden wissen. Und er wollte das Thema auch lieber begraben.

„Du, Papi?“, lenkte schließlich Tomoyo alle Aufmerksamkeit auf sich.

Da es schon spät war, hatte sie sich auf dem Schoß ihres Vaters zusammengekuschelt und blinkerte schlaftrunken in die Runde.

„Hätten wir nicht Moko-chan auch was von den Nudeln aufheben sollen?“

„Wem?“

„Unserem Hasen, Kuro-wanko“, half Fye liebenswert aus.

„Ah. Nein, Tomoyo. Karnickel fressen keine Nudeln.“

„Wirklich nicht?“

„Wirklich nicht.“

„Dann ist ja gut.“

Müde vergrub sie das Gesicht im schwarzen T-Shirt ihres Vaters und dämpfte so ihr Gähnen. Für sie war es nach diesem ereignisreichen Tag ganz ohne Mittagsschlaf allerhöchste Zeit, in die Federn zu kommen.

„Chii? Wollen wir der kleinen Tomo-chan nicht eine Weile dein Bett anbieten?“

Das junge Mädchen nickte natürlich sofort und erhob sich. Mit einer kurzen Geste deutete sie Kurogane an, ihr bitte zu folgen, was der fürsorgliche Vater auch gleich tat und seine kleine Tochter, die innerhalb von Minuten in seinen beschützenden Armen eingeschlafen war, schließlich behutsam in das viel zu große Bett legte. Erst nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie wirklich ruhig schlief, kam er wieder zurück zu der geselligen Runde.

Fye ließ sich auch nicht lange bitten ihn aufzuklären, worüber man sich hier gerade so angeregt unterhielt.

„Wir haben gerade überlegt, wer den Abwasch übernehmen muss.“

„Ja und?“

„Nichts ‚ja und’. Wir entscheiden das mit Stein, Schere, Papier. Und nur zu deiner Information, Kuro-rin, wer sich weigert mitzumachen, der MUSS abwaschen!“

Grummelnd gab er Schwarzhaarige sich geschlagen. Warum gab es in dem Haushalt denn keine Spülmaschine? Was waren denn das für Zustände, verdammt?

„Also dann, alle Mann bereit? Also auf drei! Eins, Zwei, Drei!“
 

Vor sich hinknurrend drehte Kurogane den Wasserhahn zu und starrte übellaunig in das Becken voller schmutzigem Geschirr und Spülwasser. Wieso... Er hätte es wissen müssen!

„Kurogane-san?“

Schüchtern kam Chii näher, bis sie bei ihm am Waschbecken stand.

„Ist alles okay? Oder kann ich irgendwie helfen?“

Eigentlich wollte der Schwarzhaarige sie wegscheuchen, besann sich dann aber eines Besseren. Wenn sie schon helfen wollte, warum sollte er ihr es dann verbieten?

„Du kannst abtrocknen, wenn du möchtest.“

„Sehr gern.“

Er kannte wirklich niemanden, der so gern eine Arbeit übernahm – außer der Praktikantin im Kindergarten vielleicht – und der hochgewachsene Mann konnte nur schwach lächeln, als sich das Mädchen ein Geschirrtuch nahm und darauf wartete, dass sie den ersten Teller trockenreiben konnte. Nachdem die Essensreste etwas eingeweicht waren, konnte Kurogane auch endlich mit dem Abwasch beginnen. Bei ihrem andächtigen Schweigen konnte man in der Wohnung jedes kleine Geräusch vernehmen, hauptsächlich das leise Klappern und Rücken im Wohnzimmer, welches von Shaolan und Sakura wieder richtig hergerichtet wurde. Und wo auch immer Fye steckte, wenigstens verhielt er sich ruhig.

Erst nachdem schon die Hälfte des Abwaschs erledigt war, ergriff das blonde Mädchen mit ihrer ruhigen Stimme erneut das Wort, wobei sie zu dem großen Mann aufsah.

„Ich wollte Sie etwas fragen.“

Mit einem knappen Nicken in ihre Richtung deutete der Schwarzhaarige ihr an, dass er zuhörte.

Das Mädchen errötete leicht, lächelte aber glücklich über das Zugeständnis. Auch wenn Kurogane immer so miesepetrig tat, so war er doch im Grunde ein lieber Mensch, das wusste sie einfach.

„Wäre es anmaßend, wenn ich Sie bitten würde, etwas auf Fye-san Acht zu geben?“

„Warum sollte ich?! Bin ich sein Babysitter?“

Erschrocken starrte Kurogane sie an und wusste vor Überraschung gleich gar nichts anderes zu erwidern, als die Bitte rigoros auszuschlagen. Wie kam sie denn überhaupt dazu, so etwas zu fragen?

„Ich dachte nur... Er hat in letzter Zeit ein paar Probleme und braucht jemanden, dem er vertrauen und bei dem er sich mal ausruhen kann.“

„Und was habe ich damit zu tun?“

So, wie sich der blonde Derwisch manchmal aufführte, hatte er mehr als nur „ein paar“ Probleme. Und Kurogane wusste dagegen nur ein Mittel: einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf.

„Ich weiß nicht so genau...aber ich habe das Gefühl, dass Fye Sie mag, dass er Ihnen vertrauen möchte. Sie sind ein sehr netter Mensch, Kurogane-san, auch wenn Sie das meist nicht zeigen wollen. Und er spürt das sicher auch. Alles, worum ich Sie bitten möchte, ist, ihm ein wenig zur Seite zu stehen, wenn es ihm nicht gut geht.“

Verlegen strich sich Chii das Haar aus dem Gesicht und musterte den Teller, den sie regungslos in der Hand hielt. Zwar blickte der Schwarzhaarige sie immer noch aus zweifelnden roten Augen an, aber sie wollte und konnte nun keinen Rückzieher mehr machen. Fye zuliebe.

„Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Natürlich möchte ich Sie zu nichts zwingen. Es ist nur... Ich kann Fye-san nicht immer helfen... Ich bin leider nicht der richtige Mensch für ihn. Und es wäre schön, wenn er jemanden hätte, der ihn beschützt, wenn es ihm schlecht geht...“
 

Leise betrat Kurogane das Schlafzimmer und fand seine Tochter noch immer tief schlafend vor, dicht an ihren blonden Kindergärtner gekuschelt, der auf dem Fußboden am Kopfende des Bettes saß, den Oberkörper neben das Kissen gebettet, und ebenfalls ruhig schlief. Zum ersten Mal sah Kurogane ihn mit völlig entspanntem Gesicht. Kein falsches Lachen zerstörte diesen Anblick, stattdessen wirkte er einfach friedlich. Die neutralen, ebenmäßigen Linien waren von einer beinah malerischen Vollkommenheit.

Vorsichtig, um die beiden nicht zu wecken, näherte der Schwarzhaarige sich der Schlafstätte und ließ sich auf der Bettkante nieder. Aber kaum dass er sich gesetzt hatte, fuhr Fye wie ein verschrecktes Tier hoch. Nur aufgrund seiner schnellen Reaktionsfähigkeit konnte er den schlanken Mann festhalten, bevor dieser panisch auf die Beine springen und aus dem Zimmer flüchten konnte.

Tomoyo brummte leise im Schlaf und drehte sich auf die Seite, wachte aber von dem Tumult nicht auf.

Als ob er dem Teufel persönlich gegenüberstand, versuchte der Blonde sich aus seinem Griff zu befreien, und er wand sich so heftig, dass es selbst für Kurogane nicht einfach war, ihn noch länger festzuhalten.

„Hey, ist ja gut. Ich bin’s nur!“

Hatte Chii vielleicht das gemeint, als sie gesagt hatte, dass Fye in letzter Zeit ein paar Probleme hatte und jemanden brauchte, dem er vertrauen und bei dem er sich ausruhen konnte?

„Beruhig dich, verdammt!“

Anscheinend war es der gewohnte Ausdruck, der Fye half, endlich in die Realität zurück zu kommen und augenblicklich erstarb jede Gegenwehr, er sank nur wie ein Häufchen Elend in seiner Ecke am Bettrand zusammen.

„Kuro...gane...?“

„Wieder besser?“

„... Nimm Tomoyo und fahr nach Hause.“

Kurogane streckte die Hand aus und wollte sie behutsam auf die schlanke, heftig zitternde Schulter legen, aber der Blondschopf drehte sich weg und drückt sein Gesicht ins Kissen.

„Bitte!“

„Wie du willst.“

Ohne ein weiteres Wort nahm der verwirrte Vater seine Tochter auf den Arm, die bei der plötzlichen Bewegung verschlafen blinzelte, aber gleich darauf wieder einschlief, dann griff er nach der Decke, um sie Fye notdürftig überzuwerfen. Etwas anderes fiel ihm gegen das Zittern des Blonden in diesem Moment nicht ein. Kurz blieb er noch stehen, aber er wusste selbst, dass er hier nichts mehr tun konnte.

Also ging er, nachdem er sich von Chii und den anderen beiden Jugendlichen, die nun alle im Wohnzimmer versammelt waren, verabschiedet hatte.

Wie sollte man jemandem helfen, der sich nicht helfen lassen wollte?
 

TBC...

Ein wunder Punkt

Disclaimer: Die Charas gehören (bis auf wenige Ausnahmen) nicht uns, sondern Clamp. Wir wollen kein Geld damit verdienen, sondern nur unterhalten.
 

Die Liedauszüge sind von: Simon & Garfunkel - "Bright Eyes"

und: Oasis - "Wonderwall"
 

Erstschreiber des Kapitels: Lady_Ocean

Kapitel: 12/26
 

-~*~-
 

„Das Gewissen ist die Wunde, die nie heilt und an der keiner stirbt.“

(Friedrich Hebbel)
 

-~*~-
 

Ein wunder Punkt
 

Irgendetwas war seltsam an diesem Morgen. Doch wenn er genauer darüber nachdachte, war es eigentlich nicht nur der Morgen, der Kurogane so sehr irritierte, sondern die letzten Tage im Allgemeinen. Seit wann hatte er das Gefühl, so...entspannt zu sein? Es musste Jahre her sein, seit er sich das letzte Mal so erholt gefühlt hatte. Sicherlich hatte er das zum Großteil Tomoyo zu verdanken, mit der er plötzlich und eher zwangsweise so viel mehr Zeit verbrachte als früher. Es lag aber nicht nur allein daran. Der Schwarzhaarige musste sich eingestehen, dass auch Fye eine größere Rolle in seinem Denken eingenommen hatte, als er es vor knapp zwei Wochen jemals hätte ahnen können.

Zwei Wochen...

So wenig Zeit, und doch war in ihnen mehr passiert als in den letzten vier Jahren.

Zuerst war ihm die Suspendierung einem Weltuntergang gleich gekommen, doch nun störte er sich praktisch gar nicht mehr daran. Woran er sich ebenfalls nicht störte – und das war es, was ihn an diesem Morgen so sehr irritierte – war die Tatsache, dass wieder Freitag war.

Freitag. Das bedeutete, einen ganzen Vormittag lang psychische Dauerbelastung, ausgeführt durch das Folterinstrument „Kinder“. Doch Kurogane spürte, dass er sich das irgendwie nur einredete, wenn er so über die kleinen Hosenscheißer im Kindergarten dachte. Er hatte bereits einen Freitag überstanden. Er hatte am Dienstag sogar mehr oder weniger freiwillig mehr Zeit als nötig an diesem Ort verbracht und das Regal für die Spielsachen zusammengezimmert. Und es hatte sich beide Male als weniger schlimm herausgestellt, als ursprünglich angenommen. Da würde der heutige Tag sicher auch irgendwie funktionieren.

Gedankenverloren nippte der Schwarzhaarige an seinem Kaffee, als er die Schlagzeilen in der Morgenzeitung überflog.

Aber am meisten erstaunte ihn immer noch der gestrige Abend, den er gemeinsam mit dem Kindergärtner, seiner Praktikantin, dessen Freund und dem Mädchen aus dem Park verbracht hatte. Es war ewig her, seit er sich das letzte Mal freiwillig in seiner Freizeit in Gegenwart so vieler Menschen aufgehalten hatte. Er war noch nie einer der Menschen gewesen, die sich gern in großer Gesellschaft amüsierten, daher hatte er solche Gelegenheiten auch nicht groß vermisst, als sein Beruf ihm schließlich die Möglichkeiten dafür gänzlich genommen hatte. Trotzdem war es nicht allzu unangenehm gewesen. Die Praktikantin und ihr Freund waren nette Kinder, irgendwie liebenswert. Und auch das Mädchen aus dem Park war trotz ihrer teilweise seltsamen Worte und der für ihr Alter untypischen Verschwiegenheit doch sehr nett.

Und der Kindergärtner...? Tja, der gab ihm immer größere Rätsel auf. Es nervte ihn. Es nervte ihn fürchterlich, dass dieser sich so in seinem Schneckenhaus verkroch und weder herauskommen noch irgendwen hineinlassen wollte, obwohl er doch offensichtlich unter irgendetwas litt. Er zerstörte sich selbst damit. Die plötzliche Bitte seiner Mitbewohnerin hatte ihm das nur bestätigt. Doch wie sollte er diesem Kerl helfen, wenn der sich partout nicht helfen lassen wollte?

So ein Dickschädel! Dagegen erschien sogar er selbst als umgänglicher Mensch!

Dennoch, er würde nicht einfach aufgeben, das stand für Kurogane fest. Er wollte wissen, was hinter dieser Maske steckte. Und ob sich seine Probleme nicht doch irgendwie aus der Welt schaffen ließen.

„Papa? Was machst du denn? Du guckst die ganze Zeit Löcher in die Luft“, gluckste eine vertraute Kinderstimme, große, violette Augen schauten ihn belustigt an.

„Nichts. Ich hab mich bloß an gestern erinnert“, war die halbwahre Antwort.

„Es war echt lustig bei Fye-nii-chan, was?“

„Ging so.“

„Und heute bleibst du wieder bei mir im Kindergarten?“

„Sieht wohl so aus...“

Einige Augenblicke schien die Kleine ihn eindringlich zu mustern, dann sprach sie weiter: „Du bist gar nicht böse, dass du wieder mitkommen musst.“

Kurogane musste grinsen. Sie hatte es wie eine Feststellung formuliert, nicht wie eine Frage. Und ganz so unrecht hatte sie damit gar nicht. Nicht, dass er sich darauf freuen würde – so weit kam es noch! Aber es war ihm mehr oder minder egal.

„Oje, jetzt hab ich wieder daneben geschmiert!“, kam es nach einer Weile enttäuscht von Tomoyos Platz.

Nach einem kurzen Blick in ihre Richtung wusste Kurogane, was seine Tochter meinte. Sie hatte wieder etwas Butter über den Rand ihrer Schnitte und damit auf das Brettchen befördert. Dafür sah die Schnitte an sich gar nicht einmal so übel aus. Zumindest für ein vierjähriges Mädchen, das die Kunst des Broteschmierens gerade erst erlernte.

„Nicht so schlimm. Das waschen wir nachher einfach ab.“

Mit einem Nicken packte sie noch eine Scheibe Käse auf das Butterbrot und schob ihre fertigen Frühstücksschnitten dann zu ihrem Vater herüber, damit er sie noch einmal durchschneiden und zusammenklappen konnte. Mit ihrem stumpfen Schmiermesser ging das schlecht und sein scharfes gab er ihr lieber noch nicht in die Hand.

Zum Schluss packte er den Apfel, den er nebenbei geschnitten hatte, und eine Flasche Tee zum Pausenbrot, übergab alles in die Obhut seiner Tochter und räumte noch schnell den Tisch ab.

An der Arbeitsfläche blieb sein Blick kurz an der Bitterschokolade hängen, die Fye ihm am vergangenen Abend zugesteckt hatte. Eigentlich hatte er sie längst wegschmeißen wollen, weil er sich sicher war, dass es ihm eh nicht schmecken würde, doch gleichzeitig bereitete ihm der Gedanke ein schlechtes Gewissen. Der Blondschopf hatte ihn so erwartungsvoll angesehen, als er ihn gebeten hatte, sie wenigstens einmal zu kosten. Aber er wollte trotzdem nicht! Dank dieser Unentschlossenheit lag sie jetzt jedenfalls hier. Kurogane schüttelte über seine ungewohnte Nachsicht den Kopf und wandte sich zum Gehen.

„Dann mal los.“
 

Der Verkehr auf den Hauptstraßen war wirklich unberechenbar. Wenn er den gestrigen Stau schon als unmenschlich empfunden hatte, so zeigte ihm die heutige Situation, dass es noch weitaus schlimmer gehen konnte. Kurz vor der letzten Kreuzung, an der er endlich in eine beruhigtere Straße einbiegen konnte, zeigte sich auch der Grund dafür. Ein alter Tattergreis und ein halber Grünschnabel konnten anscheinend beide nicht fahren – der eine nicht mehr und der andere wohl noch nicht – und mussten natürlich zur denkbar günstigsten Uhrzeit an der denkbar günstigsten Stelle einen Unfall fabrizieren und damit die halbe Straße versperren. Der Polizist, der die Automassen über die verbliebene Spur umleiten musste, sah nicht weniger zerknirscht aus als die vielen Autofahrer in ihren Maschinen, die nach ewig langem Warten an der Unfallstelle vorbeischleichen durften.

Tomoyo war die ganze Zeit über ungewöhnlich still gewesen. Hin und wieder hatte Kurogane einen unsicheren Seitenblick von ihr gespürt, doch sie sagte nichts. Und er war ihr dankbar dafür. Momentan beanspruchte es schon seine ganze Konzentration, sich die unzähligen Schimpftiraden zu verkneifen, die er am liebsten die ganze Fahrt über hinausgebrüllt hätte.

Wenn der Kindergärtner diesmal wieder einen Aufstand machte, weil sie zu spät kamen, könnte er für nichts garantieren. Egal, ob Kinder in der Nähe waren oder nicht. Allerdings hatte er dennoch versucht, dem diesmal vorzubeugen. Als klar wurde, dass sie es nie und nimmer pünktlich schaffen würden, hatte Kurogane kurz sein Handy zur Hand genommen, die Nummer des Kindergartens rausgesucht und nach dem Verbindungsaufbau Tomoyo gebeten, wegen der Verspätung Bescheid zu geben. Er selbst hatte weiß Gott keine Lust gehabt, in dem Moment mit dem Blondschopf zu sprechen. Die sinnlosen Kommentare hätten ihn jetzt unweigerlich auf die Palme gebracht. Aber seine Tochter schaffte das Gespräch zum Glück problemlos allein.#
 

Kurogane atmete hörbar aus, als sie den Stau endlich hinter sich gelassen hatten und er wieder Gas geben konnte. Dabei meinte er es gleich ein ganzes Stück zu gut und schoss weit über die Geschwindigkeitsbegrenzung hinaus. Neben ihm quietschte Tomoyo angsterfüllt auf.

„Papa! Nicht so schnell!“

Eingeschüchtert klammerte sie sich an ihrem Gurt fest und starrte ihren Vater mit geweiteten Augen an. Als dieser einen Kontrollblick auf den Tacho warf, merkte er, dass die Nadel bereits die 80 km/h-Marke passierte, und nahm schnell den Fuß vom Pedal.

„Tschuldige...“

Wesentlich entspannter richtete sich die Kleine wieder auf.

„Der Stau war aber schlimm heute...“, meinte sie kleinlaut, so als würde es die Raserei ihres Vaters entschuldigen.

Als sie schließlich am Kindergarten ankamen, sah Kurogane bereits einige der Kinder durch die Fenster. Im Gegensatz zu sonst rannten sie diesmal jedoch nicht herum, sondern saßen still und schienen sich auf irgendetwas zu konzentrieren, blickten alle in dieselbe Richtung. Na ja, gleich würde er wissen, was dieser verrückte Kindergärtner diesmal ausgeheckt hatte, dass er die Kinder geschlossen so faszinierte.

Fye...

Gleich würde er sein aufgesetztes Grinsen wieder ertragen müssen. Hoffentlich machte er diesmal wirklich keinen Aufstand wegen der Verspätung.

Ihm fiel der Abschied vom vergangenen Abend wieder ein und Kuroganes Gesicht verdunkelte sich unbewusst. Wahrscheinlich würde der Schauspieler mal wieder so tun, als ob nichts gewesen wäre, obwohl gestern Abend irgendetwas alles andere als in Ordnung gewesen war. Dabei wusste der Blonde ganz genau, dass er das mitbekommen hatte...

„Papa, wann kommst du denn?“
 

Sechs Augenpaare hatten sich gespannt auf ihn geheftet, blickten ihn vergnügt und bewundernd an, ohne auch nur eine seiner Bewegungen zu verpassen. Fye lächelte in sich hinein, als er zum wiederholten Male diesen wundersamen Zauber, der auf seinen Kindern zu liegen schien, in sich aufnahm.

Er war froh, die Schlinge an seinem rechten Arm endlich los zu sein. Sie hatte ihn fürchterlich in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Sein Arzt wäre bei der nächsten Kontrolle sicher nicht sehr begeistert davon, aber Fye wusste schließlich am besten, wie es seinem Körper ging. Und es ging ihm auf alle Fälle gut genug, um ohne Schlinge herumlaufen zu können.

So konnte er auch endlich wieder Gitarre spielen und all die verzauberten Kindergesichter entschuldigten das leichte Ziepen, das er beim Bewegen des Armes noch verspürte, allemal.

„And nobody ever knows when you go, and where do you start…oh, into the dark…”

Er war gerade dabei, die zweite Strophe zu beenden, als er von draußen das leise Öffnen und Schließen einer Tür hörte. Das wohlige Gefühl, das schon die ganze Zeit sanft in ihm pulsierte, breitete sich weiter aus, verströmte seine angenehme Wärme in seinem ganzen Körper, als er sanft in sich hineinlächelte und die Saiten erneut anschlug, den Refrain des Liedes beginnend.

„Bright eyes, burning like fire.

Bright eyes, how can you close and fail?”

Leises Rascheln von Stoff und gedämpfte Schritte, nur hörbar für den aufmerksamen Beobachter, näherten sich dem Aufenthaltsraum, ihnen folgten zuerst Tomoyo, die sich staunend und andächtig zu ihren Freunden gesellte und auf einem leeren Stuhl platz nahm, dann erschien auch Kurogane im Türrahmen, der dort vorerst ein wenig unsicher, vor allem aber ungläubig, stehen blieb und ihn genauso direkt anstarrte wie all die Kinderaugen.

„How can the light that burned so brightly

suddenly burn so pale?

Bright eyes.”

Sich sein Glücksgefühl nicht anmerken lassend, sang Fye unbeirrt weiter seine ruhige, träumerische Melodie und strich im harmonischen Rhythmus dazu über die Saiten seiner Gitarre, entlockte ihr damit ebenso andächtige Töne, die sich fließend mit seiner sanften Stimme mischten, sich gegenseitig ergänzten, zu einer Einheit werden ließen.

Der Refrain setzte erneut ein und wieder ließ Fye seinen Blick durch die Runde schweifen, verweilte dabei ein klein wenig länger am Gesicht Kuroganes als an denen der anderen Anwesenden. Der Schwarzhaarige sah ihn noch immer mit diesem friedlichen, leicht abwesenden Blick an, lehnte locker im Türrahmen.

Musik bewirkte immer wieder Wunder. Wenn man nur die richtigen Töne traf, durchdrangen sie Mauern, und seien sie noch so dick. Sie erwärmte das Herz und befreite die Menschen von ihren Problemen und Sorgen, regte die Seele zum Träumen an. Kurogane selbst war im Moment das beste Beispiel. Selten hatte Fye ihn so gelöst gesehen. Eigentlich nur, wenn er seine Tochter abholte oder verabschiedete. Für wenige Augenblicke glommen die sonst so wild lodernden Augen dann ebenfalls mit dieser sanften Wärme. Aber so lange... So lange hatte er das noch nie erleben dürfen.

Schnell blickte Fye zurück auf seine linke Hand, die geschmeidig am Griffbrett der Gitarre auf und ab wanderte. Der Schwarzhaarige sollte nicht bemerken, dass er ihn so lange beobachtet hatte. Es würde nur dessen – und damit wahrscheinlich auch seine eigene – innere Ruhe zerstören.

„Bright eyes...“

Die letzten Zeilen des Liedes waren gesungen, noch einmal hüllten die Akkorde davon den Raum in ihren Zauber, bis auch die letzte Note erstarb und der Bann brach.

Die Kinder fingen an zu jubeln und zu klatschen, Tomoyo sprang von ihrem Stuhl auf, um ihn nun stürmisch zu begrüßen und Kurogane... Tja, der verspannte sich schlagartig wieder und brachte sein Sieben-Tage-Regenwetter-Gesicht zurück in Position.

Es war wirklich ein Jammer...

Doch Fye wäre nicht Fye, wenn er von seiner Enttäuschung auch nur die geringste Kleinigkeit nach außen gelassen hätte, sodass Sakura oder den Kindern etwas aufgefallen wäre. Nun, bei dem großen Schwarzhaarigen war er sich nicht ganz sicher, denn in der Hinsicht schien er einen unheimlichen siebten Sinn zu besitzen, aber selbst wenn sein Spürhund wieder skeptisch wurde, so würde er sich vor all den Kindern zumindest mit seinen Bemerkungen zurückhalten. Darauf war bisher immer Verlass gewesen.

„Nii-chan, bist du heute nicht böse auf Papa und mich, obwohl wir zu spät gekommen sind?“, fragte das Mädchen in seinen Armen ein wenig schuldbewusst und guckte ihn aus seinen großen, violetten Augen an.

„Aber nein!“, versicherte er ihr mit einem Lächeln. „Du hast doch diesmal Bescheid gesagt. Daher wusste ich, dass ihr etwas später kommt, und es ist alles okay.“

„Puh, dann bin ich aber beruhigt.“

Glücklich glucksend kuschelte sie sich noch einmal an die Brust ihres Erziehers.

„Sag mal, Nii-chan, haben Papa und ich viel verpasst von deiner Musik?“

„Aber nein! Das war erst das zweite Lied, keine Sorge!“

„Ein Glück! Du kannst nämlich ganz toll singen, Nii-chan. Viel toller als die Leute im Radio.“

„Oh, aber Tomo-chan! Du machst mich ja ganz verlegen!“

Mit einem gespielten Augenaufschlag sah er graziös zur Seite, wie eine feine Lady, die von ihrem edlen Ritter soeben einen Heiratsantrag unterbreitet bekommen hatte.

Apropos edler Ritter. Sein unnahbarer schwarzhaariger Freund hatte sich inzwischen aus seiner Ecke gelöst und war zu ihnen in den Raum getreten, stand nun einige Schritte von ihm und Tomoyo entfernt.

„Na, Kuro-rin? Du hast dich während meines kleinen Ständchens ja gar nicht hereingetraut!“, neckte er den großen Mann und schenkte ihm ein breites Grinsen. Statt einer Antwort beobachtete der andere ihn erst einige Augenblicke skeptisch und drehte schließlich den Kopf weg.

Irrte er sich oder lag da so etwas wie Enttäuschung in den harten Rubinen? Leider kam Fye nicht dazu, diesen Ausdruck oder gar seine Gründe genauer in Augenschein zu nehmen, denn nur Sekundenbruchteile später schien das Gesicht des anderen wieder gänzlich verschlossen, stattdessen kam nun noch die etwas verspätete Antwort auf seine neckende Frage.

„Hätte nicht gedacht, dass du außer Blödsinn machen noch was anderes auf die Reihe kriegen würdest.“

„Nanu, Kuro-sama?! Ein Kompliment aus deinem Mund?“

Wirklich, Fye verstand die Welt nicht mehr. War das echt Kurogane, SEIN Kurogane, der sonst keine Gelegenheit ausließ, um sich zu beschweren? Aber andererseits... Hatte er ihm gestern Abend nicht auch völlig freiwillig geholfen, die verschütteten Nudeln wieder aufzusammeln?

„Übertreib es nicht! Das war kein Kompliment, ich habe lediglich eine Feststellung gemacht.“

Ja, das klang schon eher nach seinem Kuro-wanwan.

„Aber es hat dir gefallen. Wie wäre es dann, wenn du das nächste Ständchen zum Besten gibst?“

Wie von der Tarantel gestochen, fuhr der Schwarzhaarige wieder zu ihm herum.

„WAS?!“

„Oder wir singen ein Duett?“

„Au ja!“, stimmte Tomoyo freudig quietschend dem Vorschlag zu und hibbelte bereits ganz ungeduldig auf dem Schoß ihres Kindergärtners herum. Kurogane starrte nun alle beide an, als wären sie Gespenster. Noch bevor der Kindergärtner jedoch weiter nachhaken konnte, bekam das Gesicht des anderen plötzlich einen Hauch von Überlegenheit, er drehte sich betont lässig auf dem Absatz um und winkte den beiden knapp über die Schulter zu, während er ein gleichgültiges „Macht’s gut“ verlauten ließ.

„HALT!“, ertönte es gleichzeitig geschockt aus zwei Kehlen.

Tomoyo hatte die Situation genauso schnell erfasst wie Fye, war von dessen Schoß herunter gesprungen und ihrem Vater, genau wie der Kindergärtner, hinterhergehechtet. Nun hing die Kleine an Kuroganes rechtem Bein, der Blonde klammerte an dessen linkem Arm, sodass dem Schwarzhaarigen praktisch jede Bewegungsmöglichkeit genommen war.

„War doch nur ein Witz! Du musst natürlich nicht singen!“, versuchte Fye lachend, den anderen zum Umkehren zu bewegen.

„Ja! Bitte bleib, Papa! Wir machen auch alles, was du willst!“, flehte Tomoyo.

Noch immer ein wenig skeptisch sah Kurogane von Fye zu seiner Tochter und wieder zurück.

„Das will ich auch hoffen“, meinte er schließlich ein wenig grantig und ging zurück, nachdem die beiden ihn wieder frei gelassen hatten, setzte sich auf einen Stuhl.

Die anderen Kinder waren längst nicht mehr bei der Sache, hatten sich schon im ganzen Raum zerstreut. Sakura hielt sich in Ryus Nähe auf, um aufzupassen, dass dieser sich wirklich nur ein Spielzeug aus dem neuen Holzregal holte und nicht gleich das ganze Fach leerte.

Tomoyo tappte ihrem Vater nach und machte nun Anstalten, jetzt auf dessen Schoß Platz nehmen zu dürfen, was ihr Papa sogleich mit einem warmen Lächeln gestattete und dem kleinen Mädchen hoch half. Sichtlich zufrieden mit ihrer neuen Position wandte sie sich an Fye zurück.

„Spielst du noch ein Lied, Nii-chan? Bitte! Papa und ich haben doch das erste verpasst und das zweite auch nur halb gehört...“

„Aber gern doch“, willigte der Blonde strahlend ein, setzte sich ebenfalls und nahm die helle Akustikgitarre wieder zur Hand.

„Mal sehen, was spiele ich denn Schönes für dich...“, überlegte er laut, hielt dann aber noch einmal kurz inne. „Und du möchtest wirklich nicht mitsingen, Kuro-chan?“

„Noch einmal diese Frage und ich gehe wirklich!“, war die gereizte Antwort.

„Och, jetzt versucht Kuro-puu mich sogar schon zu erpressen...“, empörte Fye sich mit vorwurfsvollem Blick und vorgeschobenem Schmollmund.

„Reiner Selbsterhaltungstrieb!“

Mit einem letzten Kichern wandte Fye sich wieder der Gitarre zu. Dem Sturkopf war echt nicht beizukommen, wenn er sich etwas WIRKLICH in den Kopf gesetzt hatte. Schade. Dabei war er sich fast sicher, dass ein wenig Gesang sogar Kuro-mine Spaß machen würde, wenn dieser nur einmal seine Steifheit ablegen könnte...

Gedankenverloren ließ Fye seine Finger über die Saiten wandern, zupfte eine kleine Melodie.

„‚So you win again?’ Hot Chocolate ist nix für deine Stimme. Nimm lieber was von Oasis oder so. ‚Wonderwall’ zum Beispiel“, bemerkte Kurogane kritisch.

„Oh, Kuro-muu kennt sich ja richtig aus!“, staunte Fye und sah den Schwarzhaarigen an, als hätte sich ihm gerade Gott persönlich offenbart.

„Tze!“, meinte dieser nur und verleierte die Augen. „Mach nicht gleich wieder so einen Wind drum! Ich kenne zufällig ein paar Lieder, die passen könnten, das ist alles.“

„Wenn der große Kuro-sama das meint...“

Fyes suspekter Unterton war eigentlich gleich die nächste Herausforderung, denn dass der Ratschlag von eben bloß Zufall war, daran glaubte er kein Stück. Doch dann nahm er sie wieder zurück, indem er den Blickkontakt abbrach und sich wieder der Gitarre widmete. Kuro-pon würde ja doch nicht kleinbei geben. So wenig, wie er anderen zugestand, so wenig gestand er auch sich selbst zu. Aber er würde es sich merken. Es kam bestimmt noch eine Gelegenheit, bei der ihm dieses Wissen nützlich war.

Wer hätte gedacht, dass Kuro-fuu sich mit Musik auskannte? Der Vorschlag mit Oasis war goldrichtig gewesen, seine Stimme klang sicher und kraftvoll und entfaltete gemeinsam mit den Akkorden rasch ihre Wirkung. Die Kinder, die überall im Raum längst mit anderen Spielen begonnen hatten, hielten noch einmal inne, um ihm zu lauschen, Tomoyo lächelte fröhlich vor sich hin und wippte mit den Beinchen im Takt zur Musik und auch Kurogane musterte ihn unentwegt, wie ein Kunstkritiker, der vor einem angepriesenen Gemälde stand und sich nun ein eigenes Bild davon machen wollte. Und – und das hätte Fye um ein Haar aus dem Takt gebracht und ihn laut auflachen lassen – er tippte sogar leicht mit den Fingern auf der Stuhllehne den Takt der Musik mit.

Fye wüsste zu gern, woher dieser rätselhafte Mensch seine Musikerseele hatte. Oder was die harte Fassade noch alles für liebenswerte Eigenschaften verbarg. Denn all diese kleinen Dinge, die der Schwarzhaarige so gern in sich verschloss, die nur nach außen drangen, wenn er gerade nicht so sehr damit beschäftigt war, den gereizten Klotz zu mimen, hatten etwas Zauberhaftes an sich, was den Kindergärtner immer wieder aufs Neue begeisterte.

„And after all

you’re my wonderwall...“
 

„Tomo-chan, hier her! Zu mir, zu mir!”

Aufgeregt hopste Ryu von einem Bein aufs andere und winkte der Angesprochenen eifrig zu.

„Okay, fang, Ryu-kun!“

Damit hob sie den großen Wasserball weit über ihren Kopf, spannte Rücken und Arme durch und warf ihn mit all ihrer Kraft dem braunhaarigen Jungen zu, der ihr im Kreis genau gegenüber stand. Dieser lief dem leichten Ball ein paar Schritte entgegen und fing ihn auf, nachdem er das erste Mal den Boden berührt hatte und wieder ein wenig nach oben gesprungen war. Wie eine Trophäe hob der kleine Junge ihn über seinen Kopf und strahlte freudig, Fye, Sakura, Tomoyo und Yuzuriha klatschten Beifall zu diesem gelungenen Fang.

„Sora-kun, jetzt du!“, entschied Ryu und warf den Wasserball weiter.

Da Sorata nicht sehr weit von ihm entfernt stand und Ryu für sein Alter bereits ziemlich viel Kraft hatte, musste er ein paar Schritte zurück gehen, streckte seine Hände nach dem Ball aus, doch dieser prallte von den Fingern ab und landete letztlich im Gras. Der Junge machte sich jedoch nichts weiter daraus, hob den Wasserball auf und reichte ihn dann mit einer Verbeugung an Arashi weiter, die im Kreis neben ihm stand.

„Es ist mir eine Ehre, euch dieses Präsent überreichen zu können, Teuerste.“

„Du sollst den Ball doch werfen, Sorata!“, meinte das Mädchen mit tadelndem Tonfall, nahm den Ball aber dennoch entgegen und warf ihn weiter zu Yuzuriha, die ihn zwischen Kamui und Subaru landen ließ. Die beiden Zwillinge sahen sich kurz an, Kamui nickte seinem Bruder zu.

„Nimm du ihn ruhig.“

Dieser drehte sich dann Kurogane zu, der mit verschränkten Armen zwischen Fye und seiner Tochter stand.

„Kurogane-san.“

Der Angesprochene machte einen großen Schritt in den Kreis hinein und fing den Wasserball spielend mit einer Hand. Anerkennendes Staunen ging durch die Runde.

„Jetzt wieder zu mir!“, machte Ryu erneut auf sich aufmerksam und Kurogane kam der Aufforderung kommentarlos nach.

Natürlich warf er den Ball höher und weiter als die Kinder, sodass Ryu ein ganzes Stück rückwärts laufen musste, um dem Ball zu folgen. In einem verzweifelten Versuch, das immer noch viel zu hoch fliegende Objekt zu fangen, sprang er schließlich ab und streckte seine Arme danach aus, mit dem Ergebnis, dass er dem Ball nur noch mehr Auftrieb gab. Zu allem Überfluss fegte genau in diesem Moment auch noch eine kleine Windbö über sie hinweg, die den Ball die letzten Zentimeter bis zur angrenzenden Mauer überwinden ließ und ihn lautlos hinüber und damit aus ihrem Blickfeld trug.

Einen Moment lang herrschte bestürztes Schweigen.

„Oje“, meinte Fye schließlich und kratzte sich am Hinterkopf. „Den sehen wir wohl nicht wieder.“

„Das ist nur deine Schuld, weil du so hoch geworfen hast!“, empörte Ryu sich anklagend und zeigte mit dem Finger auf Kurogane.

„Ach, und wer musste ihn unbedingt noch mal nach oben schlagen, als der Ball schon fast am Boden war?!“, konterte der Angeklagte bissig.

Mit zwei schnellen Schritten war Fye zwischen den beiden Kontrahenten, bevor wieder ein Streit entflammen konnte.

„Ist doch egal, wer nun schuld ist und wer nicht. Es hat ja niemand mit Absicht gemacht. Und weg ist nun einmal weg.“

„Da hinten in dem Haus wohnt doch irgendwer, oder? Frag doch einfach, ob du ihn dir zurückholen kannst“, schlug Kurogane vor.

Fye seufzte ausweichend.

„Das geht wohl nicht. Dort wohnt zwar jemand, aber der alte Mann ist ziemlich knausrig und würde es bestimmt nicht erlauben. Er mag keine Kinder. Dass er nicht einfach wegzieht, liegt wohl daran, dass er den Kindergarten durch die vielen Bäume, die zwischen seinem Haus und der Mauer wachsen, nicht sieht, und weil er taub ist, stört er sich auch nicht am Lärm. Aber helfen würde er uns trotzdem nicht.“

Während Fye die Sachlage erklärte, musterte der Schwarzhaarige unentwegt die Backsteinmauer, hinter der ihr Ball soeben verschwunden war. Der Kindergärtner wollte gerade fragen, was mit ihm los war, als er von selbst zögerlich einen Beschluss bekannt gab: „Ich hol ihn zurück.“

Überrascht starrte Fye zuerst Kurogane, dann die Mauer an und dann wieder ihn. Das Backstein-Monstrum war über zwei Meter hoch! Okay, Kurogane war ebenfalls nicht klein, aber selbst er könnte mit seinen Händen gerade noch das Ende der Mauer erreichen, wenn er sie ausstreckte.

„Wie willst du denn DA rüberkommen?!“, sprach er seinen Zweifel schließlich laut aus.

„Springen, wie denn sonst?“, kam die gleichgültige Antwort.

Als wäre es das Normalste der Welt! Doch Fye blieb skeptisch.

„So sportlich bist du?“

Nicht, dass der hochgewachsene Mann unsportlich ausgesehen hätte... Er war nicht nur groß, sondern auch durchtrainiert, die kräftigen Muskeln zeichneten sich sogar durch das schwarze T-Shirt leicht ab.

„Geht gar nicht anders, das gehört zu meinem Beruf“, antwortete er mit einem Schulterzucken.

Das schien auch Ryu zu interessieren, denn der Kleine klinkte sich neugierig in das Gespräch ein.

„Als was arbeitest du denn, Kuro-sama?“

Den strafenden Blick, der ihm auf die letzte Bemerkung hin zugeschleudert wurde, ignorierte der kleine Frechdachs gekonnt. Fye war immer wieder über den Mut dieses kleinen Jungen überrascht, auch wenn ihm das, gepaart mit Kuroganes Reizbarkeit, nach wie vor Sorgen bereitete. Zu seiner Erleichterung riss der Schwarzhaarige sich dann jedoch zusammen und ging nicht weiter auf die Bemerkung des Jungen ein.

„Ich bin Offizier bei der Armee“, antwortete der große Mann sogar.

Oho! Ja, da musste man körperlich wirklich sehr fit sein...

„Cool! Hast du da auch eine echte Waffe, mit der du rumballern und böse Menschen umlegen kannst? So wie die Polizei?“, fragte Ryu begeistert.

Klar, dass ihm diese Art von Beruf gefiel, dachte Fye mit einem Schmunzeln. Doch Kurogane reagierte plötzlich ganz anders, als er erwartet hätte. Die roten Augen flackerten für einen Moment unschlüssig auf, blickten seitlich nach unten, so als würden sie der Situation ausweichen wollen. Doch sie machten genauso schnell wieder kehrt und fixierten den kleinen Ryu mit einem warnenden, regelrecht harten Blick.

„Man ballert nicht einfach mit einer Waffe rum, um andere zu töten! Das höchste Ziel ist es, Leben zu retten. Schießen und jemanden verletzen darf man nur im äußersten Notfall! ... Töten am besten gar nicht.“

Natürlich, das klang vernünftig, aber dennoch... Fye hatte das Gefühl, dass Ryu mit dieser Frage einen wunden Punkt in Kurogane getroffen hatte, denn solch eine Reaktion war einfach nicht normal für den schwarzhaarigen Muffel, der stets so bemüht war, nicht mehr Gefühle als nötig von sich preiszugeben.

Doch noch etwas regte sich plötzlich in dem Blonden. Ein nagendes Schuldgefühl, ausgelöst von den Gedanken, die Kuroganes Worte mit sich gebracht hatten. Er sah, wie der Schwarzhaarige den Kopf hob, sich ihm zuwandte, und blickte schnell in eine andere Richtung, irgendwo in das grüne Gras, das von den vielen Schritten beim Ballspiel ganz platt gedrückt war.

Fye fühlte sich plötzlich so ausgeliefert, so schutzlos, als stünden ihm all seine Gedanken, Ängste und Taten ins Gesicht geschrieben. Niemand durfte sie sehen! Kurogane durfte sie nicht sehen...

Als er hörte, wie Kurogane sich bewegte, sah er wieder auf. Der andere hatte sich umgedreht und schlenderte nun betont lässig auf die Mauer zu, blieb einen Schritt davor stehen und ging katzengleich in die Hocke, machte sich zum Sprung bereit. Fye sah deutlich, wie sich sämtliche Muskeln und Sehnen im Körper anspannten und auf den kommenden Augenblick konzentrierten. Dann schoss er blitzschnell und dennoch sanft wie eine Feder in die Höhe, flog bis auf Bauchhöhe über den Rand der Mauer hinweg, stieß sich mit einer Hand kurz davon ab und hechtete schwungvoll auf die andere Seite. Dem unerwartet sanften Knacken der Zweige nach zu urteilen, die wohl auf der anderen Seite auf dem Boden liegen mussten, war Kurogane genauso grazil gelandet, wie er abgesprungen war.

„Wow...“, hauchte Ryu gebannt und sprach damit aus, was auch Fye und wohl alle anderen Anwesenden ebenfalls dachten.

Nur Sekunden später flog der leuchtend rote Wasserball über die Mauer auf das Grundstück des Kindergartens zurück und ihm folgte Kurogane, mit einem genauso lässigen und anmutigen Sprung wie zuvor.

Als der Schwarzhaarige wieder auf seinen Füßen stand, stimmte Fye begeisterten Beifall an, dem sich der Rest des Kindergartens unverzüglich anschloss.

„Das war unglaublich, Kuro-puu!“, lobte Fye beeindruckt.

„Mach nicht so einen Wind um so einen kleinen Hopser“, nuschelte dieser verlegen und sah zur Seite.

Fye kicherte vergnügt. In dieser Hinsicht war Kurogane ganz anders als Ryu, dem bei jedem Kompliment die Brust anschwellte. Dem grummeligen Schwarzhaarigen waren Lobe ziemlich peinlich. Wahrscheinlich war er nicht sonderlich daran gewöhnt. Na ja, wenn man zur Armee ging, wurde man sicher mit ziemlich rauen Sitten konfrontiert. Kein Wunder, dass er sich so schwer tat mit Gefühlen, egal ob es nun seine eigenen waren oder die anderer.

„Ey, du Träumer! Willst du nun weiterspielen oder Löcher in die Luft starren? Ich hab keine Lust, den Ball für umsonst da rausgeholt zu haben“, riss Kuroganes gängelnder Tonfall Fye aus seinen Gedanken.

„Ja, du hast Recht, Kuro-rin!“, antwortete Fye und setzte ein neutrales Lächeln auf, was Kurogane mal wieder dazu veranlasste, mit den Augen zu rollen und sich mit einem gegrummelten „Hmpf“ auf seinen Platz von vorhin zurückzustellen.

Auch die anderen Kinder gingen auf ihren vorherigen Platz im Kreis zurück und das Spiel begann von Neuem. Als die Kinder keine Lust mehr hatten, verstreuten sie sich überall auf dem Grundstück, Tomoyo und Yuzuriha verwöhnten das dicke Mokona, Subaru und Kamui beschlagnahmten die Wippe, Arashi die eine und Sorata dementsprechend die andere Schaukel und Ryu demonstrierte seine Kletterkünste auf dem Holzschiff.

Das bedeutete, dass Fye, Sakura und Kurogane jetzt nicht mehr viel zu tun hatten. Sehr zu Fyes Leidwesen. Denn seit die Kinder sich zerstreut hatten, beobachtete der Schwarzhaarige ihn mit Argusaugen und schien versucht, ihn irgendwie zur Rede zu stellen. Der Blonde konnte sich denken, worum es ging, schließlich konnte er sich an den Ausgang des vergangenen Abends noch gut erinnern, auch wenn er das lieber wieder vergessen hätte. Oder ungeschehen gemacht. Aber leider ging weder das eine noch das andere, also blieb ihm nichts weiter übrig, als Kuroganes Blick irgendwie zu ertragen und sich in Sakuras Nähe aufzuhalten, damit dieser Spürhund nicht die Möglichkeit hatte, ihn noch weiter in die Ecke zu zwängen.

Was musste Kurogane auch so dickköpfig sein und vor allem so tief in durch seine Fassade blicken können? Das, was dahinter lag, war für niemanden bestimmt! Dass gerade der Schwarzhaarige ihn so sehr durchschauen konnte, quälte ihn regelrecht. Er hatte Angst davor, dass der andere jemals die Wahrheit über ihn herausfinden könnte. Sicherlich würde er ihn dann hassen, sich von ihm abwenden. Allein dieser Gedanke schmerzte ihn, denn Kurogane hatte es irgendwie geschafft, einen Funken Licht in sein Leben zurückzubringen. Dabei hatte er das gar nicht gewollt! Er verdiente es nicht! Und dennoch... Er konnte sich nicht mehr vorstellen, diesen hellen Funken wieder zu verlieren. Er hatte dieses Licht vermisst und es fühlte sich einfach zu gut an, als dass er sich wieder davon trennen wollte.

Warum nur konnte Kurogane die Dinge nicht einfach akzeptieren, wie sie waren? Warum musste er es ihm so schwer machen, ihn so quälen?

Es war das erste Mal, dass Fye neben der inzwischen altbekannten Enttäuschung auch ein wenig Erleichterung empfand, als Kurogane kurz nach Mittag wieder nach Hause fuhr. Genauso gemischt nahm er die Information entgegen, dass der Schwarzhaarige an diesem Nachmittag noch einmal mit Tomoyo und dem kleinen Hund einen Spaziergang machen wollte. Er hatte es nicht direkt ausgesprochen, doch die Andeutung allein reichte Fye, um zu wissen, dass er damit ebenfalls wieder eingeladen war.

Ein Abend allein an Kuroganes Seite! Bisher war das jedes Mal eine wunderbare Entspannung für ihn gewesen, doch er zweifelte, ob das auch diesmal der Fall werden würde. Allein mit Kurogane zu sein bedeutete schließlich auch, dass niemand da war, bei dem er sich vor den Fragen des anderen verstecken konnte, und wenn er in diese stechend roten Augen sah, wusste er, dass der Schwarzhaarige noch lange nicht aufgegeben hatte...
 

„Tomo-chan, willst du Hataki nicht einmal an der Leine führen?“, fragte Fye das kleine Mädchen zwischen sich und Kurogane aufmunternd, nachdem er schon eine ganze Weile die Leine des schwarzen Welpen gehalten hatte.

„Iiiiiiiiiiich?!“, war die entgeisterte Erwiderung.

„Warum nicht? Schau, die Leine ist doch sooooo lang! Und wenn du sie ganz am Ende festhältst, dann kann Hataki schön auf der Wiese spazieren gehen.“

„Aber wenn er dann auf mich zu kommt...“, gab das kleine Mädchen ängstlich zu bedenken.

„Das wird er nicht“, beruhigte Fye sie. „Auf der Wiese gefällt es ihm doch viel besser als hier bei uns, auf dem Fußweg.“

Doch Tomoyo blieb skeptisch und beobachtete den kleinen Hund, der gerade interessiert an einem Strauch schnüffelte, zweifelnd. Also hakte Fye weiter nach.

„Außerdem sind dein Papa und ich doch da. Wir beschützen dich. Hochheiliges Ehrenwort!“

Grübelnd blickte sie nun erst in Fyes strahlendes Gesicht und ließ ihren Blick dann auf die andere Seite zu ihrem Vater wandern. Dieser sah sie aufmunternd an und bestätigte dann die Worte ihres Kindergärtners.

„Wir passen schon auf dich auf, Kleines.“

„... Na gut“, gab sie schließlich etwas unsicher kleinbei und Fye reichte ihr die Schlaufe am Ende der Leine. Da er selbst noch ein ganzes Stück der Leine in seinen Händen gehalten hatte, hatte Hataki bei ihm weniger Freiraum gehabt, doch der Hund bemerkte die neue Freiheit sofort und ging gleich noch ein Stück weiter auf die Wiese.

„Siehst du? Er ist viel lieber im Grünen“, gab Fye seinen Worten von zuvor noch einmal Nachdruck.

Tomoyo nickte etwas scheu und stolperte kurz, stand plötzlich auf links von Fye und nicht mehr zwischen diesem und ihrem Vater, als der Welpe in einem Versuch zu rennen an der Leine zog.

„Lass dich nicht umwerfen“, warnte Kurogane und beobachtete seine Tochter sorgsam, welche nur nickte und sich ganz auf Hund und Leine konzentrierte. Hataki war inzwischen stehen geblieben und schnupperte interessiert an einem Fleckchen Gras.

Entspannt die Natur um sich beobachtend schlenderte Fye weiter, Kurogane keinen Schritt hinter ihm. Auch wenn er es so gut wie möglich zu ignorieren versuchte, spürte der Blonde doch deutlich, dass der Schwarzhaarige ihn schon wieder so eindringend beobachtete. Dass er Tomoyo die Leine anvertraut und sie damit von sich und ihrem Vater abgelenkt hatte, war wohl ein Eigentor gewesen. Und genau das nutzte Kurogane jetzt auch aus.

„Du bist mir noch eine Erklärung schuldig.“

Er hatte es ja geahnt... Trotzdem tat es irgendwie weh, schon wieder von dem Schwarzhaarigen in diese Ecke gedrängt zu werden, ihm ausweichen, ihn anlügen zu müssen. Dennoch... Was blieb ihm schon anderes übrig, als sein letztes bisschen Selbstbeherrschung zusammenzukratzen und in einem verzweifelten, im Grunde aber wirkungslosen Versuch, sich aus der Affäre zu ziehen, den anderen abzublocken?

„Was denn für eine Erklärung, Kuro-mune?“, fragte er daher mit einem Grinsen, das selbst ihm mehr als kümmerlich vorkam.

„Tu bloß nicht so! Du weißt genau, dass ich von gestern Abend spreche!“, zischte der Schwarzhaarige nun schon aufgebrachter.

„Aber der Abend war doch schön! Oder hat es dir doch keinen Spaß gemacht?“

Ein gespielt besorgter Ausdruck legte sich auf Fyes Gesicht.

„Ich warne dich. Das meine ich nicht und das weißt du auch. Was sollte die Aktion, als ich Tomoyo mitnehmen wollte und dich dabei zufällig geweckt habe? Und erzähl mir nicht, du hattest bloß einen Alptraum, das kauft dir keiner ab. Was war los, dass du dermaßen panisch auf eine banale Alltäglichkeit reagierst, dass du dich dauernd hinter deinem dümmlichen Grinsen versteckst und alles abblockst, was mit dir selbst zu tun hat?“

Fye spürte, wie sein Herz vor Aufregung schneller schlug, wie ihm kalte Schauer den Rücken hinunter liefen. Kurogane nahm ihm jeden Fluchtweg, bedrängte ihn so sehr, dass es ihm schier die Möglichkeit zu atmen raubte.

„Ach, aber du bist besser, ja?“

Fye erschrak fast über sich, als er merkte, wie gereizt er klang. Aber diese ganze Sache regte ihn langsam wirklich auf. Er war dem anderen keinerlei Rechenschaft schuldig, also hatte dieser auch kein Recht, sich derart in sein Leben einzumischen!

„Verschließt all deine Gefühle hinter einer Mauer aus Stein und blockst jeden ab, der zu dir durchdringen will. Du solltest erst mal deine eigenen Probleme in den Griff bekommen, bevor du über andere urteilen willst. Dass jemand so empfindlich auf das Thema Waffen reagiert, ist schließlich auch nicht normal.“

„Es geht dich einen Dreck an, was ich denke und warum ich so denke! Als ob ich dir Rechenschaft schuldig wäre!“, plautzte Kurogane zurück.

Aus dem Augenwinkel bemerkte Fye, wie sich die Hand des Schwarzhaarigen zur Faust ballte, die Muskeln in seinem Arm sich anspannten. Aber auch er war bereits zu wütend, um jetzt wieder ablenken und alles vergessen zu wollen.

„Ach, aber ich soll dir Rechenschaft schuldig sein? Wo du noch viel mehr verheimlichst als ich!“, zischte er giftig zurück.

Jetzt schien Kurogane endgültig der Geduldsfaden zu reißen. Mit alarmierend rotem Kopf drehte er sich blitzartig zu Fye um und packte ihn am Kragen seines T-Shirts.

„Dreh mir nicht die Worte im Mund rum, du Pokerface! Hier geht es schließlich darum, dass ich die Kleine in deiner Obhut lassen muss und-“

Weiter kam er nicht, denn Tomoyos spitzer Schrei lenkte augenblicklich alle Aufmerksamkeit auf sich.

„Der Hund rennt weg!“, quietschte sie verzweifelt.

Einige Meter weiter sah man Hataki vergnügt über die Wiese sprinten, die lose Leine hinter sich her ziehend.

Mit einem zwischen den Zähnen hervor gepressten „Scheiße!“ ließ Kurogane Fye ruppig wieder los und rannte dem flüchtenden Hund hinterher. Fye blieb wie angewurzelt stehen, starrte einfach geradeaus, ohne irgendetwas Bestimmtes sehen zu können.

‚Hier geht es schließlich darum, dass ich die Kleine in deiner Obhut lassen muss und...’, hallte es in seinem Kopf wider.

Fye wusste, wie der Satz geendet hätte.

‚...und nicht weiß, was ein zwiespältiger Kerl wie du mit ihr anstellen könnte.’

Der Gedanke erschütterte ihn zutiefst. Es war, als würde etwas in ihm zerbrechen. Natürlich wusste er, dass Kurogane ihm nicht so recht vertraute, weil er dieses Geheimnis nicht preisgeben wollte, aber dass er ihm einen dermaßen schlechten Charakter zugestand, konnte er einfach nicht glauben. Nach all dem, was er für die Kinder tat. Weil er sie so sehr liebte...

„Nii-chan, ist alles okay?“, fragte Tomoyo, die plötzlich neben ihm stand, vorsichtig und zupfte sanft an seinem Shirt.

„J-ja, alles in Ordnung, Tomo-chan“, antwortete er schnell mit einem Lächeln auf den Lippen und streichelte ihr durch das wallende Haar.

Bei dem besorgten Blick dieser großen, unschuldigen Kinderaugen ging es ihm gleich ein wenig besser.

„Aber du und Papa, ihr habt euch so gestritten. Was ist denn passiert?“

Oje. Ihre kleine Auseinandersetzung musste sich wirklich schlimm angehört haben, wenn sie Tomoyo damit so erschreckt hatten. Als Fye das bewusst wurde, tat es ihm glatt Leid, dass er den grummeligen Papa so provoziert hatte. Schließlich hätte er sich denken können, dass sie sich am Ende beide nur darin hineinsteigerten. Vor allem Kuro-chii.

„Keine Sorge, das war nichts Schlimmes. Das große schwarze Hündchen bellt mal wieder viel, aber es würde niemals beißen“, witzelte er.

Tomoyo verstand nicht richtig und sah ihn daher aus ihren großen violetten Augen fragend an.

„Was für ein großes Hündchen denn, Nii-chan?“

Als hätte man ihn gerufen, kam in diesem Moment der noch immer ziemlich angesäuert dreinblickende Kurogane mit dem kleinen Welpen an der Leine zurück.

„Ach, ist nicht so wichtig“, wich Fye schnell aus und streichelte dem kleinen Mädchen noch einmal durchs Haar.

Dann wandte er sich wieder dem „großen Hündchen“ zu.

„Ein Glück, dass wir dich haben, Kuro-wanwan, sonst wäre der kleine Hataki jetzt bestimmt weg“, witzelte er ausgelassen, als wäre nie etwas zwischen ihnen gewesen.

Doch Kurogane ignorierte die Bemerkung.

„Wir gehen zurück“, entschied er.

„Au ja!“

Klar, dass Tomoyo nichts dagegen hatte.

„Du hast Recht! Wir waren lange unterwegs heute. Langsam wird es kühler...“, stimmte Fye zu, doch auch diesmal erhielt er keine Reaktion.

‚Hier geht es schließlich darum, dass ich die Kleine in deiner Obhut lassen muss und nicht weiß, was ein zwiespältiger Kerl wie du mit ihr anstellen könnte’, ging es ihm noch einmal durch den Kopf.

Ob Kurogane das tatsächlich ernst gemeint hatte? Oder sollte er lieber nicht so viel auf diese Worte geben? Oder hatte er den Tonfall vielleicht falsch interpretiert und der Schwarzhaarige hatte etwas ganz anderes sagen wollen?

Fye wüsste es zu gern. Doch ihm war klar, dass er auf diese Fragen keine Antwort erhalten würde...
 

TBC...

Born to be wild

Vor allem denen, die schon von Anfang an mitlesen, wird sicher aufgefallen sein: "Der Weg zum Glück" wird heute ein Jahr alt! Und wie könnte man dieses kleine Jubiläum besser feiern als mit einem neuen Kapitelchen? Es kommt ein ganzes Stück eher, als es der Plan normalerweise vorsieht, und Klayr und ich möchten hier gleichzeitig allen Lesern danken, die diese FF lesen, favorisieren und/oder kommentieren. Vor allem eure Kommis sind echt klasse! Das, was ihr so schreibt, ist jedes Mal interessant und würde sicher jedes Autorenherz höher schlagen lassen. Vielen lieben Dank euch allen! Besonders auch den Lesern aus dem Zirkel, die sich diese FF ja mehr oder minder gezwungenermaßen antun müssen *lach*.

Ich hoffe, dass wir euch auch im kommenden Jahr gut unterhalten können.

Und noch etwas sollte an dieser Stelle auffallen: Es ist HALBZEIT! Ja, Kapitel 13 von 26... Noch mal so viel und wir sind durch. Aber bis dahin passiert noch einiges und die Kapitel werden voraussichtlich länger und länger... Diesmal allerdings noch nicht.

Genug gelabert! Wer bis hier durchgehalten hat, dem sei noch gesagt: EIN FROHES NEUES JAHR 2009!
 

Und nun viel Spaß!
 

-~*~-
 

Disclaimer: Die Charas gehören (bis auf wenige Ausnahmen) nicht uns, sondern Clamp. Wir wollen kein Geld damit verdienen, sondern nur unterhalten.
 

Erstschreiber des Kapitels: Lady_Ocean

Kapitel: 13/26
 

-~*~-
 

„Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“

(Antoine de Saint-Exupéry)
 

-~*~-
 

„Born to be wild“
 

„Kein Anschluss unter dieser Nummer. *bieb bieb bieb* Kein Anschluss unter dieser Nummer. *bieb bieb bieb* Kein An-“

Die rote Taste auf dem Telefon beendete die automatische Meldung, welche einem nichts als Frust brachte, wenn man sie hörte. Der jungen Frau, die soeben versucht hatte, Kurogane über seine Handynummer von vor vier Jahren zu erreichen, erging es dabei nicht anders. Der Festnetzanschluss hatte natürlich auch nicht funktioniert...

Dabei musste sie unbedingt mit ihm reden. UNBEDINGT! Natürlich würde sie ihn überrumpeln, wenn sie ihn so plötzlich aus heiterem Himmel anrief, zumal sie vor über vier Jahren jede Verbindung zu ihm abgebrochen hatte, aber es war dringend. Es ging einfach nicht anders. Nach dem, was sie gerade von ihrer damals besten Freundin Jeanette gehört hatte, musste sie der Sache einfach auf den Grund gehen.

Allein schon die Tatsache, was Jeanette alles versucht haben musste, um ihren derzeitigen Aufenthaltsort herauszufinden, war unglaublich. Ohne zahlreicher Beziehungen und Methoden, die sicherlich die Grenzen der Datenschutzgesetze überschritten, hätte sie dieses Kunststück nicht zustande bringen können.

Aber sie war ihrer Freundin nicht böse deswegen. Nicht, wenn sie an den verzweifelten Tonfall zurückdachte, mit der Jeanette ihre Geschichte vorgetragen hatte. Sogar die gefürchtete Frage, warum sie damals so plötzlich verschwunden war, war ausgeblieben.

Einzig um ihr zu erzählen, welche Ereignisse um Kurogane derzeit für so viel Aufsehen sorgten und was das für Auswirkungen auf ihr kleines Töchterchen haben könnte, hatte sie sie ausfindig gemacht.

Tomoyo... Ihr kleines Mädchen...

Noch immer wurde ihr ganz klamm in der Brust, wenn sie an ihre Tochter zurückdachte. Es war ihr schwer gefallen, sie zurückzulassen. Schwerer sogar als bei Kurogane. Aber was war ihr schon anderes übrig geblieben? Es ging einfach nicht anders. Damals zumindest, als alles so ungewiss war... Und jetzt...jetzt konnte sie nicht mehr zurück. Sie wollte es auch gar nicht mehr. So viel hatte sich verändert. Sie hatte jetzt ein neues Leben, das sie nicht mehr aufgeben wollte.

Dennoch, diese Sache musste bereinigt werden. Sie kannte ihre Freundin Jeanette. Sie wusste, dass sie gelegentlich zu extremen Meinungen neigte, und wenn hierbei sogar ihr eigener Sohn betroffen war, war es nur allzu wahrscheinlich, dass sie die Sache nicht subjektiv betrachten konnte. Sie brauchte also wenigstens noch eine zweite Meinung, um sich ein richtiges Bild machen zu können. Aber wer außer Kurogane könnte ihr sonst Auskunft darüber geben? Wen könnte sie nach so langer Zeit noch erreichen?

... John Morgan. Er war damals einer von Kuroganes Mitarbeitern und für die Verwaltung zuständig. Immer im Büro anzutreffen. Wenn er noch an seinem alten Platz arbeitete, würde er sicher erreichbar sein. Inzwischen war es zwar Samstagvormittag, aber vielleicht hatte sie Glück und erreichte ihn noch. Zumindest war es damals nicht selten vorgekommen, dass er selbst samstags bis zum Mittag im Büro geblieben war. Wenn er frei gehabt hatte, war er ziemlich oft zu Besuch gewesen, denn er und Kurogane waren damals gut befreundet.

Und diesmal hatte sie Glück. Der Herr am Infotelefon bestätigte, dass John Morgan noch bei ihnen arbeitete und derzeit Dienst hatte, also leitete er sie gleich weiter.

„Morgan, wie kann ich Ihnen helfen?“, meldete sich die Stimme am anderen Ende mit ihrem routinierten Spruch nach einem kurzen Aufenthalt in der Telefonwarteschleife.

„John, ich kann es kaum glauben, dass du wirklich noch dort arbeitest! So ein Glück!“, sprudelte sie los und vergaß dabei ganz sich vorzustellen. Doch das war auch gar nicht nötig.

„... Kleines?“, kam etwas verzögert die ungläubige Antwort vom anderen Ende der Leitung.

Sie musste unwillkürlich lächeln. Mit einem Mal packte sie ein so überwältigendes Gefühl des Schwermuts, dass es ihr sogar die Tränen in die Augen trieb. Er hatte sie immer mit „Kleines“ angesprochen. Dass er es selbst jetzt mit solcher Selbstverständlichkeit tat, katapultierte sie förmlich vier Jahre in der Zeit zurück.

„Ja, ich bin es... Dass du dich sofort an mich erinnern würdest...“

„Wie könnte ich denn eine gute alte Freundin vergessen? Sag schon, was machst du so? Wie kam es, dass du damals auf Teufel-komm-raus verschwunden bist?“

Da war sie, die gefürchtete Frage. Sie spürte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete.

„Und wie komme ich zu dem plötzlichen Vergnügen deines Anrufs?“, kam kurz danach die dritte Frage.

Sie war dankbar dafür, dass diese Frage am Ende der Reihe stand. Das, was sie mit John besprechen wollte, war schließlich von äußerster Dringlichkeit. Langsam löste der Kloß sich wieder auf.

„Leider wird mein Anruf kein allzu großes Vergnügen, John“, erklärte sie schließlich nüchtern. „Es geht um Kurogane. Ich habe gehört, dass er in einen Mord verwickelt ist. Ich muss wissen, was genau da los war.“

Kurzes Schweigen am anderen Ende der Leitung.

„Sogar du hast also davon erfahren? Dabei ist das eigentlich eine interne Angelegenheit.“

John seufzte schwer.

„Bitte, John! Ich MUSS wissen, was passiert ist. Wenn Kurogane sich seit damals so sehr verändert hat, dass er jetzt WIRKLICH Mord an einem seiner Kollegen begangen hat, dann...dann...“ Sie stockte. Die Ängste, die in ihrer Brust aufwallten, waren kaum in Worte zu fassen.

„Ich versteh dich schon, Kleines“, lenkte ihr Gesprächspartner ein. „Und du bist ja auch nicht irgendwer. Es geht wahrscheinlich in Ordnung, wenn ich dir erzähle, was passiert ist. Bevor die Geschichte am Ende schlimmer gemacht wird, als sie eigentlich ist.“

Wieder folgte eine kurze Pause.

„Du weißt also, dass Kurogane unter Verdacht steht, einen Kollegen ermordet zu haben. Es ist noch nicht sicher, wie die Tat sich ereignet hat, aber fest steht, dass der Mann mit seiner eigenen Dienstwaffe tödlich verwundet wurde und dass Kuroganes Fingerabdrücke auf dieser zu finden waren. Allerdings war bei dem Kollegen auch Alkohol im Spiel, sodass man vermuten kann, dass dieser im Moment des Unglücks nicht ganz Herr seiner selbst gewesen war.“

Noch eine kurze Pause. John brauchte zwischendurch immer Zeit, seine Gedanken zu ordnen.

„Dann...war es eher ein Unfall?“, mutmaßte sie vorsichtig.

Ein leiser Hoffnungsschimmer begann in ihr zu leuchten. Wenn es wirklich ein aus dem Handgemenge entstandenes Versehen war, absolut ungewollt, dann war Kurogane nicht so unberechenbar und kaltblütig, wie sie es nach Jeanettes Erklärungen befürchtet hatte. Dann ging auch für Tomoyo keinerlei Gefahr aus.

„Ja, diese Option besteht natürlich. Aber ganz unter uns, Kleines, mich persönlich würde es nicht wundern, wenn es doch anders gelaufen sein sollte. Seit du weg bist, hat Kurogane sich ziemlich abgekapselt. Wir haben uns danach zwar immer noch prima verstanden und uns oft gesehen und so, aber er ist irgendwie...abgekühlt. Als ob das ganze Leben plötzlich aus ihm entwichen war. Und der Kollege... Na ja, zwischen ihm und Kurogane hat es sowieso dauernd gekriselt. Er war ein kleiner Freidenker, dieser Bursche, hat oft Anstoß an Kuroganes konsequenten Regeln gefunden und Streit gesucht. Vor allem, wenn er getrunken hatte und Kurogane dann in der Nähe war. Dabei war er ansonsten ein wirklich anständiger Kerl. Auf jeden Fall könnte ich mir gut vorstellen, dass das Kurogane ganz schön auf die Nerven ging, auch wenn er das nicht offen gezeigt hat. Er hat ja sowieso kaum noch Gefühle gezeigt auf Arbeit. Und dann lass mal so eine Konfrontation kommen, nach der Schicht, abends, in irgendeiner stockdunklen Ecke, wo weit und breit kein anderer in der Nähe ist. Du siehst also, wie die Chancen stehen. Dass Kurogane vorerst nur suspendiert wurde, ist dabei schon eine sehr kulante Entscheidung.“

Wieder wurde es ruhig am anderen Ende. Eine eisige Kralle hatte ihr Herz ergriffen und drückte schmerzhaft zu. Es klang so logisch. Es vermittelte dasselbe Bild, das auch Jeanettes Erzählung vermittelt hatte. Die kleine Hoffnung war verloschen und hatte alles in erdrückende Schwärze getaucht.

„Danke, John“, bemühte sie sich um einen möglichst neutralen Ton. Hoffentlich zitterte ihre Stimme nicht so sehr, wie es in ihren Ohren den Anschein hatte. „Danke, dass du mich aufgeklärt hast.“

„Tut mir Leid, dass es so düstere Sachen sind, die ich dir nach so langer Zeit erzähle, Kleines.“

„Nein, ist schon gut. Ich wollte es doch wissen. Und ich bin froh, dass du so offen zu mir warst.“

„Aber lass jetzt den Kopf nicht hängen, okay? Wo auch immer du bist und was du so treibst, lass dich nicht zu sehr davon beeinflussen. Wir bekommen das hier schon hin, das verspreche ich dir.“

„Ich weiß.“

Natürlich wusste sie es. Aber sie wusste auch, dass es zu lange dauern würde, bis dort eine endgültige Entscheidung getroffen war, und dass ihre Tochter bis dahin in Gefahr war. Nein, sie musste selbst handeln. Wenigstens für Tomoyo musste sie etwas tun.

„Aber melde dich doch bei Gelegenheit wieder, okay? Ich würde auch gern mal wieder über angenehmere Themen mit dir plaudern. Meine Privatnummer hast du sicher nicht, nehme ich an?“, versuchte John das Thema auf ruhigere Bahnen zu lenken, doch das beeinflusste sie im Moment wenig. In ihrem Lockenkopf arbeitete es. Sie musste ihre Tochter schützen. So schnell wie möglich.

„Ich melde mich gern mal wieder bei dir. Du kannst mir die Nummer durchgeben, ich habe Stift und Zettel dabei“, antwortete sie halb geistesgegenwärtig und notierte die genannte Nummer.

Als das Telefonat beendet war, nahm der Plan bereits Form an.
 

-~*~-
 

Kurogane Sugawara und seine vierjährige Tochter saßen derweil nichts ahnend am Frühstückstisch und genossen den Morgen. Tomoyo, wie üblich, über einer großen Schüssel Knusperflakes und Kurogane über dem obligatorischen schwarzen Kaffee und der Morgenzeitung.

Das kleine Mädchen war längst fertig mit ihrem Frühstück, als ihr Vater immer noch regungslos über seiner Zeitung saß, und schließlich wurde ihr so langweilig, dass sie von ihrem Stuhl aufstand und sich auf Kuroganes Schoß heben ließ. Vielleicht fand sie ja heraus, was ihn an der Zeitung so faszinierte, dass er jeden Morgen darin lesen wollte. Doch bis auf ein paar unscharfe Schwarzweißbilder fand sie nichts, was auch nur halbwegs interessant gewesen wäre. Sie wollte schon enttäuscht ihren Papa fragen, ob sie nicht etwas anderes machen konnten, als dieser die nächste Seite aufschlug und ihr ein Bild auffiel, das ihr irgendwie bekannt vorkam. Und nach einigen Augenblicken kam sie auch darauf, was es war.

„Papa, ist das da ein Jahrmarkt?“, fragte sie und zeigte mit dem Finger auf die entsprechende Abbildung verschiedener Stände und einem Riesenrad im Hintergrund.

„Ja, das ist der Jahrmarkt von Touron. Der hat heute erst angefangen“, erklärte der Schwarzhaarige, während er die Bildunterschrift überflog.

„Können wir da hingehen, Papa? Ich war noch nie auf einem Jahrmarkt“, bat die Kleine mit ihren großen, treuherzigen Kinderaugen.

Im ersten Moment seufzte Kurogane genervt auf. Er hatte überhaupt keine Lust, den ganzen Tag auf einem überfüllten Platz mit viel zu viel Lärm von sich überlappender Musik und plärrenden Bälgern zu verbringen.

Aber wenn er dann in diese großen, violetten Augen blickte, die ihn so voller kindlicher Vorfreude anstrahlten... Und zugegeben, die letzten Tage war sie sehr lieb gewesen und hatte bei den Spaziergängen mit dem Hund wirklich Mut bewiesen. Demnach hatte sie es sich eigentlich verdient.

„Also schön“, seufzte er schließlich ergeben. „Wir fahren zu diesem Jahrmarkt und du kannst ein paar Runden Karussell fahren. Als Belohnung für die letzten Tage sozusagen. Aber wir bleiben nicht lange! Der ganze Lärm bringt mich sonst um den Verstand.“

„Juhu!“, jubelte Tomoyo und fiel ihrem Vater überglücklich um den Hals. „Danke, Papi! Du bist der Beste!“
 

Kurz darauf waren beide fertig angezogen, Kurogane hatte noch etwas Proviant für unterwegs vorbereitet und dabei wieder einmal die Zartbitterschokolade, die Fye ihm geschenkt hatte, unschlüssig von einer Seite der Küchenanrichte auf die andere geschoben. Er war gerade dabei, alles in den schwarzen BMW zu räumen, als Tomoyo ihn mit einer Frage ablenkte.

„Papa, was ist eigentlich unter der Folie?“

Kurogane hatte schon öfters bemerkt, dass sie das verhüllte Objekt jedes Mal neugierig musterte, wenn sie hier in der Garage waren.

„Da ist mein Motorrad drunter“, erklärte er kurz. Für ihn war das Thema damit abgeschlossen, doch allem Anschein nach interessierte seine Tochter sich stärker dafür, als er angenommen hatte.

„Ehrlich? Kann ich es mal sehen?“

„Du interessierst dich für Motorräder?“, fragte er mit hochgezogener Augenbraue, trat aber neben sie.

„Na ja...sie sehen lustig aus“, erklärte das Mädchen mit einem Schulterzucken.

Amüsiert griff Kurogane nach zwei Zipfeln und zog die Plane vorsichtig herunter, sodass seine Tochter die Maschine bestaunen konnte.

„Ooooooooh!“, machte sie mit großen Augen und ging vorsichtig einen Schritt näher heran. „Wie heißt das Motorrad denn?“

„Wie – ‚wie heißt es’?“, fragte der Schwarzhaarige irritiert.

„Na es hat doch bestimmt auch einen Namen. So wie das Auto. Das heißt doch ‚BMW’“, versuchte die Kleine zu erklären.

Kurogane prustete laut los.

„Ach das meinst du! ‚Name’ ist zwar nicht ganz der richtige Ausdruck, aber das erkläre ich dir später mal genauer. Das Motorrad hier ist eine Kawasaki. Die habe ich mir übrigens in meinem ersten Jahr bei der Armee geholt.“

In Erinnerungen schwelgend strich er über den tief schwarz glänzenden Tank, weiter bis zum verchromten Lenker. Die Maschine war wie immer in einem tadellosen Zustand.

„Ist schon eine Weile her, seit ich das letzte Mal damit gefahren bin...“

„Wollen wir nicht mal damit fahren?“, schlug Tomoyo vor und bekam dafür gleich einen noch erstaunteren Blick von ihrem Vater zugeworfen.

„DU willst Motorrad fahren?“

„Ja. Du guckst so, als ob das großen Spaß macht“, erklärte sie.

„Und du hast keine Angst davor? Motorräder sind ziemlich laut. Es gibt keinen Innenraum, so wie im Auto. Und es fährt nur auf zwei Rädern. Das ist nicht ganz ungefährlich“, warnte er.

„Aber du kannst doch fahren, stimmt’s?“, fragte das Mädchen mit unveränderter Neugier nach. Ihr Vater schüttelte nur den Kopf.

„Und so jemand hat Angst vor Hunden...“
 

Kurogane hatte tatsächlich noch seinen Zweithelm gefunden, der Tomoyo sogar passte, nachdem er die Schnalle zum Schließen noch ein Stück enger gezogen hatte, sowie einen Gurt, mit dem er sie sicher an seinen Rücken schnallen konnte. Um sich mit eigener Kraft an ihm festzuhalten, dazu war sie schließlich noch zu klein. Außerdem hatte er ihre leichte Jacke gegen eine warme Winterjacke eingetauscht und Handschuhe mitgenommen, um auch die Finger vor dem kalten Fahrtwind zu schützen. Zum Schluss wurde der Proviant unter der Sitzbank des Motorrads verstaut, dann ging es los mit den ersten Proberunden. Schließlich wollte Kurogane nicht sofort eine kilometerweite Strecke zurücklegen, ohne vorher sicher gegangen zu sein, dass sich Tomoyos Meinung nicht schlagartig änderte, als sie nun tatsächlich auf dem Motorrad saß. Doch der schien es wider Erwarten immer noch zu gefallen, als Kurogane wieder anhielt, um sich nach ihrem Wohlergehen zu erkunden.

„Das ist toll, Papa! Als ob wir fliegen!“, frohlockte sie und kuschelte sich noch ein bisschen tiefer in den breiten Rücken ihres Vaters – soweit ihr Helm es zuließ.

Innerlich konnte Kurogane nach wie vor nur mit dem Kopf schütteln. Kinder verstand er wirklich nicht. Wovor sie Angst hatten und wovor nicht, das war einfach unberechenbar. Die Sache mit der Herdplatte vom vergangenen Wochenende hatte ihm das ja bereits gezeigt.

Aber im Grunde war er auch stolz auf sein kleines Mädchen. Viele Kinder würden in ihrem Alter bestimmt nicht freiwillig auf einem Motorrad mitfahren. Wäre doch gelacht, wenn der kleine Angeber Ryu nicht sogar anfangen würde zu weinen, wenn man ihn auf so ein Fahrzeug draufsetzen würde!

„Also dann, Kleines. Halt dich gut fest, denn jetzt geht es richtig los“, warnte er sie noch einmal und drehte unterstreichend das Gas hoch, sodass die Maschine laut aufbrüllte.

„Jaaaaa! Auf geht’s!“, stimmte Tomoyo euphorisch zu und schon brauste die Kawasaki wieder davon, aus der Wohnsiedlung heraus, über die Hauptstraße, bis sie die Stadt hinter sich gelassen hatte und auf der Landstraße noch einen Zahn zulegen konnte.

Anfangs hatte Kurogane noch ein wenig Bedenken gehabt, ob das wirklich gut gehen würde. Ob Tomoyo wirklich sicher saß und keinesfalls herunterfallen könnte. Ob sie nicht erschrak, wenn er sich in die Kurven legte und damit kurzzeitig eine unnatürliche Schräglage einnahm. Doch als eine Weile alles reibungsfrei blieb, entspannte auch er sich und genoss die Fahrt. Es war wirklich schon lange her, seit er das letzte Mal auf dem Motorrad unterwegs gewesen war. Es erinnerte ihn an seine späte Jugend, als er mit Oruha oft solche Ausflüge gemacht hatte. Doch Oruha war inzwischen egal. Ihre Schuld, wenn sie das Beste verpasste.
 

Als sie eine knappe Stunde später am Jahrmarkt von Touron ankamen, war Kurogane trotz des Lärmes, der ihm bis hierher entgegenschlug, bester Laune und auch Tomoyo strahlte noch immer über das ganze Gesicht.

„Das müssen wir unbedingt öfters machen, Papi!“, schlug sie vor.

„Das sollten wir wirklich“, stimmte er ihr zu, schnallte den Gurt ab, befreite sie von der dicken Jacke und tauschte sie gegen den Proviant unter der Sitzbank aus. Die Helme würde er bei sich tragen müssen.

Tomoyos Aufmerksamkeit war inzwischen gänzlich auf den Jahrmarkt übergegangen, dessen Lärm sie magisch anzuziehen schien. Und in der Ferne entdeckte sie auch prompt das Riesenrad.

„Guck mal, Papi! Das Riesenrad! Damit möchte ich unbedingt auch mal fahren!“

„Von mir aus.“

„Fährst du mit mir zusammen?“

„... Wenn es unbedingt sein muss.“

„Och bitte, Papi~!“

„Na schön, von mir aus“, seufzte Kurogane ergeben und wuschelte dem kleinen Mädchen durch die Haare.

Doch der Weg zum Riesenrad war gesäumt von zahlreichen anderen Attraktionen, sodass sie nur langsam vorankamen, denn Tomoyo blieb überall erst einmal stehen und beobachtete, wie die einzelnen Geräte funktionierten. Das Kettenkarussell faszinierte sie besonders, also probierte sie das als erstes aus.

Gleich danach ging es weiter zum Autoscooter, doch als Kurogane ein Ticket für seine Tochter kaufen wollte, gab es Probleme.

„Tut mir Leid, aber Ihre Tochter ist noch zu klein, um allein mit dem Auto fahren zu können. Entweder Sie kaufen noch ein Ticket und begleiten sie oder ich kann Ihnen leider keine Karte verkaufen“, erklärte die dicke Frau hinter dem Schalter mit gespieltem Bedauern.

Kurogane merkte, wie seine Laune gleich wieder in den Keller sank.

„Was soll das heißen ‚sie ist nicht alt genug’?! Meine Tochter wird doch wohl alt genug sein, um bei so einem billigen Autospiel mitfahren zu können“, fauchte er gereizt, sodass sich der dicke Schminktopf hinter dem Glas unbewusst ein wenig weiter von ihm weg lehnte. Auch die hinter ihm stehenden Kunden wichen vorsichtig einige Schritte zurück.

„Es tut mir wirklich Leid, werter Herr. Aber Autoscooter ist wirklich nicht ganz einfach für so ein kleines Kind. Immerhin muss man ganz allein Gas geben, lenken und auf die anderen Autos acht geben“, versuchte sie nun bedeutend höflicher zu erklären.

„Und deswegen wollen Sie gleich zwei Leute abzocken, wenn sie sich sowieso in einen einzigen dieser engen Wägen quetschen müssen?!“, zischte er ungerührt weiter.

„N-Nun, für so kleine Kinder haben wir natürlich Rabatt, da ist es nicht ganz so teuer, wenn sie mit jemandem gemeinsam fahren...“, wollte die Frau weiter beschwichtigen, doch da kannte sie Kurogane nicht. Wenn dieser sich erst einmal aufgeregt hatte, war er so schnell nicht wieder zur Ruhe zu bekommen.

„Papa...magst du nicht mit mir zusammen Auto fahren?“, fragte die kleine ihm wohl vertraute Kinderstimme an seinem Bein, zierliche Ärmchen klammerten sich leicht daran fest.

Kurogane musterte einen Moment die großen dunklen Augen, die unsicher und ein wenig scheu zu ihm heraufblickten.

„... Dann geben sie mir eine Karte für die Kleine und für mich“, antwortete der hochgewachsene Mann schließlich mit einem abwertenden Blick von der Seite.

Da hatte die alte Schachtel noch einmal Glück gehabt, dass seine Tochter sich eingemischt hatte.

Tomoyo hatte zwischen den Beinen ihres Vaters Platz genommen und versuchte nun hochkonzentriert, das Auto auf dem Platz herumfahren zu lassen, ohne dauernd an der Wand anzuecken. Kurogane hatte bereits das Gaspedal übernommen und musste, während er die ersten Fahrversuche seiner Tochter beobachtete, eingestehen, dass ein simpler Autoscooter wirklich noch eine große Herausforderung darstellte, wenn der Fahrer gerade einmal vier Jahre alt war.

Er sah mit einigen Bedenken, wie die Zuversicht der Kleinen immer weiter sank, als plötzlich von schräg hinten ein Wagen mit zwei Jugendlichen angebraust kam und sie erneut mit einem Ruck gegen die Bande beförderte. Während die Halbstarken noch johlend davonfuhren, war Tomoyo den Tränen nahe. Mit grimmigem Eifer packte Kurogane das Lenkrad und steuerte sie auf die Bahn zurück.

„Die kaufen wir uns“, zischte er seiner Tochter zu und bugsierte sie schnurstracks durch den Strom der anderen Fahrer hindurch auf die beiden Raser zu, die sie gerade angerempelt hatten. Die Kleine war von dem plötzlichen Gegenangriff so perplex, dass sie selbst ihren Unmut auf einen Schlag vergessen hatte.

Es dauerte nicht lange, da hatte Kurogane die beiden Roadies wieder gefunden, steuerte sie nun ebenfalls von schräg hinten an, wartete einen günstigen Moment ab und...

Rumms!

...schickte sie mit einer hübschen halben Drehung nun ebenfalls gegen die Bande. Die beiden Jungen blickten sich irritiert um, während Kurogane mit sichtlicher Genugtuung seinen Wagen wieder auf einen geraden Kurs brachte und Tomoyo glucksend Beifall klatschte.

Kaum waren auch die beiden anderen wieder in Fahrt, peilte Kurogane sie erneut an, kürzte etwas ab, um schneller aufzuholen, und drängte den anderen Wagen erneut mit einem kurzen, kräftigen Ruck vom Kurs ab. Diesmal waren beide Wagen fast auf einer Höhe, sodass die anderen beiden Fahrer ihren Angreifer sehen konnten. Doch als sie die Kampfeswut in den feuerroten Augen Kuroganes erblickten, wechselten ihre Gesichtsausdrücke von verwirrt-empört auf hundeelend.

Die ganze restliche Fahrt hatten sie keine Ruhe mehr vor ihrem Verfolger, der sein Fahrzeug so meisterlich beherrschte, dass es fast schon ans Unglaubliche heranreichte. Sichtlich zufrieden stieg er schließlich nach Ende seiner Fahrzeit aus und hob eine vollends begeisterte Tomoyo hinterher.

„Papa, du warst großartig! Denen hast du es echt gegeben!“, jubelte sie immer noch, als sie den Autoscooter längst hinter sich gelassen hatten.

„Ich lass mich doch nicht von zwei Grünschnäbeln vorführen!“, erwiderte der Schwarzhaarige abwertend.

Erst als sie an einem Stand mit Süßwaren vorbeikamen, legte sich Tomoyos Euphorie bezüglich ihres Sieges im Autoscooter wieder und eine ganz konkrete Süßigkeit erhielt ihre Aufmerksamkeit.

„Was ist denn das für eine rosa Wolke an dem Stiel?“, fragte sie und zeigte mit dem Finger auf den beschriebenen Gegenstand.

„Zuckerwatte. Das ist purer – und zwar wirklich PURER – Zucker. Extem süß und extrem ungesund, aber dir schmeckt das wahrscheinlich. Schließlich kannst du auch haufenweise von diesen Zuckerringen zum Frühstück in dich reinschaufeln“, erklärte ihr Vater.

„Kann ich eine probieren?“

„Von mir aus. Aber iss vorsichtig. Das klebt wie die Hölle.“
 

Im Nachhinein hätte Kurogane sich die Warnung auch sparen können. So, wie seine Tochter am Ende aussah, konnte er von Glück reden, dass ihre Haare nicht auch mit dem klebrigen Zeug vollgeschmiert waren. Eins war sicher, so konnte sie nicht rumlaufen. Also machten sie einen Umweg über das etwas abseits gelegene Waschhaus – zum Glück gab es hier überhaupt eins – und setzten dann ihren Weg fort.

Die nächste Station war dann das Riesenrad, denn inzwischen hatten die beiden den Rummelplatz einmal durchquert und waren somit auf der anderen Seite angekommen. Wie versprochen begleitete Kurogane seine Tochter auch hier, obwohl das Riesenrad auf ihn schon lange keinen Reiz mehr ausübte. Die Stadt überblicken konnte man schließlich auch von einem Hochhaus aus, wenn es denn unbedingt sein musste. Aber zumindest Tomoyo gefiel es. Sie staunte und bewunderte von allen Seiten die vielen Stände und Menschen, die abwechselnd kleiner und wieder größer wurden. Und sie kicherte in einer Tour, denn immer, wenn sich ihre Gondel hob oder senkte, verspürte sie ein heftiges Kribbeln im Bauch.

Einmal hielt das Riesenrad und sie hatten das Glück, dabei ganz oben zu stehen. Tomoyo nutzte die Gelegenheit, um ausgiebig den Rummel von oben zu betrachten, doch Kurogane fiel auf, dass sie dabei nicht weiter als nötig von seiner Seite wich und sich immer ein Stück vom Rand der Gondel entfernt hielt. Ganz so schwindelfrei war seine Kleine also doch nicht...

Nach dem Riesenrad ging es weiter zur Losbude. Tomoyo hatte sogar Glück und gewann mit ihren Losen einen kleinen, weißen Plüschhasen.

„Weißt du denn schon, wie du ihn nennen möchtest, meine Kleine?“, fragte der ältere Herr, der den Stand betrieb, freundlich, als er den Preis überreichte.

„Mokona!“, kam es wie aus der Pistole geschossen, als sie das Plüschtier sogleich an sich kuschelte.

„So heißt das Karnickel in ihrem Kindergarten“, klärte Kurogane den Mann auf, der bei dieser schnellen Antwort ganz erstaunt geblickt hatte.
 

Sie waren bloß wenige Meter weit gekommen, als Tomoyo erneut stehen blieb und ihren Vater bat, noch eine Attraktion ausprobieren zu dürfen: Dosen werfen. Und trotz der Bedenken, die sowohl der Standbetreiber als auch Kurogane bei Tomoyos zartem Alter hatten, ließ sie sich nicht davon abbringen, ein paar Würfe zu probieren. Doch schon nach wenigen Versuchen musste auch sie sich eingestehen, dass sie dafür noch ein Stück zu jung war. Betrübt ließ sie den Kopf sinken. Kurogane, plötzlich schon wieder von einer Art Beschützerinstinkt überwältigt, wuschelte ihr aufmunternd durchs Haar.

„Soll ich es mal versuchen?“, bot er an.

Die Kleine nickte nur und gab ihm den Ball, den sie gerade in der Hand hielt. Kurogane zielte kurz und schlug mit einem kräftigen Wurf alle zehn Dosen um. Tomoyo klatschte anerkennend Beifall und auch der Betreiber des Standes nickte ihm beeindruckt zu.

Denselben kurzen, kräftigen Wurf wiederholte Kurogane noch einmal bei dem zweiten, dritten, vierten und fünften Stapel und hatte damit schließlich den Hauptgewinn gelandet.

„Nicht schlecht! Sie haben gute Augen und einen geübten Wurfarm. Suchen Sie sich aus, was Sie möchten“, gratulierte der Besitzer.

„Jahrelanges Dartspiel“, erklärte er kurz und wandte sich dann an seine Tochter. „Was möchtest du, Kleines?“
 

Mit der neu erworbenen Packung Buntstifte setzten sie ihren Weg durch den Jahrmarkt fort, hielten hin und wieder und beobachteten einige Karusselle, kauften noch ein Lebkuchenherz als Andenken und gingen dann langsam zurück zum Motorrad.

Tomoyo war in ihrer Freude nach wie vor kaum zu bremsen, also erkundigte Kurogane sich bei den Anwohnern nach einem hübschen Spielplatz in der Stadt, damit Tomoyo sich noch ein wenig austoben konnte. Ihre Energie schien heute wirklich unerschöpflich.

Da es längst nach Mittag war, aßen sie noch den mitgebrachten Proviant, bevor sich der Schwarzhaarige zum Entspannen auf eine Bank zurückzog und seine Tochter auf den Klettergeräten spielen ließ. Sollte sie sich ruhig noch ein bisschen austoben, dann schlief sie abends umso besser.

Die entspannte Atmosphäre wurde jäh unterbrochen, als eine penetrante Frauenstimme ganz in seiner Nähe erklang.

„Ist das Ihre Tochter dort drüben? Was für ein süßes Kind!“

Widerwillig hob Kurogane den Blick und sah eine junge Frau, in etwa in seinem Alter, die ihn gewinnend anzulächeln versuchte.

„Wissen Sie, ich bin oft mit meinem Sohn hier. Er spielt auch so gern auf diesem Spielplatz. Und dann unterhalte ich mich oft mit den anderen Müttern, die mit ihren Kindern herkommen. Aber Väter sieht man wahrlich selten. Ihre Frau freut sich sicher unglaublich, dass Sie sich auch so um das kleine Töchterchen kümmern, nicht wahr? Ich bin übrigens Eileen, freut mich, Sie kennen zu lernen“, sprudelte die Fremde in einem Schwall heraus.

Das hatte ihm gerade noch gefehlt! Er wollte hier seine Ruhe haben, nicht im Redefluss einer solchen Frau ertrinken.

Kurogane warf einen Blick auf die Uhr und stellte mit einigem Erstaunen fest, dass es bereits auf sechs Uhr zuging. Wie lang, zum Teufel, hatte er hier gesessen?! Und Tomoyo saß noch immer vergnügt im Sand und baute zusammen mit einem anderen Mädchen eine Sandburg, mit Tunneln, Türmen, Steinen... Alles, was dazu gehörte.

Doch jetzt mussten sie wirklich los. Allein schon, um der Plappertasche zu entkommen.

„Ich bin nur zu Besuch hier und muss jetzt auch weiter. Einen schönen Tag noch“, antwortete Kurogane der Frau daher trocken und stand auf, drehte sich zu seiner Tochter um und rief etwas lauter: „Wir müssen los, Kleines.“

Da ihr Vater bereits drauf und dran war zu gehen, verabschiedete Tomoyo sich nur schnell von ihrer neuen Freundin und lief dann geschwind zu Kurogane herüber, der die redselige Mutter einfach links liegen ließ und auf dem kürzesten Weg den Spielplatz verließ.

Da es bereits so spät war, entschied der Schwarzhaarige kurzerhand, dass sie hier in irgendeinem Restaurant zu Abend essen würden. Das sparte außerdem den Abwasch. So fuhr er noch ein wenig durch die Stadt, bis er ein passendes Lokal gefunden hatte.

Das Essen selbst verlief für beide in innerlicher wie äußerlicher Ruhe. Bei Tomoyo machte sich endlich die Erschöpfung von diesem langen und ereignisreichen Tag bemerkbar und Kurogane spürte die Ruhe zurückkehren, die ihn bereits durchströmt hatte, bevor die seltsame Frau dazwischen geplatzt war. So ausgeglichen wie heute war er selten. Eigentlich war es ein ziemlicher Widerspruch, dachte er bei sich. Er war den halben Tag mit einem Floh von Tochter durch einen Jahrmarkt spaziert und fühlte sich ausgeglichen! Das Kind hatte schon eine seltsame Wirkung auf ihn. Aber in letzter Zeit schien er ja generell empfindlicher darauf zu reagieren, wie sie sich fühlte. Wenn er daran dachte, dass er sie vor zwei Wochen eher in einer Kurzschluss-Reaktion in den Kindergarten gesteckt hatte und nun zusammen mit ihr Motorrad fuhr und Jahrmärkte besuchte... Es war so bizarr, dass er es selbst kaum glauben konnte.
 

„Zeit, den Heimweg anzutreten, Kleines“, verkündete Kurogane, als sie wieder am Motorrad waren und sich die wetterfeste Kleidung überzogen.

„M-hm“, nuschelte das Mädchen mit einem trägen Nicken. „Aber können wir noch ein bisschen mit dem Motorrad fahren? Das macht doch so viel Spaß...“

„Der Heimweg dauert sowieso eine ganze Weile, aber ich werde sehen, was sich machen lässt“, räumte der Schwarzhaarige mit einem sanften Lächeln ein.

„Du bist der Beste, Papi.“

Die freudigen Kinderaugen strahlten ihn noch einmal an, dann wurde der Blickkontakt unterbrochen, indem Kurogane seiner Tochter den Helm wieder aufsetzte.

Im Grunde fuhr der Schwarzhaarige die Strecke genauso wie auf dem Hinweg, nur dass er sich diesmal etwas mehr Zeit ließ und sie zum Ende hin in aller Ruhe durch den Sonnenuntergang fuhren. Die Felder der Umgebung waren bei diesem rötlichen Dämmerlicht sicher eine ganz neue Erfahrung für Tomoyo, also drehte Kurogane kurzerhand noch eine Ehrenrunde um die Stadt und machte sich erst dann wieder auf den Heimweg, als es schon fast dunkel war. Er spürte, wie Tomoyo noch immer eng an ihn gekuschelt an seinem Rücken lag, doch sie hatte sich jetzt schon seit einer Weile nicht mehr großartig bewegt. Ob sie bereits am Einschlafen war...?

Gerade war Kurogane von der Hauptstraße abgebogen, um über die Nebenstraße in sein Viertel zu gelangen, als direkt am Straßenrand, nur wenige Meter von ihm entfernt, ein im schwachen Mondlicht fast weißlich schimmernder Schopf aufblitzte, und schon im nächsten Moment stand die ganz in schwarz gekleidete Gestalt direkt vor ihm im Scheinwerferkegel.

Das Letzte, was Kurogane sah, waren die vor Entsetzen aufgerissenen blauen Augen, als der Kopf der Gestalt zu ihm herumschnellte, Reifen quietschten, dann stellte die Welt sich mit einem Ruck auf den Kopf, Metall schlug auf Beton, schleifte ihn mit einem Ruck mit sich und schleuderte ihn dann noch einmal ein ganzes Stück weiter, bis er mit dem Kopf gegen irgendetwas Kaltes und Hartes stieß und die Lichter endgültig ausgingen.
 

TBC...

Herz aus Glas

Ein Hinweis vornweg, da es bei dem leidigen Wort „Eierkuchen“ ja immer die schönsten Missverständnisse gibt (Klayr und ich haben selbst einige Zeit gebraucht, bis wir wussten, wovon die andere gesprochen hat, weil sie ursprünglich „Pfannkuchen“ geschrieben hatte XD).

Der im zweiten Teil des Kapitels erwähnte „Eierkuchen“ bezeichnet die großen, runden Dinger, etwas dicker als Crêpes, die man in der Pfanne backen kann. Anderswo heißen sie ja „Pfannkuchen“, aber das wiederum sind in meiner Gegend die runden Teigbälle mit Marmelade drin und Zuckerguss oder Puderzucker oben drauf (auch „Berliner“ genannt). Also lasst euch nachher nicht verwirren ^^!
 

Noch etwas: Einige waren etwas skeptisch, ob Kurogane tatsächlich einfach so über eine 2m hohe Mauer springen kann. Diese Leute möchte ich bitten, sich die neuen Links bei der FF-Beschreibung anzusehen =). Das sollte alle Zweifel beheben.
 

-~*~-
 

Disclaimer: Die Charas gehören (bis auf wenige Ausnahmen) nicht uns, sondern Clamp. Wir wollen kein Geld damit verdienen, sondern nur unterhalten.
 

Erstschreiber des Kapitels: Klayr_de_Gall

Kapitel: 14/26
 

-~*~-
 

„Wirklich gute Freunde sind Menschen, die uns ganz genau kennen, und trotzdem zu uns halten.“

(Marie von Ebner-Eschenbach)
 

-~*~-
 

„Herz aus Glas“
 

Als Kurogane wieder zu sich kam, war das Erste, was er bemerkte, ein stechender Scherz im Handgelenk. Orientierungslos versuchte er, die Ursache dafür zu erkennen. Warum lag er am Boden?

...

Lag er doch, oder? Es war kalt und hart... Und verdammt, tat ihm der Kopf weh!

Aber das wurde augenblicklich unwichtig, als ein erschüttertes Schluchzen die Stille durchbrach.

Tomoyo!

Die Erinnerungen an die letzten Minuten – nein, Sekunden – waren schlagartig wieder da.

Irgendjemand war ihm vors Motorrad gestolpert und infolge seiner Vollbremsung war wohl das Hinterrad ausgebrochen und-

Aber das konnte er dann auch noch analysieren. Zuerst musste er sehen, ob seine Tochter wohl auf war.

Ohne sich mehr als nötig zu bewegen, für den Fall das die Kleine verletzt war, schnallte der schwarzhaarige Mann den Sicherheitsgurt von seinem Rücken los. „Tomoyo? Kannst du...?“

„Papi!“ Ein Schluchzen unterbrach seine Worte und er spürte, wie kleine Hände an seiner dicken Motorradjacke rüttelten.

„Papi?!“

„Schon gut! Schon gut, Kleines, ich bin ja da, es ist alles okay.“

Für einen Moment herrschte über ihm schweigen, dann schniefte das Mädchen auf und begann laut und verzweifelt zu weinen. Aber irgendwie schienen es auch Tränen der Erleichterung zu sein. Verständlich... Das Kind musste geschockt gewesen sein, als ihr sonst so robuster Vater sich für einige Momente nicht mehr gerührt hatte.

„Kannst du aufstehen, Tomoyo?“, versuchte Kurogane den Geräuschpegel seiner Tochter zu übertönen, und anscheinend hatte diese ihn auch verstanden, denn sie rutschte von seinem breiten Rücken hinunter, nur um sich jammernd an seine Seite zu klammern.

Sie schien wirklich unter Schock zu stehen.

Während er sich den Helm vom Kopf zog, setzte der Schwarzhaarige sich auf. Mit Unbehagen fiel ihm auf, dass nun ein paar tiefe Schrammen im Schutzhelm waren. Das schien knapper als knapp gewesen zu sein. Wenn er den verdammten Idioten in die Finger bekam, der schuld an dem Sturz gewesen war, dem würde Hören und Sehen vergehen!

„Tomoyo... Warte ich nehm dir den Helm ab.“ Beim Aufprall war ihr dieser ein Stück vom Kopf gerutscht, sodass die schwarze Mähne wild und zerzaust darunter hervorquoll. Aber außer dem riesigen Schrecken schien seine Kleine unverletzt zu sein. Gott sei Dank. Kurogane wusste nicht, was er getan hätte, wäre ihr irgendetwas passiert.

Eine schemenhafte Bewegung am Rande seines Blickfeldes lenkte ihn ab und seine blutroten Augen richteten sich auf den Übeltäter.

Das war doch...!

Am Rande des Lichtkegels der nächsten Laterne, halb zusammengekrümmt und zitternd, hockte ein ihm sehr bekannter blonder Mann, das lockere Haar hing ihm wirr im Gesicht. Der schwarze Pullover war an den Ellenbogen aufgerissen, als er sich von dem Sturz abgefangen hatte, und entblößten die blase, in dem spärlichen Licht geradezu weiße Haut, über die sich ein wenig Blut dunkel seinen Weg bahnte. Aber das schien er gar nicht wahrzunehmen. Gehetzt huschten die weit aufgerissenen blauen Augen umher und als sie an Kurogane hängen blieben, schienen sie sogar noch größer zu werden und bodenlose Angst spiegelte sich in ihnen wieder.

Was...?

Doch bevor der größere Mann sich wirklich darüber klar werden konnte, was er eben für erschreckend überschäumende Emotionen in den sonst so schelmisch funkelnden Augen gesehen hatte, die normalerweise jede echte Gefühlsregung fast perfekt verbargen, fuhr der am Boden kauernde Kindergärtner herum und versuchte, sich in derselben Bewegung aufzurichten, zu flüchten. Sein starkes Zittern ließ ihn das Gleichgewicht jedoch sofort wieder verlieren, er stürzte erneut, wimmerte panisch auf und versuchte ungeschickt, wieder auf die Füße zu kommen.

Aber der Schwarzhaarige machte jeden weiteren Fluchtversuch unmöglich. Blitzartig schnellte er hoch, als klar wurde, was Fye vorhatte, und bekam ihn am Arm zu fassen, als dieser gerade mal den ersten Schritt von ihm weg gemacht hatte. Grob drückte er zu, nicht darauf achtend, dass er die aufgeschürfte Stelle erwischt hatte und riss ihn zu sich herum.

„Du elender...!“

Dieser falsche Heuchler hatte seine Tochter das letzte Mal in seinem Leben in solch eine Gefahr gebracht!

Die Faust, schon zum Schlag erhoben, erstarrte mitten in der Luft, als ihre Blicke sich trafen. Plötzlich brachte er es nicht mehr über sich, diesen Mann zu schlagen, der ihn mit so panischen Augen anblickte, als hätte er das ganze Grauen der Menschheit gesehen. Seine plötzliche Angst um Tomoyo und die daraus resultierte Wut, die explosionsartig in ihm hochgekocht war, rückte auf einmal in eine logische Distanz, war für ihn plötzlich realistisch und nachvollziehbar. Aber der Ausdruck in Fyes Gesicht war es nicht.

„Nicht! B-bitte nicht...!“ Die sonst so gefestigte Stimme überschlug sich vor Panik, während Fye versuchte, sich von ihm loszureißen. Völlig außer Kontrolle wand er sich, um seinen Arm frei zu bekommen, was aber nur dazu führte, dass sich der Griff festigte, in dem er gefangen war.

„Nein-nein- NEIN!“ Aufschluchzend brachte er nur noch mehr Kraft auf und Kurogane sah keinen anderen Weg, als ihm mit einem Ruck den Arm auf den Rücken zu drehen, sodass der Blonde sich unweigerlich eine halbe Runde drehte, und er ihn an sich ziehen und ganz festzuhalten konnte. Sonst würde der andere sich in seiner unkontrollierten Panik wirklich losreißen und niemand könnte sagen, was er sich dann für Verletzungen zuzog. Außerdem befürchtete er, den dünnen Arm langsam abzuschnüren, und so hatte er ihn besser im Griff.

Das schien auch der verstörte Mann zu merken, denn ein angstvoller Schrei verließ seine Kehle und er begann, sich wortwörtlich mit Händen und Füßen zu wehren und machte dabei vor allem von seinen für einen Mann erstaunlich langen Fingernägeln Gebrauch. Es war reines Glück, dass Kuroganes Gesicht von den hysterischen Attacken verschont blieb, da der Kleinere mit dem Rücken zu ihm stand, aber seine Hände kamen nicht so glimpflich davon.

Langsam schien Kurogane zu verstehen, warum der andere sich dermaßen verzweifelt gegen ihn erwerte.

Er hatte ihn in seiner Panik nicht erkannt. Mit dieser Erkenntnis drang nun auch das verzweifelte Weinen seiner Tochter wieder an seine Ohren. Er musste etwas tun. Und zwar schnell.

„Hey! Verdammt, hör auf zu kratzen, das tut- HEY!!!“

Durch den ruppigen lauten Ton nur noch weiter aufgestachelt, krallten sich die langen Nägel erneut in seinen Handrücken, fest genug, um die Haut zu durchstoßen. Langsam tat es selbst ihm weh.

„Jetzt ist aber gut!“

Fye schrie angstvoll auf, als der hinter ihm Stehende plötzlich eine Hand über seine Augen legte, welche sofort wieder von den Fingernägeln attackiert wurde, während er verzweifelt um sich trat, um endlich los zu kommen. Weg, bloß weg!

„Papa!“, schluchzte Tomoyo laut, völlig aufgelöst bei dem Anblick dieser Szene, weil sie es einfach nicht verstand. Genauso wie ihr Vater...

„Beruhig dich. Ich bin’s nur.“ Diesmal sprach der Schwarzhaarige mit gesenkter Stimme und, da er Fyes Kopf nun festhielt, den dieser vorher unkontrolliert hin und her geworfen hatte, direkt in sein Ohr. „Ganz ruhig. Okay...? Hier kann dir nichts passieren.“

Und endlich schienen seine Worte zu dem hysterischen Blonden durchzudringen, denn seine verkrampften Finger an Kuroganes Handgelenk hielten inne, wo sie tiefe Kratzer hinterlassen hatten.

„Es ist okay...“

Er ließ Fye etwas Freiraum, als dieser Anstallten machte, sich zu ihm umzudrehen. Lange blickten die blauen Augen zu ihm auf, während darin ein wahres Gefühlschaos zu lesen war. Angst, Verwirrung, Erkennen und schließlich Erleichterung. Nur wenig, aber genug um endgültig sicher sein zu können, dass er ihn endlich erkannt hatte.

Dann wich plötzlich alle Kraft aus dem schlanken Körper und er sank mit einem leisen Aufwimmern gegen Kuroganes breite Brust. Er sagte etwas, aber die gemurmelten Worte wurden von der dicken Jacke verschluckt, in der er sein Gesicht vergraben hatte. Kurogane war das alles langsam zu viel, aber da der Blonde zitterte wie Espenlaub, brachte er es nicht fertig, ihn von sich zu weisen. Solange Fye nur endlich ruhiger wurde, würde er das irgendwie ertragen...
 

„Wieso weinst du denn, Kleines?“

Als plötzlich eine von Alter und Freundlichkeit gezeichnete Stimme erklang, zuckten alle drei Unfallopfer erschrocken zusammen. Fye verkrallte sich augenblicklich in der Jacke seines neu auserkorenen Beschützers und Tomoyo sprang hektisch und mit einem schrillen Quieken auf, um zu ihrem Papa zu stürzen und das Gesicht gegen seine langen Beine zu drücken.

Das alte Mütterchen, das gerade hinter dem Mädchen die Straße herunter gekommen war, blickte erstaunt auf und in Kuroganes Augen, während ihr ebenso altersschwacher Dackel ihn anbellte.

„Na, na, Trixi“, meinte die Alte gutmütig und kam näher.

Ungewohnt unsicher blickte der jüngere, wenn auch weitaus größere Mann sie an. Spätestens jetzt war Kurogane offensichtlich mit der Situation überfordert. An sich hatte er bisher alles meistern können, solche Ausnahmesituationen waren in seinem Job geradezu alltäglich. Aber mit Tomoyo, die sich immer noch schluchzend an ihn drückte und seine Beine umklammerte, sodass er Mühe hatte, das Gleichgewicht zu halten, und Fye, der Schutz in seinen Armen suchte und dessen Zittern sich einfach nicht zu beruhigen schien, war es etwas gänzlich anderes.

„Brauchst du Hilfe, mein Junge?“

Besorgt blickte sie unter ihrem Kopftuch hervor und musterte die seltsame Szene. Sie verstand natürlich nicht, was genau passiert war, aber dass hier etwas alles andere als in Ordnung war, das sah sogar ein Blinder. Oder eben eine Rentnerin mit altersschwachen Augen.

„Sie sind verletzt. Soll ich einen Arzt rufen?“

„Ich...? Oh.“ Ja, er war verletzt. Fye hatte seine Hände ja fast zu Hackfleisch verarbeitet, auch wenn es jetzt, wo sie voller Blut waren, schlimmer aussah, als es eigentlich war oder sich anfühlte. Vor allem die rechte, die im Moment im Nacken des Blonden ruhte und dort die Haarspitzen etwas blutig färbte, sah übel mitgenommen aus.

„Nein, ist schon okay. Das sieht nur schlimm aus, machen Sie sich keine- Tomoyo! Bitte lass etwas lockerer.“

Aber seine Tochter reagierte überhaupt nicht und etwas verspätet bemerkte Kurogane auch warum.

„Könnten Sie bitte den Hund etwas weiter wegbringen? Meine Tochter hat Angst vor ihnen.“

„Ach, aber Trixi tut doch niemandem was.“

„Bitte!“

Da diese „Bitte“ nun wirklich wichtig klang, zeigte das Mütterchen Einsicht und band den kleinen Dackel an einer Laterne gut fünf Meter weiter an. Das dunkelhaarige Mädchen schien sofort etwas beruhigter und ließ die Beine ihres erleichterten Vaters los. Nur noch die Finger hatte sie zur Sicherheit in den Soff seiner Hose geklammert, als sie mit verängstigtem und verständnislosem Blick zu ihrem Vater und ihrem Kindergärtner aufblickte.

„Und du bist sicher, dass ich keine Hilfe holen soll, mein Junge? Dein Freund sieht nicht sehr gut aus.“

Ohne böse Absicht war die alte Frau wieder näher gekommen und hatte Fye am Arm berührt, mit der Folge, dass dieser zusammenfuhr, als hätte man ihn geschlagen, und sich so fest an Kurogane klammerte, als wollte er in ihn hineinkriechen.

Bei dem Schwarzhaarigen schrillten alle Alarmglocken. Wenn Fye immer noch so heftig reagierte, noch dazu auf die Berührung eines altes Mütterchens, obwohl sein Kopf endlich einigermaßen zurück in der Realität war, musste sein Zustand noch schlimmer sein als befürchtet. Das letzte Mal, als Kurogane kurz einen ähnlichen Panikanfall miterlebt hatte, war der Blonde sofort danach wieder er selbst gewesen, übergangslos hinter seine Maske zurückgeschlüpft. Und nun schaffte er dies nicht einmal in Gegenwart einer fremden Alten. Der Blonde musste hier weg. Schnellstens. Sonst zerbrach er noch an seiner Angst.

„Sehr sicher. Vielen Dank.“ Von Sorge und Eile getrieben, durchschnitt seine dunkle Stimme die Nacht etwas unfreundlicher, als er es gewollt hatte, aber die Alte überhörte es geflissentlich. Stattdessen kramte sie in ihrer Schürzentasche – um die Zeit hatte sie es anscheinend nicht mehr als nötig erachtet, zum Gassigehen etwas Gesellschaftsfähigeres anzuziehen – und zog schließlich ein paar Bonbons heraus. Durch die verschreckte Reaktion des Blonden nun etwas vorsichtiger, hielt sie eines davon Tomoyo hin und lächelte sie aufmunternd an.

„Hier, Kleines. Das beruhigt.“ Erst nachdem ihr Vater leicht genickt hatte, nahm sie es auch entgegen und wischte sich dabei ein paar Tränen von der Wange. Es schien ihr zu helfen, dass die nette Fremde ganz normal mit ihr umging. Chaos und Hektik herrschten schon genug um sie herum.

„Aber um deinen Freund zu beruhigen, bräuchte es ich wohl eine ganze Tüte Bonbons. So viele habe ich leider nicht mit.“ Auffordert hielt sie dem Schwarzhaarigen zwei mit Karamellgeschmack hin, welche dieser widerspruchslos annahm.

„Ich denke, das ist okay.“ Die Alte versuchte auf ihre unschuldige Art, langsam die Normalität zurückzubringen, soweit wie irgend möglich zumindest. Mit jemandem reden zu können, der der Situation so gefasst gegenübertrat, ließ auch den überforderten Vater wieder einen kühlen Kopf bekommen. Ihm half sie mit ihrem Verhalten wahrscheinlich am meisten. Behutsam suchte er nach einer von Fyes Händen, die sich fest in seiner Jacke verkrallte hatten, und nach ein paar leisen, beruhigenden Worten hatte er ihn sogar soweit, dass er die beiden Bonbons nahm und seine Finger ganz fest darum schloss. Gut, wenigstens ein halbwegs normales Lebenszeichen. Auch wenn es dauern würde, bis sich der sonst so gefasste Kindergärtner wieder unter Kontrolle haben würde.

„Komm doch kurz mit zu mir und beruhige dich ein wenig. Du kannst nicht die ganze Nacht mitten auf der Straße stehen. Wie wäre es mit einer schönen warmen Milch mit Honig, dann sieht die Welt gleich viel besser aus.“

Ganz normal war die Alte aber auch nicht mehr. Jetzt von Milch und Honig zu reden... Aber aus ihren Worten konnte man schließen, dass sie in der Nachbarschaft wohnte. Vielleicht hatte er sie sogar schon mal gesehen, er wusste es nicht genau.

„Ich wohne selbst nicht weit von hier, es ist besser, wenn ich die beiden erst mal zu mir bringe. Aber danke für das Angebot.“

„Nichts zu danken, mein Junge.“

Wenigstens das Problem war jetzt also geklärt. Doch da war ja noch ein weiteres. Der letzte Leidtragende dieses Unfalls...

Und der lag immer noch am Straßenrand. Seine arme Maschine. Kurogane hatte sie immer gehütet, und nun konnte er den schwarzen Lack, den elegant stromlinienförmig geschwungenen Tank und mit etwas Glück auch den Lenker wohl vergessen. Von den ganzen Kleinteilen ganz zu schweigen. Wenn seine Werkstatt das je wieder in Ordnung bringen könnte, dann hatte er enormes Glück. Aber mit Fye und seiner Tochter konnte er unmöglich die schwere Kawasaki auch noch Heim bringen. Wie weit war es noch zu Fuß? Keine zehn Minuten, wenn er sich nicht täuschte. Das könnte ohne größere Katastrophen machbar sein.

Oder doch nicht.

Als er Fye losließ, klammerte dieser sich nur noch fester an ihn und wehrte sich vehement, sich auch nur einen Zentimeter von Kurogane zu entfernen. Erneut vernahm der Schwarzhaarige ein leises Murmeln von ihm, was anscheinend die ganze Zeit angehalten hatte, ohne dass es bis zu ihm durchgedrungen war. Allerdings verwirrten ihn die leise gestammelten Worte.

„...weg...er wird mich...töten... Kurogane...muss weg...flieht...“

Das monotone Geflüster ging noch weiter, aber das Bisschen hatte schon ausgereicht, mehr als eine Handvoll Fragen aufzuwerfen.

Wovon, oder besser, von wem sprach Fye da?

Wer wollte ihn töten?

Und was hatten sie damit zu tun, dass er sie ebenfalls zum Fliehen bewegen wollte?

Die alte Frau seufzte schwer, was Kuroganes Aufmerksamkeit ein Stück zu ihr zurücklenkte.

„Das ist bestimmt dein Motorrad, oder, mein Junge? So eine gefährliche Maschine! Ein Glück, dass nicht noch mehr passiert ist. Und gut, dass um diese Zeit kaum noch jemand auf der Straße unterwegs ist.“

Sie machte eine kurze Pause und bemaß den Schwarzhaarigen noch einmal mit einem besorgten Blick.

„So kannst du dein Motorrad jedenfalls nicht mitnehmen. Am besten sicherst du es erst mal mit einem Warndreieck ab und holst es später.“

Das Mütterchen schien nicht gemerkt zu haben, dass der jüngere Mann nur mit halbem Ohr zugehört hatte, aber ihre Worte lenkten seine Aufmerksamkeit wenigstens wieder auf Dinge, die im Moment wichtig waren.

„Nein, ich denke, ich krieg das schon hin.“
 

Aber es dauerte noch gut eine Viertelstunde, bis der Schwarzhaarige wirklich wieder alles unter Kontrolle hatte. Mit viel gutem Zureden und beruhigenden Berührungen hatte er Fye schließlich dazu bekommen, von ihm abzulassen, und damit der Blondschopf nicht gleich wieder in Panik verfiel, hatte Kurogane ihn in seine schwere, warme Jacke eingehüllt. Schweigend war der Blondschopf bis zur Nasenspitze darin versunken, während er sich neben Tomoyo auf der Bordsteinkante zusammenkauerte, was ihn nur noch verlorener aussehen ließ. Das hatte auch das kleine dunkelhaarige Mädchen bemerkt und sich vorsichtig an ihren Fye-Nii-chan gekuschelt.

Während die Alte fürsorglich über die zwei wachte, hatte Kurogane Zeit, den Schaden zu begutachten, der an seinem geliebten Motorrad entstanden war, und dieses von der Straße aufzusammeln.

Schließlich hatte er das schwere Gefährt hochgehievt, was mit seinen zerschundenen Händen gar nicht so einfach gewesen war, und stellte es neben den beiden Häufchen Elend am Bordstein ab. Tomoyo sprang sofort auf, um sich an seine Beine zu kuscheln, während Fye verstört aufsah, als sie von seiner Seite wich. Es wirkte so hilflos, als er die Hand nach Kurogane ausstreckte, dass dieser gegen alle Prinzipien zugriff und ihn auf die Füße zog. Für einen Moment ließ er den Blonden sich schutzsuchend ankuscheln.

„Soll ich dich noch ein Stückchen begleiten, mein Junge?“

Gegen den ersten Impuls, das Angebot augenblicklich abzulehnen, dachte Kurogane erst einmal nach, bevor er langsam nickte.

„Das wäre sehr freundlich.“ Mit dem verstörten Blondschopf, der ohne gutes Zureden keinen Schritt ging, und Tomoyo, die an seinen Beinen hing, würde er nicht allzu weit kommen. Und zumindest seine Tochter hatte schon genug Vertrauen zu dem Mütterchen gefasst, um ihre Hand zu nehmen. So machten sie sich zu viert auf den Weg, nachdem Trixi noch mehrmals versichert bekommen hatte, dass sie bald abgeholt werden würde.
 

Mit einem langen, leidvollen Seufzer ließ Kurogane sich auf die Couch fallen und sank tief in das weiche Polster ein. Gut, wenigstens Tomoyo war endlich im Bett. Seine Kleine war die ganze Zeit kurz davor gewesen, wieder in Tränen auszubrechen, und Kurogane hatte all seine Überredungs- und Vorlesekünste gebraucht, sie halbwegs zu beruhigen und ins Bett zu bekommen. Nach dem dritten Märchen war sie dann endlich ins Land der Träume abgedriftet. Der lange, anstrengende Tag hatte den Kampf gegen den Schock gewonnen. Danach hatte es noch etwas gedauert, bis der Schwarzhaarige seine und Fyes Wunden versorgt hatte, und nun war er fix und fertig. Ganz zu schweigen von seinem immer noch anhaltenden Schädelbrummen. Vielleicht eine leichte Gehirnerschütterung?

Als er die Augen wieder öffnete, die er kurz geschlossen hatte um alles um sich herum wenigstens für einen Moment auszublenden, bemerkte er den scheuen, eisblauen Blick, der auf ihm lag. Fye saß ihm gegenüber in einem Sessel, ganz tief in eine weiche Wolldecke gekuschelt und mit einer Tasse Tee in der Hand. Diese war nach fast einer Stunde nur halb leer, aber schon kalt, dennoch hielt er sie umklammert, als würde sie noch Wärme spenden. Seufzend erhob sich der Schwarzhaarige wieder, um die bereitgestellte Thermoskanne aus der Küche zu holen und die Tasse wieder aufzufüllen. Trinken würde der Blondschopf es eh nicht, aber wenigstens hatte er etwas, woran er sich wärmen konnte.

„Deine Hände...“ Die leise Stimme des Kindergärtners klang in seiner Wohnung so fehl am Platz, dass der Schwarzhaarige die Stirn runzelte. Noch gestern hätte er jedem einen Vogel gezeigt, der ihm erzählt hätte, dass er Fye heute in seinem Wohnzimmer haben würde.

„Hm?“

Kaum dass er die Kanne wieder weggestellt hatte, fingen lange, zittrige Finger seine rechte Hand ein. Zwar hatte Kurogane sie schon versorgt, aber nicht jeder Kratzer hatte ein Pflaster abbekommen, und sein zerkratztes Handgelenk war verbunden. Fye hatte ganze Arbeit geleistet und jetzt schien ihm das wirklich Leid zu tun.

„Ich wollte das nicht...“, hauchte er schuldbewusst und ließ nicht zu, dass sein Gegenüber ihm die Hand wieder entzog. Stattdessen barg er sie schützend zwischen seinen und blickte aus traurigen blauen Augen auf. „Es ist okay, wenn du mir deswegen böse bist...“

„Das bin ich auch.“

„...“

Die Worte schienen schmerzhaft zu sein, und automatisch drückte Fye die bandagieren Finger etwas fester. „Kuro... ich...“

„Für wen hast du mich gehalten, dass du solche Angst vor mir hattest?“, fiel Kurogane ihm einfach ins Wort, wollte die Entschuldigungen nicht hören.

Ruckartig sah der blonde Mann auf und für Sekunden stand in den azurblauen Augen die gleiche Angst wie vor einer Stunde. Dann schlug er die Augen nieder und gab die braungebrannte, zerschundene Hand frei.

Kurogane setzte sich zurück auf seinen Platz. Eine Antwort erwartete er nicht. Nicht von Fye. Umso überraschter war er, als schließlich die leise Stimme seines unfreiwilligen Gastes wieder die sich ausbreitend Stille durchbrach.

„Ich...ich bin auf der Flucht. Schon seit ein paar Jahren.“

Es schien dem blonden Mann merklich schwer zu fallen, so offen zu sprechen, aber Kurogane ließ ihm Zeit und fragte nicht weiter nach. Nach einigen Minuten des Schweigens schaffte Fye es aus eigener Kraft weiterzusprechen.

„Ashura... Dieser Mann ist unglaublich kaltblütig. Er hat schon so viele Menschen auf dem Gewissen und viele fürchten ihn. Zu Recht. So wie ich. Es ist so anstrengend, immer Angst zu haben, gefunden zu werden, aber seit ich im Kindergarten arbeite, musste ich nicht mehr so oft daran denke. Ich habe langsam wirklich geglaubt, dass ich wieder ein normales Leben führen könnte. Weit weg von ihm und seinen Machenschaften! Aber ich hab mich getäuscht...“ Verzweifelt vergrub er sein blasses Gesicht in seinen Händen, hatte wieder zu zittern begonnen. „Als ich heute nach Hause kam... Chii war nicht daheim. Ich hab mir nichts weiter dabei gedacht, auch wenn ihre Schule eigentlich schon aus wahr. Aber dann... Ich wünschte, ich hätte ihn nicht gesehen! Er stand mitten auf dem Fußweg und hat mich so wissend angelächelt... Und da wusste ich, dass alle Hoffnung umsonst war, dass ich ihm niemals wirklich entkommen war. Ich musste einfach weg. So schnell und so weit ich konnte! Aber egal, was ich tat, egal wohin ich lief, immer hatte ich das Gefühl, Ashura wäre noch da und wüsste genau, was ich tat!“

Fyes Stimme wurde immer zittriger, immer verzweifelter. Die noch immer volle Tasse wurde von den langen, dünnen Fingern so fest umkrallt, dass Kurogane fast fürchtete, der Blonde würde sie mit bloßen Händen zerbrechen. Das warme Getränk darin schwappte bedrohlich, immer wieder fanden kleine Tropfen ihren Weg über den Rand. Eine besonders große Welle schwappte heraus und landete im hohen Bogen auf dem hellen Teppich.

„Er wird mich töten...!“, murmelte der Blonde heiser.

„Jetzt reiß dich ein bisschen zusammen! Hier ist niemand, der dir etwas tun könnte, und selbst wenn, dann bin immer noch ich in der Nähe, also dreh nicht gleich wieder ab“, fauchte Kurogane etwas, und der Blondschopf zuckte zusammen, bevor er sich tiefer in seine Decke vergrub.

„Ich habe Angst...“, gestand er mit dünner Stimme. „Solche Angst...um Chii. Und jetzt habe ich dich und Tomo-chan auch noch mit da hineingezogen! Oh nein...“

So wie er dreinblickte, schien ihm hundeelend zu sein, und Kurogane hielt es für besser, das Gespräch hier zu unterbrechen. Der junge Kindergärtner war einfach zu aufgewühlt. Das war genug Wahrheit für heute. Wahrscheinlich hatte Fye seit Jahren nicht mehr so viel von sich preisgegeben. Zumindest konnte er es sich bei dem Mann nicht vorstellen.

„Schon gut. Ich kann auf Tomoyo und mich aufpassen. Und wahrscheinlich ist deine Kleine nur zu Besuch bei einer Freundin und du machst dir da zu viele Sorgen.“

„Aber..!“

Kurogane brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen.

„Es hat keinen Sinn, jetzt noch zu diskutieren. Wir sind beide völlig fertig.“

Damit war das Gespräch für Kurogane beendet und er erhob sich.

„Aber...“ Erneut einer dieser Blicke und Fye schien gleich ein paar Nummern kleiner zu werden. „Aber...wo soll ich jetzt bloß hin?“, murmelte er kleinlaut und blickte auf seine Hände.

Statt eine Antwort zu geben, trat Kurogane zu einem der Wohnzimmerschränke und kramte Bettzeug daraus hervor. Er hatte eigentlich nie Gäste, aber es war irgendwie immer hier. Als er sich wieder umwandte, blickte Fye ihn mit einem so unglaublich hilflosen Lächeln an, während seine Augen gleichzeitig verzweifelt um Hilfe schrieen, dass er nur seufzen konnte und zu ihm trat.

„Auf die Couch mit dir.“
 

Es war weit nach Mitternacht und seit über zwei Stunden herrschte in der Wohnung der Sugawaras nächtliche Stille, da öffnete sich eine der Türen zum Flur beinahe lautlos. Die Kinderzimmertür. Kaum dass der entstandene Spalt groß genug für einen Kinderkörper war, wurde dieser auch schon hindurch geschoben, und auf barfüßigen Sohlen schlich das kleine dunkelhaarige Mädchen den Flur hinunter. Tomoyo hatte eines ihrer Lieblingskuscheltiere an ihre schmale Brust gedrückt und blieb unsicher vor der Zimmertür ihres Vaters stehen.

Seit ihr Papa immer zuhause war und gemerkt hatte, dass die Vierjährige dazu neigte, nachts unter seine Decke zu krabbeln, war seine Tür immer nur angelehnt, damit sie reinkommen konnte, wann immer wie es wollte, dennoch zögerte Tomoyo heute Nacht. Unsicher trat sie noch einen Schritt näher, dann ließ sie aber ein leises Geräusch zusammenfahren. Ein Rascheln? War ihr Papi etwa noch wach? Aber das Geräusch war doch gar nicht aus seinem Zimmer gekommen...

Verunsichert blickte Tomoyo sich um.

Wenn es nicht aus dem Schlafzimmer kam, von wo dann? War etwa noch jemand hier? War Nii-chan etwa noch hier? Langsam tappte sie zur Wohnzimmertür und lugte herein, konnte aber niemanden entdecken. Allerdings erklang das Rascheln diesmal sehr viel näher und wurde von einem leisen Schniefen begleitet. Oder war es ein Seufzen gewesen?

„Nii-chan?“, fragte die Kleine verunsichert, wusste sonst doch niemanden, der noch hier sein könnte. Auf der anderen Seite der Sofalehne wurde es still, bevor es erneut leise Raschelte und schließlich ein zerzauster blondern Kopf auftauchte. Zwar konnte Tomoyo das Gesicht ihres Kindergärtners nicht sehen, weil es zu dunkel war, doch seine hellen Haare hoben sich ein wenig von der Dunkelheit ab.

„Kannst du nicht schlafen, Nii-chan?“

„Du auch nicht, hm?“

Fye klang nicht so fröhlich wie sonst... Das Mädchen nahm das als Anlass, zu ihm zu tippeln und zu ihm auf die Couch zu klettern.

„Hat Papa sehr mit dir geschimpft? Weil wir doch den Unfall hatten.“

„Nein. Er war sehr lieb zu mir. Du hast einen richtigen Bilderbuchpapa, Tomo-chan, weißt du das?“

„M-hm! Papa ist toll“, bestätigte die Schwarzhaarige schmunzelnd. „Deswegen hab ich ihn ja auch ganz doll lieb.“

„Was für ein Glück für ihn...“

„Dich hab ich aber auch doll lieb, Nii-chan!“

Lächelte ihr Kindergärtner jetzt? Vielleicht. Es war so schwer zu sagen im Dunkeln.

„Willst du nicht wieder ins Bett gehen, Liebes?“

Aber Tomoyo schüttelte augenblicklich den Kopf. Sie war ja gerade erst von da gekommen, weil sie schlecht geträumt hatte. Außerdem hatte sie Angst gehabt. Die Bilder aus ihrem Traum hatten sie so sehr an das heutige Erlebnis erinnert...und deshalb hatte sie zu ihrem Papa ins Bett gehen wollen. Denn der konnte sie vor allem beschützen, da war sich die Vierjährige sicher.

Aber jetzt, wo sie bei Fye war, wurde ihr auf kindliche Weise bewusst, dass sie nicht die Einzige war, die Trost brauchte. Aber dass ihr Nii-chan nicht einfach bei ihrem Vater ins Bett krabbeln konnte, ahnte sie zumindest, also...

„Ich möchte bei dir bleiben!“

Überraschtes Schweigen war die Antwort.

„Aber Tomoyo...“

„Ich mag nicht allein schlafen. Und bei dir ist es bestimmt viel kuscheliger, Nii-chan. Und wenn wir zusammen sind, können wir bestimmt beide gut schlafen, da musst du auch keine Angst mehr haben! Ich beschütz dich auch vor den bösen Träumen!“

„... Du bist unglaublich, Kleines...“
 

Der Anblick, der Kurogane am nächsten Morgen erwartete, war so überraschend wie niedlich. Und außerdem hatte es diese gewisse Ruhe, die selbst ihm ein Lächeln entlockte.

Fye und Tomoyo lagen zusammengekuschelt auf der Couch, die Arme umeinander geschlungen. Das weiche, lockige Haar des vierjährigen Mädchens umwallte sie beide und Fye hielt die Decke fest in einer Hand, auch wenn er selbst nur halb zugedeckt war. Seine langen Beine und Tomoyos Zehen schauten darunter hervor.

So viel Frieden zauberte wohl jedem ein ruhiges Lächeln auf die Lippen.

Behutsam zog Kurogane die warme Decke zurecht und streichelte seiner Tochter kurz über den Schopf. Einem plötzlichen Impuls folgend streiften seine Fingerspitzen auch Fyes Stirn, aber er zog sie sofort zurück. Das ging dann doch zu weit. Ein wenig irritiert blickte er auf seine Hand, dann auf das blasse, fein geschnittene Gesicht des anderen Mannes. Ein hauchdünnes Lächeln hatte sich auf die schmalen Lippen gelegt.

Um der aufsteigenden Verwirrung zu entkommen, machte Kurogane, dass er in die Küche kam, bevor diese seltsame Form von Beschützerinstinkt ihm noch komischere Gedanken in den Kopf trieb. Lieber machte er sich daran, den Frühstückstisch zu decken.
 

„Hm...hier riecht es aber gut. Hast du Eierkuchen gemacht, Papa?“

Kurogane blickte auf, als er von der Wohnzimmertür her die Stimme seiner kleinen Tochter vernahm und senkte die Morgenzeitung, welche an Sonntagen immer besonders dick war und in der er gerade gelesen hatte. Tomoyo stand mit verwuschelten Haaren im Türrahmen zur Küche und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Neben ihr stand Fye, den sie fürsorglich an er Hand hielt. Der blonde Mann wirkte unsicher und schien kaum zu wagen, sich hier genauer umzusehen. Gestern hatte er bereits Hemmungen gehabt, sich in Kuroganes Wohnung frei zu bewegen, aber heute, nachdem er eine Nacht darüber hatte schlafen können, wirkte er noch viel stärker fehl am Platz.

„Guten Morgen“, richtete Kurogane die Worte an beide, bevor er seine Tochter ansah. „Was soll es denn sonst geben, wenn es schon danach riecht?“

Tomoyo strahlte nur, hatte die besagten Eierkuchen längst unter der Wärmeglocke erspäht, bevor sie zu ihrem Papa lief, um ihm einen fröhlichen Guten-Morgen-Kuss zu geben. „Danke, Papi!“

Ihren Kindergärtner hatte sie dabei hinter sich hergezogen, was diesen sichtlich unbehaglich stimmte. In dieser ungewohnten Umgebung und in Kuroganes Gegenwart, der plötzlich so zuvorkommend ihm gegenüber war, schien es ihm einfach unmöglich, so wie immer zu sein. Aber in gewisser Hinsicht war Kurogane auch froh darüber. Wenn es eines gab, was er jetzt auf alle Fälle nicht sehen wollte, dann war es Fyes falsches Grinsen.

Mittlerweile war der Schwarzhaarige aufgestanden, um seiner Tochter einen Eierkuchen zu holen, den er ziemlich großzügig mit Schokoladencreme bestrich. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie Fye ihn mit der Andeutung eines Lächelns musterte, dann zu Tomoyo hinunter blickte.

„Und was möchtest du zum Frühstück?“, riss er den anderen plötzlich aus seinen Gedanken.

„I-ich?“

„Natürlich du. Oder siehst du sonst noch jemanden hier, an den die Frage gerichtet sein könnte?“

„Ich weiß nicht, ich...“ Fye war schon wieder sichtlich überfordert. Kurogane fragte sich, was dem Blonden immer noch solches Unbehagen bereitete. Die ungewohnte Umgebung? Die – zugegeben seltsame – Frühstückskonstellation? Die Ereignisse vom Vortag...?

„Also was möchtest du nun zum Frühstück?“, wiederholte der Schwarzhaarige ein wenig genervt und augenblicklich zog der Angesprochene den Kopf ein.

Der Schwarzhaarige seufzte innerlich. Normalerweise machte es dem anderen nichts aus, wenn er ihn anknurrte, und nur wegen eines genervten Anfunkelns hätte er sonst nie den Mut verloren, aber heute schien alles Kopf zu stehen.

„Da-dasselbe wie du ist okay.“

Verlegen senkte Fye den Kopf. Noch immer wagte er es nicht einmal, sich auch nur umzusehen.

„Magst du auch nur Kaffee zum Frühstück, Nii-chan?“

Tomoyo hatte ihren Eierkuchen schon zur Hälfte gegessen und blickte nun forschend zu ihm herüber, während der Blonde bloß verwundert die Augenbraun heben konnte.

„‚Nur Kaffee’?“

„Ja. Papa trinkt auch immer nur Kaffee. Und er mag nicht mal Zucker dazu!“

Das war der Kleinen nach wie vor unbegreiflich. Wie konnte man nur keinen Zucker mögen? Und so, wie Fye ihn gerade anstarrte, teilte er entweder die Meinung seiner Tochter vorbehaltlos oder es war die Tatsache, dass er früh nichts aß, die ihn so überraschte.

„Aber Kuro-sama, warum frühstückst du denn nicht? Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages!“, rutschte es dem Blonden direkt heraus.

Also letzteres. Kurogane verdrehte innerlich die Augen. So oder so, seine Essgewohnheiten gingen den gar nichts an! Er war schließlich nicht seine Mutter.

„Nerv nicht rum!“, fauchte er entnervt. „Ich weiß das. Und ich kann ja wohl essen, wann und was ich will!“

„Tschuldigung...“

Verunsichert ließ Fye sich auf dem Platz nieder, auf den Tomoyo ihn mit einer freundlichen Handbewegung und vollem Mund eingeladen hatte, und kurz darauf bekam er einen gezuckerten Eierkuchen vor die Nase gestellt, zusammen mit dem Glas Schokocreme. Dann setzte sich auch Kurogane wieder, ohne ihn einmal angesehen zu haben, und verschwand wieder hinter seiner morgendlichen Zeitung.

Nicht nur für Fye war diese Situation auf eine gewisse Art und Weise befremdlich, sondern auch für ihn. Da wirkte die Morgenzeitung geradezu wie ein Schutz, der ihn von dieser veränderten Situation abschirmte, und ein Anker, der wenigstens einen Teil seiner Alltagsroutine erhielt. Die unterschwellige Unruhe, die in seinem Innern schwelte, vermochte sie dennoch nicht ganz zu beruhigen.

Fye verhielt sich plötzlich so anders. Er war so verletzlich, viel stärker, als er es ihm zugetraut hätte. Und er war ehrlich. Zum ersten Mal, seit sie sich kannten. Eigentlich hätte Kurogane zufrieden damit sein sollen und fertig, aber es ließ ihn bei weitem nicht so kalt, wie er gedacht hätte. Wahrscheinlich gab es nicht viele Menschen, die der Blonde so nah an sich heran ließ. Gab es außer ihm überhaupt noch jemanden?

Dem Schwarzhaarigen wurde klar, wie wenig er über den anderen wusste. Dessen Familie, Freunde, Vergangenheit... Doch im nächsten Augenblick erstaunte es ihn schon wieder, dass er das plötzlich überhaupt wissen wollte. Über so was dachte er normalerweise nicht einmal nach! Also warum auf einmal? Es war zum Verrücktwerden!

„Du Papa?“

„Hm?“

Die bepflasterte und fürsorglich verbundene Hand des Angesprochenen tauchte hinter der großen Zeitung auf und tastete blind nach er Kaffeetasse, fand sie fast auf Anhieb. Kaffee war auch normal. Genau wie die Zeitung. Vielleicht beruhigte ihn das jetzt ein wenig.

„Bleibt Nii-chan jetzt für immer hier?“

Kurogane konnte hören, wie der Blondschopf erschrocken die Luft anhielt. Und er selbst hätte wohl genauso reagiert, wenn er sich nicht so gut unter Kontrolle hätte. So viel zur Normalisierung!

„Wieso fragst du das?“

„Es wäre doch schön. Dann wären wir nicht mehr allein.“

„‚Wir’ bedeutet, wir sind zu zweit. Und zu zweit ist man nicht allein.“

„Aber kann auch heißen, dass man zu dritt ist, oder?“

Dieser Kommentar veranlasste den Schwarzhaarigen schließlich, die Sonntagszeitung nun doch sinken zu lassen, um seiner Tochter in die Augen zu sehen zu können.

„... Ja. Das kann es“, räumte er zögerlich ein. Nun, zumindest müsste er sich dann nicht andauernd Sorgen um den Blonden, dessen psychischen Zustand und diesen seltsamen Ashura machen, der anscheinend als Massenmörder irgendwo hier draußen sein Unwesen trieb. Nach den Geschehnissen vom letzten Abend würden die nämlich sicherlich nicht mehr ausbleiben.

Aber ob das dem Hausfrieden und seinen Nerven so gut tun würde? Mit dem letzten Teilzeitmitbewohner, namentlich Soma, hatte er es kaum einen Tag gemeinsam unter einem Dach ausgehalten. Und sein Denken schien auch so schon gehörig ins Schwanken zu kommen, obwohl der Blonde nun gerade mal einen Abend lang bei ihnen gewesen war!

Flüchtig streiften seine zinnoberroten Augen die blassblauen des Mannes, über den er gerade so viel nachdenken musste. Sie blickten noch immer so scheu und unsicher wie gestern Abend, doch seit Tomoyos Bitte schien sich noch etwas dazu gemischt zu haben. War es Angst? Es lag ein gewisses Flehen in ihnen, als er Kuroganes Blick kurz standhielt, dann aber schnell betreten und hoffnungslos zur Seite blickte.

Konnte er ihn in diesem Zustand wirklich wieder vor die Tür setzen...?

„Er kann auch in meinem Zimmer wohnen!“

Und Kurogane lachte.

Fye starrte ihn fassungslos an, so als ob er es nicht glauben konnte, diese Geräusche aus Kuroganes Mund zu hören! Und dann auch noch in solch einem Zusammenhang!

Doch Kurogane überging das im Moment geflissentlich. Die Bekräftigung seiner Tochter hatte sein Urteil herbei geführt.

„Na dann räum mal dein Zimmer ordentlich auf.“
 

Gedankenverloren spiele Fye mit dem Zipfel seiner Bettdecke, die zusammengefaltet neben ihm lag. Gelegentlich konnte er sich nicht davon abhalten, einen Blick über die Schulter zu werfen. Kurogane schlief auf der Couch, an welcher er selbst mit dem Rücken lehnte.

Der hochgewachsene Mann lag halb auf der Seite, einen Arm unter dem Kopf, der andere neben dem Blondschopf herabhängend. Hätte er gewollt und wäre lebensmüde gewesen, hatte er statt mit dem Deckenzipfel mit den langen Fingern spielen können.

Tomoyo gluckste leise, als die Trickfilmfigur, die gerade über den Fernsehschirm rannte, etwas sehr Blödes tat, und schaukelte mit den Beinen. Es hatte etwas Familiäres, wie sie hier zusammensaßen bzw. -lagen. Schön und beunruhigend zugleich. Besser, er gewöhnte sich nicht zu sehr an die Kleine und ihren grummeligen Vater, wenn er eh bald wieder gehen musste. Aber es war so leicht...

„Tomo-chan?“, verschaffte er sich mit einem Flüstern Gehör, verzog leicht die Augenbraun, als Kuroganes Finger schon bei einer so kleinen Störung etwas zuckten. Der Kerl war zu aufmerksam.

„Ja~a?“

„Meinst du, dein Papa hätte etwas dagegen, wenn ich kurz telefoniere?“

„Nein, habe ich nicht.“

Erschrocken zog der Blondschopf den Kopf ein. Mist! Dabei hatte er gerade so schön friedlich geschlafen. Er hätte warten sollen. Wenn nur seine Sorge um Chii nicht so groß wäre...

„Entschuldige, ich wollte dich nicht wecken.“

„Schon klar.“

Grummelnd rollte sich der große Mann auf die andere Seite und machte es sich auf der langen Couch wieder bequem. Fye seufzte innerlich und stand auf. Dabei tat es ihm wirklich Leid. Kurogane schien den letzten Tag ganz schön was mitgemacht zu haben. Sie alle eigentlich, was sich auch in ziemlich dösiger, träger Stimmung niederschlug. Aber Kuro-sama war bei weitem am stärksten gefordert gewesen und hatte seine Aufgaben vorbildlich gemeistert. Er hatte den Schlaf wirklich verdient.

Nachdem Fye das Telefon und das dazugehörige Telefonbuch gefunden hatte, setzte er sich in die Küche. Die Nummer zu finden war schwieriger, als er gedacht hatte, und dann nahm auch ewig keiner ab. Erst nach minutenlangem Warten – so kam es Fye jedenfalls vor – meldete sich eine forsche Frauenstimme am anderen Ende der Leitung.

„Okabe Waisenhaus, Verwaltung, was kann ich für Sie tun?“

„Hier spricht Fye de Flourite. Ich wollte mich erkundigen, ob Chii wieder bei Ihnen ist. Sie hat noch vor einem Jahr in Ihrem Heim gelebt.“

„Ach, ich erinnere mich.“ Auch wenn sie nicht gerade erfreut über diese Erinnerungen klang. „Nein, sie ist nicht hier. Warum auch, wo sie doch damals Hals über Kopf verschwunden und seitdem nie wieder aufgetaucht ist?“

„Aha... Danke für die Auskunft.“

Verdammt! Dabei war das Heim seine letzte Hoffnung gewesen. Sonst hatte er einfach keine Idee, wo seine blonde Freundin stecken könnte. Zwar ahnte er es schon lange, wollte und konnte es aber nicht wahr haben. Nicht solange es irgendwo noch eine andere Möglichkeit geben könnte und sei sie noch so unwahrscheinlich. Chii war gut darin, sich zu verstecken. Vielleicht war sie auch aus irgendeinem Grund untergetaucht und hatte ihm nicht Bescheid sagen können. Sie würde schon wiederkommen. Oh bitte...!

Nachdem er aufgelegt hatte, verfiel der blonde Mann in nachdenkliches Schweigen. Wo mochte Chii nur sein? Er wusste, wenn er zu viel darüber nachdachte, würde er nur krank vor Sorge, aber andererseits... Wie konnte er nicht darüber nachdenken? Chii war doch sein einziger Halt. Er verdanke dem Mädchen so viel, es wäre unverzeihlich, wenn sie seinetwegen in Schwierigkeiten geraten wäre.

Aber das wollte er lieber gar nicht in Erwägung ziehen. Noch nicht. Zwar hatte er definitiv Ashura gesehen und ganz sicher nicht irgendwen mit ihm verwechselt, aber das musste noch lange nicht heißen, dass dieser von seiner jungen Mitbewohnerin wusste oder dass er sie in die Finger bekommen hatte.

Und auch wenn es nur ein Strohhalm war, wollte er daran festhalten
 

Kurogane wusste gar nicht, wie lange er wieder geschlafen hatte, seit Fye zum Telefonieren verschwunden war, aber da er regelmäßig von den Geräuschen des Fernsehers geweckt wurde, musste er annehmen, dass fast eine Stunde vergangen war. Was tat der Typ denn solange? Fing er jetzt schon an zu schmarotzen, indem er seine Telefonrechnung in schwindelnde Höhen trieb?

Hinter ihm erklang ein lautes Explosionsgeräusch, gefolgt von Tomoyos Kichern.

Wie sollte man hier bitte seinen Schlaf nachholen? Fye und Tomoyo waren schließlich nicht die Einzigen gewesen, die Probleme mit dem Einschlafen gehabt hatten. Auch Kurogane hatte sich die ganze Nacht hin- und hergerollt. Müde war er zwar gewesen, aber seine aufgewühlten Gedanken hatten ihn nicht zur Ruhe kommen lassen. Das, was Fye ihm gestanden hatte, war wirklich nicht ohne gewesen...

Seufzend erhob er sich nun doch wieder, um nach seinem Gast zu sehen. Wenn er schon mal darüber nachdachte, gab es auch noch etwas anderes zu klären.

Der Blondschopf saß in der Küche und starrte apathisch Löcher in die Luft. Wen auch immer er warum auch immer angerufen hatte, es schienen keine guten Neuigkeiten dabei herausgekommen zu sein. Nun, zumindest schien der Blonde seine Telefonrechnung doch nicht in die Höhe getrieben zu haben.

„Hey. Wir müssen reden.“

„Kuro-sama?“ Verunsicherte Augen suchten die seinen. Da darin kein Unheil stand, schien sich sein neuer Mitbewohner aber etwas beruhigt zu haben. „Worüber denn?“

„Wie es jetzt mit deinem Job weitergehen soll. Ich weiß ja nicht, wie du dir das vorstellst, aber wenn dieser Kerl dich wirklich gefunden hat, ist es nicht die beste Idee, jeden Tag in den Kindergarten zu gehen. Damit begibst du dich nicht nur mitten auf den Präsentierteller, du kannst auch nicht mehr für sie Sicherheit der Kinder garantieren.“

Wenn dieser Ashura wirklich so skrupellos war, wie Fye es ihm beschrieben hatte, würde er nicht davor zurückschrecken, den Kindern etwas an zu tun, nur damit sein Opfer litt.

„Ich weiß. Zuerst hatte ich auch vor, einfach nur so schnell wie möglich von hier weg zu kommen und irgendwo unterzutauchen. Aber jetzt... Ich weiß nicht, es ist doch mein Job...“ Unsicher strich der Blonde sich durchs Haar. „Ich würde schon gern wieder hingehen. Ich liebe die Kleinen wirklich sehr. Wenigstens noch ein paar Tage möchte ich mit ihnen verbringen. Falls sich mein Verdacht bestätigt, werde ich bald eh nicht mehr hingehen können...“

„Verdacht“? Aufgrund eines Verdachtes rastete man sicher nicht so aus. Da war auf jeden Fall mehr dran gewesen, egal, was Fye jetzt erzählte.

„Außerdem befürchte ich inzwischen ein wenig, dass er die Kinder benutzen würde, um mich zurückzulocken, falls ich plötzlich nicht mehr auftauche. Er weiß, dass er damit Erfolg hätte. Und ich würde damit wahrscheinlich genau so reagieren, wie er es von mir erwartet. ... Wenn du denkst, dass das zu gefährlich wird, kann Tomo-chan ja derweil zuhause bleiben. Es wäre okay...“

„Das geht nicht. Sie würde nicht verstehen warum“, widersprach der Schwarzhaarige. Er überlegte kurz, scheinbar die Möglichkeiten abwägend. „Ich fahr euch morgen früh zusammen hin, dann sehen wir weiter. Geh auf keinen Fall nach draußen, wenn es nicht zwingend notwendig ist. Zumindest nicht auf den Vorderhof. Und sprich mit deiner Vorgesetzten darüber.“

An dem wehleidigen Gesichtsausdruck des Blonden erkannte Kurogane nur zu deutlich, dass diesem die letzte Anweisung alles andere als gefiel. Doch er würde sich nicht beirren lassen.

„Selbst wenn es nur ein Verdacht ist, seid ihr alle in extremer Gefahr, falls dieser Ashura tatsächlich aufgetaucht ist und so kaltblütig ist, wie du ihn beschrieben hast. Da kannst du nicht einfach draußen rumlaufen, als ob nichts wäre. Es könnte euch allen das Leben kosten!“

Kurz zuckten Fyes Mundwinkel ein wenig auseinander.

„Machst du dir etwa Sorgen, Kuro-chama? Um die Kinder?“

„... Na ja, auch. Aber ich hab auch keine Lust, irgendwann über DEINE Leiche zu stolpern, wenn ich meine Tochter vom Kindergarten abhole.“

Zum ersten Mal an diesem Wochenende bekam er von Fye so etwas wie ein leichtes Lächeln geschenkt. Irgendetwas schien er schon wieder dahinter zu verstecken, aber trotzdem wirkte es nicht ganz so falsch wie sonst.

„Vielen Dank, Kuro-rin!“
 

TBC...

Meine Nemesis

Erst mal muss ich mich unheimlich bei euch entschuldigen, dass das jetzige Kapitel so aus dem Zeitplan geraten ist! Bei mir ist im Februar einiges schief gegangen, sodass ich mich erst mal gänzlich vom Internet und allem zurückgezogen hab. Das beruhigt sich zwar jetzt so nach und nach wieder, aber stattdessen bin ich im März nur auf Achse gewesen, u.a. zwei Kurzurlaube über jeweils 5 Tage, sodass ich jetzt summa summarum gut 1 1/2 Monate nicht hier gewesen bin. Und auch nix geschrieben oder korrigiert hatte. Ging einfach nicht. Aber ich hoffe, dass es von jetzt an wieder pünktlich wird *verbeug*.
 

-~*~-
 

Disclaimer: Die Charas gehören (bis auf wenige Ausnahmen) nicht uns, sondern Clamp. Wir wollen kein Geld damit verdienen, sondern nur unterhalten.
 

Erstschreiber des Kapitels: Lady_Ocean

Kapitel: 15/26
 

-~*~-
 

„In Wirklichkeit gibt es nur eines, vor dem man Angst hat: das Sich- Fallenlassen, den Schritt ins Ungewisse hinaus...

Wer sich einmal, ein einziges Mal hingegeben hat, wer einmal das große Vertrauen

geübt und sich dem Schicksal anvertraut hat, der ist befreit.“

(Hermann Hesse)
 

-~*~-
 

„Meine Nemesis“
 

Als Fye am nächsten Morgen erwachte, stellte er fest, dass Tomoyo über Nacht wieder zu ihm auf die Couch geklettert gekommen war. Diesmal hatte er es gar nicht mitbekommen, obwohl er sich sicher war, erst sehr spät eingeschlafen zu sein. Zu viele Gedanken waren ihm durch den Kopf gegangen, hatten ihm die Ruhe geraubt. Wie spät musste es erst gewesen sein, als Tomoyo zu ihm gekommen war...?

Vorsichtig, um das noch tief schlafende Mädchen nicht zu wecken, schälte er sich aus seinem Bettzeug und ihrer Umarmung und schlich auf leisen Sohlen zum Bad. Er musste sich dabei mehrmals an der Wand abstützen, weil sich seine Beine so wackelig anfühlten. Nur mit einem Wecker aufstehen zu müssen, war viel schlimmer als die normale Prozedur mit seiner Weckarmee. Unter normalen Umständen wäre er davon wahrscheinlich auch niemals wach geworden, aber in der derzeitigen Situation konnte man schwerlich von „normal“ sprechen.

Auf der Waschmaschine entdeckte er ein frisches Handtuch, das Kurogane ihm wohl bereitgelegt haben musste. Wieder wurde Fye flau im Magen, hin und her gerissen zwischen der Dankbarkeit für so viel Großzügigkeit und dem schlechten Gewissen, dem Schwarzhaarigen und seinem süßen Töchterchen so viel aufzubürden und sie solch großer Gefahr auszusetzen. Er sollte verschwinden! So schnell wie möglich verschwinden und nicht noch mehr Leute in die Sache hinein ziehen, noch dazu ausgerechnet die, die ihm, ohne dass er es gewollt hatte, ans Herz gewachsen waren.

Doch er konnte nicht. Irgendetwas hielt ihn zurück. Etwas so Verrücktes wie Hoffnung, dass mit Kurogane an seiner Seite schon nichts passieren würde. Der Schwarzhaarige war so stark. Geistig wie körperlich. Fye konnte gar nicht anders, als sich in seiner Gegenwart ein wenig sicherer zu fühlen.

Mit einem entspannten Seufzer stellte er das warme Wasser der Dusche an und ließ alle Sorgen davon hinweg spülen. Als er ganz nass war, nahm er das Duschbad in der dunkelblauen Verpackung und schnupperte prüfend daran. Tannennadel. Ein angenehmer Geruch, der Kurogane sicher ausgezeichnet stand. Er selbst war wahrscheinlich nicht unbedingt der Typ dafür, aber Hauptsache, er konnte sich ein wenig frisch machen.

Als er wieder aus dem Bad heraus kam, wehte Fye der Geruch frisch gebrühten Kaffees entgegen. Kurogane war inzwischen also auch aufgestanden. Er sah ihn in der Küche sitzen, in der rechten Hand eine Kaffeetasse, mit der linken stabilisierte er die Zeitung, in der er nebenbei las. Anscheinend gehörte das zu den festen Gewohnheiten des Schwarzhaarigen. Es freute Fye auf eine unbestimmte Art, solche Details aus dem Leben dieses so verschlossenen Mannes erfahren zu dürfen.

„Kaffee?“, riss die Stimme des anderen ihn aus seinen Gedanken.

Ein wenig perplex über das Angebot starrte der Blonde den anderen Mann ungläubig an, wollte das Angebot eigentlich schon ablehnen. Er hatte schon genug angestellt und viel zu viel der Gastfreundschaft beansprucht. Doch als ihn wenige Augenblicke später Kuroganes eindringlicher, stechender Blick fixierte, blieb ihm sein „Nein, danke“ förmlich im Hals stecken. Die roten Augen drängten ihn geradezu zu einer Antwort.

„Ja, bitte“, brachte er stattdessen heraus und setzte sich auf die andere Seite des Tisches. Es war ja nicht so, dass er Kaffee nicht mochte. Ab und an trank er auch einen. Auch wenn er morgens eigentlich warme Milch bevorzugte, doch er würde sich schwer hüten, auch noch Ansprüche zu stellen!

„Milch? Zucker?“, fragte Kurogane wie beiläufig, als er aufstand und eine weitere Tasse Kaffee eingoss. Kurogane hatte ihn also von vornherein mit eingeplant...

„Einen Schluck Milch und einen Löffel Zucker, bitte.“

Kurz darauf stand das fertige Getränk vor dem Blonden auf dem Tisch und Kurogane widmete sich wieder seiner Zeitung. Eine Weile herrschte Schweigen am Tisch, gelegentlich unterbrochen vom Rascheln der Zeitung und dem Klang der Tassen, wenn sie kurz angehoben und wieder abgestellt wurden. Fye genoss die Ruhe wie schon lange nicht mehr. Er konnte sich gar nicht daran erinnern, wann er sich das letzte Mal entspannt gefühlt hatte, wenn er in Gegenwart eines anderen Menschen nicht peinlich genau darauf geachtet hatte, den Schein seiner Fröhlichkeit zu wahren. Aber gut, schließlich war es auch Kurogane, dem er hier gegenüber saß. Mit dessen Gespür für Menschen und all dem, was er inzwischen mitbekommen hatte, hätte es den Schwarzhaarigen nur noch mehr beunruhigt, wenn er sich jetzt wieder mit einem Lächeln abgemüht hätte. Mal abgesehen davon, dass der Haussegen dann auch ganz gewaltig schief hängen würde.

Als Kurogane scheinbar fertig war mit seiner Zeitung, richtete er erneut das Wort an Fye.

„Bist du immer noch der Meinung, dass du heute unbedingt in den Kindergarten willst?“

Fye überlegte kurz. Er wusste, dass er seine Entscheidung genau abwägen musste. Doch im Grunde stand sie längst fest. Auch wenn es eine Gefahr darstellte, nicht nur für ihn, sondern auch für Kurogane und die Kinder, konnte er einfach nicht anders, als weiter seiner Arbeit nachzugehen und sich um seine Schützlinge zu kümmern. Sie hingen so sehr an ihm und er liebte diese Kinder genauso. Er konnte sie einfach nicht enttäuschen. Und wenn er nicht allein zum Kindergarten gehen musste... Wenn Kurogane bei ihm war und ihn auf dem Weg begleitete, dann war er doch sicher vor Seinem...Ashuras Einfluss, oder?

Entschlossen nickte er mit dem Kopf.

„Ich kann nicht einfach hier bleiben und mich verstecken. Die Kleinen brauchen mich. Und ich freue mich auch darauf sie wiederzusehen.“

Der Schwarzhaarige schüttelte resigniert den Kopf. Inzwischen hatte er Brot, Wurst und Butter herbei geschafft und bereitete Tomoyos Frühstück für den Kindergarten vor.

„An den Knirpsen hast du echt einen Narren gefressen, was?“

„Natürlich, Kuro-rin!“, bestätigte Fye wie selbstverständlich. „Es sind schließlich Kinder. Man muss sie doch einfach gern haben. Du hängst doch genauso an Tomo-chan, da müsstest du mich eigentlich verstehen.“

„Sie ist ja auch meine Tochter. Aber gleich so eine ganze Meute... Nein, das wäre zu viel für mich.“

Die Schnitten wanderten in die Brotdose, dann wurde der Apfel geschnitten und geschält. Fye beobachtete Kuroganes Werkeln mit einem verträumten Lächeln.

„Weißt du, Kuro-puu, vor zwei Wochen hätte ich dir niemals zugetraut, dass du so ein fürsorglicher Papa sein könntest. Irgendwie hast du gewirkt, als wärst du total unbeholfen beim Umgang mit einem kleinen Kind. Und jetzt kümmerst du dich ganz selbstverständlich so liebevoll um sie...“

Der Schwarzhaarige bemaß ihn mit einem prüfenden Blick, fast so, als versuchte er herauszufinden, ob eine versteckte Bemerkung unter den Worten lag. Schließlich antwortete er, wenn auch etwas zögerlich, ungewohnt aufrichtig auf Fyes Feststellung.

„Ich war früher viel unterwegs. Hat sich durch den Job nicht vermeiden lassen. Die meiste Zeit über...hat Soma sich um Tomoyo gekümmert. Ich war wohl ziemlich überfordert, als ich...versetzt wurde.“

Fye hätte gern gewusst, was es mit dieser Versetzung auf sich gehabt hatte, denn das musste ja ziemlich plötzlich passiert sein, wenn es Kurogane so aus der Bahn geworfen hatte. Doch er hatte nicht das Recht, noch tiefer nachzubohren. Dennoch, eine Frage brannte ihm auf der Seele.

„Bist du froh über deine Versetzung? Dass du jetzt mehr Zeit mit Tomo-chan verbringen kannst?“

Ein kurzes Lächeln huschte über Kuroganes Lippen.

„Ich denke schon. Zuerst hätte ich das gar nicht gedacht, aber es eigentlich ist es richtig angenehm.“

Fyes Gesicht hellte sich bei dieser Antwort sichtlich auf.

„So ähnlich ging es mir mit allen Kindern, die bei mir in den Kindergarten gehen. Auch wenn sie zuerst fremd sind, dauert es nicht lange, bis sich jeder einzelne mit seinem einzigartigen Charme in dein Herz geschlichen hat. Ich glaube sogar, dass es dir genauso gehen würde, wenn du lange mit den Kleinen beschäftigt wärst wie ich, Kuro-chan.“

Der Schwarzhaarige zog zweifelnd die Augenbrauen zusammen.

„Jetzt bist du aber wirklich zu optimistisch.“

In diesem Moment hörte er leise, zögerliche Schritte aus dem Eingangsbereich. Auch ohne sich umzudrehen wusste Fye, dass es Tomoyo war, die dort in der Küchentür stand. Sie war noch immer halb in die große Schlafdecke gehüllt, die ihr allerdings langsam ganz von den zierlichen Schultern zu rutschen drohte. Aus schlaftrüben Augen schaute sie abwechselnd zu ihrem Vater und Fye und wieder zurück.

„Morgen, Kleines. Möchtest du Frühstück?“, begrüßte sie sein Vater.

Das Mädchen nickte und gähnte einmal herzhaft. Während Kurogane sich daran machte, seiner Tochter eine Schüssel Frühstücksflocken zurecht zu machen, setzte Fye sich ein Stück weiter vom Tisch weg und hielt Tomoyo einladend die Arme hin.

„Komm doch her, Tomo-chan.“

Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen leistete sie der Aufforderung folge und ließ sich von dem Blonden auf dessen Schoß ziehen, anschließend zog er die große Decke noch etwas zurecht, sodass sie weiterhin Wärme spendete, ohne das Mädchen beim Essen zu stören. Da Tomoyos Frühstück jedoch noch nicht fertig war, kuschelte sie sich erst einmal an die Brust ihres Kindergärtners.

„Du, Nii-chan? Gehst du heute wieder in den Kindergarten?“, fragte sie plötzlich.

Die Frage erstaunte Fye. Wie kam sie denn darauf, dass er nicht hingehen sollte?

„Natürlich! Warum sollte ich denn nicht gehen?“, fragte er daher nach.

„Na weil es dir doch am Wochenende nicht gut ging. Und Soma hat immer gesagt, man darf nicht arbeiten, wenn man krank ist. Dann wird es noch schlimmer.“

Fye musste sich wirklich zusammenreißen, ausnahmsweise NICHT bis über beide Ohren zu grinsen. Die Kleine war aber auch zu goldig! Erst zarte vier Jahre alt, aber manchmal zeigte sie ein Feingefühl, das selbst viele Erwachsene nicht besaßen. Sie spürte scheinbar instinktiv, wenn etwas nicht in Ordnung war. Da fiel der Apfel nicht weit vom Stamm.

Inzwischen war der Herr Papa auch mit den Frühstücksflocken fertig und stellte die randvoll gefüllte Schüssel vor seiner Tochter auf den Tisch.

„Aber danach isst du noch was Gesundes. Sonst wirst du am Ende noch krank von so viel Zucker“, mahnte der Schwarzhaarige.

„Uhm...ein Stück Gurke?“, schlug Tomoyo vor.

„Okay“, willigte ihr Vater ein und wuschelte ihr noch einmal durch die Haare, bevor er sich auch schon daran machte, besagte Gurke aus dem Kühlschrank zu holen, einen Teil davon zu schälen und es in mundgerechte Portionen zu schneiden.

Fye beobachtete die familiäre Harmonie mit einem wohligen Gefühl im Bauch. Man spürte überhaupt nichts davon, dass Soma nicht anwesend war. Kurogane kümmerte sich um seine Tochter genauso vorbildlich, wie es jede gute Mutter getan hatte. Und von seiner Gegenwart ließ er sich scheinbar gar nicht beeindrucken. Er strahlte eine Ruhe aus, wie Fye sie ihm vor zwei Wochen niemals zugetraut hätte. Es war wirklich unglaublich, wie schnell Tomoyo das Herz ihres Vaters erwärmt hatte...
 

„Du grinst ja schon wieder so komisch“, bemerkte Kurogane, nachdem seine Tochter fertig gefrühstückt hatte und im Bad verschwunden war.

Tat er das? Tatsächlich. Das hatte er gar nicht gemerkt.

„Ich hab halt gute Laune, Kuro-rin!“, frohlockte der Blonde und tänzelte mit Tomoyos leerer Schüssel durch den Raum, um sie auf der anderen Seite in die Spülmaschine zu stellen.

„Ist schwer zu übersehen. Ich frag mich bloß, wo das so plötzlich her kommt, du Wechselbalg.“

„Ihr seid halt einfach zu niedlich, du und Tomo-chan!“

Mit einer lässigen Drehung drehte Fye sich neben der Spülmaschine um und lehnte sich gegen die Anrichte. Dabei wurde er auf einen Gegenstand aufmerksam, den er mit seiner Hand leicht verschoben hatte. Er erkannte die schwarze Verpackung mit dem goldenen Schriftzug sofort wieder. Es war die Zartbitterschokolade, die er Kurogane am vergangenen Donnerstag nach dem Einkaufen zugesteckt hatte. Sie war noch immer unberührt. Aber immerhin – sie war noch da! Es hätte den Blonden nicht einmal sonderlich gewundert, wenn er irgendwann erfahren hätte, dass Kurogane die Schokolade unbesehen in den Müll befördert hätte. Aber das hatte er scheinbar doch nicht über sich gebracht.

Mit einem leichten Schmunzeln öffnete er die Tafel, brach zwei Stückchen ab und drehte sich zu Kurogane zurück, der ihn misstrauisch musterte.

„Du hast ja die Zartbitterschokolade noch gar nicht probiert. Dabei habe ich dir extra so eine gute Sorte rausgesucht!“

Damit streckte er dem Schwarzhaarigen das eine Stück hin, während er das andere genüsslich in seinem eigenen Mund verschwinden ließ. Wirklich einmalig. Sie schmeckte fast schon cremig, wenn man sie langsam auf der Zunge zergehen ließ.

Zögerlich und mit einer ziemlichen Leidensmine auf dem Gesicht nahm Kurogane ihm das Stück ab.

„Du lässt mich sonst ja doch nicht damit in Ruhe.“

Prüfend brach er eine Ecke mit den Zähnen ab und aß sie mit ausdrucksloser Mine.

„Und, was hab ich dir gesagt? Schmeckt wirklich gut, oder?“, fragte Fye gespannt.

„Na ja, hab’s mir schlimmer vorgestellt.“

Wow! Solche Worte aus Kuroganes Mund waren praktisch gleich bedeutend mit einem „Schmeckt gut“. Er hatte also doch richtig gelegen mit der Schokolade! Wieder spürte Fye diese wohlige Wärme und er konnte gar nicht anders, als noch breiter zu grinsen.

„Herrje! Guck mal wieder normal! Du verstrahlst hier noch alles. Und mach dich lieber fertig, wir müssen gleich los“, mahnte der Schwarzhaarige und verdrehte die Augen.

„Aber ich BIN doch fertig, Kuro-puu!“, trällerte Fye und tänzelte hinter Kurogane aus der Küche heraus.

„Dann bleib noch fünf Minuten still sitzen und warte, bis wir auch so weit sind.“

„Alles klar!“ Damit ließ der Blonde sich in einen der gemütlichen Sessel im Wohnzimmer fallen und pfiff eine Melodie vor sich hin.

„Tsk! Na wenigstens bist du – für deine Verhältnisse – wieder normal im Kopf.“

Irrte er sich oder hatte Fye gerade tatsächlich so etwas wie ein amüsiertes Funkeln in den roten Augen gesehen, als Kurogane ihm noch einen kurzen Blick über die Schulter zugeworfen hatte?
 

Fyes Hochstimmung war im selben Moment verflogen, als Kuroganes Wagen die Garage verlassen und damit die öffentliche Straße passiert hatte. Sein Lächeln hatte er mit Müh und Not halten können, doch er selbst spürte nur zu deutlich, dass es wie zu Stein erstarrt war. Es würde mit Sicherheit nicht lange dauern, bis auch Kurogane das auffiel. Falls er es nicht schon längst bemerkt hatte.

Damit gesellte sich zu Fyes erster Angst gleich noch eine zweite: Was, wenn der Schwarzhaarige wieder wütend wurde, wo seine Laune doch nun nicht mehr echt war? Wenn er ihn jetzt wieder allein lassen würde, ohne Schutz vor Ashura... Wie lange würde es dann wohl noch dauern, bis er auch verschwinden würde, genau wie Chii? Vielleicht stand er ja schon an der nächsten Hausecke und wartete nur darauf, dass Kuroganes schwarzer BMW vorbei fuhr. Oder er saß in dem roten Wagen zwei Autos hinter ihrem und verfolgte sie?

HALT!!! Stopp!

So durfte das nicht weiter gehen. Sonst wurde er noch verrückt, bevor sie den Kindergarten überhaupt erreicht hatten! Ashura war nicht da. Er war nirgends zu sehen und er konnte von Kurogane nichts wissen. Er war nicht da, nein, nein...

Obwohl Fye pausenlos dieses Mantra in seinem Kopf aufsagte, half es seiner Aufregung doch nur bedingt. Hastig huschten seine Augen von einem Fleck zum nächsten, immer darauf wartend, dass hinter der nächsten dunklen Ecke doch ein Gesicht mit zwei stechend gelben Augen aufblitzte, ihn kalt anlächelte, raubtiergleich, wie eine Katze, der der Maus noch ein paar letzte Schritte gewährte, bevor sie zum Sprung ansetzte.

Kurogane stieß ihn leicht in die Seite, was Fye einen so heftigen Schreck versetzte, dass er wie von der Tarantel gestochen in seinem Stuhl herumwirbelte. „Was ist los?“, schienen die roten Augen fragen zu wollen. Kurz huschten sie noch ein Stück weiter nach hinten, schienen sich vergewissern zu wollen, dass Tomoyo vom Rücksitz aus nichts mitbekommen hatte.

Fye bekam ein flaues Gefühl im Magen. Er hoffte, dass seine Hände nicht anfingen zu zittern. Kurogane hatte also wirklich schon einiges bemerkt. Bisher schien er zwar mehr besorgt als verärgert und er wollte scheinbar, dass seine Tochter nichts mitbekam, doch das konnte sich auch ganz schnell ändern und in Wut umschlagen.

Aus reiner Gewohnheit tat Fye das, was er in solchen Situationen schon immer getan hatte: Er setzte ein breites Grinsen auf und lehnte sich demonstrativ entspannt zurück, obwohl er innerlich dabei bis zum Zerreißen gespannt war. Und von Kurogane erhielt er die Reaktion, die der Schwarzhaarige immer auf solch ein Verhalten des Blonden erwiderte: Er verdrehte entnervt die Augen und wandte sich mit hartem Blick wieder der Straße zu.

Fye fühlte sich plötzlich, als hätte man seinen Magen von einem Hochhaus fallen gelassen und nun fiel und fiel er, ohne je unten aufzuschlagen.

Verloren.

Nun hatte er Kuroganes zaghaftes Vertrauen doch wieder verloren. War er jetzt ganz allein? Ohne Chii, die sein Seelenleid gehütet hatte, ohne Kurogane, der ihm, ohne zu zögern und ohne eine Gegenleistung zu verlangen, Schutz geboten hatte? Fye war so elend zumute, dass er am liebsten laut aufgeschrieen hätte und fortgerannt wäre. Das Einzige, was ihn davon abhielt, war der Gedanke, dass Ashura irgendwo da draußen war und nur auf eine Gelegenheit wartete, ihn in die Finger zu bekommen.
 

Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Fye das Gefühl, er wäre viel zu schnell am Kindergarten angekommen. Normalerweise kam er gern her und das so schnell wie möglich, denn die Vorfreude auf die Kleinen trieb ihn hierher.

Normalerweise.

Doch seit Samstag schien nichts mehr normal zu sein. Fyes mühsam zusammengehaltene Welt hatte sich plötzlich überschlagen und schwirrte noch immer wild um ihn herum.

Ein Teil dieser verqueren Bruchstücke war Kurogane. Der Kindergärtner musste sich eingestehen, dass der Vater seiner kleinen Tomoyo ihm inzwischen wirklich wichtig geworden war. Dabei hatte er sich damals geschworen, nie wieder jemandem sein Vertrauen zu schenken. Nie wieder wollte er so sehr verletzt werden, so sehr geblendet werden, dass man ihn dermaßen verletzen konnte. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass Vertrauen eine Schwäche war, die einen Menschen zerstören konnte, wenn die andere Person sie nur richtig ausnutzte. Und es gab Personen, die beherrschten dies bis zur Perfektion, das wusste Fye nun.

Er schloss die Tür zum Vorraum des Kindergartengebäudes auf.

Und dennoch... Dennoch wollte er nicht, dass Kurogane sich gleich umdrehte und ohne ein weiteres Wort wieder verschwand! Nicht nur, weil er wusste, dass er den Tag nicht überstehen würde, wenn die beschützende Aura des Schwarzhaarigen nicht über ihm lag, sondern auch, weil er...

...ja, weil er ihn wohl vermissen würde.

War es Dankbarkeit? Weil Kurogane ihn aufgesammelt und seinen Kopf in die Gegenwart zurückgeholt hatte, als er in seiner Dunkelheit gefangen gewesen war? Weil er es ohne zu Zögern und ohne etwas dafür zu verlangen getan hatte? Nicht einmal übermäßig viele Fragen hatte der Schwarzhaarige gestellt, obwohl er jedes Recht dazu gehabt hätte.

Wahrscheinlich war es Dankbarkeit. Fye war es nicht mehr gewohnt, dass, abgesehen von Chii, jemand etwas freiwillig für ihn tat. Er hatte längst nicht mehr daran geglaubt, dass es solche Menschen überhaupt gab, zumindest für ihn.

Und obwohl der Blonde wusste, dass es egoistisch war, dass vor allem er nicht das Recht dazu hatte, so zu denken, wollte er tief in seinem Innern doch, dass Kurogane weiter bei ihm blieb, ihm Kraft gab. Ihn vor Ashura beschützte. Der Schwarzhaarige war stark, geistig wie körperlich. Vielleicht konnte es ihm tatsächlich gelingen, ihn von Ashura zu befreien.

Nein, er sollte nicht so denken. Er sollte sich nicht an eine trügerische Illusion klammern.

„Nii-chan, warum stellst du den Stuhl nicht hin?“, riss Tomoyos helle Kinderstimme ihn aus seinen Gedanken.

Nach einem verwirrten Blinzeln stellte er fest, dass er den Stuhl, den er gerade vom Tisch nehmen und auf den Boden stellen wollte, immer noch in der Hand hatte. Seit wann stand er schon so da? Er blickte neben sich und stellte fest, dass er auf seiner Seite des Tisches gerade einmal beim zweiten Stuhl angelangt war. Tomoyo, die auf der anderen Seite geholfen hatte, war mit ihren Stühlen bereits fertig.

„Ah, ich war nur etwas in Gedanken, Tomo-chan. Ich habe überlegt, was wir heute Schönes anstellen könnten“, redete der Blonde sich heraus.

Das kleine Mädchen sah ihn skeptisch an.

„Und was wollen wir heute machen, Nii-chan?“

„Hm...so ganz habe ich mich noch nicht entschieden“, überlegte er laut, um Zeit zu gewinnen. „Es wird langsam Herbst. Wir könnten einen Zoo mit Eichel- und Kastanientieren basteln. Oder wir malen bunte Herbstbilder. Oder singen ein paar Herbstlieder. Oder wir basteln alle zusammen Drachen!“, schlug Fye immer euphorischer vor und auch Tomoyos Augen wurden immer größer.

Insgeheim war er der Schwarzhaarigen dankbar für diese Ablenkung, denn sie brachte seinen Kopf zurück zu den Dingen, die ihm wirklich Spaß machten. Augenblicklich fühlte er sich wieder besser, doch leider währte das nur so lange, bis er zufällig zum Eingang zurück blickte, wo Kurogane noch immer im Türrahmen lehnte und ihn und sein Töchterchen beobachtete.

Im ersten Moment war er ein wenig erstaunt, dass der andere immer noch hier war, denn er hatte wirklich damit gerechnet, dass Kurogane keine Sekunde länger bleiben würde als nötig, vor allem nach diesem Missgeschick vorhin bei der Autofahrt. Doch scheinbar hatte er sich geirrt.

Trotzdem verstand er nicht ganz, warum Kurogane noch hier war. Machte er sich Sorgen um ihn? Jetzt war er doch im Kindergarten, in Sicherheit. Was sollte schon passieren?

Trotzdem konnte Fye nicht verhindern, wie sich sein Kopf für einen Moment verselbstständigte und ein unruhiger Blick die Umgebung draußen vor den großen Fensterscheiben nach einem möglichen heimlichen Beobachter absuchte.

Natürlich blieb das dem Schwarzhaarigen nicht verborgen, was Fye an der nach oben gehenden Augenbraue deutlich erkennen konnte.

„Alles in Ordnung?“, fragte er skeptisch.

„Natürlich, Kuro-wanko! Was sollte denn nicht in Ordnung sein?“, antwortete Fye, allerdings etwas zu hastig. Und er wandte sich auch etwas zu schnell wieder von Kurogane ab, um den nächsten Stuhl vom Tisch zu nehmen, doch dieser glitt ihm aus der Hand und landete scheppernd auf dem Boden.

Der Blonde atmete einmal tief durch und versuchte dann, sich wieder zusammenzunehmen. So konnte es nicht weitergehen! Kurogane schien sich wirklich Sorgen um ihn zu machen und er wollte diese Sorgen durch unnötige Schusselei nicht noch verschlimmern. Außerdem würden die Kinder seine Unruhe früher oder später ebenfalls bemerken, wenn das so weiter ging, und das wollte er ganz bestimmt nicht! Die Kleinen hatten nichts damit zu tun. Kurogane zwar im Grunde auch nicht, doch Fye konnte es trotzdem nicht ändern, dass er sich irgendwie besser fühlte, wenn der andere in seiner Nähe blieb und ein wenig mit aufpasste. Obwohl es ihm gleichzeitig ein schlechtes Gewissen bereitete, Kurogane so weit in diese Sache hinein gezogen zu haben.

Nachdem Fye den Stuhl richtig an den Tisch geschoben hatte, ließ er seine Hände locker auf der Stuhllehne ruhen und betrachtete diese einen Moment lang. Sie zitterten. Er wusste einfach nicht, was er tun sollte, und das überforderte ihn allmählich.

Eine Entscheidung nahm Kurogane ihm wenige Augenblicke später ab, als er zu ihm an den Tisch trat und mit wenigen Handgriffen die restlichen Stühle auf den Boden stellte.

„Ich bleibe wohl noch ein bisschen hier. So, wie du dich heute anstellst, fällt dir am Ende noch die Decke auf den Kopf.“

„JUHU!!!“, jubelte Tomoyo, die noch immer in der Nähe des Tisches gestanden und die Worte ihres Vaters deutlich gehört hatte. Keine Sekunde später hatte sie bereits freudig dessen lange Beine umklammert.

Auch wenn Fye wusste, dass er nicht so denken sollte, spürte er gerade keinen Funken Zweifel in sich. Er fühlte sich ganz genau so, wie Tomoyo in diesem Moment aussah: Glücklich.
 

Nach einigen Stunden musste Fye sich jedoch wieder einmal eingestehen, dass Glück kein dauerhafter Zustand war. Wenn man längere Zeit davon kosten durfte, nahm seine Wirkung schnell ab und ließ all die negativen Gedanken wieder zu, die es anfangs so erfolgreich unterdrückt hatte.

Es war wie auf einer Achterbahn: Vom höchsten Stimmungshoch raste man geradewegs ins tiefste Tief. Und an solch einem Punkt befand Fye sich gerade, denn er schaffte es einfach nicht länger, seine Sorgen und Ängste auszublenden, sie hatten sich nur in seinem Unterbewusstsein angestaut und drängten jetzt erbarmungslos an die Oberfläche.

Die Kinder zeichneten gerade alle ein Bild zum Thema „Herbst“, als Fye es im Gemeinschaftsraum einfach nicht mehr aushielt, sich ein paar Stifte schnappte und unter dem Vorwand, diese spitzen zu wollen, damit die Kleinen sie wieder richtig benutzen konnten, in die Küche verschwand.

Dort angekommen ließ er sich jedoch erst einmal auf einen Stuhl in einer unscheinbaren Ecke fallen und vergrub sein Gesicht in den Händen.

Er musste ruhig bleiben. Er hatte sich dafür entschieden, weiterhin hierher zu kommen und Kurogane in seiner Nähe zu dulden, also musste er nun auch dabei bleiben. Ganz gleich, welche Risiken das mit sich brachte, er konnte jetzt nicht einfach einen Rückzieher machen und sich verstecken. Selbst wenn Ashura ihn hier fand – falls er das nicht schon längst geschafft hatte – würde er die Kinder und Kurogane doch sicher nicht mit hineinziehen, oder? Sonst zog er ja auch keine weiteren Personen mit hinein, wenn er jemanden...verschwinden ließ.

Er konnte es nur hoffen, denn das war alles, was ihm noch geblieben war. Er könnte es sich niemals verzeihen, wenn einem dieser Menschen, die ihm wichtig geworden waren, etwas zustoßen würde. Es wäre schlimmer, als von Ashura direkt in den Tod geschickt zu werden.

„Hey, bist du beim Spitzen eingeschlafen?“

Kuroganes Stimme ließ ihn kurz zusammenfahren, doch gleich darauf wandte er sich wieder ab und starrte ziellos auf den Boden vor seinem Stuhl. Er wollte sich aufraffen, dem Schwarzhaarigen ein freches Grinsen schenken und irgendeinen dummen Kommentar erwidern, doch ihm fiel einfach nichts ein. Sein Kopf war wie leer gefegt. Alles, was geblieben war, war diese schreckliche Müdigkeit.

„Alles okay?“, hörte er Kurogane erneut fragen, diesmal mit deutlich besorgtem Unterton in der Stimme.

Der Neuankömmling setzte sich zögerlich in Bewegung und blieb knapp neben dem seltsam schweigsamen Blonden stehen, der sich immer noch nicht zu einer anständigen Reaktion aufraffen konnte.

„Hast du deine Chefin schon angerufen?“, kam wenig später die nächste Frage.

„... Geht nicht. Sie ist heute nicht im Büro.“

Meist war sie nur an zwei Tagen in der Woche zu erreichen, den einen davon nur halbtags, weil sie nebenbei noch einer anderen Tätigkeit nachging. Heute war einer der Tage, an dem man Yuuko gar nicht erreichen konnte, das war Fye zwischendurch wieder eingefallen. Und inzwischen bedauerte er es auch, dass er noch nicht mit ihr darüber sprechen konnte. Die selbstbewusste Frau strahlte, ähnlich wie Kurogane, eine Aura aus, die einem Sicherheit gab und das Vertrauen, dass diese Person einem helfen konnte, egal wie verzwickt die Lage auch sein mochte. Doch er würde sie frühestens morgen erreichen können.

„Ich werde morgen Vormittag gleich versuchen sie anzurufen.“

Aus dem Augenwinkel heraus sah der Blonde, wie der andere dies mit einem Nicken quittierte.

„Gut. Und beeil dich jetzt besser mit den Stiften. Die Knirpse warten auf ihre Farben.“

Damit wandte sich der hochgewachsene Mann wieder zum gehen um, doch plötzlich schien es dem Blonden, als könnte er es nicht mehr ertragen, jetzt wieder allein in der Küche zurückgelassen zu werden.

„Kurogane!“

Ohne dass er selbst genau wusste, was er tat, sprang er von seinem Stuhl auf und griff nach dem Handgelenk des anderen Mannes, brachte diesen damit zum Stehen bleiben. Er stand so dicht hinter dem größeren Mann, dass er sogar einen Hauch von dessen Körperwärme am Gesicht spüren konnte. Irritiert von seiner eigenen Reaktion ließ er kurz darauf die Hand des anderen wieder los und trat einen kleinen Schritt zurück.

„Ich...ähm...“

Verdammt, wie sollte er das bloß rechtfertigen?

„Jetzt beeil dich langsam mit den paar Stiften. Die Knirpse warten“, unterbrach Kurogane das unbeholfene Gestammel mit sanftem Nachdruck. Keinen Spott, keinen anklagenden Unterton konnte Fye in der Stimme finden. Nichts weiter als ein beiläufiger Themenwechsel.

Genauso beiläufig, wie der Schwarzhaarige diese Worte soeben gesagt hatte, ging er nun zu den Schränken, öffnete einige Türen, bis er ein Glas gefunden hatte, und schenkte sich etwas Wasser ein.

Dankbar dafür, dass Kurogane ihm wegen dieses Aussetzers nicht zur Rede stellte und sich sogar eine unauffällige Möglichkeit gesucht hatte, bei ihm in der Küche bleiben zu können, gab der Blonde sich nun endlich einen Ruck und begann, mit einigen schnellen Handgriffen die Stifte zu spitzen.

Als der letzte Stift wieder in Ordnung war, leerte der Schwarzhaarige den Rest seines Glases und ging gemächlich zurück Richtung Tür. Wieder drehte Fye sich blitzschnell um und griff nach dem Handgelenk des anderen Mannes, woraufhin dieser wieder mitten in der Bewegung inne hielt. Diesmal jedoch warf er dem Blonden einen kritischen Blick über die Schulter zu, verlangte stumm nach einer Erklärung.

Diesmal hatte Fye den anderen jedoch ganz bewusst angehalten und wusste, was er von ihm wollte. Mit einem kurzen Blick in die roten Augen des anderen Mannes und einem zaghaften Lächeln auf den Lippen hauchte er ihm ein leises „Danke“ zu.

Das war das Mindeste, was er für Kurogane tun konnte.

Noch im selben Augenblick ließ er das Handgelenk des anderen wieder los, schlängelte sich an ihm vorbei und verschwand durch die Tür zum Aufenthaltsraum.
 

Irgendwie hatte Kuroganes Anwesenheit in der Küche ihm wieder Kraft gegeben. Fye konnte nicht von sich behaupten, dass er sich blendend fühlte. Er schien noch immer ein wenig durch den Wind zu sein, stieß das ein oder andere Mal an Möbel und Wände an, ließ das Besteck fallen, als er den Mittagstisch decken wollte und hätte sich wahrscheinlich noch am Essen verbrannt, wenn Sakura ihm das Ausschenken nicht spontan aus der Hand genommen und selbst erledigt hätte.

Normalerweise hielt sich das ruhige Mädchen mehr in Hintergrund, spielte mit den Kindern, passte auf sie auf oder ging Fye ein wenig zur Hand, wenn dieser darum bat. Aber sie ergriff selten die Initiative und nahm ihm von sich aus eine seiner Aufgaben ab. Dass sie es beim Mittagessen so plötzlich getan hatte, zeigte, wie besorgt auch sie um den Blonden sein musste, auch wenn sie ihn nicht direkt darauf ansprach.

Fye bemerkte, dass auch Kurogane ihn weiterhin beobachtete. Obwohl der Schwarzhaarige meist den Anschein erweckte, teilnahmslos herumzusitzen, höchstens seiner Tochter mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, fiel ihm hin und wieder ein kurzer Seitenblick aus den roten Augen auf. Sie streiften wie zufällig durch den Raum, aber verharrten zu lange auf ihm, als dass es Zufall hätte sein können.

Es wunderte Fye ein wenig, dass plötzlich die drängenden Fragen ausblieben, die der andere sonst immer beantwortet haben wolle. Vergessen waren diese Dinge sicher nicht und der Blonde wusste, dass er irgendwann Antworten geben müsste. Wenn überhaupt jemand erfahren durfte, was alles geschehen war, dann war es Kurogane. Doch noch konnte er nicht darüber sprechen. Selbst Chii hätte es wohl nie erfahren, wenn der Zufall ihr einen Teil der Informationen nicht zugespielt hätte. Und selbst jetzt kannte sie noch nicht die ganze Wahrheit.

Chii... Ob es ihr gut ging? Ob sie inzwischen vielleicht doch wieder zu Hause war und ihm dann erzählen würde, warum sie weg war? Auch wenn es noch so unwahrscheinlich war, klammerte Fye sich an diese kleine Hoffnung, denn falls wirklich der schlimmste Fall eingetreten sein sollte und seine kleine Freundin Ashura zum Opfer gefallen war, würde er das nicht ertragen können, so viel stand fest.

Es war jedoch nicht nur Ashura, vor dem er davon lief, sondern auch er selbst. Er verurteilte sich dafür, was er getan hatte, und er schämte sich. In jedem Augenblick seiner Existenz wünschte er sich tief in seinem Innern, all die schlimmen Vorkommnisse ungeschehen machen zu können, egal wie hoch der Preis dafür auch sein möge. Wenn es nur irgendwie möglich wäre...

Fye hatte lange gebraucht, um diese Gedanken und Gefühle so weit zurück zu drängen, dass sie nicht mehr sein gesamtes Bewusstsein überlagerten. Es hatte so viel Zeit gekostet, diesen schützenden Deckmantel aus Sorglosigkeit darüber aufzubauen, damit er zumindest wieder normal unter Leuten leben konnte. Und nun lag seine ganze Mühe in tausenden von Scherben vor ihm ausgebreitet.

Dennoch durfte er sich jetzt nicht hängen lassen. Gerade jetzt, wo nicht nur er selbst, sondern vielleicht auch Kurogane, die Kinder und sogar Sakura in Gefahr waren, durfte er bloß nicht den Kopf verlieren. Er musste um jeden Preis verbergen, dass er die Kontrolle zu verlieren drohte. Er würde stark sein. Er würde durchhalten für die Menschen, die ihm wichtig geworden waren.
 

Nach dem Mittagschlaf waren die Kinder wie immer voller Energie und Sorata stellte eine Frage, die Fye bereits befürchtet hatte.

„Nii-chan, meine Seele begehrt danach zu erfahren, weshalb wir uns heuer nicht auswärts vergnügen.“

Zum Glück hatte der Kindergärtner sich rechtzeitig eine passende Antwort gesucht.

„Ah, heute ist es ein bisschen kalt, findest du nicht, Sora-kun?“

Das war nicht einmal gelogen.

„Und ich glaube, ich bekomme eine leichte Erkältung, deshalb möchte ich lieber erst einmal drinnen bleiben.“

Damit wich er zwar ein wenig von der Wahrheit ab, doch eine bessere Möglichkeit, mit den Kindern im Gebäude bleiben zu können, gab es wohl nicht.

„Ah, es betrübt mich, dies zu hören. Dein Wohl ist zweifelsohne – neben meiner holden Maid – von größtem Belang. Ich hoffe auf deine baldige Genesung.“

„Vielen Dank, Sora-kun!“

Mit einem breiten Lächeln wuschelte der Blonde seinem Schützling durch das kastanienbraune Haar.

Kurogane, der gerade mit der Reparatur eines Spielzeugautos beschäftigt gewesen war, hatte bei dem kurzen Dialog aufgeschaut und guckte wieder einmal drein, als befände er sich auf dem Mars. Fye wusste nicht, was er niedlicher finden sollte. Soratas Sprechweise oder Kuroganes Reaktion darauf? Den Schwarzhaarigen konnte man damit immer wieder aufs Neue aus der Fassung bringen.

Und wo er gerade bei Tomoyos Daddy und erstaunlichen Kindern war: Ryu war genauso ein Phänomen. Kurz bevor Sorata Fye angesprochen hatte, konnte dieser beobachten, wie Ryu FREIWILLIG an Kurogane herangetreten war und ihn gefragt hatte, ob dieser sein Modellauto reparieren könne, dessen Räder bereits seit heute Morgen bedenklich wackelten.

Dem Gesichtsausdruck des Schwarzhaarigen zufolge war dieser über Ryus Bitte genauso überrascht wie Fye selbst. Wobei der Blonde nicht unbedingt die Tatsache an sich erstaunlich fand. Er kannte Ryu gut genug, um zu wissen, dass dieser inzwischen ziemlichen Respekt vor dem hochgewachsenen Mann entwickelt hatte und ihn wahrscheinlich auch sehr bewunderte. Dass er sich allerdings so schnell überwunden und ihren schlechten Start vergessen hatte, erstaunte den Blonden dann doch.

Leider hatte er Kuroganes nächste Reaktion durch Soratas Frage nicht mitbekommen, doch dass der Schwarzhaarige nun mit Auto und Schraubenzieher hantierte und Ryu die Einzelheiten der Reparatur erklärte, zeigte, dass auch er dem Jungen nicht mehr böse war.

Wenn er von Anfang an einen anderen Weg eingeschlagen hätte, wäre Kurogane sicher ebenfalls ein toller Kindergärtner geworden. Oder Lehrer, schoss es Fye durch den Kopf. Er hatte eine Ausstrahlung, die trotz seiner oberflächlichen Unfreundlichkeit Faszination und Vertrauen bei den Kindern auslöste. Und nicht nur bei ihnen...
 

Nachdem die Kinder ein wenig gespielt hatten, rundete Fye den Tag mit einem Kindervideo ab. Damit dabei die Atmosphäre stimmte, dunkelten zuvor alle zusammen den Raum ab, zogen die Vorhänge vor der großen Fensterfront zu und schalteten die Lichter aus, damit sich die Kinder wie in einem richtigen Kino fühlen konnten. Außerdem hatte das für Fye den zusätzlichen Vorteil, dass er sich wenigstens in der nächsten Stunde sicher sein konnte, nicht von außen beobachtet zu werden, wodurch er sich gleich ein wenig besser fühlte.

Er wünschte, es könnte immer so bleiben.

An den gebannten Gesichtern der Kinder konnte man erkennen, dass die Geschichte vom kleinen Simba in „König der Löwen“ sie wirklich fesselte. Sakura saß vorsorglich bei den Mädchen, denn sie kannte den Film natürlich schon und wusste, dass es auch traurige und gefährliche Stellen gab, die die Kleinen vielleicht beunruhigen würden.

Fye selbst saß ein Stück hinter den Kindern, die auf Decken und Kissen auf dem Boden saßen, auf einem der Stühle und hatte dadurch alle im Blick. Direkt neben ihm, nur wenige Zentimeter entfernt, saß Kurogane auf einem weiteren Stuhl und schaute abwechselnd zwischen dem Film und den Kleinen hin und her.

Seit Fyes Tief vom Vormittag war weder ein Wort noch eine Andeutung bezüglich seiner Gefühlslage gefallen. Die meiste Zeit über hatte Kurogane einfach nur herumgesessen und alle beobachtet, hin und wieder den Kindern geholfen, wenn sie mit Fragen oder Problemen zu ihm gekommen waren oder Fye und Sakura bei kleineren Aufgaben unterstützt. Ansonsten war er einfach nur in der Nähe des Blonden geblieben, wenn dieser mehr oder weniger unauffällig bei ihm Schutz gesucht hatte. Die fragenden Blicke, in denen Fye sogar ein wenig Sorge zu erkennen glaubte, blieben dabei nicht aus, doch Kurogane schwieg. Vielleicht bedeutete er dem Schwarzhaarigen wirklich mehr, als er geglaubt hatte. Vielleicht wollte der sonst so direkte Mann ihm nur vor dem versammelten Kindergarten keine Szene machen. Fye wusste es nicht. Aber er war ihm trotzdem unendlich dankbar, dass er ihn duldete.

Genau wie jetzt. Obwohl Fye ihre Stühle so nah aneinander gestellt hatte, dass er selbst sich nur ein wenig zur Seite lehnen müsste, um sich an die Schulter des größeren Mannes anlehnen zu können, bewegte dieser sich kein Stück von ihm weg, sondern verharrte ruhig neben ihm. Einen Moment lang kam in Fye der Wunsch auf, nach der Hand des anderen zu greifen, die locker auf dessen Oberschenkel ruhte. Sie wirkte auf ihn wie ein Rettungsring, an dem er sich bloß festzuhalten brauchte, um gerettet zu werden. Und er verspürte den Wunsch, ihm mit dieser Geste seine tiefe Dankbarkeit ausdrücken zu wollen.

Doch es ging nicht. Auch wenn Kuroganes Miene bei allem, was er bisher getan hatte, ruhig geblieben war, wollte er die Geduld des Schwarzhaarigen nicht überstrapazieren. Davon einmal abgesehen, dass der Dank, der dem anderen wohl das meiste bedeuten würde, sicher darin bestand, ihm endlich die Wahrheit zu erzählen.

Inzwischen war Fye sogar so weit, dass er diese Sache gern jemandem anvertrauen würde. Nein, nicht einfach „jemandem“, sondern Kurogane. Und das nicht bloß aus Dankbarkeit. Er konnte und wollte nicht mehr allein davonlaufen und dem Schwarzhaarigen vertraute er inzwischen so weit, dass er sich sicher war, dass dieser ihn nicht verletzen würde, selbst wenn er dieses Wissen mit ihm teilte. Er hatte die leise Hoffnung, dass dieser ihn für seine Taten vielleicht nicht verachten würde. Dennoch spürte er so fürchterliche Angst in sich, wenn er nur daran dachte, diese Sache eventuell jemandem anzuvertrauen...

Nein, er konnte es einfach noch nicht.

Im Video hatte Scar gerade seinen Bruder Mufasa getötet und dessen Sohn Simba eingeredet, er wäre der Mörder seines Vaters gewesen, woraufhin der Junge völlig verängstigt davon gelaufen war.

„Der kleine Simba ist wirklich ein Feigling. Rennt einfach weg und versucht alles zu verdrängen, anstatt sich seinen Ängsten zu stellen.“

Fye antwortete nicht sofort, als die tiefe Stimme des Schwarzhaarigen leise den Film kommentierte. Eigentlich lagen dem Blonden schon einige unverfängliche Worte auf der Zunge, mit denen er das Verhalten des Löwenjungen kommentieren könnte, doch eine leise Stimme tief in ihm hielt ihn davon ab, ermutigte ihn, das zu erwidern, was ihm eigentlich auf dem Herzen lag, auch wenn es schwer fiel. So eine unverfängliche Gelegenheit, das Thema anzuschneiden, würde er sicher nicht noch einmal bekommen, ermutigte ihn die Stimme weiter.

Eine Weile suchte Fye nach den richtigen Worten, bevor er schließlich antwortete.

„Findest du es denn so abwegig, dass er davon läuft? Er ist doch noch so jung und unschuldig. Er hat nicht erkannt, wie niederträchtig sein Onkel ist, dass er ihn nur benutzt hat, um seine eigenen Ziele zu erreichen. Und nun fürchtet und schämt er sich vor sich selbst, weil er weiß, dass sein Vater seinetwegen sterben musste.“

„Das weiß er nicht, das denkt er bloß, weil Scar es ihm eingeredet hat“, korrigierte Kurogane.

„Nein, ich denke, er weiß es auch. Er weiß, dass sein Vater noch am Leben wäre, wenn er nicht in Gefahr geraten wäre und Mufasa nicht gekommen wäre, um ihn zu retten. Selbst wenn er es nicht wollte, ist Mufasas Tod doch wenigstens zum Teil seine Schuld.“

„Du bist ganz schön hart mit ihm. So ein kleines, naives Kind kann doch noch gar nicht wissen, wie schlecht die Welt bisweilen sein kann. Und dass er vor seiner Verantwortung einfach davon läuft, ist trotzdem nicht in Ordnung.“

„Und was hättest du an seiner Stelle getan?“

„Ich hätte mein letztes bisschen Mut zusammengenommen und versucht, die Wahrheit herauszufinden. Simba hat den Tod seines Vaters niemals gewollt. Deshalb hätte ich an seiner Stelle nachgeforscht, wie es überhaupt zu dieser tragischen Situation hatte kommen können. Dann hätte er das wahre Wesen seines Onkels mit Sicherheit viel eher entdeckt und viel Leid für das Königreich der Löwen ersparen können. Und er hätte nicht jahrelang mit einer Schuld leben müssen, die – zumindest zu großen Teilen – nicht einmal seine eigene war.“

„Ich kann mir gut vorstellen, dass du so gehandelt hättest. Du bist mutig, Kuro-muu. Bestimmt warst du das als Kind auch schon. Aber Simba ist leider wirklich ein ziemlicher Feigling, wie du schon gesagt hast. Er hätte das wohl nicht geschafft. Seine größte Angst war, dass seine eigene Familie ihn verstoßen würde, wenn er geblieben wäre. Deshalb konnte er nur weglaufen.“

„Dabei hätte er doch wissen müssen, dass eine so liebe Familie wie seine ihn niemals von sich gestoßen hätte. Sie alle kannten ihn und wussten, dass er durch und durch gutherzig war. So ein Löwenjunges hätte niemand verstoßen können.“

„Hätte... Manchmal macht einen die Angst wohl blind für die offensichtlichsten Dinge, was? Simba hat wirklich eine tolle Familie. So etwas kann man sich für die meisten Kinder nur wünschen. Es ist wirklich schade, dass so etwas leider nicht immer der Fall ist. Viele Eltern nehmen sich nicht genug Zeit für die Gefühle ihrer Kinder. Und andere Kinder haben gar keine Eltern mehr. Aber wir weichen ab. Und sicher stören wir auch die anderen, wenn wir hier so viel reden.“

Themawechsel. Es war genug für heute. Fye benötigte inzwischen seine ganze Konzentration, um seine Stimme stabil zu halten und ruhig sitzen zu bleiben. Was Kurogane gesagt hatte, hatte so viel in ihm aufgewirbelt.

Hätte er Leid vermeiden können, wenn er nicht so egoistisch gewesen und einfach weggelaufen wäre? Hätte er Ashura vielleicht aufhalten können? Er wusste, er müsste etwas tun, doch er konnte sich nicht auf eine Familie stützen, wie Simba sie hatte. Abgesehen davon, dass er nicht wollen würde, dass sie seinetwegen in Gefahr geriet. Er stand allein da. Wie Simba, als Löwenjunges, auf der Flucht vor seiner Angst, seiner Vergangenheit. Ohne Hilfe würde er das nicht schaffen. Diese Aufgabe war einfach zu groß, um sie allein bewältigen zu können.

Simba hatte ebenfalls nichts ausrichten können, solange er allein gewesen war. Allein mit seiner Vergangenheit. Inzwischen war er erwachsen geworden und plötzlich stand seine Freundin Nala wieder an seiner Seite und gab ihm Kraft, sich der Vergangenheit zu stellen.

Wenn er jemanden wie Nala hätte... Ob es dann vielleicht irgendwie gehen würde? Warum nur fühlte er sich plötzlich so schrecklich allein...?

„Niemand ist allein. Selbst wenn die eigene Familie nicht hilft oder nicht helfen kann, gibt es immer jemanden, der für einen da ist. Simba hat seine kleine Freundin von früher zurück gewonnen und gemeinsam haben sie Scar schließlich entlarvt und bestraft“, warf Kurogane nach einem kurzen Moment des Schweigens noch ein.

Manchmal fragte Fye sich wirklich, ob der Schwarzhaarige Gedanken lesen konnte.

Simba war nicht mehr allein.

Und er war es auch nicht. Irgendwie.

Der Blonde wusste, dass es nicht das Klügste war, was er jetzt tat, doch im Moment kümmerte es ihn nicht.

Kurogane hatte ihm versprochen, dass er nicht allein war.

Er spürte die Wärme, die von Schulter und Oberarm des anderen ausgingen, als er sich sanft dagegen lehnte. Er spürte das ruhige Heben und Senken des Oberkörpers bei jedem Atemzug des Schwarzhaarigen. Und obwohl dieser so durchtrainiert war, waren die Muskeln an dessen Arm keineswegs unangenehm. Sie waren so entspannt, dass es sich an seinem Gesicht und seiner Schulter fast schon weich anfühlte.

Es war so angenehm.

Seine Augen schlossen sich wie von selbst, als er dieses lange vermisste Gefühl zögerlich in sich aufkeimen ließ.
 

Ein leichter Stoß an seinem Kopf ließ ihn aufschrecken und verwirrt blinzeln. Nach einem irritierten Blick in die Runde hatte er die Situation wieder erfasst:

Er war im Kindergarten, es war Nachmittag und die Kinder hatten sich „Der König der Löwen“ angesehen, wovon gerade die Abspannmelodie begonnen hatte. Der schnell anschwellende Lautstärkepegel unterstrich zusätzlich, dass der Film nun vorbei war.

Schon vorbei? Dabei hatte Simba seine Freundin Nala doch gerade erst wieder getroffen. Hatte er etwa den ganzen Rest des Films verschlafen?

Aber wenn er geschlafen hatte, dann hatte sein Kopf doch nicht etwa die ganze Zeit an Kuroganes Schulter gelehnt, oder? Und dieser hatte gar nichts dagegen getan? Ihn einfach an seiner Schulter schlafen lassen, bis der Film vorbei war? Und ihn sogar rechtzeitig geweckt, bevor der allgemeine Trubel losgebrochen war und er aufgefallen wäre.

Gut, seit dem Wochenende hatte sich zwischen ihnen einiges verändert, vor allem war der sonst so misstrauische Vater der kleinen Tomoyo plötzlich viel geduldiger und bedrängte ihn nicht mehr so sehr mit seinen Fragen. Aber dass er so viel Nähe zuließ. Dass er selbst so viel Nähe suchte...

Irgendwie machte dieser Gedanke den Blonden verlegen, sodass er beschloss, das geschäftige Treiben der Kinder zu nutzen und den Videonachmittag offiziell als beendet zu erklären. Auch die Uhrzeit war Fye gnädig, es ging bereits auf halb vier zu. Obwohl er sich gerade jetzt, mit geschlossenen Vorhängen, wieder recht wohl in seiner Haut fühlte, würde Fye dennoch lieber wieder bei Kurogane zu Hause sein. In dessen vier Wänden fühlte er sich einfach am sichersten.

So wurden alle zum allgemeinen Aufräumen angehalten und selbst Ryu machte diesmal ohne großen Protest mit. Der Moralappell vom letzten Mal zeigte also noch Wirkung, wie Fye zufrieden feststellte.

Ab viertel vor vier kamen auch schon die ersten Eltern und holten ihre Sprösslinge ab, kurz nach vier Uhr war der Kindergarten bis auf Fye, Sakura, Tomoyo und Kurogane leer. Und obwohl Fye seiner fleißigen Praktikantin jeden Tag aufs Neue sagte, dass sie nicht extra länger bleiben müsse, sondern auch eher – oder wenigstens pünktlich vier Uhr – gehen könne, lehnte diese wie jeden Tag höflich, aber entschieden ab, dass sie doch gern bleibe und die letzten paar Aufräumarbeiten ihr nichts ausmachen würden. So verabschiedete sie sich, wie jeden Tag, zusammen mit dem letzten Kind, welches von seinen Eltern abgeholt wurde, und machte sich dann ebenfalls auf den Heimweg.

Nun konnte auch Fye für heute Schluss machen und mit Kurogane, der inzwischen im Eingangsbereich auf ihn wartete, zurückfahren.

Doch schon als Fye in den schwarzen Wagen stieg, meldeten sich erneut die Sorgen um Chii bei ihm. Fieberhaft suchte er nach einer Lösung, ungesehen bei seiner eigenen Wohnung vorbeigehen und nach seiner kleinen Freundin sehen zu können, doch ihm wollte einfach nichts einfallen. Entweder er ging hin und wurde mit Sicherheit von irgendjemandem gesehen oder er ließ es bleiben, konnte aber nicht nachsehen, ob vielleicht eine Nachricht von Chii eingetroffen war. Eine kurze Erklärung. Ein Lebenszeichen. Irgendwas.

Es zerfraß ihn innerlich, dass er einfach nicht wusste, was er am besten tun sollte.

„Was ist los?“, fragte der Schwarzhaarige neben ihm.

Scheinbar sah man es ihm schon wieder an, dass etwas nicht in Ordnung war...

„Ich...hab mich nur gerade gefragt, was Chii wohl macht“, versuchte der Blonde, seine Antwort so normal wie möglich klingen zu lassen.

Gar nicht zu antworten, hätte er nicht riskieren können. Dann wäre Kurogane erst recht aufmerksam geworden. Und seine Befürchtungen wollte er dem anderen schon gar nicht auf die Nase binden.

„Weil sie am Samstag nicht zu Hause war? Wir sollten einfach mal nachsehen, ob sie zwischendurch vielleicht wieder da war“, brachte Kurogane das Problem auf den Punkt.

Wenn es doch nur so einfach wäre, wie es sich aus dem Mund des Schwarzhaarigen anhörte...

„Na ja...ich weiß nicht. Wird schon nichts Schlimmes passiert sein, dass du jetzt deswegen extra einen Umweg machen müsstest“, versuchte Fye, die Situation zu überspielen. Bei dem Gedanken, tatsächlich zu seiner Wohnung zurück zu fahren, war ihm plötzlich eiskalt geworden.

„Trotzdem. Ich werde kurz nachsehen. Dauert ja keine Ewigkeit.“

Hatte er gerade „ich“ gesagt? Tatsächlich „ich“? Also er?

Einen Moment lang starrte der Blonde den Fahrer neben sich fassungslos an. Als dieser genervt die Augenbraue zusammenzog und ihm einen kurzen Seitenblick zuwarf, riss der Blonde sich zusammen und schaute wieder geradeaus.

Er wollte tatsächlich an seiner Stelle nachsehen gehen? Dabei müsste er all das doch überhaupt nicht für ihn tun...

„Danke...“, hauchte er leise, starrte dabei weiterhin unentwegt auf die getönte Scheibe seines Seitenfensters.
 

Wenig später hielten sie vor Fyes Wohnung, Kurogane ließ sich die Schlüssel geben und verschwand für einige Minuten in dem grauen Wohnhaus. Als er schließlich wieder im Wagen saß und auf Fyes große, fragende Augen bis dahin nicht reagiert hatte, setzte dieser schließlich noch ein erwartungsvolles „Und?“ hinterher, erhielt jedoch nur ein resigniertes Kopfschütteln.

„In der Wohnung ist sie nicht. Und eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter, eine Notiz oder ähnliches gibt es auch nicht.“

Fye hörte deutlich an der Stimmlage, dass es dem Schwarzhaarigem schwer fiel, ihm diese Nachricht zu überbringen. Doch das half nicht dagegen, dass er sich jetzt noch ein ganzes Stück elender fühlte als sowieso schon. Mit zusammengebissenen Zähnen brachte er ein abgehacktes Nicken zustande.
 

Die Zeit bis zum Abend verlief schleppend. Obwohl Tomoyo ihr möglichstes versuchte, um ihn in ein Gespräch zu verwickeln oder mit ihm zu spielen, um ihn ein bisschen aufzumuntern, wollte die liebevolle Zuwendung der Kleinen diesmal einfach nicht anschlagen.

„Nii-chan, ich mach mir Sorgen...“, flüsterte sie schließlich leise, in den Schoß ihres Kindergärtners gekuschelt.

„Tut mir Leid, Tomo-chan. Ich bin im Moment wohl nicht richtig fit, was?“, entschuldigte er sich mit einem schiefen Lächeln. Es tat ihm wirklich Leid, dass er nun sogar der kleinen Tomoyo Sorgen bereitete. Überall machte er nichts als Schwierigkeiten...

„Du solltest heute lieber etwas eher ins Bett gehen, Tomoyo“, mischte sich ihr Vater in die traute Zweisamkeit ein.

„Waaaaas? Aber es ist noch nicht mal das Sandmännchen gekommen und hat „Gute Nacht“ gesagt!“, protestierte die Vierjährige und klammerte sich gleich noch fester an dem Blonden fest.

„Das siehst du doch jeden Tag. Außerdem bist du immer noch müde vom Wochenende, das sehe ich dir an. Du hast dich noch nicht richtig ausgeschlafen. Wenn du morgen wieder besser aussiehst, kannst du auch wieder bis zum Sandmann wach bleiben“, argumentierte ihr Vater dagegen.

„Aber Papa...“, setzte die Kleine noch einmal zu einem schwachen Protest an.

„Nichts ‚aber’! Wenn du morgen früh nicht aus dem Bett kommst, jammerst du nur wieder“, wurde sie sogleich unterbrochen.

„Du siehst wirklich sehr müde aus“, bekräftigte Fye, allerdings eine Spur milder als der Schwarzhaarige, dessen Aussage. Schließlich stimmte es auch. „Du schläfst ja in meinen Armen schon halb ein. Und mach dir keine Sorgen wegen dem Sandmännchen. Das kann dich auch sehen, wenn du den Fernseher nicht eingeschaltet hast, und schickt dir schöne Träume.“

„Wirklich?“

„Aber natürlich! Der Weihnachtsmann sieht doch auch alles, oder?“

„Stimmt...“

Mit einem nachdenklichen Nicken befand die Kleine, dass ihr Nii-chan wohl Recht haben musste.

„Aber du liest mir doch trotzdem eine Geschichte vor, oder, Papa?“, hakte sie, an ihren Vater gewandt, noch nach.

Dieser schickte ihr als Antwort jedoch nur ein böses Funkeln, kurz unterbrochen durch einen Seitenblick Richtung Fye. Und nach einigen Augenblicken wurden die Augen des kleinen Mädchens ein ganzes Stück größer und sie schlug sich erschrocken die Hände vor den Mund.

„Das wollte ich nicht...!“, hauchte sie durch ihre aufgepressten Hände.

Irritiert blitzelte Fye zwischen den beiden hin und her, bis es schließlich „Klick“ machte und er von selbst verstand, was gerade passiert war. Anscheinend hatte Tomoyo da gerade ein kleines Geheimnis ausgeplaudert...

Gespielt unschuldig blickte Fye Tomoyos Vater von unten her an.

„Also ich habe nichts mitbekommen. Rein gar nichts. Worum ging es gerade?“

„Besser, du vergisst ganz schnell wieder, dass du gerade etwas...verpasst hast“, war die recht grobe Antwort des Schwarzhaarigen, bevor dieser schnell seine Tochter in seine Arme hob und mit ihr Richtung Kinderzimmer verschwand.

Irrte er sich oder hatte Fye da gerade tatsächlich so etwas wie einen Rotschimmer auf den Wangen des Brummbärs gesehen? Nein, wie süß!

„Gute Nacht, Nii-chan“, rief Tomoyo ihm von der Schulter ihres Vaters aus zu.

„Gute Nacht, Kleines. Schlaf schön.“

Und schon war sie aus seinem Sichtfeld verschwunden.
 

Minuten später – auch wenn es Fye vorgekommen war wie eine halbe Ewigkeit – kam Kurogane zurück und machte es sich ihm gegenüber in einem Sessel bequem, musterte ihn schweigend.

Fye tat so, als interessierte er sich für die Fernsehzeitung, die vor seiner Nase auf dem Tisch lag.

„Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Ashura deine Mitbewohnerin in die Finger bekommen hat?“, unterbrach Kurogane schließlich die Stille und schnitt sogleich gnadenlos ein Thema an, über das Fye lieber nicht nachdenken wollte. Es wäre unerträglich, falls dies tatsächlich der Fall sein sollte.

„Ich glaube, so hoch ist die Wahrscheinlichkeit nun auch wieder nicht“, antwortete der Blonde daher ausweichend.

„Und falls er sie doch hat... Was könnte passieren? Sowohl ihr als auch dir.“

Fye bemerkte, wie seine Hände wieder zu zittern anfingen, als sein Gegenüber dieses Thema so gewaltsam an die Oberfläche zerrte.

Fye hatte wirklich gehofft, er würde ihm noch ein wenig Ruhe gönnen. Es war auch so schon alles kompliziert genug. Doch es war schließlich Kurogane, um den es sich hier handelte. Da war so etwas eigentlich absehbar gewesen. Und außerdem kam noch hinzu...

„Fye, ich kann dir nicht helfen, wenn du mir alles verschweigst.“

Ja, das kam noch hinzu. Dass der andere ihm wirklich helfen wollte. Und der Blonde ließ es zu und zog ihn da in Sachen hinein, von denen er besser nie etwas geahnt hätte. Doch auch dafür war es jetzt zu spät. Er war schwach geworden und hatte andere Menschen in seine Angelegenheiten hineingezogen. Doch nun war es zu spät, nun konnte er es nicht mehr rückgängig machen...

Die Zeit lief zäh wie Kleber, jede Sekunde konnte man förmlich spüren.

Fye wusste, er musste aus dem Chaos, das er angerichtet hatte, zumindest versuchen, irgendetwas zu retten. Auch wenn das nur ging, wenn er endlich seine verdammte Feigheit überwinden würde...

„Tze! Das ist echt zum Verrücktwerden mit dir. Da kann ich auch mit einer Wand reden. Die grinst wenigstens nicht so blöde.“

Deutlich angesäuert stand Kurogane auf und machte sich daran zu verschwinden. Es versetzte Fye einen Stich, dass dieser plötzlich so grob wurde, doch er konnte es dem anderen nicht verübeln. Kurogane hatte die letzten Tage wirklich Geduld mit ihm bewiesen. Obwohl er mehr als jeder andere ein Recht auf die Wahrheit hatte. Und wahrscheinlich war es für seine eigene Sicherheit inzwischen sogar besser, wenn er alles wusste.

„Wenn Chii...“, begann er zögerlich.

Er musste da jetzt durch. Für sich und für Kurogane.

Der Schwarzhaarige hielt beim Klang seiner Stimme sogleich inne, verharrte jedoch in seiner Haltung, wartete.

Noch einmal atmete Fye tief durch.

„Wenn... Wenn Ashura Chii wirklich erwischt hat, dann...fürchte ich um ihr Leben. Und um meines. Dann ist es sicher verwirkt“, erklärte er flüsternd, zum Ende hin so leise, dass seine Worte kaum noch zu verstehen waren.

Zögerlich drehte Kurogane sich wieder um. Auf seinem Gesicht lag Besorgnis.

„Wenn du in so großer Gefahr schwebst, warum hast du dann nie ein Wort gesagt? Man hätte dich unter Polizeischutz stellen können, etwas gegen diesen Ashura unternehmen, wenn man genügend Beweise gefunden hätte!“

Hastig schüttelte der Blonde den Kopf.

„Das kann ich nicht! Ich... Ich stecke selbst viel zu tief mit drin. – Obwohl es wahrscheinlich nur gerecht wäre, wenn auch ich für all das Geschehene bestraft würde.“

Nur am Rande registrierte Fye, wie sich seine Hände in seiner Hose festkrallten. Er fühlte sich so fürchterlich nackt. Es war sogar noch schlimmer, über diese Dinge zu sprechen, als er befürchtet hatte. Doch nun war es zu spät, er konnte nicht mehr zurück.

Kurogane jedoch hatte die Situation noch nicht ganz erfasst.

„Was redest du da? Du bist viel zu weich, um jemals irgendwem etwas antun zu können, geschweige denn töten“, antwortete er mit deutlichem Unglauben in der Stimme.

Das letzte Wort stach wie tausend Nadeln. Stach in sein Herz, stach in sein Gewissen. Mit Mühe versuchte Fye, den dicken Kloß in seinem Hals zu schlucken.

„... Vielleicht nicht direkt, aber indirekt bin ich dafür verantwortlich.“

„Wofür verantwortlich? Rede doch nicht die ganze Zeit um den heißen Brei herum, ich will dir doch nur helfen!“

Mit aller Kraft darauf bedacht, Ruhe zu bewahren und sein Gesicht vor Kuroganes Blick zu verstecken, nickte Fye kurz und sprach schließlich weiter.

„Ich...habe früher für Ashura gearbeitet. Er ist der oberste Chef von Cybercom. Meine Aufgabe war es, die Geschehnisse auf dem internationalen Markt im Auge zu behalten und Informationen über die größten Konkurrenten zu sammeln. Und all diesen Firmen und wichtigen Geschäftsmännern sind auf mysteriöse Weise schlimme Dinge widerfahren. Anschläge wurden verübt, es gab sehr viele Verletzte und sogar Tote, sodass der Einfluss all dieser Firmen erheblich geschrumpft ist.

Schließlich habe ich herausgefunden, dass Ashura hinter diesen Anschlägen steckte. Und er hatte sie nur mit meiner Hilfe ausführen können, weil ich ihm die nötigen Informationen geliefert hatte. Ich habe so viele Leute ans Messer geliefert, obwohl sicherlich keiner von ihnen solch ein Schicksal verdient hätte...“

„Du wusstest nicht, dass deine Arbeit für solche Zwecke missbraucht wurde! Wie kannst du da sagen, dass es deine Schuld ist?“, fiel Kurogane ihm schockiert ins Wort.

„Wenn ich nur eher verstanden hätte, was hinter dieser ganzen Fassade steckte, hätte ich so viele Morde verhindern können! Wenn ich gar nicht erst dort angefangen hätte zu arbeiten...“, platzte es aus Fye heraus.

So oft schon hatte er sich diese Vorwürfe gemacht. Manchmal würde er sich am liebsten selbst dafür verurteilen, dass er all das hatte geschehen lassen.

„Du hast dort gearbeitet, weil du eben NICHT wusstest, was er tat. Und meinst du, dieser Ashura wusste das nicht? Ihm war doch vollkommen klar, dass du so niederträchtige Intrigen nicht toleriert hättest, deshalb hat er dich ja im Unklaren über seine Ziele gelassen. Er hat dich nur benutzt. Und wenn du es nicht gewesen wärest, dann hätte er irgendein anderes Unschuldslamm gefunden, das viel zu gut für diese Welt ist, weil es viel zu viel Vertrauen in sie hat und brav tut, was man ihm sagt, nur um alle zufrieden stellen zu können“, erwiderte Kurogane, noch immer Fassungslosigkeit in seiner Stimme.

Fye hielt es beinah nicht mehr aus. Er hatte mit vielem gerechnet. Dass Kurogane ihn verurteilen würde, wegen seiner Feigheit, seiner Dummheit oder gleich beidem zusammen, dass er ihn hassen würde für das, was er zugelassen hatte, so wie er sich selbst dafür hasste. Dass er die Polizei rufen und ihn einsperren lassen würde. Aber dass er ihn weiterhin verteidigte und sein Handeln rechtfertigte? Das war einfach nicht richtig. So viel war er bei weitem nicht wert.

„Hör auf, so gut zu mir zu sein! Ich bin längst nicht mehr unschuldig“, platzte es aus ihm heraus.

Fye merkte selbst, wie sehr seine Stimme schwankte. Jetzt war es um seine Selbstbeherrschung wirklich geschehen.

Irritiert hörte er zwei schnelle Schritte neben sich, dann spürte er, wie sein Kopf bestimmt, aber nicht unsanft gepackt und herumgedreht wurde, sodass er keine Möglichkeit mehr hatte, Kuroganes Gesicht auszuweichen.

„Doch, das bist du! Dein Gewissen beweist es nur allzu deutlich. Glaub mir, für das, was geschehen ist, kann dich niemand zur Rechenschaft ziehen oder gar bestrafen. Der Einzige, der über dich richtet, bist du selbst. Du willst dein Leben für andere opfern, damit ihnen nichts zustößt. Du lachst immer und machst dauernd Witze, wenn du nicht allein bist, um allen das Gefühl einer heilen Welt zu geben - und wenn es dir noch so dreckig dabei geht. Aber wenn du dich unbeobachtet fühlst, sieht man, wie dich dein Gewissen von innen auffrisst, weil du dir selbst einfach nicht vergeben kannst. Du hast dir selbst die wohl schlimmste Strafe auferlegt, die jemand für eine grausame Tat erwarten kann, obwohl du sie mit Sicherheit am wenigsten verdient hast.“

Kuroganes Stimme war dabei so fest, seine feuerroten Augen so unnachgiebig auf seinen eigenen fixiert, dass Fye bis in sein tiefstes Inneres spürte, wie ernst es dem anderen mit diesen Worten war.

Nun konnte er wirklich nicht mehr. Seine letzten, schwachen Barrieren stürzten ein, Tränen brauchen aus seinen Augenwinkeln hervor, stürzten wie Bäche seine längst erhitzten Wangen herab.

Mit einem verzweifelten Schluchzer klammerte er sich an das schwarze Oberteil seines Gegenübers, vergrub sein Gesicht darin und konnte nicht verhindern, dass weiteres Schluchzen seiner Kehle entkam, sein ganzer Körper dabei erbebte.

Er wusste nicht mehr, was richtig und was falsch war. Konnte er Kuroganes Worten wirklich glauben? Konnte er ihm vertrauen? Oder würde das letztlich sein Verderben sein?

Er wusste im Moment nur, dass er einfach nicht mehr konnte, dass diese Last ihn schon viel zu lange beinah erstickt hätte. Und dass diese starken Arme, die sich gerade so behutsam um seine Schultern und seinen Oberkörper legten, etwas unglaublich Beschützendes hatten, dass sie ihm Trost spendeten und wohl das Einzige waren, woran er sich im Moment klammern konnte, um nicht den Verstand zu verlieren. Selbst wenn er später vielleicht daran zerbrechen würde.

Er konnte einfach nicht mehr.
 

TBC...
 

-~*~-
 

Ich hoffe, das Warten hat sich für euch wenigstens gelohnt und ihr seid nicht allzu enttäuscht. Über Kommis, Kritik und Meinungen freuen Klayr und ich uns natürlich so sehr wie immer und ich hoffe, dass ich nicht alle Leser verscheucht hab jetzt...

Herz im freien Fall

Leider schon wieder nur im 2-Monats-Rhythmus, aber zumindest pünktlich am Monatsanfang.

Und es gibt gleich noch eine schlechte Nachricht hinterher: Dieses Kapitel ist das letzte, welches bereits geschrieben ist, d.h. von nun an kann ich leider echt nicht mehr garantieren, wann ein neues Update folgen wird. Natürlich wird die FF nicht abgebrochen! Keinesfalls! Aber es wird unregelmäßig. Wer also noch nicht auf der ENS-Liste steht, aber gern informiert werden möchte - JETZT wäre eine gute Gelegenheit ;). Denn zumindest eines kann ich garantieren: Die kommenden drei Wochen sind Zwischenprüfungen und nebenbei hab ich so viel vor, dass ich nicht mal weiß, wie genau ich dafür lernen soll. Update-Fragen also wenn, dann bitte erst danach stellen.

Na ja, dafür gibts jetzt mal wieder ein bisschen mehr zu lesen. Das längste Kapitel bisher.

Klayr und ich wünschen euch also viel Spaß damit!
 

-~*~-
 

Disclaimer: Die Charas gehören (bis auf wenige Ausnahmen) nicht uns, sondern Clamp. Wir wollen kein Geld damit verdienen, sondern nur unterhalten.
 

Erstschreiber des Kapitels: Klayr_de_Gall

Kapitel: 16/26
 

-~*~-
 

„Zwei Dinge sind schädlich für jeden,

der die Stufen des Glücks will ersteigen:

Schweigen, wenn Zeit ist zu reden,

und reden, wenn Zeit ist zu schweigen.“

(Friedrich von Bodelschwingh)
 

-~*~-
 

Herz im freien Fall
 

„Und wo kommt dieses Ding jetzt hin?“

„Geduld, mein großer Freund, wenn es Euch beliebt, weise ich euch sogleich den Platz seines ursprünglichen Aufenthaltes.“

„Subaru, rutsch nicht auf den Murmeln aus!“

„Schaut mal, draußen sitzt eine dicke rote Katze!!“

„Och, wie süß!“

Fye beobachtete das Gewusel im Aufenthaltsraum des Kindergartens mit einem sanften Lächeln. Es war chaotisch und laut, aber für ihn gerade richtig, denn so lenkte ihn der Trubel von den beunruhigenden Gedanken in seinem Inneren ab.

Während die meisten Kinder sich nun ums Fenster drängten, um das sich putzende Tier zu beobachten, war Kurogane damit beschäftigt aufzuräumen. Anfangs hatte er sich noch zeigen lassen, wo was hin gehörte, aber mittlerweile schien er die Ansicht „Hauptsache weg“ zu vertreten und stopfte alles planlos in die Regale.

Na ja, wenigstens etwas.

Mit einem sanften Ausdruck in den blauen Augen betrachtete der Kindergärtner den anderen Mann verstohlen. Seit gestern hatte sich zwischen ihnen einiges geändert. Zwar versuchte Kurogane die Normalität aufrecht zu erhalten, aber sie spürten es beide. Keine bösen Blicke mehr oder ein zu lautes Wort, keine übermäßige Distanz.

Der Schwarzhaarige war immer in seiner Nähe und dafür war Fye ihm unendlich dankbar.

Denn es war nicht selbstverständlich, dass Kurogane heute wieder im Kindergarten blieb, um über ihn zu wachen. Natürlich, der grummelige Papa schob seine Tochter als Grund für seinen Aufenthalt vor, aber der Blondschopf wusste es besser. Und er verspürte jedes Mal ein warmes Kribbeln, wenn die Aufmerksamkeit des anderen wieder einmal länger als nötig auf ihm ruhte.

Zwar war es ungewohnt für Fye, aber der Gedanke, dass Kurogane alles über ihn wusste, beunruhigte ihn nun nicht mehr so sehr. Immerhin war der Schwarzhaarige gestern Abend bei ihm geblieben, hatte ihn nicht fort gejagt, auch wenn ihm klar sein musste, dass er sich und seine Tochter damit in Gefahr brachte, Fye weiterhin auch nur in seiner Nähe zu dulden.

Aber was tat er stattdessen?

Er tröstete ihn.

IHN!

Obwohl er für den Tod so vieler verantwortlich war...

Obwohl er es überhaupt nicht verdient hatte...

Kurogane hatte ihn in den Arm genommen und ihm gesagt, dass es nicht stimmte. Das ihm niemand die Schuld an diesen Dingen gab, außer er selbst. Ob es der Schmerz der Offenbarung oder diese ersehnten Worte es gewesen waren, die es dem blonden Mann schließlich nicht mehr möglich gemacht hatten, die Tränen weiter zurück zu halten, wusste er nicht. Und es war auch egal, viel wichtiger war, dass der sonst so distanzierte, abweisende Kurogane ihn festgehalten hatte. Solange, bis die Tränen nach einer scheinbaren Ewigkeit versiegt waren. Und schließlich hatte er neben der Couch gewacht, bis Fye vor Erschöpfung eingeschlafen war.

„Was ist, warum schaust du mich so an?“

Die ruhige stimme seines älteren Begleiters riss den Kindergärtner schließlich aus seinen Erinnerungen, und er schlug verlegen die Augenlider nieder.

„Entschuldige, ich wollte nicht starren.“

Er hatte gar nicht bemerkt, dass er Kurogane die ganze Zeit über angesehen hatte. Aber es fiel ihm in letzter Zeit schwer, den Schwarzhaarigen nicht zu betrachten. Er hatte etwas an sich, was die Blicke magisch auf sich zog. Seine gelassene Ausstrahlung, die überlegene Aura, und nicht zuletzt sein Aussehen...

„Schon okay. Also?“

„Nichts Wichtiges. Ich habe nur ein wenig nachgedacht.“

„Ah. – Hast du schon deine Managerin informiert?“

„... Nein, noch nicht...“, begann Fye vorsichtig. Musste er jetzt damit anfangen? Bis gerade eben hatte er diese Art von Problemen einigermaßen vergessen können und nun brachte Kurogane alles wieder hervor. Er sah ja ein, dass es wichtig war, aber...

„Dann kümmre dich endlich darum. Du weißt selbst, dass nichts besser wird, wenn du das ewig verschweigst. Gerade vor ihr.“

„Ich weiß ja, aber dennoch... Es ist schwer, darüber zu sprechen.“

„Das glaube ich dir, aber ich weiß auch, dass du es im Nachhinein bereuen wirst, sollte hier tatsächlich etwas passieren...“

Kurogane hatte Recht, das wusste Fye. Sollte...sollte den Kindern tatsächlich irgendetwas zustoßen, könnte er es sich niemals verzeihen, die Augen vor dieser Gefahr geschlossen zu haben. Voller Sorge und liebevoll zugleich ließ der Kindergärtner noch einen Blick durch die Runde schweifen, betrachtete all seine kleinen Schützlinge eingehend.

Wie zur Bestätigung seines Blickes fügte Kurogane an: „Keine Sorge, ich pass schon auf, dass alles in Ordnung ist, bis du wieder hier bist.“

Ja, die Kinder konnte er getrost für einige Minuten Kurogane überlassen, selbst wenn dieser sogar ohne Sakuras Hilfe auskommen musste, das wusste Fye. Seine Praktikantin war heute nicht da und würde auch morgen nicht kommen können. Shaolan-kun hatte mit seinem Studium derzeit so viel zu tun, dass sie um zwei freie Tage gebeten hatte, um ihrem Freund helfen zu können. Fast wünschte Fye sich, sie hätte sich länger Urlaub genommen, dann müsste er sich ihretwegen zumindest erst einmal keine Sorgen machen...

Bevor Zweifel und Sorge ihn wieder lähmten, nickte er Kurogane kurz zu und schickte sich endlich an, in die Küche zu gehen, wo das Telefon stand. Yuukos Nummer war schnell gewählt, sie war in der Kurzwahl eingespeichert, und bereits nach dem ersten Freizeichen hörte er ihre vertraut sachliche Stimme am anderen Ende der Leitung.

Noch einmal tief durchgeatmet, begann Fye endlich, ihr von dem Problem zu berichten.

„Yuuko-san...erinnerst du dich noch an meinen ehemaligen Arbeitgeber?“

„Dieser Ashura? Ja, was ist mit ihm?“

„Ich...hatte doch damals erzählt, dass er mir irgendwie Angst gemacht hat. Dass ich deshalb gekündigt habe und wegziehen wollte.“

„Ich erinnere mich. Aber warum bist du deswegen plötzlich so komisch? Hat er irgendetwas angestellt?“

Die Stimme seiner Managerin klang deutlich alarmiert.

„Nein, das nicht...noch nicht. Aber...na ja, ich hab ihn neulich vor meiner Wohnung gesehen und seitdem von einer guten Freundin nichts mehr gehört und... Vielleicht bilde ich mir auch alles nur ein.“

Ein gekünsteltes Lachen folgte, doch dieser Versuch, seine Geschichte weniger bedenklich klingen zu lassen, scheiterte kläglich, das merkte sogar Fye selbst.

„Aber trotzdem. Ich...habe irgendwie Angst, dass das eine mit dem anderen zusammenhängt und vielleicht...“

Wieder eine kurze Pause. Das Folgende kostete Fye so viel Überwindung, dass er all seinen Mut dafür zusammenkratzen musste.

„Vielleicht... Ich habe Angst, dass ich die Kinder vielleicht in Gefahr bringen könnte, wenn ich weiter hier arbeite...“

Der letzte Satz wurde immer leiser, bis Yuuko am Ende wohl nur noch erahnen konnte, was der Kindergärter da sagte, als dass sie es wirklich hätte verstehen können.

Eine ganze Weile blieb es still am anderen Ende der Leitung. Scheinbar nahm sie seine Lage ernst und überlegte nun selbst fieberhaft nach einer Lösung. Fye fühlte sich mehr und mehr, als säße er auf einer heißen Herdplatte, von der er einfach nicht herunter kam. Wie lange sollte er das bloß noch durchhalten...?

„Nun...“, meldete Yuuko sich schließlich zögerlich, „Angenommen, du liegst mit deinem Gefühl richtig und es besteht wirklich Gefahr für die Kinder, dann halte ich es für das Beste, wenn du erst einmal so weiter machst wie bisher.“

...

Hatte er sich gerade verhört? Hatte Yuuko tatsächlich gesagt, er kann weiter arbeiten gehen?

„Wenn du dich jetzt versteckst oder versuchst zu fliehen, würde er vielleicht den Kindern schaden, um dich dadurch wieder hervorzulocken. Wenn du hier bleibst und so weiter machst wie bisher, würde ihm das keinen Grund geben, ebenfalls zu handeln. Eine plötzliche Initiative würde das nur provozieren.“

„Ich verstehe...“

Ein wenig atmete Fye innerlich auf, doch wirklich besser fühlte er sich davon nicht. Hieß das jetzt, alles würde so weitergehen wie bisher und er müsste ewig mit dieser Angst leben? Dass Chii vielleicht wirklich nicht zurück kam? Das irgendwann vielleicht der nächste Mensch verschwand, den er gern hatte? Einfach so? Oder dass er selbst nur eine weitere Gnadenfrist erhalten hatte?

„Aber so kann es natürlich nicht weitergehen“, unterbrach Yuuko seine Gedanken, als hätte sie sie lesen können. „Ich habe das Gefühl, nicht das erste Mal in so einem Zusammenhang von diesem Ashura zu hören. Versuch, so gut wie möglich durchzuhalten. Ich werde versuchen, etwas über diesen Menschen in Erfahrung zu bringen. Ich will weder, dass meine Angestellten noch eines der Kinder noch irgendwer sonst in Gefahr gerät.“

„Danke!“

Der Blonde bekam regelrecht weiche Knie, so gerührt war er von der Führsorge seiner Managerin. Zumindest in diesem Moment hatte er das Gefühl, dass ihn das Gewicht auf seinen Schultern nicht mehr zu zerquetschen drohte.

„Ich kann dir nichts versprechen, Fye, aber ich tu mein Möglichstes.“
 

Einigermaßen beruhigt vom Ausgang des Telefonats kehrte Fye ins Wohnzimmer zurück, was Kurogane auch sogleich bemerkte und ihm einen fragenden Blick zuwarf. Mit einem Nicken gab der Blonde ihm zu verstehen, dass soweit alles in Ordnung war und mit einem ebenfalls angedeuteten Nicken gab der Schwarzhaarige zurück, dass er verstanden hatte, bevor er sich wieder seiner Tochter zuwandte.
 

Inzwischen war es 15:00 Uhr vorbei und nach und nach wurden die Kinder von ihren Eltern abgeholt, Fye verabschiedete wie immer jedes herzlich. Seit dem Telefonat mit Yuuko fürchtete er nicht mehr so sehr, dass er die Kleinen morgen bereits nicht wieder sehen würde, doch gleichzeitig schmerzte es ihn unendlich, dass eine gewisse Gefahr, vor allem für die Kleinen, dennoch bestand und dass er selbst der Grund war, weswegen er sich nun solche Sorgen um sie machen musste. Dennoch, er brauchte sie. Ohne die lebenslustigen Kleinkinder und seinen stillen Beschützer, der immer ein wachendes Auge auf ihn hatte, hätte die Angst ihn bereits zerfressen. Manchmal konnte er durch sie all das fast vergessen.

Aber leider nur fast.
 

„Na endlich...!“

Erleichtert schloss Kurogane die Tür hinter dem letzten Mutter-Sohn Gespann, das den Kindergarten verlassen hatte, und machte gedanklich drei Kreuze. Er hatte sich heute zwar wirklich gut gehalten, dennoch, seine Nerven lagen langsam aber sicher blank. Mit Tomoyo und Fye allein war es okay, aber an jedem Bein vier Bälger hängen zu haben, wurde ihm auf die Dauer echt zu stressig. Wie hielt der blonde Wuschelkopf das nur aus?

Im Gegenteil, der Stress schien ihm sogar richtig gut getan zu haben. Der junge Kindergärtner wirkte entspannter und hatte kaum unter Panik gelitten. Einzig als sie eine halbe Stunde draußen im Hinterhof gespielt hatten, war es schlimm gewesen, aber Fye war wenigstens nicht durchgedreht.

„Fahren wir jetzt heim, Papi?“

„Seit wann hast du’s denn so eilig, aus dem Kindergarten wegzukommen?“

Leicht verwundert nahm Kurogane seine vierjährige Tochter auf den Arm, woraufhin diese vergnügt kicherte, und sich zufrieden an ihm schmiegte,

„Naja... Ich bin trotzdem gern hier!“

Natürlich musste sie sich erst einmal rechtfertigen, damit auch ja kein falsches Bild entstand. Aber alle Anwesenden wussten schließlich, wie gern sie in den Kindergarten kam, um mit den anderen gleichaltrigen Kindern die Zeit zu verbringen.

„Es ist nur so... Weil Nii-chan doch jetzt bei uns ist...und du auch da bist...ist es mit euch zusammen schöner!“

Aus dem Augenwinkel beobachtete der Schwarzhaarige, wie besagter neuer Mitbewohner in seiner Bewegung innehielt – er hatte gerade das lieblos eingeräumte Spielzeug etwas in den Regalen sortiert – und sich dann sehr schnell wieder abwandte.

Kurogane hätte schwören können, der Blondschopf war errötet. ... Oder vielleicht doch nur Einbildung?

„Nun, dann hilf doch noch etwas mit aufräumen, umso schneller können wir fahren.“

„Okay!“

Fröhlich summend ließ sich das dunkelhaarige Mädchen wieder absetzen und eilte Fye zu Hilfe, der sie mit einem warmen Lächeln empfing und ihr erklärte, was es noch zu tun gab. Der Herr Papa gönnte sich derweil eine Pause. Die hatte er sich redlich verdient!

Nach einer viertel Stunde war dann wirklich alles erledigt, die letzte Schüssel abgewaschen, Mokona ausreichend mit Futter versorgt und die Rollläden heruntergelassen, sodass sich das ungleiche Dreiergespann in den schwarzen BMW setzen konnte.

Kurogane fiel sofort auf, dass sein blonder Begleiter, kaum dass sie an der frischen Luft waren, wieder nervös wurde. Ständig suchten seine Augen die Umgebung ab, und er zuckte bei jedem Schatten zusammen, als könnte der Mann, der ihn jagte, gleich daraus hervorspringen.

Natürlich war diese Vorstellung lächerlich, und Kurogane stieß seinen Nebenmann regelmäßig mit dem Ellenbogen an, wenn dieser sich gar zu sehr in etwas hinein zu steigern schien. Es war aber auch zu offensichtlich, wenn er dabei immer blasser wurde, und seine Hände hektisch in den Sitz oder den Stoff seiner eigenen Hose krallte. Viel schien ihn in solchen Momenten nicht mehr von einem hysterischen Anfall zu trennen...

Doch zum Glück für ihrer aller Seelenheil hielt der Blondschopf durch, bis Kurogane seinen Wagen vor dem Apartmenthaus geparkt hatte und flüchtete sich, kaum das der Motor aus war, in den Schutz des schattigen Vordereingangs.

Tomoyo hielt es wohl für ein Spiel, denn sie gesellte sich giggelnd zu ihm und drückte sich eben so wie ihr Kindergärtner an die kühle Wand, während ihr Vater nur entnervt die Augen verdrehen konnte. So ein schreckhaftes Verhalten war doch in so einer banalen Situation nicht mehr normal, oder?

Gelassen warf er noch einen Blick in den Briefkasten, in dem sich zu seinem Erstaunen nicht nur Werbung, sondern auch ein Brief befand, aber bevor er diesen genauer in Augenschein nehmen konnten, lenkte ihn ein leidendes Wimmern ab. Fye schien so langsam wirklich die Kontrolle zu verlieren.

„Schon gut.“

Seufzend schloss er die Eingangstür auf und war der Meinung, der Jüngere murmelte ihm einen leisen Dank zu, als er an ihm vorbei in den Flur huschte und hektisch den Aufzugsknopf drückte.

Erst als sie oben in der Wohnung angekommen waren und die Tür mit einem leisen Klicken ins Schloss gefallen war, atmete der blonde Mann erleichtert auf und sank etwas in sich zusammen. Es war sicher ansträngend, immer so auf der Hut zu sein, auch wenn Kurogane das übervorsichtige Verhalten noch immer unangebracht fand. Aber er stand ja zu vielen Dingen ganz anders, schon allein aufgrund seiner beruflichen Laufbahn und der genossenen Ausbildung. Wahrscheinlich war es sogar normal, dass ein Mensch wie Fye in solch einer Zwickmühle gewisse Paranoia zu entwickeln begann.

Kopfschüttelnd warf er die Post in sein Arbeitszimmer und zielgenau auf seinen Schreibtisch, bevor er seiner Tochter und ihrem Mitbewohner auf Zeit in die Küche folgte.

Fye und Tomoyo hatten sich darauf geeinigt, Tee zu kochen und debattierten nun freundschaftlich darüber, welche Sorte sie nehmen wollten.

„Sag mal Kuro-wanko, wieso hast du eigentlich so viele Teesorten? Das hatte ich gar nicht erwartet.“

Sicher in den vier Wänden und der beschützenden Nähe des Schwarzhaarigen taute der Kindergärtner langsam wieder auf und schenkte seinem Gegenüber bei der Frage ein zaghaftes und ehrlich interessiertes Lächeln, was aber etwas enttäuscht wirkte, als dieser bloß abwehrend die Schultern zuckte.

„Die hat Soma gekauft!“, rief Tomoyo dazwischen. Ganz stolz, dass sie etwas zu der Unterhaltung beitragen konnte, zupfte sie am Oberteil ihres großen Freundes. „Weil sie sagt, dass Tee gesund und lecker ist! Und ich finde das auch, deshalb hat sie sooooo viele Sorten für mich ausgesucht!“

„Ach so? Das ist aber sehr lieb von ihr.“

„Stimmt. Soma ist ja auch toll!“

Es folgte eine kurze, ziemliche bedeutungsschwere Pause, in der Fyes Blick auf dem Schwarzhaarigen ruhte, der mit dem Rücken zu ihnen gerade damit beschäftigt war, sich Kaffee aufzusetzen. Dann fiel auch bei Tomoyo der Groschen.

„Fast genauso toll wie Papi, aber nur fast!“

„Amen, Tomo-chan!“

Kurogane schüttelte kaum merklich den Kopf und seufzte. Er war lange nicht mehr auf dem Niveau, dass er sich so etwas wirklich zu Herzen nahm, denn mittlerweile hatte er verstanden, wie sehr seine Tochter ihn liebte und an ihm hing. Der schlechte Start zwischen ihnen tat schon lange nichts mehr zur Sache. Dennoch freuten ihn die Worte natürlich, sodass er dem dunkelhaarigen Mädchen ein kleines Lächeln schenkte.
 

Leise vor sich hin summend, lehnte sich Fye auf der Couch zurück. Im Moment war er wirklich recht zufrieden mit sich und der Welt, zumindest so lange, wie seine Gedanken sich nur um die Geschehnisse hier in dem geräumigen Apartment drehten.

Kurogane war trotz seiner griesgrämigen Art nach wie vor nett zu ihm und ein recht zuvorkommender Gastgeber und hatte sich überraschenderweise auch noch als gar nicht so schlechter Koch herausgestellt. Und beim Abendbrot hatte der Blondschopf gleich noch etwas Neues herausgefunden: Kurogane mochte sein Essen scharf. Sehr scharf, den Chili-Mengen nach zu urteilen, die er über dem Hühnerfrikassee verteilt hatte.

Dass er schon wieder etwas über den verschlossenen Mann herausgefunden hatte, machte Fye sogar ein wenig glücklich, und versonnen betrachtete er das flimmernde Fernsehbild. Ohne es wirklich wahrzunehmen, spielte sich vor seinem inneren Auge jedoch ein ganz anderer Film ab.

Nur umsehen wagte er sich nach wie vor nicht richtig in der fremden Wohnung. Dabei wäre das die Gelegenheit gewesen. Kuro-rin brachte gerade sein Töchterchen ins Bett und las ihr sicherlich auch wieder eine Gute-Nacht-Geschichte vor, also hätte er nach Herzenslust etwas herumstöbern können.

Aber er tat es nicht.

Weil er wusste, dass Kurogane, würde er seinen Gast dabei erwischen, sicherlich ausflippen würde. Und ihn vielleicht auch noch aus der Wohnung warf. Und das war das Schlimmste, was Fye sich im Augenblick vorstellen konnte. Ganz allein draußen würde er durchdrehen und sich womöglich vor das nächstbeste Auto stürzen, um der nagenden Angst zu entkommen.

Außerdem war es unhöflich. Während der Schwarzhaarige weg war, hatte er nicht das Recht, auch nur einen Finger zu rühren

Also sah er doch lieber weiter fern. Und trank den restlichen Tee von vor zwei Stunden.

In den Nachrichten kamen keine Neuigkeiten über Ashura oder über sonst irgendwelche verdächtigen Vorkommnisse in der Welt der Wirtschaft und im Anschluss begann irgendein Spielfilm.

Wo blieb Kurogane denn nur?

Nun war es schon viertel nach acht, und er war noch immer nicht aus Tomoyos Zimmer zurück. Konnte die Kleine vielleicht nicht schlafen? Dabei hatte sie doch wirklich müde ausgesehen.

Allmählich wurde Fye unruhig.

Es war schon fast eine Stunde her, dass sich die Kleine von ihm verabschiedet hatte, und seither hatte er weder von ihr noch von ihrem Vater etwas gesehen oder gehört. Und dass Kurogane im Zimmer seiner Tochter an ihrem Bett eingeschlafen sein könnte, erschien ihm zu obskur, um es wirklich in Betracht zu ziehen.

Nervös spielte er mit einer Strähne seines blonden Haares.

Und wenn er einfach mal nachsehen ging?

Kurogane würde ihn schon nicht rauswerfen, nur weil er hier herumlief, denn schließlich hatte er es ihm das nie direkt verboten.

Von diesem Argument bestärkt, erhob sich der Blondschopf schnell, bevor ihn zu vieles Nachdenken nur wieder entmutigte, und betrat den Flur. Tomoyos Zimmertür lag gleich zu seiner Linken, und er lauschte aufmerksam daran, aber es war kein Mucks zu hören. Sie schien wirklich zu schlafen. Und ihr Vater?

So langsam war der blonde Kindergärtner wirklich beunruhigt.

Um so größer dann seine Erleichterung, als er den schwarzhaarigen Mann schließlich nur einige Meter weiter durch die geöffnete Tür zu seinem Arbeitszimmer erspähte. Doch kurz darauf legte sich seine Stirn schon wieder in sorgenvolle Falten.

„Kurogane...?“

Der breitschultrige Mann starrte wie in Trance auf ein Blatt, das er in den Händen hielt, und reagierte nicht einmal, als er angesprochen wurde. Im fahlen Licht der Schreibtischlampe wirkte er ungewohnt blass. Besorgniserregend blass.

Nach einem kurzen Zögern wagte Fye sich langsam ins Zimmer, versuchte noch einige Male die Aufmerksamkeit des anderen zu erhaschen. Erst als sich die roten Augen ausdruckslos ihm zu wandten, ihm signalisierten, dass er nicht gänzlich unbeachtet bleib, traute sich der Blondschopf, an den Größeren heranzutreten.

„Alles in Ordnung?“, erkundigte er sich vorsichtig und berührte den muskulösen Oberarm, der sich kühl unter seinen Fingerspitzen anfühlte. Dass sein Gegenüber solch eine vertraute Geste überhaupt zuließ, zeigte deutlicher als alles andere, dass mit ihm etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Und nach all dem, was Kurogane für ihn getan hatte, war es wohl jetzt an dem Blonden, diesen Gefallen zurückzugeben, ihm zuzuhören und beizustehen.

„Was liest du denn da?“

Möglichst neutral versuchte er erneut, den matten Blick auf sich zu ziehen, um ein Gespräch in die Gänge zu bringen, was ihm hoffentlich Klarheit bringen würde, aber die einzige Reaktion darauf war Schweigen. Nicht einmal angesehen wurde er.

„Kurogane?“

„...“

Als erneut keine deutbare Reaktion auf sein Drängen kam, entschied Fye, stärker in die Offensive zu gehen. Er griff nach dem Papier, das Schuld an Kuroganes Zustand zu sein schien, und überraschenderweise ließ er es sich widerstandslos aus den Fingern ziehen, sodass er es nun selbst lesen konnte.

Vielleicht wollte der Schwarzhaarige ja, dass er es las? Weil er von sich aus nicht darüber sprechen konnte, was ihn bedrückte...

Schweigend überflog er die wenigen Zeilen.

Fyes blaue Augen weiteten sich zunehmend, als er langsam realisierte, dass er hier einen gerichtlichen Beschluss des Jugendamtes in den Händen hielt. Er musste es mehrmals lesen, um den Inhalt gänzlich zu erfassen, und am Ende zitterten seine Finger heftig.

„Jugendamt... wegen eines Hinweises der Mutter... mögliche Unzurechnungsfähigkeit... sofortige Entziehung des Sorgerechts...“ hauchte er fassungslos die Worte, die sich am tiefsten in sein Gedächtnis gebrannt hatten. Nun verstand er den apathischen Zustand des anderen.

Wie musste sich ein liebender Vater fühlen, wenn ihm plötzlich per Post mitgeteilt wurde, dass ihm das Sorgerecht für seine Tochter aus heiterem Himmel per richterlichem Beschluss aberkannt worden war?

Aber warum? Warum taten die so etwas? Er kannte Kurogane, er konnte sehen, wie dieser mit seiner Tochter umging. Warum sollte er nicht im Stande sein, sich um sie zu kümmern? Dabei sah sogar ein Blinder, wie sehr er sie liebte.

Warum. Warum, WARUM?

„Oh mein Gott, Kurogane. Was soll das? Wieso schreiben sie dir einen solchen Brief? Du bist doch ein guter Vater! Ich versteh das nicht.“

„Du musst das auch nicht verstehen.“

Die Antwort kam so grantig, dass Fye erschrocken zusammenzuckte. Kurogane, der gerade noch so geschockt und abwesend gewirkt hatte, schien auf einmal gereizt. Eine Gefühlswandlung, die ihm ganz und gar nicht zusagte.

„Aber...“

„Es ist kompliziert und geht dich einen scheiß Dreck an. Okay? Also halt einfach die Klappe.“

„Aber vielleicht kann ich dir helfen...“

Warum war Kurogane plötzlich so stur? Fye wollte ihm doch nur helfen, etwas von der erhaltenen Freundlichkeit zurückgeben. Und wenn der Schwarzhaarige keine Hilfe wollte, wieso hatte er ihn dann überhaupt diesen Brief lesen lassen?

„Das glaub ich kaum. Bekomm erst mal dein eigenes Leben auf die Reihe!“

Das saß, und tat so richtig weh.

Fye biss sich verzweifelt auf die Unterlippe.

„Sag so was nicht!“, versuchte er sich verzweifelt zu verteidigen, sah sich plötzlich in die Enge getrieben von dem Zorn, der sich plötzlich gegen ihn statt gegen die Gutachter vom Jugendamt richtete. Was spielte sein Leben für eine Rolle, wenn das Kuroganes ebenfalls in die Brüche zu gehen drohte? Und viel schlimmer noch, wenn Tomoyo dabei unglücklich gemacht wurde!

„Das hat absolut nichts mit dieser Sache und Tomoyo zu tun.“

„...“

„Bitte, Kurogane. Vertrau mir. Erzähl mir, was los ist. Ich möchte das alles verstehen. Sie haben kein Recht, dir Tomoyo wegzunehmen. Ich kann doch sehen, wie du mit ihr umgehst! Du bist der beste Vater, den man sich nur wünschen kann!“

Gereizt drehte sich der ältere Mann von ihm weg, brummte etwas, das Fye kaum verstand, was sich für ihn aber wie: „Du hast ja keine Ahnung...“, anhörte.

„Dann erklär es mir!“

„Ich sagte ‚nein’!“

Er wollte nicht aufgeben. Das war er diesem Dickkopf schuldig.

„Bitte! Ich möchte dir und Tomoyo doch nur helfen!“

Nur dass es dieser Dickkopf sehr ernst meinte, machten die nächsten Worte dem Blonden unmissverständlich klar, und er schnappe nach Luft, als ob ihm jemand brutal in den Magen geschlagen hätte.

„Sag mal, kapierst du’s nicht? Ich brauche deine Hilfe nicht! Du hast keine Ahnung wovon du redest und ich hab mein Leben bisher ganz gut allein in den Griff bekommen, also versuch nicht, mir gute Ratschläge zu geben!“

Zutiefst verletzt ließ Fye den Blick sinken. Er wollte nicht aufgeben, bis er endlich eine akzeptable Antwort aus seinem Gegenüber herausbekommen hatte, aber die Worte taten so weh...

Aber war es nicht verständlich, dass Kurogane ihm nicht vertrauen wollte? Immerhin war er ein Mörder und hatte unzählige Menschenleben auf dem Gewissen. Niemand wusste wie viele, nicht einmal er.

Also war es Kuroganes gutes Recht, ihm keine Auskunft zu geben.

Wie hatte er nur annehmen können, dass sie jetzt so etwas wie Freundschaft oder Vertrauen verband? Kurogane hatte ihm nur geholfen, weil seine Tochter sonst traurig gewesen wäre, das war alles. Nur weil er ihr Kindergärtner war und es sie glücklich machte, mit ihm zu spielen, wurde er von Kurogane überhaupt noch hier geduldet.

Er war so dumm gewesen...

Dabei hatte er dem anderen Mann vertraut, hatte geglaubt, in seiner Nähe Schutz und Geborgenheit zu finden. Aber einmal mehr war Fye enttäuscht worden. Seine Erfahrung hatte ihn doch längst gelehrt, dass er niemals wieder irgendjemandem vertrauen sollte.

Und doch hatte er geglaubt, dass er sich wenigstens dieses eine Mal nicht getäuscht hatte.

Wie dumm er doch war.

So jemand wie er hatte einfach kein Recht darauf, glücklich zu sein, so einfach war die Antwort.

„Entschuldige...“, flüsterte er tonlos.

Dann verließ er schweigend das Zimmer und ging bemüht gefasst zum Sofa, um sich unter die Decke zu kuscheln. Er wollte nicht, dass Kurogane die Tränen bemerkte, die heiß über seine Wangen rannen. Er weinte in den letzten Tagen viel zu viel, der Schock saß einfach noch zu tief, sein Herz war zu entblößt.

Und das hier war der Preis dafür.

Einmal mehr war er verletzt worden, und diese Gewissheit stach wie tausend spitze Nadeln in seiner ohnehin geschundenen Seele.

Er rührte sich nicht und gab auch keinen Laut von sich, als er die schweren Schritte des Hausherren hörte, die einen Moment in der Stubentür zu verharren schienen, bevor sie ihren Weg Richtung Küche fortsetzten und die Tür sich schloss, somit das Licht aussperrte.

Schniefend tatstete der Blondschopf nach der Fernbedienung und schaltete das TV-Gerät ab.

Er wollte allein sein. Mit sich und seinen Gefühlen.

Vielleicht würde er so schneller verstehen, was passiert war, warum sein Herz ein weiteres mal in Scherben lag. Und diesmal fühlte es sich noch schlimmer an als bei Ashuras Verrat. Tausend mal schlimmer.

Warum das so war, wusste er selbst nicht, aber es war auch egal.

Der Schmerz war alles, was er spürte.

Die Gewissheit und die Angst, Kuroganes Vertrauen nun ein für alle Mal verloren zu haben und weder in seiner Nähe noch in seiner Wohnung länger geduldet zu werden, ließen die Tränen lange Zeit nicht mehr versiegen.

Erst viel später schlief er vor Erschöpfung ein.

Mit brennenden Augen und blutendem Herzen.
 

In sich gekehrt verharrte Kurogane in einer Ecke des großen Aufenthaltsraumes, dabei alles mehr oder weniger wachsam überblickend. Wo seine Blicke und seine Sorgen gestern noch Fye und dessen Wohlergehen gegolten hatten, hingen sie heute an Tomoyo. Er verfolgte alles, was sie tat, und verspürte bei jedem Lachen oder Lächeln auf dem kindlich hübschen Gesicht einen schmerzhaften Stich in der Brust.

Als er suspendiert worden war, hätte er das niemals für möglich gehalten, aber die Kleine hatte sein Herz im Sturm erobert und sich dort einen festen Platz gesichert. Das kleine Kind, was ihm anfangs noch so anstrengend und fremd erschienen war, war zu seinem Ein und Alles geworden. Sein Schützling, sein Lebenssinn.

Seine Tochter.

Und nun wollten die sie ihm wegnehmen?

Diese weltfremden Spießer hatten doch keine Ahnung!

Natürlich konnte Kurogane den Aufruhr irgendwo verstehen aufgrund seiner Vorgeschichte, aber sollte das Jugendamt nicht erst einmal einen Betreuer zu ihnen schicken, der überprüfte, ob es Tomoyo wirklich schlecht ging, anstatt einfach so zu verfügen, sie ihm wegzunehmen? Am Ende durfte er sie vielleicht nie wieder sehen...

Das würde der Schwarzhaarige nicht verkraften. Nicht mehr, wo er sie jetzt so sehr ins Herz geschlossen hatte. Kurogane war kein Mensch, der sein Herz schnell für andere öffnete oder gar Liebe empfand, doch wenn ihm einmal jemand so nah gekommen war, dann behütete er diese Bande um jeden Preis und ließ sie wachsen, gedeihen, zu einem Fixstern in seinem Leben werden.

„Duhu...?“

Kurogane registrierte zwar, das er gemeint war, reagierte aber nicht sofort, weil die Information erst einmal an sein Gehirn weitergeleitet werden musste, um ihn aus seinen schwermütigen Gedanken zu rütteln.

So war seine Antwort auch nur ein etwas verspätetes, lahmes „Hm?“

„Du, Papa?“, versuchte Tomoyo erneut ihr Glück und ruckelte an seinem Knie, bis er sie endlich ansah und sogar etwas lächelte. Es war gänzlich neu für das Mädchen, das ihr Vater so unaufmerksam war. Normalerweise entging ihm doch nichts.

„Ja, Kleines?“

„Gehen wir nun gar nicht mehr mit dem Hund spazieren?“

„Dem Hund?“

„Hataki.“

„Ach so. Wieso fragst du, Tomoyo?“

„Naja...wenn du und Nii-chan dabei seid, ist es eigentlich ganz lustig...“

Kurogane blinzelte auf die Worte seiner Tochter überrascht.

„Wirklich? Hast du keine Angst mehr vor ihm?“

„Doch! Aber...nicht mehr ganz so dolle“, zirpte Tomoyo erschrocken, und drückte sich an die Beine ihres Vaters.

„Er ist nicht so böse wie der Hund, der Fye-nii-chan gebissen hat. Und eigentlich...eigentlich ist er auch ein bisschen niedlich. Darum.“

Sie klang ein wenig trotzig, als dachte sie, ihre Worte seien etwas Schlimmes, aber ihr Vater konnte nur darüber lächeln. Es freute ihn wirklich, dass gerade seine Tochter so etwas von sich aus sagte, denn es zeigte ihm doch, dass sie ihre Angst vor Hunden, oder zumindest vor Hataki, ein wenig überwunden hatte.

„Und außerdem...wenn Nii-chan dabei ist, dann macht es mir wirklich fast nichts mehr aus.“

Sofort verhärteten sich Kuroganes Gesichtszüge etwas, als die Sprache auf Fye kam. Fing jetzt schon die Kleine an, ihm wegen des Streits versteckte Vorwürfe zu machen? Es reichte doch, dass der Blondschopf ihm schon den ganzen Tag auswich, verschreckt und niedergeschlagen seine Gegenwart mied, so gut es eben ging, auch wenn er offensichtlich lieber in seiner Nähe wäre, um Schutz zu suchen.

Man sah Fye seine Zerrissenheit bei jedem Blick an.

Und inzwischen tat es Kurogane in der Seele weh, ihn so zu sehen und zu wissen, dass es seine Schuld war. Auch wenn er sich diese Schuldgefühle nicht erklären konnte und seine Vernunft behauptete, dass sie nach wie vor nichts weiter als zufällige Bekannte waren, die nichts miteinander verband, er dem anderen nichts schuldig war, taten ihm seine Worte von gestern Leid. Am liebsten wäre er zu ihm gegangen und hätte ihn umarmt, so wie vor zwei Tagen, als der Blonde sich seinen Schmerz von der Seele geweint hatte. Aber dieser Wunsch war so befremdlich. Außerdem sah er nicht ein, warum er sich entschuldigen sollte. Hätte Fye nicht immer weiter nachgebohrt, als er nicht darüber reden wollte, wäre es nie zu dieser Konfrontation gekommen. Aber nein, der Herr hatte ja nicht hören wollen. Wie immer.

Und nun steckten sie beide in der Zwickmühle.

Aus Angst, die Diskussion vom Abend wieder aufzugreifen und es nur noch schlimmer zu machen, konnten sie sich weder in die Augen blicken noch ein Wort mit einander wechseln.

Was für eine vertrackte Situation...

„Also, Papa? Gehen wir bald wieder mit Hataki und Fye-nii-chan zusammen spazieren? Das wär doch toll!“

„Ich weiß nicht so recht, Tomoyo“, wich ihr Vater der Frage aus. „Im Moment habe ich ziemlich viel zu tun und dafür gerade gar keine Zeit“.

Enttäuscht blinzelte sie aus ihren violetten Augen zu ihm hinauf, was es schwer machte, standhaft zu bleiben.

„Tut mir Leid, Liebes. Aber ich verspreche dir, dass wir wieder gehen, sobald ich nicht mehr so viel um die Ohren habe, okay?“

„Versprochen?“

„Versprochen.“

Ein wenig einsichtiger gestimmt, nickte die Kleine, bevor sie wieder zu ihren Spielgefährten zurückkehrte und ihren Vater seinen Gedanken überließ.

Allerdings war es diesem nun nicht mehr möglich, seine Gedanken über Fye so ohne weiteres zu ignorieren, nachdem Tomoyo ihre Streitigkeiten und die kühle Atmosphäre zwischen ihnen auf eine kindlich-indirekte Art und Weise ein wenig geschlichtet hatte.

Es war nicht das erste Mal heute, dass ihm bewusst wurde, wie mies er sich gestern verhalten hatte. Fye anzuschreien, obwohl dieser nur versucht hatte zu helfen. Dabei wäre es, wenn er es jetzt mit etwas Abstand betrachtete, mehr als fair gewesen, wenn der Blondschopf die Wahrheit erfuhr.

Schließlich hatte Kurogane es ihm immer vorgeworfen, dass er nicht über sich und seine Vergangenheit sprach und aus allem ein Geheimnis machte, aber am Ende war er selbst es, der sich in Schweigen hüllte, obwohl Fye doch nur für ihn alles offen gelegt hatte.

Eher unbewusst hatte er seinen nachdenklichen Blick auf den Blondschopf gerichtet und bemerkt, dass dieser sich sofort mit hängendem Kopf wegdrehte, als er bemerkte, dass er beobachtet wurde. Lieber beschäftigte er sich wieder mit seinen kleinen Schützlingen, auch wenn sein Lächeln heute noch gestellter und so schmerzhaft aufgesetzt wirkte, dass es sogar Kurogane weh tat. Und sein hektisches Gebaren, das so aussah, als bekäme er langsam Panik, hatte sich wieder verschlimmert. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit zog er sich eine Ecke des Aufenthaltsraumes zurück, die von den Fenstern aus nicht einsehbar war. Wenn das nicht möglich war, dann versicherte er sich mit gehetzten Blicken pausenlos, dass draußen niemand stand und ihn womöglich beobachtete.

Und ab und an, wenn Fye zu denken schien, Kurogane bemerkte es nicht, ruhten seine sehnsuchtsvollen blauen Augen auf ihm und er schien nichts mehr zu wollen, als sich in Kuroganes Schutz spendende Nähe zu flüchten.

Doch gleichzeitig hatte er Angst davor und das verletzte Kurogane.

Dennoch, er war selbst schuld.

Warum hatte er sich gestern auch nicht zügeln können? Vielleicht hatte der Kindergärtner ja Recht und konnte ihm wirklich helfen? Auch wenn Kurogane sich nicht vorstellen konnte wie. Trotzdem, eine Chance hatte er eigentlich verdient. Es konnte ja wirklich sein, dass er selbst etwas Wichtiges übersehen hatte, weil er zu aufgewühlt war. Welcher Vater wäre das nicht, wenn man ihm androhte, ihm seine Tochter wegzunehmen – und das grundlos.

...

Fast grundlos.

Aber er hatte Fye mittlerweile doch gut genug einzuschätzen gelernt, um wissen zu müssen, dass ihn ein solch heftiger Ausraster ungemein verletzte, vor allem in seinem derzeitigen Zustand. Und dass er sich infolge dessen von Kurogane fern halten würde, aus Angst, erneut abgewiesen zu werden.

Je länger Kurogane darüber nachdachte, umso schlechter fühlte er sich.

Ja, er hatte einen Fehler gemacht. Da bot ihm jemand Hilfe an und er jagte ihn fort...

Fye konnte sich nicht einmal mehr in seiner Nähe sicher fühlen und wirkte nun nur noch verlorener, was den Älteren bedrückt den Blick senken ließ.

Er war so ein Idiot!

Kurogane wusste, dass dieses Wort noch viel zu schwach war, um seiner Dummheit gerecht zu werden. Hätte er nur ein klein wenig nachgedacht und sich zurückgehalten, wäre das alles nicht passiert und der Blonde könnte wenigstens hier Ruhe finden, statt nun wie ein gehetztes Tier herumzuschleichen, das wusste, dass es in der Falle saß und nur noch auf den Räuber warten konnte.

Ob Fye ihn jetzt auch als Bedrohung empfand?

Je mehr Kurogane daran dachte, desto stärker nagte es an seinem Gewissen.

Vielleicht sollte er doch versuchen, mit Fye zu reden - was hatte er schon zu verlieren?

Wenn er allein es nicht schaffte, Tomoyo zu beschützen, vielleicht schafften sie es ja gemeinsam.

Und außerdem...

Ja, außerdem wollte er nicht, dass der blonde Querkopf ihn mied, egal wie nervig er manchmal auch war. Jetzt, wo er plötzlich nicht da war, fehlte einfach etwas.
 

„Fye-nii-chan?“

Ertappt zuckte Fye zusammen. Er hatte Tomoyo gar nicht näher kommen hören, weil er zu sehr damit beschäftigt gewesen war, den Garten vor dem Gebäude nach mutmaßlichen Feinden abzusuchen, und erschrak jetzt ziemlich.

„Ja, Tomo-chan?“, fragte er dennoch und drehte sich zu ihr herum, nachdem er ein breites, aber ebenso falsches Grinsen auf seine Lippen gezaubert hatte.

Hoffentlich sah Kurogane nicht jetzt her...!

„Du siehst so traurig aus... ist alles okay?“

Überrascht blickte der Kindergärter die Vierjährige an. Das war mal wieder typisch Tomoyo. Sie bemerkte einfach alles... Dabei hatte er sich extra bemüht, sich vor den Kindern keine Blöße zu geben. Dass es vor Kurogane nicht möglich war, irgendetwas zu verstecken, war ihm inzwischen sowieso klar, aber wenigstens seine Schützlinge wollte er damit nicht auch noch belasten.

Doch seine Bemühungen schienen vergebens gewesen zu sein.

„Aber nicht doch, Liebes“, versuchte er, sich mit einem seiner charmantesten Lächeln herauszureden. „Das hast du dir sicher nur eingebildet, wie du siehst, ist bei mir alles in bester Ordnung.“

Dennoch blieb das dunkelhaarige Mädchen argwöhnisch und schaute ihm forschend ins Gesicht.

„Schwindelst du auch nicht, Nii-chan?“

Für einen Moment war der junge Kindergärtner versucht, sich auf die Lippe zu beißen, aber er riss sich zusammen. Nicht dass Tomoyo diese Reaktion am Ende noch richtig interpretierte. Wer wusste schon, wie viel sie von ihrem Vater geerbt hatte in Sachen Menschenkenntnis?

„Wieso sollte ich?“

Also blieb das breite Lächeln auf seinen schmalen Lippen bestehen, und er kniete sich lieber zu dem Kind, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein, ließ es sich so doch um einiges besser reden.

„Wenn es mir gut geht, muss ich doch nicht schwindeln.“

„Aber wenn es dir...schlecht geht...?“

Tomoyo schien nach wie vor nicht überzeugt.

Es war geradezu rührend, wie sehr die süße, kleine Maus sich um ihn bemühte.

Schade, dass er lügen musste...

„Keine Sorge, Tomoyo, mit mir ist wirklich alles okay, das kannst du mir glauben,.“

„Wirklich?“

„Großes Indianerehrenwort!“

Grinsens hob er eine Hand zum Schwur und atmete innerlich erleichtert auf, als die Kleine endlich aufgab.

Lange hätte er dem treuherzigen Blick aus ihren großen dunklen Augen nämlich nicht mehr stand gehalten.

„Na gut...“

Dann fiel Tomoyo aber noch etwas ein.

„Aber du kommst heute Abend doch wieder mit zu uns nach Hause, oder?

Da war sie, die Frage, die Fye so sehr gefürchtet hatte.

Was sollte er dem Mädchen darauf antworten? Wenn er ehrlich war, wusste er nicht einmal, ob er wieder mit zurück wollte, ganz zu schweigen davon, ob Kurogane ihn überhaupt da haben wollte, nach dem Streit von gestern. Der Schwarzhaarige konnte doch bestimmt nichts mit einem Typen wie ihm anfangen, der nicht einmal im Stande war zu helfen, weil sein eigenes Leben in Scherben vor ihm lag...

Falls Kurogane tatsächlich so dachte, seine Worte nicht nur in Rage etwas härter ausgefallen waren...

Es brach Fye das Herz.

Da Tomoyo ihn noch immer fragend anblickte, rang sich der sonst so spontane, fröhliche Kindergärtner zu einer ausweichenden Antwort durch.

„Naja... Ich weiß nicht, ob dein Papa das wirklich möchte.“

„Bitte.“

„Tomoyo...“

„Bitte bitte bitte! Ich red auch mit Papi!“

Die Kleine wollte einfach nicht locker lassen.

Und Fye wurde eines schmerzhaft bewusst: Wo sollte er sonst hin, wenn nicht wieder zurück zu ihr und ihrem schlechtgelaunten Vater? Er hatte keinen anderen Zufluchtsort. Bei sich daheim würde er vor Angst wahnsinnig werden. Und wenn er wieder mit Kurogane mitging, musste er sich zwar vor bösen Blicken und harten Worte fürchten, aber wenigstens war er vor Gefahren von außerhalb geschützt.

Besser als irgendwo anders.

„Okay.“ Schweren Herzens lenkte er endlich ein. „Du hast gewonnen...“

„Juhu!“

Kurz umarmte ihn Tomoyo überschwänglich, bevor sie zu ihrem Herrn Papa eilte, um das auch mit ihm abzuklären.

Fye lächelte schwach. Es war irgendwie schön, dass das dunkelhaarige Mädchen so sehr an ihm hing, denn es vermittelte ihm Wärme und das Gefühl, geliebt zu werden, was er die ganzen letzten Jahre tief in seinem Innersten vermisst hatte. Chii liebte ihn auch, natürlich, dennoch war da eine gewisse Distanz, Schüchternheit zwischen ihnen, sodass ihre Zuneigung allein nicht gereicht hatte, um das große Loch in seinem Herzen zu füllen. Doch nun hatte er Menschen gefunden, denen er nicht egal war. Um so erschreckender war der Gedanke, diese bald wieder verlieren zu können.

Aus dem Augenwinkel beobachtet er, wie Kurogane seiner Tochter zuhörte, und schließlich langsam nickte. Bei dem Anblick fiel ihm ein mittelgroßer Stein vom Herzen. Wenigstens verstieß der Schwarzhaarige ihn nicht und er konnte die Nacht in der gemütlichen Wohnung wieder einigermaßen ruhig schlafen.

Ruhiger, als er es irgendwo anders gekonnt hätte.

Lautes Getöse aus Richtung Küche erinnerte Fye schließlich wieder an seine Pflichten und mit einem letzten, flüchtigen Blick wandte er sich von Vater und Tochter ab und eilte zum Ursprungsort des Lärms: Eine Kompottschüssel war zu Boden gegangen, und nun stand Yuzuriha inmitten von Obstwasser und Mandarinenstückchen. Ihre Unterlippe zitterte Unheil verheißend und die ersten Tränchen kullerten schon über das kleine, erschrockene Gesicht.

„Yuzu-chan! Ich rette dich!“

„Nicht, Ryu-kun!“

Wenn er auf dem schmierigen Obstwasser ausrutschte und vielleicht gegen ein Möbelstück stolperte, hätten sie noch ein weit größeres Problem hinzu bekommen.

„Yuzu-chan, bitte bleib ruhig da stehen, okay?“

Bittend sah er das kleine Mädchen an. Der Schock über die zu Boden gegangene Schüssel schien tief zu sitzen, und jetzt begann sie richtig zu weinen. Fye hätte sie gern in den Arm genommen, aber Ryu und inzwischen auch Sorata standen noch immer zum Sprung bereit im Kücheneingang, sodass er diese beiden keinesfalls allein lassen konnte.

„Bitte, Liebes. Wir haben die Scherben in null Komma nix-!“

„Was herrscht denn hier für ein Chaos?“

Es kostete den blonden Kindergärter seine ganze Selbstbeherrschung, um nicht wie von der Tarantel gestochen herumzufahren, als die tiefe Stimme Kuroganes so dicht neben ihm erklang, aber er hätte schwören können, dass sein Herz für ein paar Sekunden aussetzte, nur um dann hektisch weiter zu schlagen. Warum musste der ihn auch so überraschen?

„Schnell, Kuro-rin! Du musst Yuzu-chan retten!“

Ryu vergaß, dass er den Erwachsenen weder mit einem Spitznamen betiteln sollte, noch dass er ihm überhaupt nichts zu sagen hatte, aber anstatt sich darüber aufzuregen, kam Kurogane der Aufforderung überraschenderweise sogar nach. So groß, wie er war, war es ihm ein Leichtes, nach der Schwarzhaarigen zu greifen und sie behutsam aus dem Unfallgebiet zu bergen.

Ein erleichtertes Aufatmen machte die Runde, als ihre kleine Freundin wieder auf sicherem Boden stand, und sofort tröstend von ein paar Kindergartenkindern umsorgt wurde.

„D-danke...“, murmelte Fye hastig, ohne zu dem größeren aufzusehen, und begann die Sauerei in der Küche zu beseitigen. Je weniger er Kurogane ansah, um so eher konnte er einem Streit aus dem Weg gehen. Kurogane sah das wohl ähnlich, denn er wandte sich stattdessen an die Kinder und sorgte dafür, dass keines von ihnen in die Küche lief, solange der Blonde noch nicht fertig war.

Nach wenigen Minuten war die Küche wieder in Ordnung und auch Yuzuriha hatte sich beruhigt, sodass das kleine Missgeschick schnell vergessen war.
 

Auch der restliche Nachmittag verlief trotz der üblichen Pannen, die man in jedem Kindergarten fand, recht ruhig.

Kurogane hatte sich bereiterklärt, mit einigen Kindern nach draußen zu gehen, nachdem seine süße Tochter ihn ein paar Mal aus ihren unwiderstehlichen Rehaugen angebettelt hatte, und Fye verbrachte mit der anderen Hälfte eine entspannte Zeit drinnen beim Vorlesen. Zu der Geschichte, Rapunzel, schlug er ihnen anschließend vor, ein Bild zu zeichnen, sodass der Kindergärtner ein paar Minuten für sich hatte, in denen er sich zurücklehnen und einmal an nichts denken konnte.

Leider hielt er das nicht lange durch. Schon bald kamen ihm wieder Ashura und seine Sorge um Chii in den Sinn, und wenn es einmal anfing, fiel es ihm immer schwerer, aus diesem nie enden wollend Strudel aus Angst zu entfliehen, der ihn langsam aber stetig in ein tiefes schwarzes Loch hinabzuziehen drohte.

So war der Blondschopf letztendlich eher erleichtert, als der neue Ersatzkindergärtner mit seinen Schützlingen wieder nach drinnen kam und ihn aus seinen Gedanken riss. Egal, wie sehr sie sich gestritten haben mochten, Kurogane schien seine Gefühle immer noch mit einem einzigen Blick zu durchschauen. Und auch wenn das weh tat, nahm es Fye andererseits eine schwere Last von den Schultern zu wissen, dass er nicht ganz allein mit seinen Sorgen dastand und dass Notfalls jemand da war, der ihn verstand, ohne das er darüber reden musste.

Kurz darauf wurden auch schon die ersten der Kinder abgeholt und wie jeden Tag verabschiedete Fye jedes von ihnen ausgiebig, auch wenn er dem Moment entgegenbangte, in dem das letzte nach Hause gegangen war. Dann würde er mit Tomoyo und Kurogane ebenfalls nach Hause fahren. Zu ihnen nach Hause...

Natürlich konnte er diesen Augenblick nicht umgehen, und nachdem er als letzter alles ordnungsgemäß abgeschlossen hatte, bestieg er mit nervösem Magenflattern den schwarzen Wagen. Am liebsten hätte er sich hinter zu Tomoyo gesetzt, aber ihr Vater hätte ihn nur mit missbilligenden Blicken gestraft, wenn er so versuchte, Abstand zwischen sie zu bringen, daher fragte Fye gar nicht erst.

Die Fahrt verlief in bedrückendem Schweigen, das nicht einmal Tomoyo aufzulockern versuchte. Der Blondschopf war tief in seinen Sitz gesunken und zwang sich zu äußerlicher Ruhe. Er wollte nicht alles noch schlimmer machen, wenn er Kurogane mit seinem gehetzten Auftreten zur Weißglut trieb. Aber er brauchte fast seine ganze Selbstbeherrschung, um nicht in jedem Schatten Ashura zu sehen und sich panisch nach im Augenwinkel wahrgenommenen Bewegungen umzudrehen.

Demzufolge nervlich am Ende war er auch, als sie endlich im Flussviertel ankamen. Ein fadenscheiniger Grund mehr, um seinen tagsüber gefassten Plan in die Tat umzusetzen.

„Ich glaub, ich leg mich gleich hin“, teilte er dem Hausherren und Tomoyo mit, kaum dass die Apartmenttür hinter ihnen ins Schloss gefallen war, und wandte sich mit einem arglosen Lächeln zu den beiden um.

„Seid mir bitte nicht böse, aber ich bin einfach zu müde.“

Kurogane tat das nur mit einem herablassenden Schnauben ab und ging an ihm vorbei in die Küche, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Der blonde Kindergärtner schaffte es mit Mühe und Not, sein Lächeln aufrecht zu erhalten. Es versetzte ihm einen gehörigen Stich, jetzt, wo er sich fast schon daran gewöhnt hatte, dass Kurogane so nett zu ihm war. Aber er hatte ja gewusst, dass es nicht von Dauer sein würde, oder?

„Nii-chan, geht es dir denn sehr schlecht?“

Besorgt nahm Tomoyo ihn an der Hand, um ihn ins Wohnzimmer und zu seinem Schlafplatz, der Couch, zu führen. Führsorglich begann sie, die viel zu schweren Decken, die den Tag über immer zusammengelegt auf einem der Sessel lagen, darauf auszubreiten, und Fye ging ihr gerührt zur Hand.

„Du bist so lieb, Kleines... Mach dir keine Sorgen um mich, okay? Morgen geht es mir bestimmt wieder besser.“ Wenn ich bis dahin vergessen kann, wie freundlich dein Papa bis gestern noch zu mir gewesen ist...

Aber die Worte sprach er lieber nicht aus.

Das dunkelhaarige Mädchen sollte sich nicht auch noch Gedanken über die Streitereien zweier Erwachsener machen müssen, auch wenn sie es leider sowieso schon spürte, so feinfühlig, wie Tomoyo war.

„Na gut. Dann schlaf dich gut aus, Fye-nii-chan. Ich werd dir noch einen Tee machen!“

„Aber verbrenn dich nicht, Liebes.“

Doch Tomoyo schüttelte nur fröhlich den Kopf und lief in die Küche, wo er sie kurz darauf mit Kurogane sprechen hören konnte. Sie bat ihren Vater um Hilfe dabei, den Wasserkocher aufzufüllen, was dieser, der ruhigen Stimmlage nach zu urteilen, auch tat.

Seufzend machte Fye es sich auf dem Sofa bequem. Da es nicht so ein mickriger Zweisitzer war wie bei sich zu Hause, sondern geradezu luxuriös groß, konnte er sich richtig gemütlich ausstrecken, und seufzte zufrieden. So viel Komfort hatte er eigentlich gar nicht verdient.

Als er hörte, dass die Küchentür geöffnet wurde, schloss er schnell die Augen. Auch wenn Fye nicht genau wusste warum, aber es erschien ihm besser, sich schlafend zu stellen, um weiteren Fragen von vornherein aus dem Weg zu gehen.

„Autsch, heiß!“, hörte er Tomoyos Stimme, ein wenig trotzig, und musste lächeln, was ihm aber gleich wieder verging.

„Warte, Tomoyo, ich helf’ dir.“

„Danke, Papi! Ups! Shhhh... Nii-chan schläft bestimmt schon.“

Bang lauschte er den sich nähernden Schritte. Er war sich sicher, dass Kurogane ihn für einen Moment forschend musterte, als er die Tasse auf dem Stubentisch in seiner Reichweite abstellte und das Gefühl, beobachtet zu werden, bereitete ihm Unbehagen.

„Lass ihn am besten schlafen, Kleines.“

Fye glaubte nicht, dass der Schwarzhaarige ihm sein Schauspiel abgekauft hatte, aber wenigstens überging er es kommentarlos und hielt sogar seine Tochter davon ab, sich weiterhin mit ihm zu befassen.

„Hm...jetzt kann ich das Sandmännchen schon wieder nicht schauen... Liest du mir dafür zwei Geschichten vor?“

„So viele du möchtest.“

„Juhu!“, rief Tomoyo begeistert, besann sich dann, dass ihr Nii-chan ja schon schlief, und fuhr etwas leiser fort. „Dann sooo viele, okay?“

Fye konnte sich bildlich vorstellen, wie begeistert das kleine Mädchen ihre Hände nach oben streckte, damit ihr Vater sah, wie viele Geschichten er ihr vorlesen sollte. Es war so ein typisch kindliches Verhalten, so niedlich.

„Na von mir aus.“ Kurogane klang nicht einmal genervt, wie er es vor einer Woche vielleicht noch gewesen wäre. „Und jetzt komm, lass uns essen.“

„Aber wir heben Nii-chan doch was auf, oder Papa?“

„Natürlich.“

Es schwang weder Verärgerung noch irgendein anderes negatives Gefühl aus dieser Antwort mit und Fye musste schwer schlucken. Er hatte erwartet, dass Kurogane ihm noch immer böse war, hatte sich geradezu Horrorszenarien ausgemalt, dass dieser ihn aus dem Haus jagte oder alles der Polizei erzählte, weil er ihn für unfähig hielt, mit der Situation klarzukommen... Hatte er sich am Ende wirklich geirrt?

Natürlich war es unwahrscheinlich, dass der Schwarzhaarige zu so drastischen Mitteln greifen würde, denn Kurogane stand zu seinem Wort. Er würde niemals seine Beteuerungen, dass er Fye für unschuldig hielt, so einfach verraten. Dennoch, in seiner Angst war dem Blonden das ein oder andere Horrorszenario in den Sinn gekommen, denn trotz seines Idealismus war Kurogane dennoch ein schwer durchschaubarer Mensch...

Nein, er würde nicht zu ihm gehen und sich für den gestrigen Streit entschuldigen. Ihn traf keinerlei Schuld an der Eskalation der Situation – vielleicht hätte er nur nicht ganz so stur sein sollen. Außerdem hatten ihn die harten Worte wirklich tief verletzt. Und wenn Kurogane glaubte, dass er nicht im Stande war, ihm eine Hilfe zu sein, dann brauchte er auch keine Entschuldigung von Fye erwarten.

Die nächste Stunde hing der Blondschopf seinen trüben Gedanken nach. Er versuchte zwar einzuschlafen, aber so wirklich wollte ihm das nicht gelingen, sodass er sich ruhelos von einer Seite auf die andere wälzte und zu verhindern versuchte, sich wieder in etwas hineinzusteigern. Irgendwann hörte er, wie Tomoyo und Kurogane ins Kinderzimmer gingen, und er spitze die Ohren, konnte aber leider keinen Ton durch die geschlossene Tür erhaschen.

Während er sich ausmalte, wie der ihm gegenüber griesgrämige Vater am Bett seiner Tochter saß und ihr brav eine Geschichte vorlas, dachte er wenigstens nichts Unerfreuliches. Im Gegenteil, es hinterließ sogar ein leichtes, warmes Kribbeln in seiner Magengegend. Wie immer, wenn er Kurogane lächeln sah oder sich daran erinnerte. Dieses Gefühl war irritierend und chaotisch, aber er kam kaum dagegen an. Und auch wenn Fye wusste, dass es nicht gut gehen würde, war es ihm tausendmal lieber, als immer nur von der Angst vor Ashura ergriffen zu sein. Denn was auch immer er für Kurogane fühlte, es war angenehmer, wärmer, vertrauter und so herbeigesehnt...

„Schläfst du?“

Die dunkle stimme ließ Fye zusammenzucken und er bekam eine leichte Gänsehaut. Er hatte nicht einmal gehört, dass Kurogane zurückgekommen war.

Verbissen schwieg er und rührte sich nicht, auch wenn der Schwarzhaarige von seiner vermuteten Position aus sowieso nur die Sofalehne zu sehen bekam.

Der Blondschopf hatte gehofft, dass sein Schweigen Kurogane verjagen würde, umso überraschter war er, als dieser schließlich wieder das Wort ergriff, ruhig und mit einem kaum merklichen Zögern darin.

„Ich habe nachgedacht... Ich glaub, ich bin dir eine Erklärung schuldig.“

Ach, das merkte der feine Herr aber früh!

„Du solltest wissen... Ich bin nicht versetz worden oder habe Urlaub genommen. Ich wurde vom Dienst suspendiert. Und das war ein harter Schlag für mich. Außer meiner Arbeit hatte ich nichts – dachte ich zumindest, bis mich Tomoyo eines besseren belehrt hat. Aber plötzlich den ganzen Tag zu Hause zu sein und nichts zu tun zu haben, war ich einfach nicht mehr gewöhnt. Dazu kam das Kind, mit dem ich überfordert war und Somas nerviges Getue. Deshalb war ich anfangs sehr gereizt.“

Wie zögerlich Kuroganes sonst so ruhige Stimme klang. Man hörte ihr an, dass er es nicht gewohnt war, über sich selbst und seine Gefühle zu sprechen. Bestimmt fiel es ihm schwer weiterzureden...

Aber die Erklärung wollte Fye trotzdem hören. Das war der Schwarzhaarige ihm schuldig. Andere über ihre Vergangenheit ausquetschen und sich selbst in Schweigen hüllen? Und dann nur zu beschimpfen, wenn man helfen wollte?

Das war nicht fair.

„Jedenfalls, es ist jetzt fast drei Wochen her... An dem Abend musste ich noch einen Kollegen aus der Kneipe abholen, da er vorher nicht mit dem Rest der Truppe zurückgekehrt war. Die anderen waren alle ordnungsgemäß wieder in der Kaserne eingetroffen, nur er hatte sich geweigert, die Bar zu verlassen. Als sein Vorgesetzter war ich dafür verantwortlich und musste noch einmal los und ihn abholen.“

Ein kurzes Rascheln wies darauf hin, dass Kurogane seine Position veränderte und Fye konnte an dem Schatten, den die Flurbeleuchtung ins Wohnzimmer warf, erahnen, dass der Mann im Türrahmen lehnte, während er sprach. Wortlos hielt er das Bild in seinem Kopf fest.

War Kurogane wirklich so gefasst, wie er äußerlich tat?

„Als ich bei der Bar ankam, war er immer noch da. Mehr oder weniger. Er stand draußen vor der Tür und legte sich mit den Türstehern an, die ihn wegen seiner Trunkenheit wohl rausschmeißen mussten. Wenn ich in dem Moment nicht eingegriffen hätte, hätte es sicher eine Schlägerei gegeben. Dafür durfte ich mir seinen Frust weiter anhören, als ich ihn zurück zur Kaserne geschleppt habe.“

Erneut ein Zögern.

Anscheinend näherte sich die Erzählung dem Hauptpunkt.

„Wäre es nur dabei geblieben, hätte es mich nicht weiter gestört, notfalls hätte ich ihn ruhig stellen müssen. Aber in dem Moment sind uns deine kleine Praktikantin und ihr Freund über den Weg gelaufen.“

Sakura und Shaolan?

Nervös kaute Fye auf seiner Unterlippe herum. Dass die drei sich schon vor dem Treffen im Kindergarten begegnet waren, hatte er ja mitbekommen, aber hatten die beiden am Ende bei einem derart wichtigen Ereignis eine entscheidende Rolle gespielt?

So entscheidend, dass Kurogane deswegen suspendiert worden war?

Was war da nur passiert?

Fyes Gedanken wurden immer banger, als der Schwarzhaarige schließlich fortfuhr.

„Niedlich, wie die Kleine eben ist, ist mein Kollege sofort auf sie aufmerksam geworden und hat sie angemacht. Der Junge wollte sie beschützen, da hat mein Kollege ihn weggestoßen und wollte sogar auf ihn losgehen, als ich ihn endlich von den beiden wegziehen konnte. Allerdings hat er danach so rumgebrüllt, dass ich ihm wirklich eine runterhauen musste. Das schien ihn beruhigt zu haben, dachte ich, also habe ich mich erst mal bei den beiden vergewissert, dass alles in Ordnung war, dann sind sie zum Glück schnell weiter und waren somit zumindest außer Gefahr.“

Wie auf heißen Kohlen lag Fye da.

Warum musste Kurogane auch gerade hier innehalten?

Mit jedem Satz warf er schlimmere Befürchtungen auf. Er sollte endlich zum Punkt kommen! Ihm erklären, dass letztlich doch alles irgendwie glimpflich abgelaufen war. Egal was, nur sollte er nicht Fyes schlimmste Erwartungen erfüllen!

So sehr sich der Blondschopf gewünscht hatte, endlich die Wahrheit zu hören, so sehr fürchtete er sich jetzt davor.

Bitte...

„Nachdem die beiden gegangen waren, ist mein Kollege plötzlich ausgeflippt. Er hat mich angebrüllt, was mir denn einfiele, ihm ‚die Tour zu vermasseln’, für wen ich mich bitte halten würde, so was eben. Ich habe versucht ihn irgendwie zu beruhigen, aber er hat überhaupt nicht darauf reagiert und ist auf mich losgegangen, hat an meinen Sachen herumgezerrt und gleichzeitig versucht, auf mich einzuschlagen und ähnliches. Irgendwie muss es ihm dabei gelungen sein, an meine Pistole heranzukommen; so wie er auf mich losgegangen ist und getobt hat, habe ich das gar nicht richtig mitbekommen. Als ich versucht habe, sie ihm wieder abzunehmen, hat sich plötzlich ein Schuss gelöst. – Und er war tot. Direkt unter dem Kinn durch den Kopf. Keine Chance, dass er das auch nur eine Sekunde überlebt haben könnte. Ich weiß bis heute nicht, wer von uns beiden an den Abzug gekommen ist. Es ging einfach viel zu schnell. Und alles passierte irgendwie gleichzeitig.“

Die Stille, die auf die Worte folgte, legte sich wie eine Betondecke über das Zimmer und Fye hatte das Gefühl, von ihr erdrückt zu werden. Seinen unbewusst angehaltenen Atem stieß er erst wieder aus, als er die kleinen Lichtpunkte bemerkte, die vor seinen Augen tanzten.

Oh Gott... Das war nicht wahr, oder?

Kurogane hatte ihm doch nicht wirklich gerade erzählt, dass durch seine Dienstwaffe ein Mensch ums Leben gekommen war?

Er träumte doch bestimmt, oder?

Wie um es sich selbst zu beweisen, kniff Fye sich fest in den Arm, musste nach Luft schnappen, weil es so weh tat.

Kein Traum...

Am besten, er versuchte, es irgendwie vernünftig zu betrachten.

Kurogane hatte einen Menschen erschossen. Nein, Kurogane hatte VIELLEICHT einen Menschen erschossen. Und selbst wenn er abgedrückt hatte, machte ihn das keinesfalls zum Mörder, denn es war ganz klar ein Versehen gewesen.

Mit diesem Gedanken konnte sich der Blonde Mann einigermaßen anfreunden. Es gab keinen Grund, Kurogane für irgendetwas zu bestrafen. Denn dieser hatte keinesfalls etwas Unrechtes getan.

Aber warum war er dann suspendiert worden? Hatte man ihm nicht geglaubt? Kurogane log ihn sicherlich nicht an. Dazu hatten die Gefühle hinter den Worten zu echt und unverfälscht geklungen. Und der Ältere war außerdem kein besonders guter Schauspieler.

„Das Militärgericht meinte, die Umstände sprächen, wenn sich alles tatsächlich so zugetragen habe, für meine Unschuld, andererseits war das generell angespannte Verhältnis zwischen diesem Kollegen und mir auch kein Geheimnis, sodass allein meine Aussage nicht ohne weitere Beweise über das Urteil entscheiden konnte. Ohne eine genaue polizeiliche Untersuchung durfte nichts entschieden werden, also wurde ich vorerst zwangsbeurlaubt. Alles weitere kennst du eigentlich. Kaum zwei Tage später habe ich Tomoyo das erste Mal in den Kindergarten gebracht.“

Damit endete die Erzählung.

Keine besonders schöne Gute-Nacht-Geschichte...

Während Kurogane, geduldig auf eine Antwort wartend, nach wie vor regungslos im Türrahmen verharrte, betrachtet der Kindergärtner schweigend seine Schattengestalt. Wie sollte er jetzt reagieren? Was für eine Antwort erwartete der Schwarzhaarige auf so ein Geständnis? Er konnte ihn nicht einmal trösten, da Kurogane sich selbst nicht als Mörder zu sehen schien, auch wenn er bereute, was passiert war, das hatte man seiner Stimme deutlich angehört.

Fye hätte dem anderen jetzt gern ins Gesicht geschaut. Wenn Kurogane so viel von sich preis gab, hätte er ihm gern dabei in de Augen gesehen. Aber der Blondschopf wollte sich keine Blöße geben, nicht solange er selbst nicht wusste, was genau er davon nun hielt.

Zwar war diese Erklärung nicht ohne und er konnte ihm wegen der verletzenden Worte von gestern Abend auch nicht mehr böse sein, aber wenn Kurogane wirklich dachte, damit wäre der Schmerz einfach so verschwunden, dann lag er falsch, dazu brauchte es mehr, zum Beispiel eine Entschul-

„Fye, das was ich gestern gesagt habe, war nicht richtig. Und es tut mir echt Leid. Ich war wegen des Schreibens vom Gericht einfach zu aufgewühlt. Dass man mir Tomoyo wegnehmen will, hat mich geschockt, und du hast einfach zur falschen Zeit zu viele Fragen gestellt. Aber deswegen hätte ich dich nicht so angreifen dürfen.“

...

Jetzt konnte er diesem Sturkopf wirklich nicht mehr böse sein...

Angespannt lauschte er, ob noch mehr seitens Kurogane kam. Im Moment schwieg dieser. Vielleicht musste er sich erst wieder sammeln. Dabei war schon die Entschuldigung ein gewaltiger Schritt aus sich heraus gewesen, und die gerade erst wieder gefasste Stimme hatte erneut unsicher geklungen.

Sehr oft hatte Kurogane sich in den letzten Jahren sicherlich nicht entschuldigt...

„Wie auch immer. Gute Nacht.“

Der Ältere hatte es offensichtlich aufgegeben, auf irgendeine Reaktion zu warten, und löste sich aus seiner Starre. Der hastigen Bewegung nach klang es beinahe so, als bereute er es, sich geöffnet zu haben, ihm, und nur ihm, erzählt zu haben, was sonst nur ein kleiner Kreis seiner Arbeitskollegen wusste.

Nur ihm...

Es war dieser Gedanke, der schließlich das Eis brach, Fye all den Ärger und die Angst des letzten Tages vergessen ließ und seine Entscheidung herbeiführte. Er sprang mit einem Satz von der Couch auf, verhedderte sich in der Decke und wäre beinahe gestürzt, bevor er Kurogane nacheilte. Er dachte gar nicht darüber nach, ob es richtig war, ob Kurogane es gutheißen würde, sondern folgte einfach nur seinem Bedürfnis, den anderen irgendwie zu trösten und sich für das Vertrauen zu bedanken. Es erfüllte ihn mit einem wärmenden Glücksgefühl, dass Kurogane sich ihm so weit geöffnet hatte.

Im Flur lief er in Kurogane hinein. Ohne ein Wort klammerte er sich von hinten an dessen Oberkörper, obwohl dieser sich dabei unbehaglich versteifte und im ersten Moment hörbar die Luft einsog.

Doch Fye wollte nicht loslassen. Und er hoffte, dass Kurogane verstand und es zuließ, auch wenn seine erste Reaktion deutlich Überraschung und ein gewisses Unwohlsein zum Ausdruck brachte. Einige scheinbar endlos lange Augenblicke blieb Kuroganes Haltung steif wie ein Brett, sodass Fye langsam an seiner Entscheidung zu zweifeln begann, doch dann schien der andere sich endlich zu entspannen. Die angespannten Muskeln lösten sich und fast schien es ihm, als lehnte sich der Schwarzhaarige sogar etwas an ihn.

Mit einem sanften Lächeln auf den Lippen schmiegte Fye seine Wange an die breite Schulter und ließ die Nähe auf sich wirken. Endlich war alles vergeben und vergessen. Es war schön so...

„Ich hab Angst davor, Tomoyo zu verlieren...“

Kuroganes Stimme klang ruhig, als sie schließlich die angenehme Stille zwischen ihnen durchbrach.

„Ohne sie käme mir mein Leben plötzlich so leer vor. Auch wenn sie anfangs recht lästig war... Aber wahrscheinlich war eher ich es, der lästig war, weil ich so gar keine Ahnung von Kindern und ihren Bedürfnissen hatte.“

Fye hatte die Augen geschlossen und lauschte der tiefen Stimme entspannt.

„Es klingt sicherlich komisch, wenn ich das sage, aber ich bin sogar ein wenig dankbar, suspendiert worden zu sein, weil ich dadurch erst meine Tochter richtig kennen lernen konnte. Vielleicht hätte ich sonst nie die Chance dazu gehabt...“

Während Kurogane sprach, festigte Fye seinen Griff noch etwas. Die Sachlichkeit, mit der all die Dinge ausgesprochen wurden, war traurig, denn es zeigte deutlich, wie wenig Hoffnungen Kurogane sich machte, seine geliebte Tochter behalten zu können. Zwar mochte er sonst eine ausgesprochene Kämpfernatur sein, aber der gesetzliche Sachverhalt und die Umstände machten es schwer, Hoffnung zu haben.

„Vielleicht gibt es jemanden, der dir helfen kann... Wenn du das möchtest, Kurogane.“

Der Größere erwiderte darauf nur zögerlich ein schwaches Nicken, aber Fye spürte eine Welle der Erleichterung und des Glücks über sein Herz schwappen, die so groß war, das er seine eigenen Sorgen gänzlich vergessen konnte, und wenn es auch nur für diesen Moment war.

„Ich denke, du solltest mit Yuuko-san über diese Sache sprechen. Ich weiß zwar nicht, wie genau sie dir helfen kann, aber sie scheint eine Menge Beziehungen zu haben.“

Kuroganes plötzliche Haltungsänderung wirkte, als sei er enttäuscht darüber, dass Fye ihm keinen besseren Ratschlag geben konnte, also sprach dieser schnell weiter.

„Glaub mir, hinter Yuuko-san steckt wirklich viel mehr, als man auf den ersten Blick vermutet. Als ich... Als ich vor Ashura geflüchtet bin, bin ich ihr zufällig über den Weg gelaufen und sie hat mir einfach so, ohne großes Nachfragen und so, meine Wohnung und die Arbeit bei ihr im Kindergarten besorgt. Ich glaube sogar, dass es nicht einmal Zufall war, dass ich Yuuko-san begegnet bin, doch sie beteuerte, davon nichts zu wissen, als ich sie einmal vorsichtig darauf angesprochen habe. Trotzdem, was sie für mich getan hat, war unglaublich. Es steckt viel mehr hinter ihr, als sie nach außen hin preis gibt. Bitte, sprich mit ihr. Ich weiß nicht, was sie erreichen kann oder wie, aber bitte sprich mit ihr. Ich bin mir fast sicher, dass sie helfen kann.“

Der Schwarzhaarige schien darüber nachzudenken, bevor er erneut nickte. Sicher gefiel es ihm immer noch nicht, Yuuko Ichihara um Hilfe zu bitten, aber in seiner Lage sollte man nicht kleinlich sein, das sah er wohl selbst ein. Denn egal, ob er sie mochte oder nicht, wenn nur die kleinste Chance bestand, dass sie sein Sorgerecht für Tomoyo verteidigen konnte, dann sollte er das auch nutzen.

„Okay. Und jetzt hör auf, mich so von hinten zu umklammern! Da komme ich mir vor wie ein Gefangener.“

Fye kicherte leise, bevor er sich die Freiheit herausnahm und sich katzengleich um Kuroganes Körper schlängelte, ohne diesem die Gelegenheit zu geben, auf Abstand zu gehen.

„Bist du aber...“, murmelte er kaum hörbar, als er dem größeren Mann in die tiefroten Augen blickte, die ihn so sehr beeindruckten, bevor er sich ohne ein weiteres Wort an die breite Brust kuschelte. Froh über die Wärme und Geborgenheit, die ihm gewährt wurden.

Und Kurogane schien ebenso zu fühlen, denn obwohl er leise grummelnd den Kopf schüttelte, scheuchte er ihn nicht weg.

Stattdessen spürte Fye kurz darauf, wie sich eine warme Hand sacht in seinen Nacken legte, ihre Finger sich mit seinen Haaren verflochten.

Er brauchte nicht aufzusehen, um zu wissen, dass der andere ebenfalls lächelte.

Und das war das Schönste daran.
 

TBC...

Helfende Hände

Unglaublich. Ein ganzes Jahr ist seit dem letzten Update vergangen. Dabei liegt Klayr und mir selbst diese Fanfic auch sehr am Herzen und wir wollen sie auf alle Fälle fertig stellen! Seit die Schule vorbei ist, ist "Freizeit" auch nicht mehr das, was es mal war.

Trotzdem, die Fanfic wird auf alle Fälle bis zum bitteren Ende fortgesetzt! Falls trotz der ewig langen Pause noch irgendwer Interesse daran haben sollte, dann wünsche ich demjenigen hiermit viel Spaß!
 

-~*~-
 

Disclaimer: Die Charas gehören (bis auf wenige Ausnahmen) nicht uns, sondern Clamp. Wir wollen kein Geld damit verdienen, sondern nur unterhalten.
 

Erstschreiber des Kapitels: Lady_Ocean

Kapitel: 17/26
 

-~*~-
 

„Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.“

(Bertholt Brecht)
 

-~*~-
 

Helfende Hände
 

Als Kurogane allmählich vom Tiefschlaf in ein sanftes Halbwach driftete, hatte er das unbestimmte Gefühl, dass heute irgendetwas anders war als sonst. Es dauerte noch einige weitere Minuten, bis sein Kopf seine bewussten Tätigkeiten wieder weit genug aufgenommen hatte, um zu realisieren, was genau dieses Gefühl in ihm ausgelöst hatte: Ein zusätzliches, wenn auch sehr leichtes Gewicht auf seiner Brust und die deutliche Wärme linksseitig, welche eindeutig nicht von seiner Bettdecke herrührte. Diese hing nämlich nur noch irgendwo zwischen seinen Beinen.

Allem Anschein nach war er gestern Abend wohl mit Fye an seiner Seite eingeschlafen, nachdem diese Klette sich partout nicht dazu hatte bewegen lassen, ihn wieder freizugeben.

Nun ja, man konnte wohl auch nicht davon sprechen, dass er sich allzu sehr bemüht hätte, ihn wieder loszuwerden. Zu Kuroganes eigenem Erstaunen hatte es ihn nicht einmal sonderlich gestört, als der andere sich so an ihn geklammert hatte und nicht mehr loslassen wollte. Und auch jetzt, wo er festgestellt hatte, dass er mit dem Blondschopf an seiner Seite aufgewacht war, störte ihn diese Tatsache reichlich wenig. Es war unglaublich lange her, seit er das letzte Mal mit jemandem an seiner Seite aufgewacht war.

Doch der Vergleich, der sich mit diesem Gedanken in seinen Kopf schlich, war dann selbst für Kurogane eine Spur zu irritierend, sodass er lieber versuchte, ohne unnötig nachzudenken noch ein wenig weiterzudösen.

Zumal der Gedanke an Oruha gleich noch eine weitere Erinnerung zurückbrachte, die ihm augenblicklich einen Stich im Herzen versetzte. Ein Brief, der vor zwei Tagen eingetroffen war und ihn gerade um sein so harmonisch gewordenes Familienleben bangen ließ...

Nein, nicht daran denken. Noch nicht. Es würde ihn sowieso wieder den ganzen Tag über beschäftigen, da musste er nicht schon mit einem so schweren Gefühl im Magen aufstehen.

In diesem Moment vernahm er einen tiefen Atemzug an seiner Brust, die Muskeln des anderen Körpers spannten sich kurz an, der Arm auf seinem Oberkörper klammerte sich etwas fester an diesen, dann war es wieder still.

Schützend und gleichzeitig Halt suchend fand Kurganes Hand ihren Weg in die seidigen blonden Strähnen und verharrten dort ruhig. Augenblicklich spürte er, wie er innerlich wieder etwas ruhiger wurde, und entschied sich, noch ein wenig liegen zu bleiben und die Geborgenheit zu genießen, bevor er aufstand und sich dem neuen Tag stellte.
 

„Kurogane, du solltest besser gehen. Bevor dir die Zeit davonläuft.“

Der Blonde stand im Eingangsbereich, genau so zwischen Kurogane und der Tür positioniert, dass Letzterer nicht ohne weiteres den Aufenthaltsraum betreten konnte, in welchen Tomoyo soeben freudig hineingehüpft war.

Auch wenn er wusste, dass er keine große Wahl hatte, stand der Schwarzhaarige dem Vorschlag des Kindergärtners noch immer skeptisch gegenüber. Er mochte Yuuko Ichihara nicht sonderlich. Sie war so undurchschaubar. Er konnte beim besten Willen nicht sagen, ob sie – selbst wenn sie es könnte – ihm bei seinem Problem wirklich helfen oder sich nicht doch eher gegen ihn stellen würde.

Und dann war da noch der Kindergärtner selbst. Stand hier vor ihm wie ein Schluck Wasser und versuchte stark zu wirken und ihn wegzuschicken und konnte dabei nicht einmal das Zittern in seiner Stimme gänzlich unterdrücken. Oder seinen Atem ruhig halten, der wieder beunruhigend flach geworden war, seit sie den ersten Schritt aus der Haustür heraus getan hatten. Konnte er ihn in diesem Zustand – und sei es nur für eine Stunde – tatsächlich allein lassen? Kurogane konnte es sich nicht so recht vorstellen.

„Ich komme schon zurecht. Wir sind doch vormittags immer drinnen und die Kinder lenken mich schon ab und beschäftigen mich und du bist ja auch nicht lange weg und...“

Er brach seinen Satz ab und zwang sich, einmal tief durchzuatmen. Scheinbar bemerkte Fye selbst, dass er so niemanden überzeugen konnte.

Ein wenig ruhiger fuhr er dann fort: „Jetzt geh schon. Ich kann solange warten. Außerdem mache ich mir genauso Sorgen um dich und Tomoyo. Ich bin nicht blind und sehe doch, dass du nicht du selbst bist, auch wenn du dir alle Mühe gibst, es zu verstecken.“

Ein resigniertes Grummeln verließ Kuroganes Kehle. Musste der Kerl denn gleich so direkt seinen Finger auf die Wunde legen? Natürlich machte er sich fürchterliche Sorgen um seine Tochter, um ihre gemeinsame Zukunft. Ja, er hatte Angst, sie zu verlieren. Vor allem an eine „Mutter“, die sie im Säuglingsalter einfach zurückgelassen hatte. Und ihn ebenso. Nein, an so jemanden gab er Tomoyo ganz sicher nicht her!

Ein zittriges Lächeln huschte über Fyes Lippen.

„Na los, beeil dich, damit du bald zurück bist. – Vielleicht kann ich mich dann ja auch wieder mit deiner Stimme unterhalten und nicht nur deiner Mimik.“

Wieder entwich ihm ein Laut, der irgendwo zwischen Grummeln und Seufzen lag.

„Ist ja gut, ich hab verstanden...“

„Nii-chan, Papa, warum kommt ihr denn nicht?“, mischte sich Tomoyo ein, die plötzlich wieder am Türrahmen erschienen war. Einige kurze Blicke in die Runde und sie schien bereits verstanden zu haben, dass etwas nicht stimmte.

„Papa...? Gehst du etwa wieder...?“, fragte sie vorsichtig, mit deutlichem Unwollen in der Stimme.

Das schmerzhafte Stechen in seinem Bauch bestmöglich ignorierend, nickte der Vater seinem kleinen Töchterchen zu.

„Ja, ich habe noch kurz etwas zu erledigen. Aber danach komme ich gleich wieder.“

Wie auf Kommando huschte die Kleine an ihrem Kindergärtner vorbei und klammerte sich an die Brust ihres Vaters, der diese Reaktion bereits erwartet hatte und vorsorglich in die Hocke gegangen war.

„Wie lange bist du denn weg, Papa?“

Die großen Kinderaugen hingen einen weiteren Satz ganz offensichtlich an die Frage an: ‚Bitte geh nicht!’

„Keine Sorge, dauert nicht lange. Höchstens eine Stunde.“

Beruhigend – ob nun für sich selbst oder seine Tochter, das vermochte er nicht so genau zu sagen – strich er dem Mädchen über die weichen, schwarzen Haare.

„Ich beeil mich.“

„Ist...es so wichtig?“, fragte die Kleine vorsichtig.

„Ja.“

Gerade jetzt, wo er seine Tochter so behütend im Arm hielt, wusste er dies mit jeder Faser seines Körpers. Es war wichtig. Im Augenblick wohl das Wichtigste, was es für ihn zu tun gab. Mit einem halb entschuldigenden, halb verabschiedenden Nicken hinüber zu Fye löste er sich von Tomoyo und beeilte sich, diese Sache endlich zu erledigen.
 

„Sekretariat. Yuuko Ichihara.“

Zum zweiten Mal stand er vor diesem Zimmer, hatte mehr denn je das Gefühl, dass der Begriff „Sekretariat“ mehr als unpassend für die darin sitzende Person sei, und zögerte nun doch wieder mit dem Eintreten.

Nicht nur, dass er wirklich überhaupt nicht einschätzen konnte, worauf er sich hier einließ, gerade bei dieser Person befürchtete er auch, dass diese versuchen würde ihn bloßzustellen. Und dafür hatte er jetzt wirklich keinen Nerv.

Mit Unwollen erinnerte er sich an das letzte Treffen mit Yuuko Ichihara zurück. An die zwei Bedingungen, die sie für Tomoyos Aufnahme gestellt hatte. – Wobei... Im Nachhinein war es nicht so schlimm geworden, wie er zu dem Zeitpunkt befürchtet hatte.

„Sie sollen lernen, das Kind zu verstehen.“

Waren das nicht ihre Worte gewesen? Langsam dämmerte Kurogane, was Fye gemeint hatte, als er am vorigen Abend gesagt hatte, diese Frau schien mehr zu sein, als sie preisgab.

Nun, es war einen Versuch wert. Und er hatte nur diesen einen.
 

„Nanu? Herr Sugawara, welch eine Überraschung! Nach Ihrem Verschwinden beim letzten Mal hätte ich nicht erwartet, dass Sie sich einmal freiwillig auf den Weg zu mir machen.“

Ein herausforderndes Grinsen begleitete das einleitende Statement der hoch gewachsenen Dame, die anmutig hinter ihrem Schreibtisch saß. Kurogane hätte am liebsten entnervt die Augen verleiert und auf dem Absatz kehrt gemacht.

Mit so einer Einstellung nannte diese Person sich „Geschäftsfrau“!

Doch er wäre nicht Kurogane, wenn er sich von einer so lächerlichen Provokation aus der Reserve locken lassen würde, also tat er schließlich so, als hätte er Yuukos Begrüßung gekonnt überhört.

„Ich bin hier, weil ich einen Rat brauche“, versuchte er, ein möglichst neutrales Gespräch zu eröffnen.

„Aber Sie wissen doch sicherlich, dass ich nicht die Wohlfahrt bin. Ich helfe nicht für umsonst“, warnte die Sekretärin in gewohntem Geschäftston, noch bevor das eigentliche Thema überhaupt angeschnitten war.

„Ja, ja, ist mir klar“, entgegnete Kurogane eine Spur bissiger. „Und was soll ich nun schon wieder tun?“

„Mach Fye glücklich.“

„...“

Einen Moment lang starrte Kurogane die Sekretärin mit vollends entgleisten Gesichtszügen an, bis die gerade vernommenen Worte in tiefer liegenden Regionen seines Gehirns Fuß fassten und er sich blitzschnell umdrehte, bevor er am Ende vielleicht doch noch rot im Gesicht wurde. Er hatte sich bei solchen Angelegenheiten normalerweise zwar gut unter Kontrolle, aber diese Hexe überstieg echt alles!

Mit drei festen Schritten war er wieder an der Tür, wütend auf Yuuko, die ihn so vorgeführt hatte, wütend auf Fye, dass er die Hilfe dieser Person überhaupt nur in Betracht gezogen hatte, und wütend auf sich, dass er sich darauf eingelassen hatte.

Er hatte die Hand schon an der Klinke, bereit zum Hinausstürmen, als ihn eine sachlich ruhige Stimme hinter sich noch einmal stocken ließ.

„Kurogane Sugawara... 28 Jahre alt, allein erziehender Vater einer vierjährigen Tochter, Verbleib der Mutter unbekannt. Tätig als Hauptmann in der Armee, derzeit aufgrund eines internen Vorfalls vom Dienst suspendiert...“, klangen die Worte im Raum sowie in Kuroganes Kopf nach. Plötzlich schien es totenstill zu sein in dem kleinen Zimmer.

Langsam drehte Kurogane sich wieder um, sein Gesichtsausdruck wie versteinert.

„Woher wissen Sie solche Dinge?“

„Ich bin gern ein wenig über meine Kunden informiert, vor allem damit ich sicher gehen kann, dass es den Kindern in meinen Einrichtungen gut geht.“

„Wie viel wissen Sie genau über die Hintergründe meiner Suspendierung?“

Kurogane wusste nicht so recht, ob er über solch eine Wendung nun erleichtert oder besorgt sein sollte. Einerseits machte es ihm Hoffnung, denn hinter dieser Frau schien tatsächlich bedeutend mehr zu stecken, als man vermuten mochte, doch wer wusste schon, ob sie ihre Möglichkeiten nicht gegen ihn einsetzen würde...?

„Nun...ich kenne die offiziellen Berichte. Gibt es denen noch etwas Wichtiges hinzuzufügen, was dort nicht erwähnt worden ist?“

„Ich denke nicht.“

Warum... Warum wusste sie so viel über ihn? Und was ihn genauso interessierte: „Seit wann wissen Sie all das?“

„Das Gröbste habe ich erfahren, kurz bevor Sie das erste Mal bei mir im Büro standen.“

„... Woher?“

Doch schon verschwand die ernsthafte Diplomatin wieder hinter der gewohnten Sorglosigkeit.

„Ich kann doch nicht einfach so meine Quellen preisgeben. Sonst sind sie schneller versiegt, als mir lieb ist“, zwitscherte sie mit einem Augenzwinkern.

Kurogane hatte für die Antwort nur ein genervtes Augenrollen übrig.

„Aber das heißt nicht, dass ich sie nicht vielleicht ein wenig nutzen kann, um jemandem zu helfen, falls es wichtig ist“, wurde Yuuko wieder ernst.

„Es geht um Tomoyo“, brachte der Schwarzhaarige endlich sein Hauptanliegen vor. „Ich habe vorgestern einen Brief vom Jugendamt bekommen, laut dem man mir das Sorgerecht für meine Tochter entziehen will.“

Spätestens nun war auch der letzte Rest Sorglosigkeit aus dem Erscheinungsbild der Sekretärin verschwunden. Zumindest dies hatte sie scheinbar noch nicht gewusst.

„Ich nehme an, dass das mit den Untersuchungen zu Ihrem Fall zu tun hat. Gibt es denn dort irgendwelche neuen Ergebnisse?“

„Nicht dass ich wüsste. In dem Brief stand, dass Tomoyos Mutter wohl aufgetaucht sein soll...“

Dunkel hallten die Zeilen noch immer in seinem Hinterkopf nach. Gerade dieser Teil war einer von denen, die sich am stärksten in sein Gedächtnis eingebrannt hatten.

‚Hinweis der Mutter...’

„Die Mutter, die bis jetzt als verschollen gegolten hat?“, fragte die Frau mit einer leicht hochgezogenen Augenbraue.

„Bis jetzt, ja. Nun scheinbar nicht mehr.“

„Hm... Als Mutter hat sie natürlich ein Anrecht auf die Sorge ihres Kindes. Auch wenn sie dieses unter normalen Umständen nicht so einfach hätte einfordern können. Aber das Amt geht sicher davon aus, dass das Mädchen bei ihr erst einmal sicherer ist. Zumindest bis alles geklärt wird. Für so ein Amt ist das der einfachste und sicherste Weg“, erklärte die Geschäftsfrau.

„Dennoch ist es nicht richtig! Sie hat das Kind und mich im Stich gelassen, als die Kleine gerade mal ein paar Monate alt war und nun meint sie, hier auftauchen und sich einfach so in unser Leben einmischen zu können? Sicher nicht!“, zischte Kurogane aufgebracht.

„Ich verstehe Ihre Gefühle ebenso. Allein die Tatsache, dass Sie hergekommen sind, um mich um Rat zu fragen, zeigt mir, dass meine Entscheidung zu Beginn richtig gewesen ist.“

Sie ordnete einige Stifte und Zettel auf ihrem Tisch und sah kurz mit einem angedeuteten Lächeln zu Kurogane auf, bevor sie mit ihrer Tätigkeit und dem Sprechen fortfuhr: „Wenn Sie mich fragen, geht von Ihnen keinerlei Gefahr für das Kind aus. Deshalb will ich versuchen, Ihnen zu helfen.“

Kurogane wusste zwar nicht, was er weiterhin berichten konnte, wenn diese Frau die Informationen aus den Berichten bereits alle kannte, doch er war ihr dankbar für ihre Bemühungen. Und die vage Vermutung, dass er hier vielleicht tatsächlich etwas erreichen könnte.

„Aber nur, wenn Sie sich an unsere Abmachung halten!“, mahnte Yuuko noch einmal.

„Abmachung?“, kam die irritierte Antwort.

„Fye“, erinnerte sie ihn. „Sorgen Sie dafür, dass er wieder glücklich wird.“

Und schon war der Klumpen in seinem Magen zurückgekehrt, der sich gerade erst aufgelöst hatte.

Ihn...glücklich...machen? Also das ging nun wirklich zu weit.

„Wie Sie das anstellen, überlasse ich ganz allein Ihnen“, fügte Yuuko noch an, als sie Kurganes gequälten Gesichtsausdruck sah.

Nun ja... Es war ja nicht so, dass es ihm egal wäre, was in dem Blonden derzeit vor sich ging. Dass ihn diese Ängste so sehr quälten... Wenn es irgendetwas gäbe, was er tun könnte, wäre er sofort bereit, dies zu versuchen, um Fye seinen Seelenfrieden zurückgeben zu können. Wenn es so einfach wäre...

Doch darüber sollte er sich später Gedanken machen, ermahnte Kurogane sich selbst. Im Moment war die Sache mit Tomoyo wichtiger.

„Also gut, ich lass mir was einfallen. Und jetzt sagen Sie mir, wie SIE MIR helfen wollen.“

„Schön. Am besten wäre es, wenn wir noch etwas über den Vorfall mit ihrem Kollegen in Erfahrung bringen könnten. Wenn es etwas gäbe, was Ihre Unschuld beweisen könnte, gibt es keinen Grund mehr, weshalb man Ihnen Tomoyo wegnehmen sollte.

Also beantworten Sie mir zuerst noch ein paar Fragen. Laut der Berichte hatten Sie kein allzu gutes Verhältnis zu dem Verstorbenen. Wie genau kann man sich das vorstellen?“

„Ich würde es weniger als ‚kein gutes Verhältnis zu MIR’, sondern eher als ‚kein gutes Verhältnis zu Vorgesetzten’ beschreiben. Er konnte sich nicht gut Autoritäten unterordnen. Befehle, vor allem was das Befolgen von Reinigungsanordnungen oder Aufräumdiensten betraf, hat er nur mit deutlichem Widerwillen entgegengenommen. Er befand oft, dass er häufiger für solche Arbeiten eingeteilt war als andere Mitglieder der Kompanie. Ich war sein direkter Vorgesetzter, das heißt, solche Entscheidungen hatte ich zu treffen und ich habe mich darum bemüht, niemanden grundlos zu benachteiligen.“

„Grundlos?“, hakte Yuuko nach.

„Sollte jemand seinem Dienst nicht richtig nachkommen oder Regeln übertreten, gab es für denjenigen Sonderschichten. Leider kam das im Fall von Dukari öfters vor.“

„Sie haben ihm solche Dienste also häufiger übertragen als anderen Soldaten Ihrer Kompanie?“

„Ja.“

Das war ein Fakt und Kurogane stand zu seiner Entscheidung, daran würde sich nichts ändern.

„Und wie stand er zu seinen Kollegen?“

„Mit denen kam er soweit ganz gut aus. Viele fanden den ‚Konkurrenzkampf’ – wie sie es bezeichneten –, den er mit mir betrieben hat, zwar übertrieben, aber innerhalb der Gruppe selbst gab es keine Schwierigkeiten. Dukari war ein sehr aufgeschlossener und sorgloser Typ, der für viel Unterhaltung gesorgt hat.“

Yuuko machte sich einige Notizen und nahm das Gehörte mit einem Nicken zur Kenntnis.

„Dann zum Vorfall selbst... Es heißt, dass Herr Dukari im betrunkenen Zustand zwei Jugendliche belästigt habe. Können Sie diese beiden genauer beschreiben, im besten Fall sogar wieder erkennen?“

Der Schwarzhaarige gab ein trockenes Lachen von sich.

„Das sollte nicht allzu schwer sein. Inzwischen kenne ich sogar ihre Namen.“

Überrascht schossen Yuukos Augenbrauen in die Höhe.

„Ich habe die zwei wieder getroffen, als ich Tomoyo zum ersten Mal in den Kindergarten gebracht habe“, erklärte er weiter. „Das Mädchen, welches Dukari in der Nacht angemacht hatte, war die die kleine Praktikantin in Tomoyos Kindergarten. Und bei dem Jungen handelte es sich natürlich um ihren Freund, der die Kleine nach Schichtende manchmal abholt.“

„Sakura Kinomoto und Shaolan Li?“, hakte die Sekretärin, noch immer mit leicht ungläubigem Unterton in der Stimme, nach.

„Genau.“

„Da haben wir wohl wirklich Glück. Das ist mehr, als ich mir erhofft hatte. Mit den beiden müssen Sie so bald wie möglich reden. Und ich ebenfalls. Richten Sie ihnen dann am besten gleich noch aus, dass sie sich bei mir melden sollen.“

Kurogane widerstrebte es immer noch, die Kinder in diese Sache mit hineinzuziehen. Das Ganze war stressig und deprimierend genug, auch ohne dass diese beiden ebenfalls erfuhren, dass der Betrunkene jenen Abend nicht überlebt hatte. Aber ihm war klar, dass seine Chancen mit Hilfe der Kinder weit besser standen.

„... Ich werde mit ihnen reden.“

„Gut. Noch etwas: Gibt es Personen in Ihrem Bekanntenkreis, die sowohl Sie als auch Ihren Kollegen gut kannten und eine mehr oder weniger objektive Einschätzung geben könnten?“

„Nicht außerhalb der Armee. Und innerhalb sind bereits alle wichtigen Personen befragt worden, soweit ich weiß.“

„Verstehe...“

Yuuko machte eine kurze Pause und überflog noch einmal die mitgeschriebenen Notizen.

„Ich denke, dann sehen wir besser erst einmal, was ein Gespräch mit den beiden Zeugen ergeben könnte, und überlegen dann, wo man am besten anknüpfen kann. Für den Moment kann ich Ihnen erst einmal nur einen schriftlichen Widerspruch aufsetzen und zuschicken, den Sie dann nur noch unterschreiben brauchen. Ich nehme an, Sie kontrollieren die E-Mail-Adresse, die Sie auf dem Anmeldeformular notiert hatten, regelmäßig?“

„Ja.“

‚Erst einmal’... Kurogane bezweifelte, dass dieses ‚erst einmal’ reichen würde. Falls sich neue Details für den Fall mit Dukari finden ließen, wäre das sicherlich eine enorme Hilfe, aber das brauchte seine Zeit. Zeit, die er nicht hatte...

Dennoch, was sollte er sonst tun? Zum ersten Mal in seinem Leben waren Kurogane dermaßen die Hände gebunden, er fühlte sich richtiggehend hilflos. Und er hasst es.

„Gibt es sonst noch etwas? Wenn nicht, dann können Sie jetzt erst einmal gehen“, riss Yuuko ihn aus seinen Gedanken.

Was...? Was fiel ihr ein, ihn einfach rauszuwerfen?

„Wir sind schließlich nicht zum Kaffeeklatsch hier. Ich habe meine Pflichten und Sie haben Ihre.“

Skeptisch hob der Schwarzhaarige eine Augenbraue.

„Und die wären?“

„Schon wieder vergessen? Also wenn Sie sich so wenig um unsere Abmachung kümmern, bin ich mir nicht sicher, ob ich Ihnen wirklich helfen kann“, neckte die Sekretärin weiter. „Also ein letztes Mal: Sorgen Sie dafür, dass Fye wieder glücklich werden kann. Und am besten fangen Sie damit an, indem Sie so oft wie möglich mit in den Kindergarten gehen und in seiner Nähe bleiben. Ich bin sicher, ihre Jüngste wäre von der Idee auch nicht abgeneigt.“

Na wenn es weiter nichts war. Sein Daueraufenthalt bei den Bälgern hatte sich inzwischen ja eh mehr oder weniger etabliert...

„Also los jetzt! Lassen Sie die beiden nicht so lange warten.“

Mit der Hand wedelnd und strengem Blick verlieh die Frau ihren Worten noch mehr Nachdruck, sodass Kurogane schließlich mit einem verständnislosen Kopfschütteln den Raum verließ. Und ja, im Grunde gab es hier nun wirklich nichts mehr zu besprechen. Leider...
 

Fye... Tomoyo...

Kurogane hatte das Gefühl, noch immer nicht ganz er selbst zu sein, als er wieder zurück im Kindergarten war.

„Wieder zurück“...

Es war seltsam, wenn er so über diese Worte nachdachte. Es klang so vertraut. Als ob es ganz natürlich war, hier zu sein. Die Sekretärin hatte es wie eine Forderung formuliert, dass Kurogane jeden Tag hierher kommen SOLLTE. Doch wenn er so darüber nachdachte, fragte er sich, wie viel von dem, was diese Frau unter „Forderung“ verstand, auch tatsächlich solch eine war. Dass er Tomoyo jeden Tag selbst zum Kindergarten brachte und von dort abholte, war selbstverständlich. Dass er jede Woche für einen Tag mit bei dem Flohzirkus blieb... Nun, er hatte die ganze Woche über Zeit, so gesehen war es ein Leichtes, dem nachzukommen.

Jeden Tag im Kindergarten zu verbringen? Das war im Grunde doch längst entschieden, bevor „Frau Gegenleistung“ diese Forderung überhaupt erwähnt hatte. Und bei dem, was er heute über sie erfahren hatte, würde es ihn nicht einmal wundern, wenn sie auch dieses Detail längst über ihn gewusst hatte. Nur warum musste sie es ausgerechnet in einer so seltsamen Formulierung verpacken?

„Mach Fye glücklich.“

Der Satz wollte ihm einfach nicht aus dem Kopf. Und was noch schlimmer war: Diese vermaledeite Zweideutigkeit wollte ihn einfach nicht in Ruhe lassen!

„Papaaaaaaa!!!“, wurde er im vertrauten Ton der ihm wohlbekannten Kinderstimme begrüßt, begleitet von derselben stürmischen Umarmung, die er immer erhielt, wenn er seine Tochter nach einem Tag im Kindergarten abholte.

Gerade noch rechtzeitig ging der große Mann in die Hocke, um das herbeiflitzende Mädchen gerade noch rechtzeitig in einer sanften Umarmung aufzufangen. Schützend drückte er das kleine Kind an sich; die kleinen Ärmchen, die sich fest an seinen Rücken klammerten, das sanfte Schlagen des Herzens, die etwas schnellere Atmung vom kurzen Sprint – einfach alles schien er plötzlich viel intensiver zu spüren als bisher, viel bewusster nahm er es in sich auf.

Was, wenn er all das plötzlich verlieren würde?

Ein schmerzhafter Stich durchfuhr sein Herz, begleitet von dem unsäglichen Wunsch, seine Tochter nie wieder loslassen zu müssen.

„Papa...?“, hörte er die besorgte Kinderstimme dicht an seinem Ohr. „Ist dir nicht gut, Papa?“

Kurogane wurde klar, dass er sich zu sehr gehen ließ. Die Kleine sollte sich nicht auch noch Sorgen machen müssen. Vorsichtig löste er das Mädchen aus seiner Umarmung, stellte sie sanft auf ihre Füße zurück und erhob sich.

„Nein, es ist nichts. – Ich hab nur grad gedacht, wie wichtig du mir bist, Kleines“, gab er nach einigem Zögern wahrheitsgemäß zu. Wer weiß, vielleicht...vielleicht war es bald zu spät für so etwas und er würde es im Nachhinein bereuen, ihr dies nicht einmal direkt gesagt zu haben...

„Papa!“

Wieder klammerte sie sich fest an ihn, wenn auch diesmal aus Ermangelung an Größe an seine Beine.

Da war er wieder, der Stich im Herzen. Und der Kloß im Hals...

Genug! Tomoyo war bereits beunruhigt und das reichte schon. Er machte es nur noch schlimmer, wenn er sich nicht endlich zusammennahm.

„Na los, Kleines, gehen wir zurück zu den anderen.“
 

Im Aufenthaltsraum angekommen, schnellte augenblicklich ein ihm wohlbekanntes eisblaues Augenpaar in seine Richtung und versuchte angestrengt, in seinem Blick zu lesen. Dem Gesichtsausdruck des Blonden nach zu urteilen, hatte dieser sicher die ganze Zeit über fieberhaft auf seine Rückkehr gewartet, vor allem als das Geräusch der Haustür erklungen und Tomoyo hinausgestürmt war.

Der Kindergärtner wäre mit Sicherheit hinterher gestürmt, wäre er nicht derzeit von den Knirpsen voll in Anspruch genommen wurden.

Mit einem knappen Nicken gab er dem Fragenden zumindest erst einmal zu verstehen, dass soweit alles in Ordnung ist. Die Details würde er genauer erklären, sobald sich eine Gelegenheit dazu ergab. Der Blonde verstand die kleine Geste, was er Kurogane mit dem Hauch eines angedeuteten Lächelns zeigte, bevor er sich deutlich ruhiger wieder den Kindern in seinem Schoß und um ihn herum widmete.

Was in aller Welt trieben sie da überhaupt, dass der Blonde in einem Gewirr hüpfender und rennender Knirpse saß?

„Weißt du was, Papi?“, unterbrach Tomoyo, welche sich immer noch dicht an die Seite ihres Vaters drückte, den spontanen Gedanken. „Sakura-chan ist wieder da!“

Überrascht blickte er erst zu seiner Tochter herunter,, dann im Raum umher. Das war wirklich eine Neuigkeit! Eine ziemlich wichtige sogar. Nur...wo steckte sie?

„Sakura-chan macht gerade in der Küche Tee fertig“, beantwortete der Kindergärtner die unausgesprochene Frage.

Scheinbar war seine Aufmerksamkeit immer noch halb bei Kurogane. Wie auch immer er das anstellte, mit den ganzen Bälgern um ihn herum. Sie könnten zumindest ein bisschen leiser sein beim Spielen. Der Geräuschpegel nahm gerade unangenehme Ausmaße an. So schlimm waren die doch sonst auch nicht! Oder hatte er etwas verpasst?

Egal, ändern konnte er daran sowieso nichts. Also ging der Schwarzhaarige den Weg des geringsten Widerstands und steuerte erst einmal die Küche an, um dort mit der Praktikantin reden zu können.

„Tomoyo, spiel doch schon mal weiter mit den anderen Kindern. Ich werd kurz der Kleinen helfen, dann geht es schneller.“

„Okay!“, willigte sie ohne jede Verzögerung ein und mischte sich unter die bunte Runde.

Mit einem kurzen Schmunzeln sah Kurogane ihr nach. Sie hatte die ganze Zeit über schon so interessiert herüber geguckt, dass es nun wirklich einfach gewesen war, sie mit einem einzigen kleinen Argument zum Gehen zu bewegen. Seine Tochter sollte nicht unbedingt mitbekommen, was er mit der Praktikantin und ihrem Freund zu besprechen hatte. Selbst wenn sie nur den winzigsten Verdacht schöpfen sollte, dass etwas nicht stimmte, würde sie nicht mehr nachgeben, bis sie wusste, worum es ging. Für ihr Alter konnte die Kleine manchmal verdammt stur sein, wie ihr Vater inzwischen wusste.

Wie erwartet stand Sakura in der Küche, war gerade damit beschäftigt, heißes Wasser in zwei Metallkannen für den Tee aufzugießen. Als sie den Schwarzhaarigen entdeckte, hielt sie kurz inne und grüßte freundlich, beendete ihre Tätigkeit schnell und fragte dann: „Kann ich etwas für Sie tun?“

„Kommt dein Freund dich heute zufällig abholen?“

„Wahrscheinlich nicht...“, meinte das Mädchen vorsichtig. „Shaolan hat immer noch sehr viel zu tun. Ich würde ihm gern weiterhin helfen, doch leider verstehe ich nicht viel von seinem Studium, deshalb bin ich heute schon wieder hier.“

Ah, daher also die plötzliche Planänderung...

„Gibt es etwas, was Sie von Shaolan wissen möchten?“, fragte die Braunhaarige weiter.

„Es betrifft eher gesagt euch beide, deshalb wäre es ganz gut, wenn ich auch ihn mal für fünf Minuten sehen könnte.“

Der Ausdruck auf Sakuras Gesicht wechselte ein wenig in Richtung Besorgnis, als sie mit einem Nicken Kuroganes Bitte zustimmte.

„Ich verstehe. Ich werde ihn nachher anrufen und fragen. Er kann sicher kurz vorbeikommen.“

Mit einem Nicken bedankte er sich und wollte gerade den Rückweg in den Aufenthaltsraum antreten, als ein blonder Schopf im Türrahmen auftauchte.

„Sakura-chan? Alles klar bei dir?“

Eine ziemlich fadenscheinige Frage, fand Kurogane. Der Blick der eisblauen Augen, welcher dauernd zu ihm herüber schnellte, zeigte nur allzu deutlich, weswegen der Blondschopf eigentlich gekommen war.

„Ja, der Tee ist soweit fertig. Er muss nur noch abkühlen“, beantwortete die Praktikantin die Frage, während sie schnell noch die Teebeutel aus den Kannen holte und in den Müll warf.

„Das ist schön. Kannst du dann vielleicht kurz auf die Kinder aufpassen? Ich glaube, ich brauch eine kleine Pause“, scherzte er und kratzte sich verlegen am Hinterkopf.

„Natürlich!“

Erfreut, eine neue Aufgabe bekommen zu haben, nickte sie Kurogane noch einmal zu und verließ schnurstracks den Raum. Der Blondschopf, in dem sich Angst und Neugierde seit Kuroganes Rückkehr einen harten Kampf zu liefern schienen, trat nun richtig ein, lehnte die Tür ein wenig an und setzte sich auf den noch freien Stuhl am Küchentisch. Jetzt hatte die Neugierde deutlich die Oberhand über die Gefühlswelt des Kindergärtners gewonnen und die Frage, die ihm ins Gesicht geschrieben stand, hätte er rein theoretisch nicht einmal laut aussprechen brauchen:

„Und, wie ist es gelaufen?“

„Du hast Recht. Diese Frau ist...keine einfache Sekretärin“, versuchte Kurogane, seinen Eindruck möglichst harmlos wirkend in Worte zu kleiden.

„Dann kann Yuuko-san dir helfen?“

„Was heißt ‚helfen’? Sie hat versprochen, sich ein wenig umzuhören und VERSUCHT, etwas für Tomoyo und mich zu tun, aber...“

‚... Aber die Chancen standen nicht gut. Erst recht nicht in der kurzen Zeit, die sie nur noch hatten.’

Die unausgesprochenen Worte hingen schwer in der Luft, dröhnten in den Ohren.

Wann sie wohl kommen würden, um ihm seine Tochter wegzunehmen? Konnte er denn gar nichts tun, um diese Leute von Tomoyo fern zu halten?

Scheinbar stand Kurogane seine Sorge buchstäblich ins Gesicht geschrieben, denn die sanfte Berührung einer feingliedrigen Hand an seiner Schulter ließ ihn aufblicken, direkt in ein Paar blassblauer, nicht minder besorgt aussehender Augen.

„Gib dich nicht auf. Es MUSS einen Weg geben. Es darf doch nicht sein, dass ein fremdes Amt die Macht besitzt, eine vollkommen intakte, idyllische Familienbeziehung auseinander zu reißen.“

„Wenn ich diesen Weg nur sehen könnte...“

„Einfach ist es leider nicht, nein...“

Fye stieß einen tiefen Seufzer aus. Auch ihm bereitete die Situation Sorgen. Auch er suchte fieberhaft nach einer Lösung. Das sah Kurogane ihm deutlich an. Für den Moment schien der Blonde seine eigenen Probleme regelrecht vergessen zu haben.

„Hat Yuuko-san nicht irgendetwas Konkretes gesagt, was sie tun könnte? Wo sie nach Beweisen suchen könnte?“, versuchte der Kindergärtner es erneut.

„Na ja... Sie will mit den beiden Kindern reden, die als Zeugen kurz vor dem Unfall dabei waren. Und hat für mich einen Widerspruch vorbereitet, den ich erst mal beim Jugendamt einreichen soll.“

„Das ist doch schon mal was! Ich bin sicher, Shaolan-kun und Sakura-chan wären eine große Hilfe. Und den Widerspruch solltest du gleich wegbringen. Wo ist er denn?“

„Noch im Mail-Postfach. Einen Computer mit Drucker hast du hier nicht zufällig?“

„Hier leider nicht“, bedauerte der Kindergärtner, „aber gleich um die Ecke ist ein preiswertes Café, da gehen wir immer hin, wenn es etwas Wichtiges am Computer zu erledigen gibt.“

Kurogane wusste, welches Café der andere meinte. Oft genug sind sie daran vorbeigefahren, wenn er Tomoyo hergebracht oder abgeholt hatte.

„Schau am besten gleich nach, ob Yuuko dir die Mail schon zugeschickt hat, und schick gleich alles weg, wenn es geht“, schlug Fye weiter vor.

Das wäre natürlich das Beste, aber...

Wie von selbst ging Kuroganes Blick zur Küchentür, hinter der die Kinder mit ihren vielen Spielsachen spielten. Unter ihnen seine Tomoyo...

„Das dauert keine zwanzig Minuten und dann siehst du sie auch schon wieder, Kuro-rin“, scherzte der Blonde, der scheinbar ganz genau gemerkt hatte, was ihm durch den Kopf ging.

Und er hatte Recht. Statt sich hier seiner Trübsal hinzugeben, sollte er wenigstens die paar Dinge, die er tun konnte, so schnell wie möglich erledigen. Egal, wie gering die Chancen sein mochten. Es war immer noch besser als nichts.

Entschlossen stand er auf.

„Kann ich dich noch mal für ein paar Minuten allein lassen?“

„Klar, kein Problem! Ich halte hier solange die Stellung.“

‚Kannst du deine Angst unter Kontrolle halten, wenn ich mich noch einmal los mache? Und passt du gut auf meine Tochter auf?’

‚Ja. Ich bin in Ordnung und um Tomoyo werde ich mich natürlich kümmern.’

Weder er noch der Blonde hatten die beiden Themen direkt angesprochen, dennoch hatten sie sich problemlos verstanden, dessen war sich der Schwarzhaarige sicher. Es war schon seltsam. Als ob sie miteinander sprachen, ohne Worte zu benutzen. Sie wussten inzwischen so viel von dem jeweils anderen, dass alles weitere gar nicht mehr nötig war.

Ein wenig beruhigter verließ Kurogane den Raum.

Aber es gab da noch etwas, was neben der allgemeinen Problematik ganz besonders an ihm nagte.

„ein Hinweis der Mutter“

So hatte die Begründung gelautet, mit der das Jugendamt ihm das Sorgerecht für seine Tochter entziehen wollte. Tomoyos Mutter. Es war schlicht und ergreifend unmöglich. Was hatte man sich da nur für einen schlechten Scherz erlaubt?
 

Kurz nachdem der Schwarzhaarige die Küche verlassen hatte, machte auch Fye sich auf den Rückweg zu seinen Schützlingen und Sakura, der er die Obhut für die Kleinen in den letzten zehn Minuten ganz allein überlassen hatte.

Sakura-chan... Es wäre ihm lieber gewesen, wenn sie noch ein paar Tage zu Hause geblieben wäre. Aber bitten konnte er sie darum natürlich nicht, das wäre reichlich seltsam und würde nur unangenehme Fragen aufwerfen, auf die er einfach keine passende Antwort geben könnte.

Vom Aufenthaltsraum aus bekam der Kindergärtner gerade noch mit, wie die kleine Tomoyo ein weiteres Mal an ihrem Vater klebte und ihn nicht schon wieder gehen lassen wollte. Auch dem Herrn Papa stand nicht so sehr der Sinn danach, sich schon wieder von seinem kleinen Sprössling zu trennen, das sah man ihm deutlich an. Generell sah man dem sonst so verschlossenen Brummbär heute so vieles an. Seine Mimik war ein offenes Buch, das fortwährend von seinen Problemen erzählte. Wenn er den Kummer in den sonst so klar leuchtenden Augen sah, vergaß Fye sogar seine eigenen Probleme für den Moment und verfiel in angestrengtes Nachdenken, ob es nicht doch irgendeine einfache, effektive Lösung gab.

Gerade lösten sich Vater und Tochter widerwillig von einander, die Kleine blieb wartend im Flur zurück, während der Große sich schließlich umdrehte und nach draußen verschwand. Einige Sekunden blieb sie so stehen, sodass Fye im ersten Moment befürchtete, sie könnte ihm vielleicht nachlaufen, doch dann drehte sie sich um und kam in den Aufenthaltsraum zurück.

Wie jedes Mal, wenn sie sich von ihrem Vater verabschieden musste, klang der Trennungsschmerz in den hübschen violetten Augen noch ein wenig nach. Nicht nur für Kurogane, auch für Tomoyo würde eine Welt zusammenbrechen, wenn man sie plötzlich von ihrem Vater trennen würde.

Als das Mädchen direkt vor seinen Füßen anhielt, hielt der Kindergärtner in seinen Gedanken erstaunt inne.

„Nii-chan, weißt du, was Papa hat?“

Autsch, Volltreffer.

„Ah, dir ist es also auch aufgefallen, ja?“, versuchte er, die direkte Frage vorsichtig zu umgehen.

„Ja. Papa sieht so traurig aus. Seit gestern schon. Als ob etwas Schlimmes passiert ist.“

Tomoyo lag mit ihrer Vermutung gefährlich nah. Fye musste aufpassen, dass sie den genauen Grund für diese plötzliche Depression nicht auch herausbekam.

„Stimmt, das habe ich mich auch schon gefragt.“

Also besser unwissend spielen. Lügen erkannte die Kleine mit Sicherheit. Und auf die Schnelle fiel ihm auch nichts Passendes ein. Seit wann ließ ihn seine Kreativität eigentlich so im Stich?

„Können wir meinen Papi nicht irgendwie wieder fröhlich machen?“

„‚Wir’?“, fragte Fye verdutzt.

„Na ja, du magst Papi doch auch, da dachte ich...“

Tomoyo sprach noch weiter, doch das bekam Fye erst gar nicht mit. Die Worte der Kleinen waren Fye wie ein Blitz in den Kopf gefahren. Oder eher in den Bauch.

‚Du magst Papi doch auch’?

Wie...genau hatte sie das gemeint? Okay, sie war vier Jahre alt. Sie verstand von solchen Dingen ganz sicher noch nichts. Wahrscheinlich meinte sie einfach nur, dass er und Kurogane doch nun Freunde waren. Waren sie ja irgendwie auch.

Nur...warum wollte das Kribbeln dann einfach nicht mehr aufhören, der Wortlaut nicht aus seinem Kopf verschwinden?

‚Du magst Papi doch auch.’

„Nii-chan?“

Ertappt fuhr er ein wenig zusammen, sah das kleine Mädchen fragend an, welches scheinbar auf irgendeine Antwort von ihm wartete.

„Was...meintest du noch mal, Tomoyo-chan?“

Zuerst runzelte die Kleine leicht die Stirn, dann wiederholte sie ihre Worte noch einmal.

„Papi macht immer so tolle Sachen für mich und ich freue mich da immer ganz dolle. Und da dachte ich, dass wir vielleicht auch etwas Tolles für meinen Papi machen könnten, damit er sich auch freut. Aber ich weiß nicht, was...“

Fye wurde sich zum wiederholten Mal bewusst, was für ein wahnsinnig süßes Kind Kurogane da hatte. Dass sie sich so sehr um ihren Vater sorgte. Und die Idee war nicht einmal schlecht. Vielleicht konnten sie das große Hündchen wirklich irgendwie ein wenig aufheitern...

„Hm...“, überlegte Fye laut. „Weißt du was, Tomo-chan? Ich glaub, mir ist da neulich etwas aufgefallen...“
 

Die versprochene E-Mail war tatsächlich schon in seinem Posteingang gewesen, im Anhang ein entsprechender Antrag auf Widerruf gegen die Entscheidung des Jugendamtes. Die Formulierung klang reichlich kompliziert. Sie bezog sich vor allem auf seinen Anspruch auf Sorgerecht und Elternrecht, welche er als Vater laut dem BGB hatte und die auch in einigen Paragraphen der Satzung des Jugendamtes verankert zu sein schienen. Im Schluss mit einer Bitte auf Überprüfung der Sachlage durch einen Fachverständigen.

„Sekretärin“...

Das war bei weitem keine angemessene Bezeichnung für diese Person. Nur noch wusste der Schwarzhaarige nicht, wer oder was sie wirklich war.
 

Zurück im Kindergarten, hatte sich die Atmosphäre plötzlich stark verändert. Tomoyo begrüßte ihn zwar so überschwänglich wie immer, wenn er zwischendurch weg gewesen war, doch da lag so ein seltsames Glitzern in ihren Augen, das er nicht so recht deuten konnte.

Auch der Blondschopf, den er wie erwartet im Spielzimmer antraf, hatte dieses verdächtige Funkeln in den Augen, das so gar nicht in die derzeitige Situation und vor allem zu der bisher anhaltend kriselnden Stimmung passen wollte.

„War irgendetwas los, während ich weg war?“, fragte Kurogane an seine Tochter gewandt, die fröhlich an seinem Arm hing, schaute dabei aber wenigstens genauso oft zu Fye herüber.

Allerdings schien keiner von beiden geneigt, seine Frage zu beantworten. Missmutig zogen sich Kuroganes Augenbrauen zusammen.

Was zur Hölle spielten die zwei hier mit ihm?

Wenn die kleine Praktikantin und die vielen Knirpse nicht in Hörweite gewesen wären, hätten sich alle beide eine kräftige Beschwerde über diesen absolut deplatzierten Blödsinn anhören dürfen – deplatziert vor allem, weil es ganz eindeutig irgendetwas gegen ihn Gerichtetes sein musste.

Trotz der Heimlichtuerei schien diese seltsame neue Verbindung zwischen ihm und dem Kindergärtner immer noch zu funktionieren, denn ohne dass auch nur ein Wort gefallen war, legte dieser mit einem schelmischen Zwinkern den Finger auf die Lippen und meinte dann: „Wenn sich das große Hündchen noch ein bisschen gedulden kann und nicht gleich losbellt, dann findet es den leckeren Knochen ganz allein.“

„Welches Hündchen?“, fragte Tomoyo verwundert.

Kurogane ignorierte sie. Das war ja wohl die Höhe! Erst diese dämlichen Spitznamen, danach endlich einmal so etwas wie Ernst und Aufrichtigkeit zwischen ihnen und jetzt doch wieder dieses alberne Versteckspiel – UND nun wurde er auch noch mit irgendwelchen Viechern verglichen!

„Hihi, du kannst ja richtig knurren, Papi! Bist du etwa der Hund?“, giggelte Tomoyo plötzlich neben ihm.

Er hatte...WAS?

Das war ja wohl echt die Höhe! Die zwei machten ihn einfach nur fertig.

„Euch kann man keine zwei Sekunden aus den Augen lassen!“, zischte er, funkelte beide aus dem Augenwinkel böse an und stahl sich Richtung Küche davon.

Er brauchte jetzt dringend Ruhe vor den beiden.

„Nimm dir für morgen Nachmittag mal nix vor“, hörte er noch leise Fyes Worte, als er an ihm vorbeirauschte, entschied sich aber, ihn zu ignorieren.
 

Bis zum späten Nachmittag hatte sich die Stimmung wieder gelegt. Kuroganes angekratztes Gemüt hatte sich nach zwei Tassen Kaffe – er hatte sich extra welchen mitgenommen, als absehbar geworden ist, dass er nun für längere Zeit hier bleiben würde – wieder beruhigt, Tomoyo war auch bald wieder ihr ganz normales, niedliches selbst und auch der Kindergärtner wirkte wenig später schon wieder erstaunlich normal. Erstaunlich vor allem deshalb, weil die Albernheit vom Mittag ihm scheinbar neue Energie verliehen hatte. Er wirkte bis auf einige wenige Momente sehr viel ausgeglichener als die letzten Tage.

Viel mehr als der Kaffee war es letztlich wohl diese Tatsache, die auch Kurogane wieder beruhigt hatte. Was auch immer die beiden ausgeheckt hatten, es hatte dem Blondschopf zumindest ein Stück Seelenfrieden zurückgegeben – für den Moment.

Wie versprochen schien die kleine Praktikantin den Jungen angerufen zu haben, denn kurz nach 17:00 Uhr stand dieser auch schon in der Tür. Ein wenig abgehetzt wirkte er. Wahrscheinlich hatte er bis zur allerletzten Minute noch gearbeitet und war dann Hals über Kopf aufgebrochen. Ein wenig tat es Kurogane leid, dass er ihn in einem so ungünstigen Moment belästigen musste – abgesehen davon, dass er ihn und die Kleine ÜBERHAUPT belästigen musste. Doch es ging nicht anders.

„Shaolan-kun! Kommst du heute wieder Sakura-chan abholen?“, fragte Tomoyo freudig, als sie ihn erblickte.

Das war denkbar ungünstig. Tomoyo sollte nichts davon mitbekommen, weshalb der Junge heute hier war.

„Äh...“, unsicher huschte dessen Blick zwischen Kurogane und dem kleinen Mädchen hin und her. „Ja, genau. Ich wollte Sakura abholen.“

Innerliches Ausatmen. Das war gerade so noch gut gegangen.

Dem Kindergärtner schien die Spannung nicht entgangen zu sein. Und gerade weil er ebenfalls wusste, warum Shaolan jetzt hier war, lenkte er schnell ein und half, Kurogane eine ruhige Atmosphäre zu verschaffen.

„Tomo-chan! Wir haben Moko-chan noch gar nicht gefüttert! Hilfst du mir schnell?“

„Au ja!“

Mit dem Karnickel konnte man sie immer wieder aufs Neue begeistern. Kurogane machte drei Kreuze.
 

Als sie schließlich nur noch zu dritt waren, brachte Kurogane sein Anliegen vor.

„Auch wenn ich diese Sache ungern weiter vertiefen möchte... Ihr erinnert euch ja an den Abend, als die Kleine von dem Betrunkenen belästigt wurde, oder?“

„Natürlich“, antwortete der Junge, sein Gesicht angespannt.

„Der Mann war ein Soldat aus meinem Regiment. Ich hab ihn an dem Abend aus der Kneipe abholen müssen, weil er nicht mit den anderen zurück gekommen war. In welchem Zustand er war, habt ihr ja gesehen.“

Beide nickten.

„Das Problem ist...er hat jenen Abend nicht überlebt.“

Dem Jungen erschlafften in diesem Moment jegliche Gesichtszüge und bei dem Mädchen befürchtete er im ersten Moment sogar, dass sie umkippen könnte, so bleich war sie auf einmal geworden.

Kurogane wartete einen Moment, damit sie diese Information erst einmal verarbeiten konnten, bevor er weiter sprach.

„Er hat sich nach meinem Eingreifen ganz schön aufgeregt, ist handgreiflich geworden und bekam irgendwie sogar meine Dienstwaffe zu fassen. Wenn ich ehrlich bin, kann ich echt nicht sagen, wer von uns beiden am Ende auf den Auslöser gekommen ist. Fest steht, dass sich ein Schuss gelöst hat, der ihn das Leben gekostet hat.“

„Oh mein Gott...“, stotterte die Kleine schließlich.

Sie war immer noch bedrohlich blass, sodass der Schwarzhaarige sich wirklich nicht sicher war, ob es gut war, ihr das erzählt zu haben. Ihr Freund schien das ähnlich zu sehen, denn er legte schützend seinen rechten Arm um sie, griff mit der freien linken Hand nach ihrer.

„Aber warum...warum haben Sie uns das verschwiegen? Wenn an dem Tag etwas so Schlimmes passiert ist und wir sogar kurz davor noch bei Ihnen waren...“

Sie schüttelte verzweifelt den Kopf, dann schloss sie die Augen, atmete ein paar Mal tief durch, scheinbar um ihre Gefühle wieder unter Kontrolle zu bringen.

Schließlich schien sie sich beruhigt zu haben und sah Kurogane mit ziemlicher Festigkeit an.

„Sie haben Ihren Kollegen bestimmt nicht töten wollen.“

Was Kurogane am meisten verwunderte, war, dass sie es nicht einmal als Frage formuliert hatte. Es war eine reine Feststellung gewesen. Und sie sprach ihm aus der Seele.

„Nein.“ Wie zur Bekräftigung der Worte schüttelte er sanft den Kopf. „Das wollte ich nicht. Ich kann es nicht ändern, aber ich wünschte, es wäre nicht dazu gekommen.“

Warum war es plötzlich so viel geworden? Warum hatte er die Übersicht verloren? Das hätte ihm nicht passieren dürfen.

„Das muss wirklich schlimm für sie sein... Sind...sind Sie deshalb so oft mit im Kindergarten? Haben Sie deswegen ihre Arbeit verloren?“

Klar, dass diese Frage irgendwann kommen musste. Spätestens jetzt, wo er wirklich täglich hier war, wurde es doch auffällig, dass etwas mit seiner Arbeit nicht stimmte.

„Nicht direkt entlassen, aber suspendiert. Genaueres kann erst entschieden werden, wenn der Fall geklärt ist. Das allein wäre auch gar kein Problem. Die Anwälte in der Armee sind sehr gut. Ich bin sicher, dass früher oder später alles in Ordnung gekommen wäre. Allerdings habe ich jetzt keine Zeit mehr zu warten. Das Jugendamt will mir die Kleine wegnehmen.“

Zum wiederholten Male wurde er von den beiden fassungslos angestarrt. Irgendwo taten sie Kurogane auch Leid. Sie waren selbst noch halbe Kinder und trotzdem musste er sie mit solchen Problemen belasten.

„Das können die doch nicht einfach so...“, flüsterte das Mädchen fassungslos.

„Gibt es irgendetwas, was wir für Sie tun können, Kurogane-san? Wir wissen, dass Sie kein schlechter Mensch sind. Und wir wissen, wie gefährlich der Mann an dem Abend gewesen ist. – Ich will nicht wissen, was passiert wäre, wenn Sie nicht eingegriffen hätten...“

Der Junge vertraute ihm also ebenso. Irgendwie hatte es etwas Beruhigend, das zu wissen.

„Es gibt etwas, was ihr für mich tun könntet. Kennt ihr die Leiterin dieses Kindergartens? Yuuko Ichihara.“

„Ja, ich kenne sie. Bei ihr haben Fye-san und ich den Vertrag für mein Praktikum abgeschlossen“, erklärte das Mädchen.

„Diese Sekretärin scheint nebenbei noch anderweitig tätig zu sein. Ich weiß nicht, was genau sie noch macht, aber ganz offensichtlich kennt sie sich in Rechtsangelegenheiten aus. Ich habe heute Vormittag mit ihr gesprochen. Sie möchte auch mal mit euch reden, wenn das möglich ist.“

„Natürlich! Wann können wir Ichihara-san denn treffen?“, willigte der Junge sofort ein. Seine Freundin stimmte nickend zu.

„Ich geb euch mal ihre Telefonnummer“, antwortete Kurogane, während er eine kleine Visitenkarte aus seinem Portemonnaie zog. Dort waren neben der Dienstnummer auch die Sprechzeiten vermerkt.

Der Junge nahm sie entgegen, schaute sie sich zusammen mit dem Mädchen kurz an und ließ sie dann in seinem Portemonnaie verschwinden.

„Wir melden uns so schnell wie möglich bei ihr“, versprach er.

„Danke.“

Es war nach wie vor nicht viel. Auch die beiden hatten den eigentlichen Unfall nicht direkt gesehen und Kurogane wusste nicht, wie viel Gehalt ihrer Aussage noch beigemessen würde, nachdem sie ihn nun persönlich kannten. Aber es war besser als nichts und daran musste er festhalten...
 

TBC...

Ein Lied, um zu vergessen

Erst mal an alle, die auf der ENS-Liste sind bzw. drauf wollen:

Bitte schreibt mir 'ne kurze Nachricht oder so, wenn sich euer Mexx-Name mal ändert oder irgendwer neu auf die Liste bzw. von der Liste runter will. Vor allem Nic-Wechsel bitte mitteilen! Sonst bekomme ich bloß Fehlermeldungen, dass der User nicht gefunden wurde, und ihr habt keine Nachricht mehr...
 

Nachdem seit dem letzten Update diesmal nur etwas mehr als ein halbes Jahr vergangen ist, bin ich mir trotzdem nicht sicher, ob das nun eine lobenswerte Leistung sein soll oder nicht. <_<

Ich sollte nicht andauernd "Hier!" rufen, wenn es irgendwo Arbeit gibt. Dann würde ich auch häufiger zum Schreiben kommen.

Leider ist dies das letzte Kapitel, was ich (seit nun fast zwei Jahren) fertig vorgeschrieben herumliegen hatte. Ich kann daher nicht versprechen, wann das nächste Kapitel nach diesem fertig sein wird zum Hochladen. Aber ich streng mich an, dass ich es trotzdem irgendwie innerhalb eines halben Jahres schaffe. Mindestens. ><

Und nun erst mal viel Spaß!
 

-~*~-
 

Disclaimer: Die Charas gehören (bis auf wenige Ausnahmen) nicht uns, sondern Clamp. Wir wollen kein Geld damit verdienen, sondern nur unterhalten.
 

Erstschreiber des Kapitels: Lady_Ocean

Kapitel: 18/26
 

-~*~-
 

„Was wir brauchen, sind ein paar verrückte Leute; seht euch an, wohin uns die Normalen gebracht haben.“

(George Bernard Shaw)
 

-~*~-
 

Ein Lied, um zu vergessen
 

Kurogane hatte nicht sonderlich gut geschlafen. Am liebsten würde er sich einfach umdrehen, die ganze gottverdammte Welt um sich herum ausblenden und nie wieder etwas mit ihr zu tun haben. Sollten sie ihn doch einfach alle in Ruhe lassen! Seine ach-so-tollen Kollegen, die hinter seinem Rücken alle mit dem Finger auf ihn zeigten und verächtlich tuschelten, die bellende und keifende Dukari, die vor lauter Schmerz total den Bezug zur Realität verloren zu haben schien, diese hirnlosen Heinis vom Jugendamt, die gerade dabei waren, sein gerade wieder in die Fugen kommendes Leben zu zerschmettern, und erst recht diese verschollene Rabenmutter, die Hals über Kopf ihre Familie aufgegeben hatte und nun erneut zum Schlag ausholte, um ihn zutiefst zu verletzen.

Oruha.

Wie hatte er sich in die damals nur verlieben können? Wie hatte er so blind sein können, in keinster Weise zu bemerken, dass sie so kaltherzig mit den Gefühlen anderer spielte? Was hatte er ihr bloß getan, dass sie solch einen Groll gegen ihn hegte?

„Kuro-chama! Aufstehen~!“

„Papi, Frühstück ist fertig~!“, trällerte es, begleitet von einem Klopf-Konzert gegen seine Schlafzimmertür.

Diese beiden verstand Kurogane auch nicht mehr. Dass Tomoyo gute Laune hatte und diese auch überschwänglich zum Ausdruck brachte, war an sich nichts Neues. Bei dem Luftikus dagegen schon, zumindest seit den neuerlichen Geschehnissen, mit denen auch dieser zu kämpfen hatte.

Und generell stand es den beiden seit gestern Nachmittag förmlich ins Gesicht geschrieben, dass sie irgendetwas ausheckten. Nur was, das konnte der Schwarzhaarige sich beim besten Willen nicht vorstellen. Wie dem auch sei, ihm graulte jetzt schon davor.

„Kuro-muff! Wenn du nicht aufstehst, kommen wir rein und wecken dich!“, kam frohlockend eine Drohung auf seine aus gebliebene Antwort.

„Ja, doch! Macht nicht so einen Radau am frühen Morgen, verdammt...“

Mit einem genervten Ächzen schälte Kurogane sich schließlich doch aus dem Bett. Er musste ja sowieso aufstehen.
 

Die seltsame Laune seiner Tochter und seines Gastes hielt nicht nur das ganze Frühstück über an, sie setzte sich auch auf dem Weg zum Kindergarten fast ungemindert fort, was Kurogane nun wirklich erstaunte. Was um alles in der Welt konnte bedeutsam genug sein, um den Blonden seinen Verfolgungswahn praktisch vergessen zu lassen?!

Als sich das Schauspiel auch im Kindergarten unverändert fortsetzte, mehr noch, sogar die kleine Praktikantin mit einem untypisch breiten Grinsen und vor Erwarten leuchtenden Augen an diesem Morgen den Kindergarten betrat, hielt Kurogane es nicht mehr aus.

„Was genau verheimlicht ihr hier alle vor mir?“

„Verheimlichen? Wir doch nicht! Du denkst vieeeeeel zu schlecht von uns, Kuro-pii!“, säuselte der Kindergärtner – und es hätte gar nicht falscher klingen können. Vor allem, weil die beiden Mädchen mit großen Rehaugen wie im Takt zu diesen Worten mit dem Kopf schüttelten.

„Mir reicht’s langsam mit diesem Kinderkram! Entweder ihr sagt mir, was los ist, oder ich verschwinde wieder! Dieses ganze Theater nervt!“

Gerade diese blonde Grinsebacke sollte am besten wissen, dass im Moment weiß Gott nicht der richtige Zeitpunkt für solcherlei Scherze war. Seine Nerven lagen auch so schon blank. Nur stand seine Tochter leider direkt neben dem grinsenden Lulatsch, da durfte er kein falsches Wort riskieren.

„Kuro-sama! Wenn du böse zu Nii-chan, Tomo-chan und Sakura-chan bist, kriegst du es mit mir zu tun!“

Und schwupp – schon war ein weiterer Dreikäsehoch auf der Bildfläche erschienen und baute sich mit nach vorn gerecktem Kinn und den Händen in den Hüften zwischen den zwei Parteien auf. Doch diesmal hatte Kurogane Glück und erhielt ein wenig Unterstützung.

„Ryu-kun! Sei nicht so frech zu Erwachsenen. Wer keinen Respekt vor Älteren hat, wird kein mutiger und starker Erwachsener, so wie dein Vater.“

„Ja, Mama...“

Ein wenig kleinlaut und sauer dreinblickend warf der braune Strubbelkopf einen Blick über die Schulter, wo seine Mutter im Türrahmen stehend einen mahnenden Blick verteilte. Praktisch im selben Augenblick ertönte erneut das leise Klicken der Haustür und dem Dialog, der dabei hereingetragen wurde, ließ keinen Zweifel daran aufkommen, welcher Knirps diesmal gebracht wurde.

„Verehrter Herr Papa, mit Verlaub würde ich gern darauf verweisen, dass heuer der lang ersehnte Tag der Freia ist. Hast du dir bereits ersonnen, auf welch wunderbare Weise wir diesen Nachmittag gemeinsam mit Frau Mama erfüllen könnten?“

„Geliebter Sohnemann, sei unbesorgt. Auch wenn meine Wenigkeit die langen Tagesstunden getrennt von dir und unserer geliebten Mutter zu bestreiten hat, so gilt mein Denken doch einzig und allein euch. Selbstverständlich ersann ich mir bereits einige Möglichkeiten, wie wir in unserem trauten Heime diese wunderbare Zeit der Familie zu verbringen vermögen.“

Kurogane schlief förmlich das Gesicht ein, als sowohl charakterlich als auch äußerlich zwei fast identische Sorata den Aufenthaltsraum betraten. Der zweite wirkte lediglich ein ganzes Stück älter, praktisch wie eine Version des Knirpses in 20 bis 30 Jahren. Das Paradebeispiel zu: „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“.

Und schon hatte das viel zu gleiche Gespann die Gruppe mitten im Raum entdeckt und ‚Sorata, der ältere’ wechselte das Gesprächsthema: „Oh teurer Freund! Welch eine Freude ist dein Anblick an diesem gar entzückenden Morgen! Meine Dankbarkeit vermag ich nicht in Worte zu kleiden, dass du stets aufs Neue nicht zagst, meinen geliebten Sohn mit deiner endlosen Fürsorge, deiner sanften Barmherzigkeit zu empfangen.“

„Nicht doch, Arisugawa-san. Es ist immer wieder eine Freude für mich, Ihren lieben Sohn hier bei mir zu haben“, trällerte der Blondschopf und tanzte den soeben eingetroffenen Eltern entgegen. „Und machen Sie sich keine Sorgen, Frau Ou, Ryu-kun ist wirklich ein ganz vorbildlicher kleiner Gentleman.“

„Dann bin ich ja beruhigt. Ich weiß ja, was für ein kleiner Wildfang mein Schatz sein kann...“

Und so zerstreute sich Kuroganes Vorhaben, die drei Ränkeschmiede endlich zur Rede zu stellen, durch den allmorgendlichen Trubel der nach und nach eintreffenden Kinder und deren Eltern. Kopfschüttelnd ergab er sich – vorerst – seinem Schicksal und ging in die Küche. Unter dem Vorsatz, die ersten Teekannen für den Tag vorzubereiten, konnte er so zumindest einige ruhige Minuten für sich ergattern. Nun, nicht ganz für sich. Seine Tochter hatte sich sofort an seine Hand geklammert, als er sich zum Gehen gewandt hatte, und so werkelten sie nun gemeinsam an den Schränken herum, stellten die Teebecher in den Küchenkorb, reihten die Kannen ordentlich auf der Arbeitsfläche auf und schalteten die Wasserkocher ein. Eigentlich hatte Kurogane seine Tochter nun noch einmal im Vertrauen fragen wollen, was sie und der Kindergärtner gestern ausgeheckt hätten, doch sie war nun so vertieft in ihre neue Aufgabe, dass er es einfach dabei beließ und stattdessen die ruhigen Momente genoss, die er so gemeinsam mit der Kleinen gewonnen hatte.
 

Bis zum Nachmittag hatte Kurogane es noch mehrere Male versucht, Sakura, Fye oder seine Tochter auf deren gemeinsames Komplott anzusprechen, doch sie wichen jedes Mal aus. Alle drei machten es sich zu Nutzen, dass die restlichen Kinder keine Ahnung von ihrem Vorhaben hatten und Kurogane sich in ihrer Gegenwart dementsprechend nicht auffällig verhalten konnte. Dass selbst seine Jüngste diese Strategie von den zwei älteren übernahm, brachte den Schwarzhaarigen am meisten aus dem Konzept. Natürlich, sie war ein aufgewecktes, cleveres Mädchen. Aber sie war vier! Herrgott, VIER! Und begriff selbst solche Sachen so schnell. Was sollte das werden, falls er sie für ein halbes Jahr, oder ein Jahr, oder vielleicht noch länger nicht mehr sehen dürfte? Würde er sie überhaupt wieder erkennen, bei dieser schnellen Entwicklung? ... Würde SIE ihn wieder erkennen...?

„Kuro-muff! Du starrst ja schon wieder Löcher in die Luft“, neckte ihn die blonde Grinsebacke, die wie aus dem Nichts neben ihm aufgetaucht war. Zu einer Erwiderung kam Kurogane gar nicht, denn ehe er sich versah, war das Gesicht des anderen nur noch wenige Zentimeter von seinem entfernt, die Augen ein wenig mürrisch zusammengezogen und mit gespielt ernstem Schmollmund.

„Wenn du immer so grimmig guckst, hast du bald richtig tiefe Falten.“

Bei diesen Worten lagen die Spitzen der langen, kühlen Finger plötzlich auf seinen Augenbrauen, zogen diese sanft etwas auseinander. Halb durch den Schreck, halb wegen der sanften, wohltuenden Bewegung entspannte sich die Mimik des Schwarzhaarigen tatsächlich. Der Blauäugige lächelte daraufhin sanft, strich noch zwei, dreimal über die nun glatte Stirn, so wie bei einem weichen Stoff, um noch einmal sicher zu gehen, dass wirklich kein noch so kleines Fältchen übrig geblieben war.

„Genau, so ist’s richtig.“

Die Finger wanderten weiter nach außen, Richtung Schläfen, über die Wangenknochen und hinunter zu den Mundwinkeln.

‚Der Kerl hat wirklich Hände wie ´ne Frau“, schoss es Kurogane durch den Kopf.

„Und wenn du dir nun noch angewöhnst, hin und wieder ein wenig zu lächeln, kann dir garantiert niemand mehr widerstehen.“

Damit zog er Kuroganes Mundwinkel links und rechts auseinander, was in Kombination mit dessen erneut mürrischem Blick in einer ziemlich schrägen Grimasse endete.

Bevor der Schwarzhaarige die Chance hatte, die frechen Hände zu packen, lachte der Blonde vergnügt auf, verschränkte die Finger schnell hinter seinem Rücken und tänzelte neckisch um den hoch gewachsenen Mann herum, bevor er sich trollte und zu den Kindern zurückging.

Kurogane schaffte es nach wie vor nicht, sich zu bewegen und ihm nachzusetzen, ihn für diesen Blödsinn zu schelten. Er war irgendwie... paralysiert.

Gut, dass die meisten Knirpse inzwischen weg waren. Freitags holten die meisten Eltern ihre Kinder schon gegen Mittag ab, bis 15 Uhr war dann auch der letzte weg und sie konnten ebenfalls Feierabend machen. So bekamen die Kinder die bisweilen seltsamen Allüren ihres Kindergärtners nicht mehr mit.

Ein Blick zur Spielecke bestätigte Kurogane, dass auch Yuzu, das letzte Kind, das heute noch auf seine Mutter wartete, so sehr in ihr Spiel mit Tomoyo vertieft war, dass sie nichts mitbekommen hatte.

Nicht auszudenken, was die Eltern der Kinder vielleicht denken mochten, wenn die Knirpse ihnen daheim dann solche Geschichten erzählten.
 

„Ähm...Kurogane-san?“, sprach Sakura ihn vorsichtig an, nachdem auch Yuzuriha gegen 14 Uhr abgeholt worden war alle mit den letzten Aufräumarbeiten beschäftigt waren. „Shaolan-kun und ich haben heute Morgen mit Ichihara-san gesprochen.“

Sofort hatte das Mädchen seine ungeteilte Aufmerksamkeit.

„Wir haben ihr so genau wie möglich erzählt, was wir an jenem Abend erlebt haben. Ichihara-san meint, die Informationen wären sehr wertvoll, aber sie ist sich nicht sicher, wie viel Gewicht unseren Aussagen bei den Untersuchungen beigemessen würde, weil wir Sie ja inzwischen persönlich kennen.“

Damit hatte er ja schon gerechnet. Trotzdem, es versetzte ihm einen gewissen Stich, diese Aussage noch einmal bestätigt zu hören.

Die kleine Praktikantin, die an Kuroganes Mimik scheinbar genau erkannte, was in diesem gerade vor sich ging, hakte daher schnell nach: „Aber ich glaube, sie stellt jede Menge weiterer Nachforschungen an. In dem Ordner, in dem sie unsere Aussagen weggeheftet hat, waren schon jede Menge Berichte und Notizen. Wie bei einer richtigen Detektivin oder so.“

Die rehbraunen Augen des Mädchens sprühten geradezu vor Bewunderung, während sie dies sagte. Allein diese Reaktion brachte Kurogane erneut zum Grübeln, wer diese mysteriöse Person in Wirklichkeit wohl sei.

„Und, ähm... Ich soll von Shaolan-kun aus fragen, ob Sie nach der Arbeit heute eventuell kurz Zeit hätten. Er wollte mit einem Freund ein paar neue Möbel für unsere Wohnung basteln, aber es gibt wohl einige Probleme. Und wir dachten, Sie kennen sich ja ziemlich gut mit so was aus und könnten uns vielleicht ein paar Tipps geben...“

Dass der Knirps sich fürs Handwerken interessierte, überraschte Kurogane ein wenig. So dünn, wie der Junge war, hatte er bisher immer den Eindruck eines typischen fleißigen Studenten auf ihn gemacht, der sich ganz seinen Studien widmete, höchstens hin und wieder mal ein wenig Sport zum Ausgleich betrieb, sich sonst aber jeder körperlicher Anstrengung fern hielt.

„Oh, Shaolan-kun braucht Hilfe? Na klar fahren wir bei ihm vorbei, stimmt’s, Kuro-wan? Shaolan-kun hat uns auch schon so oft geholfen, da ist es das Mindeste, was wir für ihn tun können“, schaltete sich der Kindergärtner sogleich ein.

So wurde ihm die Entscheidung mal wieder aus der Hand genommen. Na ja, etwas Besseres hatte Kurogane an diesem Nachmittag eh nicht vor. Und bevor ihnen zu Hause die Decke auf den Kopf fiel, mit der Frist des Jugendamts als tickende Zeitbombe im Rücken...

„Von mir aus“, gab er kurz brummend seine Zustimmung, nahm Jacke, Autoschlüssel und Mokonas Hasenkäfig, der für den Wochenendausflug zu ihnen nach Hause bereits vorbereitet worden war, und steuerte sein Auto an.
 

„An der nächsten Ecke rechts, dann sind wir auch schon da.“

Kurogane folgte stumm der Anweisung, während er innerlich immer skeptischer wurde. Die Praktikantin hatte ihn geradewegs zum Stadtrand gelotst, in eine ziemlich verlassene Gegend, wo kaum Wohnhäuser in der Nähe waren und stattdessen die Natur langsam die Überhand gewann. Durch den leisen Nieselregen, der seit dem Mittag die Stadt in ein trübes Grau tauchte, wirkte diese Gegend mit den wenigen, verlassen wirkenden Häusern gleich noch trostloser.

Hier wohnte doch niemals ein Freund von dem Knirps!

Doch Kurogane sagte nichts dazu. Er hatte das sichere Gefühl, dass sich in wenigen Minuten die Heimlichtuereien der letzten Zeit aufklären würden.

Sie betraten einen lang gezogenen Flachbau, gleich gegenüber dem geparkten Auto. Die Eingangstür war alt, aber stabil. Drinnen gab es einen langen Gang, der in beide Richtungen von der Tür weg führte, sowie eine Treppe nach unten. Die Braunhaarige schlug den letzten Weg ein.

Irgendwie hatte diese Umgebung etwas Vertrautes. Sie erinnerte Kurogane an früher, an seine eigene Jugendzeit. Nach der Schule hatte er sich mit seinen Freunden oft in ähnlicher Umgebung getroffen...

Das Kellergeschoss war mit einigen nackten Neonröhren hell ausgeleuchtet und bestand ebenfalls aus einem Flur, der sich von der Treppe aus in zwei Richtungen erstreckte. In die Wände waren zu beiden Seiten in regelmäßigen Abständen schwere Metalltüren eingelassen. Ein gedämpftes Gemisch verschiedener Instrumente, Rhythmen und Melodien war zu hören. Tomoyo blickte sich fasziniert um, während Fye nur so vor sich hin grinste und Sakura sie auf eine bestimmte Tür zulotste.

Kurogane ahnte, was jetzt kam. Und im selben Moment hatte er schon keine Lust mehr, die letzten Schritte bis zur Tür und durch sie hindurch zu setzen.

„Ooooooooh“, staunte sein Töchterchen nur und war bereits hinter der Tür verschwunden, dicht gefolgt von ihrem Kindergärtner.

TOLL!!! Er wusste, da konnte nur irgendwas Blödes auf ihn zukommen!

Mit wütenden Schritten stapfte Kurogane den beiden anderen hinterher, nur um seine Tochter am Handgelenk festzuhalten, um sie am Weiterlaufen zu hindern.

„Komm, Kleines, wir fahren nach Hause“, entschied er bestimmend.

Hinter und vor sich konnte er erschrockenes Keuchen von der Praktikantin und deren Freund, welcher gerade die letzten Teile am Schlagzeug montiert hatte, hören.

„Aber Papa, warum denn? Hier sieht es doch toll aus! Und ich wollte soooooo gern einmal mit dir und Nii-chan gemeinsam Musik machen!“, jammerte das Kind.

„Kurogane, warte!“, hechtete nun auch Fye erschrocken nach vorn und klammerte sich an den Arm, mit dem dieser soeben seine Tochter gepackt hatte.

„Bitte...“, setzte er noch einmal nach, als der wütende Blick ihn traf. „Findest du die Idee wirklich so abstoßend?“

Flehend, fast schon mit Tränen in den Augen, hatte der Blonde die Frage gestellt. Mit solch einer heftigen Reaktion hätte Kurogane nicht gerechnet. Es nahm ihm mit einem Mal den Wind aus den Segeln.

‚Abstoßend’... Na ja, so schlimm war es eigentlich nicht. Er hatte nur ewig nichts mehr mit Musik am Hut gehabt. Seit er der Armee beigetreten war praktisch kaum noch, nur an den Wochenenden ein bisschen mit Oruha. Für mehr hatte er keine Zeit mehr gehabt. Und nachdem sie spurlos verschwunden war, war die Musik genauso aus seinem Leben verschwunden.

Als er hier so unvorbereitet mit dem Proberaum konfrontiert wurde, war es, als wäre er plötzlich in die Vergangenheit zurückkatapultiert worden. Aber das konnte der Kindergärtner nicht wissen.

„Na ja...“, schwächte er nun seine Reaktion ab und ließ seine Tochter los. Er spürte, wie sich die kühlen Hände an seinem Handgelenk entspannten und schließlich entglitten, als er seinen Arm nach unten sinken ließ.

„Wer ist überhaupt auf diese Idee gekommen? Und warum?“

„Die Idee mit der Überraschung stammt von deinem brillanten Töchterchen“, erklärte der Kindergärtner stolz, „und das mit der Musik stammt von mir.“

„Und wie bist du darauf gekommen, unbedingt Musik zu machen?“

„Du hast bestimmt mal Schlagzeug gespielt, stimmts?“, kam die Gegenfrage des Blonden.

„Stimmt“, entgegnete der Schwarzhaarige etwas überrascht.

„Wusste ich’s doch!“, frohlockte der andere nun triumphierend. „Bemerkst du eigentlich, dass du oft mit den Fingern oder Füßen den Takt mitklopfst, wenn irgendwo ein Lied läuft? Dabei siehst du immer aus wie ein professioneller Schlagzeuger. Und wenn ich für die Kinder Gitarre spiele, kommen von dir auch immer gute Ideen. Du kennst also eine ganze Reihe Lieder sehr genau. Singst du eigentlich auch?“

„N-nein...“

Etwas überrumpelt blickte der Schwarzhaarige zur Seite. Er hatte wirklich nicht mitbekommen, dass sein früheres Interesse für Musik noch immer so leicht zu erkennen war.

„Also doch! Du kannst auch nicht Lügen, Kuro-pii, weißt du?“, witzelte der Blonde weiter.

„Ja, und?!“, kam es jetzt wieder gereizter. Der Spaßvogel sollte es bloß nicht zu weit treiben!

„Ich denke, du kannst bestimmt gut singen. Eine richtig tiefe, rockige Stimme. Ich würde sie zu gern einmal hören“, schwärmte der Kindergärtner weiter.

‚Ich würde zu gern mal deine Stimme hören. Klingt bestimmt aufregend, wenn du so tief singst, wie du sprichst.’

Das waren damals Oruhas Worte gewesen, als sie sich das erste Mal getroffen hatten. In irgendeinem Club, wo er mit seinen Freunden nach der Schule oder am Wochenende oft abgehangen hatte. Sie war Sängerin einer eigenen kleinen Band gewesen, die niemand gekannt hatte und die sich wegen Streitigkeiten gerade wieder aufgelöst hatte. Wie so oft bei Jugendbands. Doch ihre Stimme war gut, das hatte er sofort gemerkt, wenn sie gelegentlich zu den gecoverten Liedern irgendeiner anderen No-Name-Band auf der Bühne mitsang, die in dem Laden für Stimmung hatte sorgen sollen. Sie hatten ein wenig gelästert, dass die Typen auf der Bühne nix drauf hätten, dass sie selbst das locker besser hinbekommen würden. So wurde sie eingeladen, bei Kuroganes Bandproben vorbeizuschauen. Alle verstanden sich auf Anhieb, sie wurde Frontsängerin, oft auch begleitet von Kurogane oder ihrem damaligen Gitarristen als Backgroundsänger oder im Duett. Die Chemie hatte einfach gestimmt. Besonders zwischen ihnen beiden.

Er war blind gewesen in seinem jugendlichen Leichtsinn. Nicht im Geringsten hatte er geahnt, dass sie ihm nur etwas vormachte. Oder zumindest hatte er nicht mitbekommen, wann aus ihrer damaligen Jugendliebe falsches Spiel geworden war.

Kurogane spürte einen leichten Stich in der Brust. Das Gefühl hatte er lange nicht mehr gehabt.

... Ob das mit der Musik hier wirklich eine gute Idee war? Vielleicht sollte er doch versuchen, den anderen diese Schnapsidee wieder auszureden.

„Kurogane-san, stimmt etwas nicht? Sie sehen so nachdenklich aus“, fragte die kleine Praktikantin besorgt.

„Nein, es ist nichts“, winkte er ab. Verdammt, neuerdings konnte scheinbar jeder in ihm lesen wie in einem offenen Buch.

„Magst du die Idee wirklich nicht, Papi?“, mischte sich nun auch seine Tochter mit besorgter Stimme ein. „Nii-chan, Sakura-chan, Shaolan-kun und ich wollten dich wirklich nicht ärgern. Wir wollten dir eine Freude machen, weil du in letzter Zeit immer so traurig aussiehst.“

Selbst Tomoyo machte sich solche Sorgen um ihn? Ein Blick in die Runde ließ Kurogane verstehen, dass sich alle seinetwegen Sorgen machten. Spätestens jetzt tat ihm seine Reaktion von zuvor wirklich Leid. Und sein ganzes Benehmen seit gestern. Er hatte sich viel zu sehr gehen lassen. Ohne es zu merken, hatte er sie alle mit in seine Probleme hineingezogen. Sogar die kleine Sakura und ihren Freund.

„Vielleicht habt ihr Recht. Ein bisschen Spaß kann ja nicht schaden“, willigte er daher schließlich ein. Schlagartig breitete sich ein Lächeln auf den Gesichtern aller Anwesenden aus.

„Ich hoffe, ich habe das Schlagzeug ungefähr auf der richtigen Höhe montiert. Am besten Sie probieren es kurz aus, Kurogane-san. Unser Schlagzeuger ist nämlich ein wenig kleiner als Sie“, bot der braunhaarige Junge zuversichtlich an.

Kurogane probierte einige kurze Rhythmen aus. Es fühlte sich so vertraut an, und gleichzeitig doch so fremd. Er war total aus der Übung. Ob er überhaupt noch ein paar Lieder hinbekommen würde?

„Ui, das ist aber laut!“, staunte sein Töchterchen.

Daran hatte Kurogane bisher gar nicht gedacht. Für ein vierjähriges Mädchen war der Geräuschpegel beim Musikmachen wohl mehr als gesundheitsschädigend. So konnten sie keinesfalls spielen. Doch die „Organisatoren“ dieses Treffens hatten anscheinend vorgesorgt.

„Keine Sorge, Tomo-chan. Wir haben ein paar Ohrenschützer für dich mitgebracht, mit denen kannst du ganz in Ruhe zuhören.“

Während er das sagte, nahm der Kindergärtner besagte Ohrschützer aus einem Regal und reichte sie dem Kind. Sie waren ein wenig kleiner als üblich und sogar im kindgerechten Design verziert. Kurogane fragte sich, wie sie die wohl auf die Schnelle hatten auftreiben können, wenn dieser Plan mit der Musik wirklich erst seit gestern stand.

„Und ihr, Nii-chan? Habt ihr keine Ohrschützer?“, fragte seine Tochter mit besorgtem Ton nach.

„Keine Sorge, Süßes. Wir sind doch schon groß, deshalb sind unsere Ohren nicht mehr so empfindlich wie bei Kindern“, versicherte der Blondschopf.

„Na gut...“, gab sie sich ein wenig unwillig zufrieden, nachdem sie mit einem weiteren Blick auf das Regal feststellen musste, dass dort sowieso keine weiteren Kopfhörer mehr lagen.

„Hey Junge, was für ein Instrument spielst du eigentlich?“, fragte Kurogane nun an Shaolan gewandt.

„Ich? Ah, Bassgitarre“, antwortete Besagter und machte sich daran, sein Instrument umzuschnallen, nachdem er bis gerade eben Seite an Seite mit seiner Freundin gestanden hatte.

„Ich spiele ein wenig Keyboard und singe manchmal“, knüpfte Sakura gleich an und setzte sich ebenfalls an ihr Instrument.

„Super, dann kann es ja losgehen!“, freute sich Fye, nahm mit seiner Akustikgitarre auf einem Hocker platz und stellte das davor aufgebaute Mikro so ein, dass es den Schall seines Instruments gut auffangen konnte. E-Gitarre hatte er scheinbar nie gespielt. Und wenn Kurogane ihn sich so ansah...dann passte das auch nicht so recht zu ihm.

„Gibt es etwas, was du gern mal wieder spielen würdest, Kuro-puu?“

Gern spielen... Hilfe, war das ewig her!

„Irgendwas Leichtes für den Einstieg“, lautete daher die schlichte Antwort.

„Vielleicht Phil Collins?“, kam ein Vorschlag von dem Blonden.

Hm... Die meisten Lieder bestanden vom Grundaufbau her aus typischen Rockrhythmen. Aber die Zwischenstücke konnten es ganz schön in sich haben...

„Na ja...so wirklich Ahnung hat hier keiner von uns, glaube ich“, gab der braunhaarige Junge zu. „Da fällt es wohl niemandem auf, wenn du dich mal verspielst oder so.“

„Und von uns spielt auch keiner besonders gut. Es ist ja nur ein einfaches Hobby“, pflichtete seine Freundin bei.

„Genau, Kuro-muff! Also guck nicht so angestrengt, entspann dich und hab einfach ein bisschen Spaß! Du nimmst das alles viel zu ernst.“

Der Kindergärtner klimperte bereits fleißig wahllos verschiedene Riffs irgendwelcher Phil Collins-Lieder zusammen und störte sich kein Stück daran, dass die verschiedenen Melodien überhaupt nicht zu einander passten.

‚Bleib locker, ist doch Fun!’

Oruha und auch die Freunde aus seiner damaligen Band hatten ihn das auch oft genug hören lassen. Vielleicht war es manchmal eine Schwäche, dass er Dinge, die er anpacken wollte, nicht auf die leichte Schulter nehmen konnte, so wie die anderen – früher genauso wie heute.

„Ich bin entspannt“, redete der Schwarzhaarige sich schließlich raus und wandte sich dann direkt dem Kindergärtner zu. „Singst du?“

„Aber gern doch!“

Und schon erklangen die ersten Noten von „Another Day in Paradise“ von der Gitarre. Das braunhaarige Mädchen setzte sofort darauf mit einer langgezogenen Synthezizer-Untermalung ein, Shaolan ergänzte sanfte Bassriffs und Kurogane setzte schließlich mit einem gedehnten Rockrhythmus ein. Es musste ja wirklich nicht originalgetreu werden. Hauptsache, am es passte insgesamt alles zusammen. Und als die Stimme des Kindergärtners zur ersten Strophe erklang, spürte der Schwarzhaarige, dass wirklich alles so war, wie es sein sollte.

Da Phil Collins beim ersten Anlauf so gut gelungen war, entschied man sich, mit „In the Air tonight“ gleich noch ein zweites Lied von ihm anzuschließen, wobei sich alle einig waren, dass Fye wieder den Gesang übernehmen sollte. Als das Lied zu Ende war, meldete sich Tomoyo zu Wort, die bis dahin brav auf einem Stuhl gesessen und zugehört hatte: „Ich möchte auch mitspielen!“

Soso. Seine Tochter hatte also ihre musikalische Ader entdeckt. Aber ob das klappte?

„Was möchtest du denn für ein Instrument spielen, Tomo-chan?“, fragte der Kindergärtner jedoch sofort nach, ehe Kurogane sich auch nur ein Argument hatte überlegen können, wie er seine Tochter von dieser Idee wieder abbringen konnte.

„Das da!“, antwortete diese vergnügt und zeigte auf das Regal, aus dem Fye zuvor die Kopfhörer genommen hatte. „Das runde Ding mit den glitzernden Platten!“

„Ah, das Tamburin! Ja, das ist eine prima Idee, Kleines!“

Schon war der Blonde dabei, besagtes Instrument aus dem Regal zu holen und es dem kleinen Mädchen in die Hand zu drücken.

„Und ich weiß auch schon, welches Lied wir damit alle gemeinsam spielen können“

Kurogane ahnte schon, was der andere meinte. Bei dem Wort „Tamburin“ kam eigentlich nur ein Lied infrage. Und so, wie die zwei Jugendlichen sich wissend angrinsten, hatten sie denselben Gedanken.

„Kuro-pon, gibst du mal ´nen einfachen Offbeat vor?“

Mit zwei Base Drum und Hi Hat deutete er besagten Ryhthmus an.

„Kannst du mit dem Tamburin immer auf den zweiten Ton schlagen, Tomo-chan?“, fragte Fye das schwarzhaarige Mädchen und zeigte ihr gleichzeitig klatschend, welchen Ton genau er meinte. Die großen, violetten Augen schauten für einige Augenblicke gebannt auf das Schlagzeug, hinter dem ihr Vater saß, dann auf die Hände ihres Kindergärtners. Dann fing sie selbst vorsichtig an, besagten Rhythmus nachzuahmen. Erst sehr holprig und mit vielen Aussetzern, doch nach einigen Anläufen hatte sie sich an die Bewegung gewöhnt.

„Sehr schön. Genau so, Tomo-chan. Du machst das super! Wie ein Profi!“, lobte der Blonde sie, worauf sie stolz über beide Ohren zu grinsen begann.

„Sakura-chan, übernimmst du die Melodie? Dann klatsche ich mit Tomo-chan zusammen den Takt.“

„Kein Problem, Fye-san“, bestätigte seine Assistentin und machte sich bereit.

Kurogane war einen Moment lang überrascht, mit welch einfachen Mitteln es der Blonde geschafft hatte, das gewollte Instrument in ein richtiges Lied einzuflechten und seiner Tochter damit sogar eine richtig aktive Rolle zu geben. Als er bemerkte, dass alles nur auf sein Zeichen wartete, sprang seine Aufmerksamkeit zu seinem Instrument zurück und er gab mit den Drumsticks den Takt vor.

Zum Glück war „Mr. Tambourine Man“ ein recht kurzes Lied. So groß, wie der Eifer seiner Tochter zu Beginn des Liedes auch gewesen sein mochte, gegen Ende hin sah man ihr deutlich die Erschöpfung an. Die lang andauernde, gleichförmige Bewegung hatte sie schnell ermüden lassen. Und so bat Tomoyo, trotz des Applauses, den sie von allen nach Ende des Liedes erhielt, von jetzt an wieder zuhören zu können.

Shaolan und Sakura äußerten als nächstes einen ganz konkreten Musikwunsch, den sie im Duett vortragen konnten: „Totale Finsternis“ aus dem Musical „Tanz der Vampire“. Es war das erste Mal für Kurogane, dass er sowohl die Singstimme des Jungen als auch die seiner Freundin hörte, und er staunte nicht schlecht, dass beide doch bereits einiges an Übung hatten und den Text sicher meisterten, obwohl jeder nebenbei sein eigenes Instrument weiterspielte.

Als nächstes wurde Kurogane nach seinen Wünschen gefragt. Auf die Frage, ob sie „True Faith“ von New Order spielen konnten, entgegnete der Archäologie-Student erstaunt: „Ich wusste gar nicht, dass Sie New Wave-Musik hören, Kurogane-san!“

„Zu meiner Zeit war das noch Mode. Vor allem in meinem Freundeskreis. Dass du das zu kennen scheinst, finde ich viel erstaunlicher. Kannst du es auch spielen?“

Der Junge bejahte.

„Ojemine, ich fürchte, da muss ich passen. New Wave ist damals vööööööllig an mir vorbei gegangen“, gestand der Blonde.

„Hm...also ich könnte die Melodie vielleicht auf dem Keyboard nachspielen. Es ist zwar schon ein Weilchen her, aber wir haben das Lied schon mal gespielt“, schlug das braunhaarige Mädchen vor.

„Den Text kann ich auch, das wäre kein Problem. Auch wenn Fye-san natürlich die schönere Stimme bei diesem Lied hätte“, fügte der Junge hinzu.

Vergnügt klatschte Fye in die Hände und legte seine Gitarre ab.

„Dann gesell ich mich jetzt einfach mal zu Tomo-chan und wir lauschen jetzt beide eurem tollen Lied“, verkündete er.

„Wir können auch einfach was anderes spielen“, schlug der Schwarzhaarige vor.

„Ach was!“ Ein verlegenes Lächeln legte sich auf das Gesicht des Kindergärtners. „Es war dein Wunsch, also spielt es ruhig. Und ich würde es auch gern mal hören.“

Ein wenig unzufrieden, dass er den Blonden mit seinem Vorschlag einfach ausgebootet hatte, gab er letztlich doch nach und spielte das Lied ausnahmsweise ohne Gitarristen an. Und zugegeben, die kleine Braunhaarige improvisierte nicht schlecht, als sie die ursprünglichen Gitarren-Parts auf ihrem Keyboard umsetzte. Kurogane fragte sich, wie lange sie wohl schon übte. Nach dem Lied wandte er sich aber direkt dem spontan zum Zuschauen verdonnerten Fye zu: „Jetzt such du dir was aus.“

„Ach was, schlagt ihr ruhig vor! Von mir kamen doch schon drei Wünsche“, winkte dieser lächelnd ab, machte sich aber daran, seine Gitarre wieder aufzunehmen.

„Die ersten Lieder waren für den Einstieg und das dritte Lied hat sich meine Tochter gewünscht. Jetzt bist DU dran. Such dir was aus, was DU wirklich spielen möchtest“, wiederholte der hochgewachsene Mann mit Nachdruck.

Zuerst schaute sein Gegenüber ihn verwundert aus seinen großen, hellblauen Augen an. Dann wich der Ausdruck einem vergnügten Lächeln, das schließlich von einem leicht unsicheren prüfenden Blick abgelöst wurde. Kurogane fragte sich, was genau dem anderen wohl durch den Kopf ging. Und irgendwo freute es ihn auch, dass dieser zur Abwechslung einmal ganz offen und ehrlich seine Gefühle preisgab.

„Hm...also... Es gäbe da ja schon was, was ich sehr gern mal spielen würde...“, begann der Blonde zögerlich.

„Also?“, hakte Kurogane ein wenig ungeduldig nach. Kein Grund, hier so um den heißen Brei rumzureden.

„Nun, das Lied ist ein Duett, also brauche ich jemanden, der mitsingt.“

Die klaren Augen, die so intensiv in Kuroganes dunklen Rubinen nach einer Reaktion suchten, zeigten ihm deutlich die Anspannung, die gleichzeitig mit dieser Frage verbunden war.

Der Blondschopf wollte ihn also unbedingt zum Singen bringen.

Eigentlich hatte er darauf verzichten wollen. Nach jahrelanger Übungspause so plötzlich wieder mit dem Schlagzeug konfrontiert zu werden, war schon schwierig genug. Wobei – langsam hatte er das Gefühl, wieder ein wenig warm zu werden. Ging schneller, als er erwartet hätte.

Aber ausgerechnet singen! Er war wahrlich kein Sänger. Selbst Oruha hatte es unterm Strich nur selten geschafft, ihn dazu zu überreden, eins ihrer Lieder mit ihm gemeinsam einzustudieren. Die Töne traf er zwar schon, doch seine Stimmlage war einfach nicht für die Musik gemacht. Immer, wenn er sich selbst auf irgendeiner ihrer Aufnahmen gehört hatte, war er irritiert davon gewesen.

Doch dieser halb schüchterne, halb erwartungsvolle Blick dieser klaren, blauen Augen, der noch immer unverwandt gebannt auf ihm lag... Irgendwie schaffte es dieser Blick, dass Kurogane es nicht übers Herz brachte, eine klare Absage zu erteilen. Wahrscheinlich war er diese Ehrlichkeit einfach immer noch nicht richtig gewöhnt. Oder diesen direkten Blickkontakt. Es war häufiger geworden in letzter Zeit, dass Fye sich dies zutraute, wenn auch nach wie vor insgesamt selten. Und er wollte ihn nicht enttäuschen. Das Versprechen, was er so eben gegeben hatte, zurückziehen. Dieser zerbrechlich wirkende, junge Kerl war eh schon viel zu oft enttäuscht worden.

„... Was genau schwebt dir denn vor?“, tastete Kurogane sich demnach nun doch vorsichtig heran.

„Ein Duett von Jermain Jackson und Pia Zadora“, erklärte der Blonde nun weiter.

„‚And when the Rain begins to fall’.”

„Genau.”

Die Antwort war mehr gehaucht als gesprochen. Scheinbar lag dem anderen wirklich viel an diesem Lied.

‚And when the rain begins to fall, you’re like my rainbow in the skies. And I will catch you, if you fall, you’ll never have to ask me why.’

Wahrscheinlich, nein, ganz sicher dachte er dabei an die Situation, in der sie beide derzeit steckten. Das, was sie durch all die Probleme für einander geworden waren. Dass sie auf eine mysteriöse, subtile Weise auf einander angewiesen waren. Kurogane konnte das spüren, so wie der andere es ebenfalls zu spüren schien.

„Ein schönes Lied...“, unterbrach die leise Stimme des Mädchens am Keyboard die entstandene Stille.

Kurogane schaffte es endlich, sich aus seiner plötzlichen Grübelei zu lösen und gab mit einem kurzen, aber eindeutigen Nicken seine längst überfällige Antwort.

Er schweifte viel zu oft ab in letzter Zeit.

„Hat aber ´ne ganz schön schwierige Tonlage. Auf der originalen Tonhöhe werd ich das sicher nicht hinkriegen“, gab er noch zu bedenken.

„Zwei, drei Töne tiefer wäre wirklich nicht schlecht“, pflichtete der Kindergärtner ihm bei.

Sie probierten einige Variationen aus und als sie sich geeinigt hatten, ging es los. Die ersten Töne wirkten ungewohnt. Durch die neue Tonhöhe unterschied es sich ziemlich vom Original. Schon an der Bassmelodie wurde das deutlich. Doch als Kurogane einsetzte, beruhigt feststellte, dass er auf dieser Höhe wirklich mithalten konnte, ohne dass es schief wurde, als Fye mit seinem Einsatz die Strophe weiterführte und sich ihre Stimmen im Refrain vereinten, klang es genau richtig. Alles passte zusammen. Die Stimmen, die Musik, die Worte, die abwechselnd einzeln oder im Einklang durch den kleinen Raum hallten.

Auch wenn Kurogane froh war, danach nicht noch einmal singen zu müssen, bereute er es am Ende nicht, der Bitte seines neuen Mitbewohners nachgekommen zu sein. Mit Fyes Stimme schien seine eigene erstaunlich gut zu harmonieren.

Besser als damals mit Oruha, fand er zumindest.
 

TBC...

Wenn die Welt auseinander bricht

Okay, die gute Nachricht zuerst: Es hat NICHT wieder 2 Jahre bis zum nächsten Update gedauert! Und die schlechte: Das waren schon wieder knappe 1 1/2 Jahre. Ich bin so schlecht... ~_~

Falls sich noch jemand an die Story erinnern kann: Viel Spaß mit dem neuen Kapitel!

Und ich entschuldige mich jetzt schon mal für die nächste längere Pause und ja, ich weiß, dass das Ende fies ist. Aber irgendwann wollen wir ja mal zu Potte kommen, oder? ;)
 

Disclaimer: Die Charas gehören (bis auf wenige Ausnahmen) nicht uns, sondern Clamp. Wir wollen kein Geld damit verdienen, sondern nur unterhalten.
 

Erstschreiber des Kapitels: Lady_Ocean

Kapitel: 19/26
 

-~*~-
 

„Ein Augenblick der Geduld kann

vor großem Unheil bewahren,

ein Augenblick der Ungeduld

ein ganzes Leben zerstören.“

(Chinesische Lebensweisheit)
 

-~*~-
 

Wenn die Welt auseinander bricht
 

Die Zeit war wie im Flug vergangen. Anfangs hatte es sich seltsam angefühlt für Kurogane. Unwirklich und irgendwie falsch. Der Blonde und seine kleine Komplizin aka Tochter hatten ihn mit dieser verrückten Aktion schlagartig in seine Vergangenheit zurückbefördert und da gab es so vieles, was er lieber unter Vergessenheit begraben wollte. Aber sie waren nicht seine Vergangenheit. Sie waren seine Gegenwart. Egal, ob sie herumalberten, mit ihren Problemen zu ihm kamen oder eben Musik machten; sie machten ihm doch immer wieder auf ihre einzigartige Art und Weise klar, wie unvergleichbar sie waren. Es war das erste Mal seit fast fünf Jahren, dass er Musik gemacht hatte. Und es hatte ihm Spaß gemacht.

Seine Tochter und ihr Kindergärtner gackerten und alberten auf den Rücksitzen, während er gemütlich in die Einfahrt zu seinem Haus einbog. Während der Autofahrt hatte Kurogane den Blonden ein wenig durch den Rückspiegel beobachtet. Er wirkte gelöster als zuvor. Anscheinend war dieser kleine Ausflug für ihn mindestens ebenso nötig gewesen.

Als der Wagen anhielt und es Zeit wurde zum Aussteigen, kehrte jedoch die inzwischen alltäglich gewordene Sorge zurück in die blauen Augen. Kurogane seufzte innerlich. Die Harmonie war wohl nur von kurzer Dauer gewesen. Natürlich hatte er damit gerechnet, dass die Anspannung bald zurückkehren würde. Er selbst spürte die Unruhe auch langsam wieder an sich nagen. Die Frage danach, was in Zukunft wohl mit Tomoyo passieren könnte. Auch wenn er vehement versuchte, sich gegen dieses beklemmende Gefühl zu wehren. Und ihm war auch klar, dass sich keines der Probleme – weder seins noch das von Fye – durch Herumsitzen und Abwarten lösen ließ.

„Aaaaaaah, das war super!“

Der Blondschopf räkelte sich ausgiebig und ließ sich betont lässig in einen der gemütlichen Sessel im Wohnzimmer fallen.

„Au ja, das hat sooooooooo viel Spaß gemacht!“, trällerte seine Tochter und sprang mit einem Satz ihrem Kindergärtner in die Arme. Der fing sie lachend auf und begann sie durchzukitzeln. Seine Tochter quietschte vergnügt und versuchte, strampelnd und wild mit den Armen rudernd, sich aus der Umklammerung zu befreien.

„Auf den Sesseln wird nicht herumgetobt. Sonst sind die bald kaputt“, ermahnte Kurogane die zwei Spielkinder.

„Jawohl, Papa“, neckte Fye, tat aber, wie ihm gesagt wurde. Er setzte Tomoyo, die inzwischen kopfüber von der Lehne hing, ordentlich auf seinen Schoß und spielte stattdessen eine Runde „Hoppe Reiter“ mit ihr. Ihr wildes Gezappel und Gequieke wurde von einem ruhigeren, aber ebenso belustigtem Glucksen abgelöst, begleitet von einem leichten Schaukeln der Beine.

Kurogane quittierte es zufrieden und ging in die Küche, um sich einen Kaffe und den anderen beiden warme Milch zu kochen. Wieder fiel ihm auf, wie pflegeleicht seine Tochter eigentlich war. Er hatte sie nur einmal ermahnen müssen und schon war Ruhe eingekehrt. Wenn er überlegt, dass selbst Kleinigkeiten wie das Frühstück vor knapp drei Wochen noch ein halbes Familiendrama ausgelöst hatten… Aber er musste sich eingestehen, dass er den Bedürfnissen seiner kleinen Tochter damals auch nicht richtig Beachtung geschenkt hatte. Und seit dem Desaster mit der Herdplatte ist ihm aufgefallen, dass er seine Tochter besser zur Ordnung anhalten konnte, wenn er ihr den Grund für seine Entscheidungen nannte.

„Papa, können wir mal wieder singen gehen?“, rief eine zarte Mädchenstimme vom Wohnzimmer her.

War klar, dass die Frage kam. Eigentlich war es sogar erstaunlich, dass sie nicht schon eher gefallen war.

„Von mir aus“, kam die kurze Antwort zurück, während Kurogane weiter die Milch in der Mikrowelle im Auge behielt. Hoffentlich kochte die da drin nicht wieder über.

„Yaaaaaaaay!!!“, ertönte es derweil unisono aus dem Wohnzimmer. Das Geräusch von Händeklatschen folgte.

„Wann denn, wann denn?“ – Wieder seine Tochter.

„Später! Wir waren doch heute erst“, kam die halb abwesende Antwort von Kurogane.

„Aber wann ist später?“

Halb seufzend, halb grummelnd verdrehte Kurogane die Augen. Gut, dass das im Wohnzimmer eh keiner sah. Wenn sie sich erst mal was in den Kopf gesetzt hatte, konnte seine Tochter ziemlich nervig werden. Da kam ihm plötzlich der Kindergärtner zu Hilfe: „Tomo-chan, da müssen wir doch erst Shaolan-kun und Sakura-chan fragen. Schließlich gehört der Proberaum ihnen. Und wenn sie keine Zeit haben, dann können wir auch nicht Musik machen. Und du weißt ja, wie beschäftigt Shaolan-kun im Moment ist.“

„Hm…du hast recht“, kam nach einigem Zögern die kleinlaute Antwort.

„Aber irgendwann machen wir wieder Musik, stimmt’s? Ganz bestimmt!“

Kuroganze merkte, wie sich sein Mund automatisch zu einem Grinsen verzog. Auch wenn sie einsichtig wurde, sie blieb hartnäckig. Das hatte sie wohl von ihm geerbt.

„Natürlich“, erklang noch einmal die Stimme des Blonden.

„Juhu!!“

Zu Kindern hatte er definitiv den richtigen Draht. Seit er (übergangsweise) bei ihnen wohnte, nahm er ihm viel Arbeit dadurch ab, dass er sich so intensiv um Tomoyo kümmerte.

Der Kaffee war fertig und die Mikrowelle kündigte mit einem „Pling!“ an, dass sie es ebenfalls war. Die Milch war heiß, diesmal sogar ohne überzukochen. Mit einem Löffel fischte Kurogane die Haut von der Oberfläche und nahm dann alle Tassen auf einem Tablett mit ins Wohnzimmer.

„Aaaah“, seufzte der Blonde genüsslich, als er den ersten Schluck genommen hatte. „Kuro-mami, du bist echt spitze.“

„Übertreib es nicht!“, knurrte der Angesprochene zurück.

„Das war ein Kompliment!“, empörte sich der Blonde gespielt.

„Dann mach eindeutigere Komplimente.“

„Aber Nii-chan hat doch nur ‚Danke’ gesagt“, mischte Tomoyo sich mit Verwunderung in der Stimme ein.

Warum wurde er eigentlich immer in komplizierte Argumentationen verwickelt, wenn er einfach mal ausspannen wollte? Ausweichend nippte Kurogane an seinem Kaffee.

„Ich mag diese Spitznamen halt nicht, das weißt du doch. Jedenfalls nicht ‚Mami’“, erklärte er seiner Tochter dann aber doch.

„Dann ist Kuro-pii also okay? Oder Kuro-wanko?“, hakte der Blonde natürlich gleich nach.

Kurogane verdrehte erneut die Augen, beschloss aber, nichts weiter dazu zu sagen. Zum Glück ließ der andere das Thema dann auch endlich fallen.
 

Es dauerte nicht lange, da wurde die häusliche Ruhe erneut gestört. Diesmal allerdings von der Haustürklingel. Fyes Gesicht ging sofort in Alarmstellung, seine Augen wanderten hektisch im Raum umher, ganz offensichtlich auf der Suche nach einer potentiellen Versteck- oder Fluchtmöglichkeit.

„Keine Ahnung, wer das jetzt sein könnte, aber ein Verbrecher würde sich wohl nicht die Mühe machen, extra an der Tür zu klingeln“, murmelte Kurogane scheinbar zusammenhangslos in den Raum hinein, während er aufstand. Aus dem Augenwinkel heraus sah er noch, dass Fye den Wink verstanden hatte. Er zuckte kurz ertappt zusammen, dann zog sich ein schiefes Grinsen über sein Gesicht und man konnte förmlich spüren, wie er seine Augen zum Mitlächeln zwang.

Angst war definitiv nichts, was man einfach so aus der Welt wischen konnte.

Hoffentlich waren das nicht wieder die Dukaris. Sonst wäre sein Freitagabend wirklich versaut – das dachte Kurogane noch, während er die Klinke herunterdrückte und die Tür öffnete.

„Ja?“, fragte Kurogane die zwei Herren in semi-formeller Kleidung, die vor seiner Wohnungstür standen.

„Sind Sie Herr Kurogane Sugawara?“, fragte der eine, der direkt vor ihm stand.

„Ja. Und was wollen Sie nun von mir?“, kam die misstrauische Erwiderung. Das gefiel Kurogane nicht.

„Wir kommen vom Jugendamt. Wir haben eine einstweilige Verfügung und sind beauftragt, Ihre Tochter aufgrund der berechtigten Annahme, dass sie in Ihrer Gegenwart einem Sicherheitsrisiko ausgesetzt ist, vorläufig mitzunehmen und zu ihrer leiblichen Mutter zu bringen.“

Während der Vordere das erklärte, hob er das anscheinend entsprechende Schriftstück hoch und hielt es Kurogane vor die Nase. Dieser war im ersten Moment wie vom Donner gerührt.

„Papa, was ist denn?“, meldete sich eine ängstliche Stimme direkt hinter seinen Beinen.

Wo kam Tomoyo plötzlich her?! Sie sollte doch bei Fye im Wohnzimmer sitzen!

Kuroganes Herz machte einen schmerzhaften Sprung.

„Entschuldigung“, mit diesem kurzen Wort setzte der andere einen entschlossenen Schritt über die Türschwelle und versuchte, nach Tomoyo zu greifen. Die schien die Gefahr, die in der Luft hing, zu wittern und verzog sich mit einem erschrockenen Quietschen ganz hinter die Beine ihres großen Vaters und klammerte sich an ihnen fest.

Mit einem Ruck war die Starre aus Kurogane gewichen. Gefährlich funkelnd packte er den Typen, der gerade versucht hatte, nach seiner Tochter zu greifen, am Kragen seines Polo-Shirts und zog ihn von den Füßen. Den Wisch, den ihn dieser andere Heini ins Gesicht gedrückt hatte, hatte er in derselben Bewegung zur Seite gefegt.

„Wagen Sie es nicht, Hand an meine Tochter zu legen!“, zischte er bedrohlich.

„Kurogane!“, hörte er plötzlich Fye hinter sich und spürte, wie sich eine Hand auf seine Schulter legte.

Ach, jetzt kam der Depp plötzlich angerannt? Und was hat er gemacht, als er im Wohnzimmer auf Tomoyo aufpassen sollte?

„Herr Sugawara!“, mischte sich nun auch der andere Typ ein, der ihm den Zettel vor die Nase gehalten hatte. „Wenn Sie sich mit Gewalt gegen einen amtlichen Beschluss wehren, kann das gerichtliche Folgen haben.“

Widerwillig ließ er den anderen wieder auf seine Füße. Dieser wich vor Schreck gleich zwei Schritte zurück.

„Sie kriegen meine Tochter nicht. Es ist überhaupt nicht erwiesen, dass hier ein Sicherheitsrisiko für sie besteht. Und wenn der Prozess dazu endlich durch ist, wird das auch amtlich sein. Ich habe nichts Kriminelles getan“, bemühte sich Kurogane, möglichst sachlich seine Sicht der Dinge darzustellen. Es fiel ihm schwer, beide nicht einfach k.o. zu schlagen und sie vor die Tür zu werfen.

„Solange dieser Prozess nicht beendet ist, kann das aber nicht mit Sicherheit festgestellt werden und zum Schutz des Kindes müssen wir erst einmal von einem Risiko ausgehen. Außerdem hat die Mutter ebenfalls ein Anrecht auf die Fürsorge des Kindes, so dass es im Moment als die beste Lösung erachtet wird, das Kind vorläufig bei ihr unterzubringen“, versuchte der Papier-Mensch sachlich zu erklären.

„Einen Scheißdreck hat die Mutter!“, wütete Kurogane. „Die ist über Nacht abgehauen, als die Kleine grad mal ein halbes Jahr alt war. Die hat überhaupt nicht das Recht, sich auch nur ‚Mutter’ zu nennen!“

Kurogane war schon wieder drauf und dran, die Hand zu erheben und diesmal diesen anderen Typen kräftig durchzuschütteln, doch der unterbrach ihn mit einer Antwort wiederum inmitten der Bewegung.

„Herr Sugawara, verstehen sie doch! Gegen Sie läuft eine Mordanklage!“

Das saß. Für den Moment war Kurogane sprach- und bewegungsunfähig. Das Wort hatte ihn getroffen wie ein Schlag in die Magengrube.

„Uns ist bewusst, dass Ihre familiären Verhältnisse, speziell das Verhältnis zur Mutter kompliziert ist. Allerdings gab es triftige Gründe, die sie damals zu ihrer Handlung gezwungen haben. Ich bin nicht befugt, Ihnen nähere Auskünfte zu geben, das müssen die Betroffenen selbst klären. Aber lassen Sie mich Ihnen versichern, dass alle Seiten – auch das Jugendamt und Ihr Arbeitgeber – an einer schnellen und gerechten Lösung des Problems interessiert sind. Aber wenn Sie hier Gewalt anwenden, um sich einem amtlichen Beschluss zu widersetzen, dann spricht das nicht für Ihre Eignung als liebevoller Familienvater. Bitte bedenken Sie das und legen Sie sich nicht unnütz Steine in den Weg.“

Die Art, wie der Beamte mit ihm sprach, erweckte fast den Eindruck, als hätte er ein wenig Mitgefühl mit Kuroganes Situation. In seiner Stimme lag keinerlei Aggression, keinerlei Provokation. Das nahm Kurogane weiter den Wind aus den Segeln. Wie sollte er mit jemandem kämpfen, der den Kampf zu vermeiden suchte? Er war schließlich kein Straßenschläger. Aber der Gedanke, Tomoyo… Nein, das ertrug er nicht.

Der, der anscheinend die Sprecherrolle inne hatte, wandte sich nun seinem knapp hinter ihm stehenden Kollegen zu.

„Kannst du das Mädchen holen?“

Der Angesprochene nickte knapp, zögerte dann kurz und trat, nach einem abschätzenden Blick auf Kurogane, erneut über die Türschwelle.

„Na komm, Kleines. Dir wird es bei deiner Mutter gut gehen“, versuchte er, das Häufchen Elend hinter den Füßen ihres Vaters, der sich im Moment genauso elend fühlte, hervorzulocken.

„Nein!!! Ich will nicht weg von Papa!!!“, jaulte diese auf und klammerte sich nur noch stärker um Kuroganes Beine. Im gleichen Maße verstärkte sich auch die Klammer um sein Herz.

Mit einer diesmal sanften Bewegung griff der Beamte erneut nach Tomoyos Arm und löste ihn vorsichtig, aber bestimmt von den Beinen ihres Vaters.

„Papa, Papa! Bitte hilf mir, Papa!“, heulte das Kind herzzerreißend.

Kurogane konnte nicht mehr. Egal, ob Gesetzesbruch oder nicht, er konnte denen seine Tochter nicht überlassen. Er konnte sie nicht gehen lassen.

„Kurogane“, erklang sanft eine vertraute Stimme hinter ihm, während sich der leichte Druck auf seine Schulter ein wenig verstärkte. „Er hat recht. Mach dich bitte nicht strafbar. Wir holen sie zurück, ganz sicher.“

„PAPAAAAA!!!“, ertönte erneut ein Angstschrei, diesmal von der Tür aus, wo sich Tomoyo nach Leibeskräften an den Türrahmen zu klammern versuchte, nachdem der Beamte sie von den Beinen ihres Vaters getrennt hatte. Doch auch dieser Halt war nur von kurzer Dauer. Der Mann schlang einen zweiten Arm um die Hüfte des kleinen Mädchens und hob sie so auf seinen Arm – gut darauf bedacht, Abstand zwischen ihr und seinem Gesicht zu halten, damit die wild umherschlagenden Arme zumindest nicht seine Augen erwischten.

„PAPAAAAA!!! Ich hab dich lieb! Bitte, Papa, lass mich hier bleiben! Ich bin auch immer lieb, ich versprech’s ganz dolle!“, flehte das Mädchen, als sie die Sinnlosigkeit ihrer Gegenwehr erkannte und sich ihre Arme wiederum flehend nach ihrem Vater ausstreckten.

„Tomoyo…“

Er konnte nicht mehr sagen. Ihm stockte die Stimme, stockte der Atem, stockte das Herz. Er war gefangen zwischen seiner Angst, Tomoyo jetzt zu verlieren und davor, sie für immer zu verlieren.

Der andere Beamte hob sein Blatt wieder auf und legte es schnell, an Kurogane vorbei, auf den Flurschrank direkt neben der Tür.

„Vielen Dank für Ihre Mitarbeit. Ich weiß, dass das schwer für Sie ist. Machen Sie sich keine Sorgen, es wird Ihrer Tochter definitiv gut gehen. Sie werden in Kürze benachrichtigt, wenn der Termin für Ihre Verhandlung feststeht.“

Mit diesen Worten verabschiedete er sich und folgte seinem Kollegen und der verzweifelt weinenden und schreienden Tomoyo die Treppe herunter.

Eine Weile stand Kurogane noch wie paralysiert da, starrte auf den mittlerweile menschenleeren Flur. Dann ging, wie von selbst, ein Ruck durch ihn, hin Richtung Treppe, den Kindesentführern hinterher. Wieder war es Fyes Stimme, die ihn zurückhielt: „Kurogane, sei vernünftig. Wenn du ihnen jetzt nachjagst, werden sie Tomoyo ganz sicher nicht mehr herausrücken.“

„Und das lässt dich so kalt, ja?“

Mit einem Ruck drehte Kurogane sich um und fauchte nun Fye an. Er hätte Tomoyo gar nicht erst aus dem Wohnzimmer herauslassen sollen. Vielleicht hätte er die Typen dann irgendwie abwimmeln können. Ihnen irgendwie weis machen, sie sei grad gar nicht da, sondern übernachtet bei Freunden oder irgendwie so was.

„Wenn du sie nicht hättest rausrennen lassen, wäre sie jetzt vielleicht noch hier!“

„Kurogane, beruhige dich!“

Fye wich instinktiv einige Schritte zurück und hob abwehrend die Arme vor den Körper.

„BERUHIGEN?! Fällt dir nichts Besseres dazu ein, dass mir meine Tochter weggenommen wurde?!“

„Kurogane, mich schmerzt das genauso wie dich, glaub-“

„DU hast doch überhaupt keine Ahnung, wie sich das anfühlt, also wage es nicht, mich mit dir zu vergleichen.“

Fye blieb plötzlich stehen. Erst jetzt bemerkte Kurogane, dass sie sich weiter in die Wohnung hinein bewegt hatten, der Blonde rückwärts, er ihm scheinbar immer weiter hinterher. Nun hatte die Wand am anderen Ende des Flurs die Bewegung des Blonden gestoppt. Kurogane schnaubte einmal abfällig, drehte sich um und griff mit einer fließenden Bewegung den Autoschlüssel, der neben ihm auf dem Flurschrank lag.

„Kurogane!“ Fye stürmte nach vorn und griff wiederum nach Kuroganes Schulter.

„Nicht! Sie werden dir Tomo-chan wirklich wegnehmen, wenn du sie jetzt verfolgst und vor Ort ein Drama machst!“, versuchte der Blonde angsterfüllt ihn zurückzuhalten.

Im nächsten Moment hing der Blonde in der Luft, ein Ächzen entkam seiner Kehle, als Kurogane den Kragen seines Hemdes zudrückte. Kurogane merkte gar nicht, wie er ihm die Luft abdrückte. Im Moment spürte er nur dieses unbändige Verlangen, diesen Quacksalber für seine Heuchelei in den Boden zu rammen. Angewidert und in einem Anflug von Panik, dass er für solche Eskapaden eigentlich überhaupt keine Zeit hatte, warf er das zitternde Bündel Mensch an seinem Arm in die nächstbeste Ecke. Im Umdrehen hörte er noch den Aufprall und ein scharfes Zischen, das wohl von einem schmerzhaften Auftreffen herrühren mochte, aber so richtig nahm Kurogane das gar nicht wahr.

Er musste sich beeilen. Er musste seine Tochter zurückholen, bevor er nicht mehr die Chance dazu hatte. Er hätte sie gleich richtig beschützen sollen. Selbst wenn er sich dafür strafbar machte. Selbst wenn er mit ihr auswandern müsste. Es war egal. Hauptsache, er hatte sie endlich wieder.
 

Mit aufheulendem Motor und quietschenden Reifen schoss der schwarze BMW aus der Einfahrt, bereit für die Verfolgungsjagd.
 

TBC...

Finsternis

Disclaimer: Die Charas gehören (bis auf wenige Ausnahmen) nicht uns, sondern Clamp. Wir wollen kein Geld damit verdienen, sondern nur unterhalten.
 

Erstschreiber des Kapitels: Lady_Ocean

Kapitel: 20/26
 

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„Der Schwache kann nicht verzeihen. Verzeihen ist eine Eigenschaft des Starken.“

(Mahatma Gandhi)
 

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Finsternis
 

Viel zu schnell raste der schwarze BMW durch die Straßen der Vorstadt. Sein Fahrer hatte nur einen Gedanken, nur ein Ziel: in diesen Saftladen stürmen und sein Kind befreien. Dieser blonde Wichtigtuer hatte doch keine Ahnung! Woher wollte der denn bitteschön wissen, wie es sich anfühlte, sein Kind zu verlieren?! Spielte sich hier auf, als wisse er alles besser – eingebildeter Idiot!

Der Wagen nahm die letzte Kurve und drosselte auf der Zielgeraden nun langsam sein Tempo. Seine Augen suchten nach Anzeichen seiner Tochter oder deren Entführern, doch natürlich konnte er nichts entdecken. Sie waren sicher längst im Gebäude. Wie er sie da drinnen finden sollte, wusste er noch nicht. Das musste er dann spontan entscheiden.

Aber was, wenn er sie gar nicht finden würde? Wenn diese Entführer sie längst in die Fänge der Mutter übergeben haben? Dieser falschen Schlange. Dann würden sie ihn hier augenblicklich festnehmen und er hatte seine Chance vertan. Dennoch – wenn er gar nicht handeln würde, würde das am Ergebnis auch nichts ändern.

‚Wenn du bis zur Verhandlung wartest, wirst du sie ganz sicher zurück bekommen!’, hörte er Fyes Stimme in seinem Kopf. – War das Fye? Nein, so etwas hatte der Blonde nicht gesagt. Meldete sich sein Gewissen jetzt etwa schon mit der Stimme dieses Quacksalbers?! Gewissen hin oder her, wenn er da jetzt rein ging und seine Tochter dort rausholen konnte, war das eh egal. Dann würde er mit ihr verschwinden, irgendwohin abhauen, wo ihnen niemand folgen konnte. Untertauchen war ein Kinderspiel, wenn man wusste, worauf man zu achten hatte.

Und dann? Waren sie dann glücklich? Wäre Tomoyo dann glücklich? Sie würden die nächsten 20 Jahre auf der Flucht verbringen. Mindestens. Regelmäßig ihre Identitäten wechseln, ihre Wohnorte wechseln. Natürlich würde Tomoyo zur Schule gehen, wenn sie alt genug war. Aber dauerhafte Freundschaften konnte sie da keine knüpfen. Sie dürfte mit niemandem über das, was sie bis jetzt erlebt hatte, reden. Sie wären zusammen und Kurogane wusste, ihm selbst wäre das alles egal. Er würde es auf sich nehmen, ohne zu zögern. Aber Tomoyo…

Mit einem verzweifelten Seufzer ließ Kurogane seinen Kopf gegen das Lenkrad sinken. Tomoyo hätte ein besseres Leben, wenn sie bei ihrer Mutter bleiben würde, musste er sich eingestehen. Schlimmer als ein Leben auf der Flucht – noch dazu während der gesamten Kindheit und Jugend – konnte wirklich nichts sein. Und ihre Zukunftsperspektiven hätte er ihr damit vermutlich auch ruiniert. Fye hatte Recht gehabt. Er hätte ruhig bleiben sollen. Er konnte im Moment wirklich nichts für seine Tochter tun.

Ein Stich durchfuhr seine Brust.

‚Fye…’

Er hatte ihm schrecklich Unrecht getan. Seine Wut und Hilflosigkeit an ihm ausgelassen, obwohl der Blonde doch nur versucht hatte, ihm zu helfen. Obwohl er selbst unglaubliche Angst gehabt hatte. Kurogane hatte es in den eisblauen Augen gesehen, hatte erkannt, wie sehr der andere mit seiner Angst gerungen hat, um ihn zur Vernunft zu bringen. Vergebens. Kurogane hatte nur noch mehr Salz in die Wunde gestreut. Gott, er war so ein Vollidiot!

Mit der Erkenntnis, was für einen großen Fehler er begangen hatte, kam auch die Furcht. Fye war so verängstigt und zerbrechlich im Moment, dass jede unbedachte Kleinigkeit ihm den Rest geben konnte. Was, wenn er wieder blindlings davon gestürmt war, so wie am vergangen Samstag, als er fast von seinem Motorrad erfasst worden wäre? Oder wenn er… Kurogane schluckte. …wenn er von diesem Ashura gefunden wurde? Er musste so schnell wie möglich zurück. Er betete, dass er mit seinem Ausbruch nicht bereits alles zerstört hatte.
 

Fye stöhnte und versuchte benommen, sich wieder aufzurichten. Sein Kopf schwirrte und sein Hals tat immer noch weh. Doch das war bei weitem nicht das Schlimmste. Er wollte schreien, er wollte weinen und gleichzeitig wegrennen und sich irgendwo verkriechen. Er war hin- und hergerissen. Spätestens jetzt wusste er, warum die Metapher „es brach ihm das Herz“ lautete: Es fühlte sich tatsächlich so an, als würde sein Herz auseinander springen, in tausende kleine Scherben. Und sie stachen in seiner Brust.

„Kurogane…“

Wie hatte er sich nur so täuschen können?

„Kurogane!!“

Niemals hätte er geglaubt, dass der Schwarzhaarige tatsächlich in der Lage sein würde, Gewalt gegenüber jemandem anzuwenden. Dass er Gewalt gegen IHN anwenden würde!

Fye spürte, wie ihm heiße Tränen die Wangen herunterliefen. Energisch wischte er sie weg. Es half jetzt auch nichts, wenn er hier in der Ecke kauerte und weinte wie ein kleines Kind. Er musste etwas tun. Er musste hier weg. Hier war es gefährlich. Nicht weniger gefährlich als zu Hause oder…oder…

Fye wurde schlecht. Er schaffte es kaum, den dicken Kloß in seinem Hals zu schlucken. Was, wenn es eine Verbindung zwischen Kurogane und Ashura gab? Vielleicht war das der Grund, warum er seinen ehemaligen Chef die ganze Woche lang nirgends hatte sehen können? Wenn er ihn gar nicht direkt zu beobachten brauchte, solange er in Kuroganes Nähe war? Er musste hier WEG!!
 

Kurogane warf einen flüchtigen Blick auf die digitale Uhr am Armaturenbrett und schaltete den Motor ab. 19:44 Uhr. Er musste gut eine halbe Stunde unterwegs gewesen sein. Hoffentlich war es noch nicht zu spät. Mit schnellen Schritten hastete er die Treppe zu seiner Wohnung hinauf, immer zwei bis drei Stufen auf einmal nehmend. Oben angekommen, suchte er gar nicht erst nach dem richtigen Schlüssel. Er hatte die Tür zuvor offen gelassen, das wusste er. Ein wenig erleichtert stellte er fest, dass sie sich sofort öffnen ließ, doch der Flur dahinter und – soweit er es überblicken konnte – auch alle angrenzenden Zimmer waren dunkel. Unsicher trat er einen Schritt hinein und tastete nach dem Lichtschalter.

„Fye?“ – Stille.

Mit zwei Sätzen war er im Wohnzimmer, warf im Vorbeigehen noch einen Blick in die Küche.

„Fye?“

Oder im Schlafzimmer? Im Bad?

„Fye?!“

Nichts. Der Blonde war weg. Er hatte versagt. Er hatte ihn beschützen wollen, aber er hatte kläglich versagt. Nicht nur, dass er ihn nicht beschützt hat – man hätte Fye vor IHM beschützen müssen! Was, wenn er Fye sogar ernsthaft verletzt hatte? Wenn er mit dem Kopf gegen irgendetwas gestoßen war?

Benommen sank er an der Schlafzimmertür zu Boden. Seine Gedanken schwirrten hektisch um ihn herum, ohne dass er auch nur einen davon zu fassen bekam. Was sollte er tun? Ihn suchen? Wo? In seiner Wohnung? In der Nähe von Cybercom, Fyes ehemaliger Firma? Nein, Fye würde im Moment wohl keine bekannten Orte aufsuchen. Oder er war kurz in seiner eigenen Wohnung und verschwand gleich wieder. Allein würde er ihn jedenfalls kaum finden. Sollte er Yuuko Ichihara informieren? Aber selbst wenn er ihn suchen lassen würde, war er sich nicht sicher, ob man ihn finden würde. Seine kleine Freundin, Chii, hat man auch noch nicht gefunden, obwohl bereits die ganze Woche nach ihr gesucht wurde…

Aber selbst wenn man Fye finden würde, was sollte er dann tun? Ihn bitten, zu ihm zurück zu kommen? Er hatte nicht mehr das Recht, ihn weiter hier zu behalten. „Ich beschütze dich“ – wie lächerlich das nun klang! Fye würde seine Entschuldigung nicht akzeptieren, dafür war es zu spät. Er war einfach zu weit gegangen. Und Kurogane hatte nicht das Recht, ihn gegen seinen Willen festzuhalten. So bitter es auch war, im Moment konnte er wohl nichts tun als warten. Wieder einmal. Warten und hoffen, dass der Blonde vielleicht von allein zurückkäme, wenn er sich etwas beruhigt hatte, und ihm eine Chance gab, sich zu entschuldigen.
 

Leise schlich Fye durch das dunkle Treppenhaus. In der vierten Etage angekommen, holte er den Schlüssel aus seiner Hosentasche und versuchte mit zittrigen Fingern und praktisch ohne Licht, ihn ins Schlüsselloch zu bugsieren. Vielleicht hätte er doch das Licht anmachen sollen, dann hätten ihm seine Augen dabei helfen können. Aber nun war es auch egal.

Als er das leise Klicken hörte, das bei jeder Umdrehung des Schlüssels das Entsperren des Schlosses anzeigte, ließ der Blonde endlich den Atem entweichen, den er anscheinend vor Anspannung unbewusst angehalten hatte. Die Tür war immer noch verriegelt gewesen. Immer noch zweimal, genauso, wie er sie immer verschlossen hatte.

Ebenso still betrat er den Flur und schloss die Tür fast geräuschlos hinter sich. Er konnte seinen Puls regelrecht hören, so heftig schlug sein Herz in seiner Brust. Es kostete ihn unendlich viel Überwindung, den Lichtschalter im Flur zu betätigen, die andere Hand noch immer fest an der Türklinke, bereit, bei dem kleinsten Anzeichen von Gefahr wieder hinauszustürmen.

Das Licht ging an. Alles war still, alles war leer. Fye wusste nicht, ob er erleichtert oder wütend auf sich sein sollte, weil er so ein Feigling war. Auf jeden Fall war er einsam. Die Leere der Wohnung fraß an seinem geschundenen Herzen. Seit sechs Tagen war er nicht mehr hier gewesen. Seit sechs Tagen war Chii verschwunden. Und nun…war Kurogane auch verschwunden.

Wieder spürte er, wie seine Augen feucht wurden. ‚Nein!!’ Er presste seine Augenlider hart aufeinander, bis er Sterne sah und der physische Schmerz den in seinem Herzen überdeckte. Er würde nicht weinen. Nicht mehr. Er hatte auch überhaupt keine Zeit dafür. Er musste weg. Nur noch ein paar wichtige Sachen mitnehmen – nur so viel, wie er tragen konnte – und dann musste er verschwinden. Wohin, das wusste er nicht. Da konnte sich das Chaos in seinem Kopf und seinem Herzen immer noch nicht entscheiden. Sollte er allein durch die Stadt streunen und hoffen, Chii irgendwie zu finden, oder sollte er so viel Abstand wie möglich zwischen sich und diesen Hort des Unglücks bringen? Er wusste es einfach nicht! Aber auf jeden Fall musste er packen. Die Nacht über konnte er ja noch einmal durch die Straßen ziehen. Vielleicht hielt er sogar noch einige Tage durch. Ja, solange es ging, würde er nach ihr suchen.

Schnell stopfte er einige Wechselsachen in einen Rucksack, seinen Pass, eine Karte. Dann am besten noch ein bisschen was Haltbares zum Essen und eine Flasche für Wasser und auf jeden Fall sein Sparbuch. Nicht, dass da viel drauf war, aber es war besser als nichts.

Ohne einen Blick zurück schaltete er das Licht seines Schlafzimmers wieder aus und steuerte auf die Essküche zu, um die restlichen Sachen zu holen. Als er dort das Licht einschaltete, erstarrte er in seiner Bewegung. Etwas hatte sich verändert. Etwas war nicht mehr so wie zu dem Zeitpunkt, als er seine Wohnung das letzte Mal verlassen hatte. Sein Blick klebte am Küchentisch. Da waren sie wieder, das Pochen in seiner Brust und der Kloß in seinem Hals.

Es war ein schlichtes weißes Blatt Papier, welches ihn so in Aufregung versetzte. Das hatte vergangene Woche ganz sicher noch nicht dort gelegen. Nachdem er sich endlich wieder gefangen hatte und er darauf zuging, war es ihm, als ginge er zum Schafott, zu seiner eigenen Hinrichtung. Mit zittrigen Händen nahm er das dünne Blättchen auf und begann zu lesen:
 

„Lieber Fye,
 

wie geht es dir? Wir haben uns lange nicht mehr gesehen und ich vermisse deine Gesellschaft. Komm mich doch mal wieder besuchen! Im Moment habe ich sogar noch einen Gast, der dich gern einmal wiedersehen würde.
 

Hallo Fye!

Es tut mir leid, dass ich dir zu Hause immer so viele Umstände bereitet habe. Herr Ashura war so nett und hat mich für eine Weile bei sich aufgenommen, damit du dich einmal entspannen und für dich selbst da sein kannst. Er hat mir von früher erzählt und wie gut ihr befreundet seid. Komm doch auch mal vorbei! Das wird bestimmt lustig. Ich würde mich auch freuen, wenn wir uns bald wiedersehen könnten.
 

Siehst du, deine süße Freundin vermisst dich genauso wie ich. Also komm doch mal vorbei! Am besten im Verlauf dieses Monats, sonst langweilt die junge Dame sich vielleicht zu Tode. ;)
 

Herzliche Grüße

Ashura und Chii
 

‚Chii!’

Fye taumelte einen Schritt rückwärts, stieß gegen den Türrahmen und wäre beinah umgekippt.

„Chii!“, entfuhr es ihm.

Er hatte es befürchtet. Hatte es geahnt, aber...er hatte es nicht wahrhaben wollen. Er hatte nicht glauben wollen, dass Ashura tatsächlich zu so etwas in der Lage war. Dass er die unschuldige kleine Chii hineinzog! Und dass…

‚Am besten im Verlauf dieses Monats, sonst langweilt die junge Dame sich vielleicht zu Tode.’

Er würde sie töten. Kein Zweifel, er würde sie töten! Fye musste zurück. Zurück in diese Realität gewordene Hölle, auch wenn es sein Ende bedeuten würde, sonst war Chii verloren. Würde er Chii dann wirklich frei lassen? Was, wenn er das gar nicht vorhatte? Dann wäre die kleine Chii so oder so verloren. Was sollte er nur tun? Was nur?

„Ah!“

Es schepperte, seine Stirn schmerzte. Wie von Sinnen stolperte er weiter – rückwärts? vorwärts? Er wusste es nicht. Wo war er? Im Flur? RUMMS! Wieder irgendein Hindernis. Diesmal war es sein Schienbein, in dem der Schmerz explodierte. Fye stöhnte auf, während er das Gleichgewicht verlor und fiel. Er hob nicht einmal die Arme oder versuchte, sich irgendwie zu drehen und abzufangen. Er konnte nicht mehr. Er war mit seiner Kraft am Ende.

Der erwartete harte Aufschlag blieb aus, stattdessen wurde er weich abgefedert. Er musste wohl gegen sein Bett gestoßen und direkt hinein gefallen sein. Nun lag er hier. Allein. In der Dunkelheit. Tränen rannen ihm über das Gesicht, ohne dass er irgendetwas hätte dagegen tun können.

„Kurogane…“

Er fühlte sich so einsam, so schwach.

„Kurogane…“, schluchzte er erneut. Wie sehr er sich plötzlich nach den starken Armen des Schwarzhaarigen sehnte, nach der tiefen Stimme, die ihm zuraunte, dass es irgendwie gut wird. Dass sie eine Lösung finden würden. Aber da war niemand. Er war allein in seiner kalten, dunklen Ein-Zimmer-Wohnung.

Welch eine Ironie. Dass er jetzt überhaupt hier war, war nur wegen Kurogane. Und jetzt wünschte er sich nichts sehnlicher, als wieder bei ihm zu sein. … Wie es Kurogane jetzt wohl ging? Ob er sein Vorhaben tatsächlich umgesetzt und das Jugendamt auf den Kopf gestellt hatte, um Tomoyo zurückzubekommen? Fye schnaubte abfällig. Was für eine Schnapsidee! Nein, wahrscheinlich war es irgendwann endlich zu dem Dickschädel durchgesickert, dass er so nicht weiterkommen würde. Er war zwar ein Dickschädel, aber nicht dumm. Und jetzt saß er wahrscheinlich wieder in seiner Wohnung und starrte die Wand an. Genauso allein. Genauso einsam. Ohne zu wissen, was er tun sollte oder an wen er sich mit seiner Ratlosigkeit wenden sollte. Jetzt, wo man ihm sein Töchterlein weggenommen hatte und er selbst abgehauen war.

… Ob er sich Sorgen um ihn machte? Sicher machte er sich Sorgen. Kurogane würde das nie zugeben, aber er machte sich doch ständig Sorgen um ihn. In jedem Blick, in jeder Geste schwang Kuroganes Sorge um ihn mit.

Fye fühlte sich wie ein Idiot.
 

Bis auf das schwache Licht der Wandleuchte war es stockdunkel in der Wohnung. Wozu auch mehr Licht anmachen? Kurogane saß reglos auf einem Stuhl am Wohnzimmertisch, die Ellbögen auf die Knie gestemmt, das Kinn auf seine Hände gestützt. Sein Körper war der offenen Flurtür zugewandt, sein Blick starr auf das diffuse Schwarz des angrenzenden Raumes geheftet.

Er wartete. Er würde warten, so lange es nötig war. Und wenn er die ganze Nacht hier sitzen würde und den ganzen nächsten Tag. Was sollte er auch sonst tun? Es gab nichts, was er im Moment ausrichten konnte. Kurogane hätte erwartet, dass er Wut verspürte, Wut auf das Jugendamt, auf Tomoyos Mutter, aber in erster Linie auf seine Unfähigkeit. Doch da war keine Wut. Da war nur tiefe Resignation. Zum ersten Mal seit Wochen hatte er das Gefühl, er war am Ende seiner Kräfte. Es zog ihn mit beängstigender Macht in diese Zeit vor knapp einem Monat zurück, Erinnerungen drängten in sein Bewusstsein: ein Schuss, anklagende Augen kurz vor dem Erlöschen, die vor Verzweiflung schreiende Mutter…

Als könnte er damit die Bilder abschütteln, presste Kurogane die Augen fest zusammen. Er durfte jetzt nicht schwach werden. Er musste durchhalten. Für Tomoyo. Und auch für Fye, dem er so sehr Unrecht getan hatte.

Er wusste nicht, wie viel Zeit inzwischen vergangen war. Es hätten dreißig Minuten sein können, aber auch drei Stunden. Es war, als befand er sich in einem zeitlosen Raum. Ein plötzliches Geräusch ließ ihn aus seiner Lethargie aufschrecken. Es kam von draußen, aus Richtung Tür. Einen Moment später bestätigte sich Kuroganes erste Vermutung, als die Klinke heruntergedrückt wurde und die Tür sich öffnete. Angestrengt spähte er in die Dunkelheit hinein. Sein Herz klopfte bis zu seinem Hals. Konnte das tatsächlich…? War er tatsächlich zurückgekehrt…? Und was sollte er nun tun? Wie konnte er sich bloß für das, was er getan hatte, entschuldigen?

Die Tür fiel leise ins Schloss zurück und einen Moment später bestätigten seine Augen, was seine Ohren bereits wahrgenommen hatten, als die blasse Silhouette des Kindergärtners im Türrahmen erschien. Als Kurogane den Blick des anderen suchte, erschrak er. Diese Leere, diese Hilflosigkeit hätte er nicht erwartet. Ohne dass er es selbst richtig bemerkt hatte, war er von seinem Stuhl aufgesprungen und hatte die kurze Distanz zwischen ihnen überwunden. Der Blonde war dabei leicht zusammengezuckt und hatte einen Schritt nach hinten gemacht, doch schon im nächsten Augenblick war Kurogane bei ihm gewesen. Er hielt ihn sanft, aber bestimmt an sich gedrückt, sein rechter Arm um die Schultern, der andere quer über den Rücken des anderen. Im ersten Moment konnte er spüren, wie ein Zucken durch den Körper des anderen ging und sich der ganze Körper verspannte, doch dann löste sich die Verspannung wieder und der Blonde Haarschopf sank kraftlos gegen seine Schulter.

Kurogane wurde von Schmerz und Erleichterung gleichermaßen überrollt. Erst jetzt, wo er den Blonden sehen, ihn spüren konnte, schien er das wahre Ausmaß des Schmerzes erfassen zu können, welches er ihm zugefügt hatte. Doch gleichzeitig war er so unendlich erleichtert, dass er trotzdem zu ihm zurückgekommen war.

„Ich bin so ein Idiot“, gab er zu und stärkte die Umarmung noch ein wenig. Er wusste, es war Unsinn, doch die Angst, dass der andere ihm einfach entgleiten und wieder verschwinden könnte, wollte nicht verschwinden. Schon wieder.

Einige Momente verstrichen, bis Kurogane spürte, wie sich die Arme des anderen zögerlich auch um seinen Rücken legten. Eine Welle der Dankbarkeit und Erleichterung überkam ihn. Der vertraute Geruch der blonden Haare spendete ihm so viel Trost. Nie wieder – nie wieder würde er so die Beherrschung verlieren. Nie wieder würde er etwas tun, was den anderen verletzen würde, das schwor er sich.

„Es tut mir leid…“

Verwirrt drehte Kurogane sein Gesicht dem Blonden zu, von dem die leisen Worte gekommen waren.

„Wofür?“

Wofür entschuldigte der Blonde sich? Er hatte doch überhaupt nichts falsch gemacht!

„Ich hab dich allein gelassen, obwohl es dir gerade nicht gut geht. Dabei hätte ich es eigentlich besser wissen müssen, wie schmerzhaft das ist, wenn man plötzlich allein…allein…“

Ein Schluchzen unterbrach die Worte des Blonden. Gleich darauf spürte Kurogane, wie seine Brust feucht wurde. Seine innere Stimme schlug Alarm. Irgendetwas musste passiert sein, während der Kindergärtner fort gewesen war. Bestimmt löste er ihre Umarmung und hielt Fye einige Zentimeter von sich weg, um ihm ins Gesicht sehen zu können.

„Was ist passiert?“

Doch der andere machte weder Anstalten, den Kopf zu heben, noch auf die Frage zu antworten. Nur das beständige Beben der Brust zeigte ihm, dass er mit aller Macht gegen die Emotionen in seinem Herzen ankämpfte, die sich zusammen mit den Tränen einen Weg nach außen zu bahnen versuchten. Nach einigen Sekunden wiederholte Kurogane seine Frage mit Nachdruck.

„Was ist passiert?! Irgendetwas muss da draußen doch passiert sein, oder? Geht es um Ashura?“

Das Zucken, das durch den dünnen, zerbrechlichen Körper ging, war Antwort genug. Kurogane beschloss, seine Taktik zu ändern. Das Thema würde er garantiert nicht fallen lassen, dafür war es zu wichtig. Aber auf diese Art würde er nichts aus dem Blonden herausbekommen. Vorsichtig zog er ihm die Jacke aus und hängte sie an die Kommode neben der Tür, stets darauf bedacht, den Körperkontakt zwischen ihnen nicht zu unterbrechen. Dann lotste er ihn vorsichtig ins Wohnzimmer, zur Sitzecke im hinteren Teil des Raumes, und ließ ihn sich auf das geräumige Ledersofa setzen. Einen Moment verharrte er dort stehend, die Hände immer noch auf Fyes Schultern. Das Beben schien sich einfach nicht beruhigen zu wollen.

„Warte kurz. Ich hol eine Decke und etwas zu Trinken. Möchtest du auch was essen?“

Mit einem angedeuteten Kopfschütteln verneinte der Blonde. Dann löste Kurogane seine Hände von Fyes Schultern, strich ihm noch einmal durch die weichen Haare und beeilte sich, eine heiße Milch anzusetzen und eine Wolldecke aus dem Schlafzimmer zu holen. Schnell brachte er die Decke ins Wohnzimmer und wickelte den Blonden darin ein. Das Beben seiner Brust war inzwischen von einem Zittern abgelöst und die Haut des Blonden war deutlich kühler geworden. Er stand definitiv unter Schock.

„Wenn du dich unwohl fühlst, leg dich lieber hin“, riet Kurogane ihm.

Der Blonde nickte, blieb aber sitzen. Auch wenn es Kurogane nicht gefiel, ihn in diesem Zustand allein zu lassen, musste er noch einmal in die Küche und nach der Milch sehen. Schnell stellte er den Herd aus, goss die dampfende Flüssigkeit in eine Tasse, gab Honig dazu und brachte sie zurück ins Wohnzimmer. Fye saß unverändert in seiner Ecke auf dem Sofa, den Kopf eingezogen, die Hände von innen in den Stoff der Decke gekrallt. Der Schwarzhaarige stellte die Milch auf den Tisch, so dass der andere sie leicht erreichen konnte, und setzte sich neben ihn. Augenblicklich rückte der Blonde näher an ihn heran und lehnte sein Gesicht wieder an Kuroganes Schulter. Dessen rote Augen musterten den anderen einige Augenblicke. Er zitterte wirklich fürchterlich. Schließlich legte er seinen rechten Arm wieder um den dünnen Körper, hoffte, dass er wenigstens ein bisschen Wärme spenden konnte.

„Du solltest etwas trinken“, unterbrach er die Stille zwischen ihnen schließlich.

Diesmal folgte Fye seinem Rat, streckte vorsichtig eine Hand aus der Decke hervor und griff nach der Tasse, die Kurogane ihm bereitgestellt hatte. Er richtete sich ein wenig auf, um besser trinken zu können. Wieder folgte eine Weile des Schweigens. Kurogane stellte erleichtert fest, dass das Zittern langsam nachließ und auch die Atmung des anderen ruhiger wurde. Kurogane hoffte darauf, dass der Blonde von sich aus anfangen würde, über die Ereignisse der letzten Stunden zu sprechen, doch nachdem der andere einfach keinen Laut von sich geben wollte, gab er das Warten schließlich auf und ging wieder in die Initiative – wenn auch vorsichtiger als zuvor.

„Erzählst du mir, was passiert ist?“

Der Blonde stoppte in seiner Bewegung, doch insgesamt fiel die Reaktion diesmal nicht so heftig aus wie zuvor. Schließlich stellte er die inzwischen halb leere Tasse Honigmilch zurück auf den Tisch, den Kopf gesenkt, die Hände in die Wolldecke gekrallt, seine Atmung schwer. Anscheinend wollte er reden, hatte inzwischen eingesehen, dass es nichts half, das Thema totzuschweigen und zu ignorieren, doch es kostete ihn viel Überwindung. Kurogane wartete. Er wusste, diesmal würde er eine Antwort bekommen. Früher oder später.

„… Chii…“, kam es schließlich kleinlaut von dem Blonden. Kurogane ahnte Übles.

„… Er hat sie, oder?“, sprach er seine Vermutung aus. Zur Bestätigung erhielt er von Fye ein Nicken, gleich darauf klammerte der Blonde sich an seine Brust, wie ein Kind, das bei seiner Mutter Schutz suchte.

„Was soll ich nur tun? Chii…wegen mir…“

„Dich trifft keine Schuld. Du hast nichts falsch gemacht.“

„Weil sie bei mir war, hat er sie entführt!“, brach es aus Fye heraus. „Oh Gott, Chii…“

„Trotzdem ist es nicht deine Schuld!“, beharrte Kurogane. „Niemandem schaden zu wollen, ist nichts Schlechtes. Nichts mit kriminellen Machenschaften zu tun haben zu wollen, ist nichts Falsches. Einen Menschen zu entführen, aus welchen Gründen auch immer, DAS ist falsch.“

„Das sagst du so einfach…aber Chii hilft das auch nicht.“

Kurogane wusste, dass der Blonde das nächste nicht hören wollte, doch er musste es einfach sagen. Es gab nun keine andere Möglichkeit mehr.

„Wir müssen die Polizei einschalten.“

„NEIN!!“, kam prompt die Reaktion, die er erwartet hatte.

„Wenn er davon erfährt, ist Chiis Leben in Gefahr! Du darfst niemandem davon erzählen, hörst du? NIEMANDEM!“

„Und was denkst du, wie wir ihr helfen sollen, wenn niemand weiß, dass sie entführt wurde?“

„Das weiß ich noch nicht, aber mir wird schon was einfallen.“

„Das ist total naiv!“, schnaubte Kurogane abfällig. „Was können wir zwei allein schon ausrichten?“

„Mir…wird schon irgendwas einfallen…“, wich Fye aus.

Der Tonfall machte Kurogane skeptisch.

„Du…hast nicht vor, da allein reinzuspazieren?“

Die Art, wie er es sagte, machte klar, dass er das absolut nicht akzeptieren würde.

„Ich sagte doch, ich werd mir was einfallen lassen!“, wiederholte der Blonde gereizt.

Kurogane gefiel das nicht. Das war keine Antwort auf seine Frage gewesen. Ihm wurde schlecht bei dem Gedanken, dass Fye versuchen könnte, sich diesem Monster auszuhändigen.

„Selbst wenn du zurückgehen würdest, ist das keine Garantie, dass er im Austausch dafür die Kleine freilassen würde. Wahrscheinlich eher nicht. Wer weiß, was sie alles gesehen hat, was sie alles weiß. Sie ist jetzt ebenfalls ein Risikofaktor für ihn.“

„Ich weiß…“, entgegnete Fye verzweifelt. „Ich weiß es doch…“

Wieder krallten sich seine Hände in die Wolldecke, sein Körper zitterte erneut. Kurogane wusste, dass er zu weit gegangen war und bereute seine letzten Worte augenblicklich. Er erneuerte den Halt seines rechten Armes am Rücken des Blonden und legte zusätzlich seine linke Hand auf dessen verspannte linke.

„Lass mich dir helfen. Ich will genauso wenig, dass der Kleinen etwas passiert wie du. Und ich will nicht, dass dir etwas passiert.“

Einen Moment herrschte Stille, dann löste Fye seine rechte Hand aus dem Stoff der Decke und legte sie über die linke des Schwarzhaarigen.

„Danke…“, entfuhr es ihm leise.

„Bitte gib mir noch etwas Zeit. Ich muss nachdenken, was das Beste ist“, bat er.

„…Viel Zeit werden wir nicht haben“, gab Kurogane zu bedenken.

„Ich weiß. Aber wenigstens noch ein paar Tage. Bitte.“

Kurogane erwiderte nichts. Je länger sie zögerten, desto gefährlicher wurde es für das Mädchen. Doch mehr Vernunft schien der Blonde im Moment einfach nicht anzunehmen. Er fragte sich, wie viel Zeit ihnen wohl noch blieb.

„Wie hast du eigentlich davon erfahren?“

„Eine Nachricht…in meiner Wohnung“, antwortete der Blonde kraftlos.

„Kann ich mal sehen? Vielleicht hilft uns das irgendwie weiter.“

Zögerlich schüttelte der Blonde den Kopf.

„Wie – ‚nein’? Was soll das heißen?“

Der Idiot hatte sie in seiner Panik doch nicht etwa zerstört?! So ein wichtiges Beweisstück!

„…nicht mehr da…“, nuschelte der Blonde in sich hinein. „Tut mir leid.“

AAARRRRGH!!! Das war ja nicht auszuhalten! Wie konnte so etwas ‚nicht mehr da’ sein?! Dieser Idiot! Hatte er überhaupt eine Ahnung, was er damit angerichtet hatte?

Doch Kurogane sprach es nicht aus. Er wusste, wenn er jetzt explodierte und den anderen mit Schuldgefühlen überhäufte, machte das alles nur noch schlimmer. Und verschlimmert hatte er heute weiß Gott genug. Also schwieg er und gab sich alle Mühe, nicht die Beherrschung zu verlieren. Irgendwann ließ das Brodeln im Bauch endlich nach. Geschehen war geschehen. Es half nichts, sich über verschüttete Milch zu ärgern. Sie mussten sehen, wie sie mit dem zurechtkamen, was sie noch hatten, egal, wie wenig das war. Immerhin… Immerhin war nicht jeder von ihnen allein mit seinen Problemen. Immerhin war Fye zurückgekehrt, obwohl er ihn am Abend so verletzt hatte.
 

Fye war heilfroh, als Kurogane das Thema endlich fallen ließ. Einerseits fühlte er sich jetzt ein wenig besser, weil er mit jemandem darüber geredet hatte, andererseits deutlich schlechter. Auf keinen Fall durfte die Polizei oder sonst wer davon erfahren. Das wäre Chiis Ende. Dass Kurogane nun davon wusste, war gefährlich genug. Und keinesfalls durfte er den Brief in die Hände bekommen! ‚Am besten im Verlauf dieses Monats…’ Das war Dienstag. Dienstag war der letzte Tag des Monats. Keinesfalls sollte er erfahren, dass sein Ultimatum bereits in vier Tagen ablaufen würde. In vier Tagen… Er würde Kurogane sehr verletzen. Es wäre besser gewesen, wenn er ihm nichts von der Entführung erzählt hätte. Warum war er nur so schwach, so abhängig? Warum zog er ständig Unschuldige in seine Probleme hinein? Erst Chii, jetzt auch noch Kurogane…

„Ich bin wirklich erbärmlich… Ich renne weg, obwohl es dir so schlecht geht. Ich komme zurück, weil ich dir helfen will, aber am Ende bin ich es, um den du dich kümmern musst. Warum…bist du überhaupt so nett zu mir? Warum tust du dir das alles an?“

Fye spürte, wie ihm schon wieder die Tränen in die Augen stiegen. Verdammt! Konnte das nicht langsam mal aufhören? Er wollte das alles nicht! Er hasste sich für seine Schwäche!

Er spürte, wie die Arme des Schwarzhaarigen ihn stärker an dessen Brust zogen.

„Du glaubst gar nicht, wie sehr du mir heute geholfen hast…“, raunte die tiefe Stimme. Die Vibrationen von Kuroganes Brustkorb kitzelten leicht an seiner Wange. Eine sanfte Berührung an seinem Kopf jagte leichte Schauer durch seinen Rücken. War das…ein Kuss?

Ah! Warum? Warum musste Kurogane so sanft zu ihm sein? Sein Herz drohte zu zerspringen. Er konnte nicht mehr. Er konnte die Tränen nicht länger unterdrücken. Sein Herz quoll über vor Gefühlen. Wieder klammerten seine Hände sich an die warme, starke Brust des anderen, sein Gesicht in der Halsbeuge versteckt, Halt suchend. Dieser Mann, er war sein Untergang und seine Rettung zugleich.
 

TBC...

Unerwartete Begegnung

Disclaimer: Die Charas gehören (bis auf wenige Ausnahmen) nicht uns, sondern Clamp. Wir wollen kein Geld damit verdienen, sondern nur unterhalten.
 

Erstschreiber des Kapitels: Lady_Ocean

Kapitel: 21/26
 

-~*~-
 

„Für die Welt bist du irgendjemand,

aber für irgendjemand bist du die Welt.“

(Erich Fried)
 

-~*~-
 

Unerwartete Begegnung
 

Es herrschte resigniertes Schweigen, als Fye und Kurogane am nächsten Morgen versuchten, einige Bissen Brot zum Frühstück herunterzubekommen. Geschlafen hatten sie wohl beide kaum, so dass sie letztendlich lange vor dem Sonnenaufgang schon wieder aufgestanden waren. Ihnen war auch klar, dass sie sich nicht verkriechen und einfach abwarten konnten, bis die Sintflut über sie hereinbrach. Aber gleichzeitig wussten sie auch, wie aussichtslos ihre Lage war.

Vor allem Fyes Lage. Chiis Verschwinden hing also tatsächlich mit seinem früheren Arbeitgeber zusammen. Die Gefahr hatte von Anfang an bestanden, aber er hatte insgeheim inständig gehofft, dass sie sich als unbegründet erweisen würde. Wie naiv er doch gewesen war.

Plötzlich wurde Fye aus seinen Gedanken geholt, als Kurogane seinen rechten Arm nach ihm ausstreckte um seine Hand über den Tisch hinweg auf seine zu legen. Hatte er schon wieder so miserabel ausgesehen, als er in seine Gedanken vertieft war? Kurogane konnte ihn inzwischen anscheinend lesen wie ein offenes Buch. Er machte sich Sorgen um ihn, das war mehr als deutlich, wenn er die feuerroten Augen seines Gegenübers betrachtete. Kurogane… Er wollte ihm keine Sorgen bereiten. Er wollte ihn nicht noch mehr belasten.

‚Ich bin in Ordnung’, dachte er, als er seine rechte Hand zusätzlich über ihre beiden Hände legte und Kuroganes etwas drückte. Etwas hatte sich seit der vergangenen Nacht zwischen ihnen verändert. Kurogane musste es auch spüren. Man merkte es an seinen Gesten und seinen Blicken. Nur wie er darüber dachte, das wusste Fye nicht. Verringerte er die Distanz zwischen ihnen nur, um ihn zu beruhigen, oder hatte es eine tiefere Bedeutung…? Nein, am besten nicht weiter drüber nachdenken. Er hatte den Schwarzhaarigen tief genug in seine Angelegenheiten hinabgezogen. Er würde ihn nur umso mehr verletzen.

„Es tut mir wirklich leid, dass ich dir so viel Ärger bereite“, hauchte er leise und wandte den Blick wieder ab.

„Du bereitest mir keinen Ärger. Und dir muss auch nichts leidtun“, erwiderte Kurogane.

Es war immer der gleiche Dialog. Seit gestern Nacht hatten sie kaum etwas anderes gesagt. Wenn es nach Kurogane ging, hätten sie längst die Polizei verständigt. Oder sogar den Geheimdienst! Kurogane konnte es nicht lassen, das Thema auf den Tisch zu bringen und hatte ihm heute Morgen erzählt, dass er durch seine Arbeit Kontakte dort hatte. Aber es war einfach zu unsicher. Ashura hatte selbst dort Agenten, die alles direkt an ihn weiterleiten würden, sobald sie einen Schritt in diese Richtung unternehmen würden. Das wusste er von früher. Deshalb schaffte es ja einfach niemand, ihm irgendwas nachzuweisen. So viele Morde in so vielen Jahren und nicht einen hatte man nachweisen können!

Nur…was er sonst tun konnte oder sollte, das wusste er beim besten Willen nicht. Und er hatte nur noch knapp drei Tage, um sich etwas einfallen zu lassen…
 

Es durchfuhr ihn wie ein elektrischer Schlag, als plötzlich die Türklingel erschallte. Hatte er ihn gefunden?! War Kurogane sein nächstes Ziel?! Dieser schien von Fyes Gedanken gar nichts zu ahnen, als er genervt seufzend zur Lautsprechanlage ging.

„Ja?“, hörte Fye die einsilbige Begrüßung vom Flur. „Moment, ich komme.“

Wenig später folgte das Klicken, als der Hörer zurück auf die Sprechanlage gesetzt wurde.

„Brief. Bin gleich wieder da!“, rief er Richtung Wohnzimmer und ging. Fye betete inständig, dass es keine Falle war. Sollte er zum Fenster gehen und nachsehen, ob dort tatsächlich ein Postauto stand? Aber was, wenn es keines war…?

Er spürte Wut auf seine eigene Feigheit. Falls das tatsächlich nicht die Post war, dann war Kurogane da unten in viel größerer Gefahr als er da oben. Ruckartig stand er auf, ging mit schnellen, steifen Schritten zum Fenster und zog den Vorhang einige Zentimeter weit zurück, so dass er gerade so mit einem Auge hindurchschielen konnte. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. Sein Blick glitt nach unten, zur Straße, und blieb an einem weißen Auto mit dem markanten roten Postzeichen hängen. Tatsächlich. Wirklich ein Postauto. Hoffentlich mit echtem Postboten.

Er ließ den Vorhang zurückgleiten und stolperte mit wackeligen Beinen zum Tisch zurück, ließ sich auf seinen Stuhl zurückfallen. Eine dreiviertel Minute später – er hatte abwechselnd die Tür und die Uhr an der Wand angestarrt – öffnete sich die Wohnungstür und Kurogane war wieder da. Vertieft in den Inhalt des Briefes, den er soeben entgegen genommen hatte. Was konnte das sein, dass er schon auf der Treppe angefangen hatte zu lesen?

„Was ist das für ein Brief?“

„Jugendamt“, antwortete Kurogane knapp, ohne den Blick von dem Schriftstück abzuwenden. Fye hielt für einen Moment den Atem an. Sollte er Kurogane jetzt lieber in Ruhe lassen oder konnte er fragen? Am Ende siegte seine Neugier.

„Was schreiben sie?“

Noch immer lesend, ging Kurogane an ihm vorbei ins Wohnzimmer und setzte sich auf einen Ledersessel. Fye folgte ihm angespannt.

„Tomoyo ist jetzt bei ihrer Mutter“, begann Kurogane schließlich.

„Und sie schlagen für Montagnachmittag einen Termin vor, um hier vorbeizukommen und sich meine Wohnverhältnisse anzusehen. Mein Fall wird wohl mit hoher Priorität behandelt. Dafür steht mir unter anderem diese ‚Begutachtung meiner Wohnsituation’ und ein Gespräch mit dem Jugendamt zu.“

Noch während er erklärte, blätterte Kurogane weiter und sah sich zwei weitere Seiten an, die dem Schreiben ebenfalls beilagen. Soweit Fye es überblicken konnte, enthielten sie eine Auflistung an Regeln, was eine „kindgerechte Erziehung“ bedeutete, welche Rechte und Möglichkeiten getrennt lebende Eltern bei der Erziehung der Kinder hatten und welche Möglichkeiten des Widerspruchs es gab und wie diese verliefen.

„Das…klingt doch gut!“, hauchte Fye. „Dann kann Tomo-chan bestimmt bald zurückkommen.“

Er war so erleichtert, dass Kurogane eine Chance bekam, um sein Töchterchen zu kämpfen. Und es war eine willkommene Ablenkung von seinen eigenen Problemen, von denen er nicht wusste, wie er sie anpacken sollte. Aber hier – hier gab es etwas Konkretes, was sie tun konnten!

Kurogane erwiderte den aufgeregten Blick des Blonden skeptisch.

„Dafür muss erst mal bewiesen werden, dass der Tod meines Untergebenen ein Unfall war.“

„Aber das WAR ein Unfall! Du würdest niemals jemanden ermorden und das wird mit Sicherheit auch nachgewiesen werden“, erwiderte Fye erschrocken. Zweifelte Kurogane etwa selbst an dem Hergang der Tat? Fye war zwar nicht selbst dabei gewesen, doch er kannte den Schwarzhaarigen inzwischen gut genug, um zu wissen, dass er niemals jemanden ermorden würde. Dafür war dieser nach außen hin so mürrische Brummbär in seinem Innern viel zu weich. Kurogane schenkte ihm ein halb dankbares, halb trauriges Lächeln. – Hatte er ihn je schon einmal so angelächelt? Aber besser, der Schwarzhaarige tat es in Zukunft nicht mehr. Das wohlige Kribbeln, das es in seinem Bauch ausgelöst hatte, war im Moment wirklich keine Hilfe.

„Selbst wenn es irgendwie möglich wäre, die Richter davon zu überzeugen, ist da immer noch diese Hexe von Mutter. Wer weiß, was sie der Kleinen bis dahin alles eingeimpft hat. Am Ende will sie mich nie wieder sehen.“

„Kurogane, denk doch so was nicht!“, rief der Blonde empört. „Tomoyo würde sich niemals einfach so von dir abwenden. Natürlich passiert es, dass Kinder sich von einem Elternteil entfernen, wenn die Eltern getrennt leben und das Kind dauerhaft nur bei einem Elternteil sein kann. Aber selbst so was dauert oft Jahre. Und in dem Fall kennen und lieben die Kinder zum Zeitpunkt der Trennung beide Eltern. Tomo-chan hatte immer nur dich. Du bist ihre Familie. Und darauf ist sie viel stolzer, als du es dir vorstellen kannst. Du solltest sie im Kindergarten mal erleben, wenn einer der anderen etwas Schlechtes über dich sagt. Wie vehement sie dich dann verteidigt. Wenn ihre Mutter irgendetwas planen sollte, um sie gegen dich aufzuwiegeln, wird sie bei Tomo-chan nur das Gegenteil erreichen.“

Was das Herz eines Kindes anging, da machte ihm so schnell keiner etwas vor. Da war Fye sich absolut sicher. Und Tomo-chan war ein absolutes Papa-Kind. Sie würde niemals freiwillig von seiner Seite weichen. Der Richter sollte sie mal in Aktion erleben!

„Hn.“ Kurogane lächelte schief. „Hoffen wir, dass du recht hast. Und dass ich am Montag einen besseren Eindruck beim Jugendamt hinterlassen kann als gestern.“

Damit nahm er sein Telefon und wählte die Nummer, die auf dem ersten Blatt des Briefes aufgedruckt war. Während der Schwarzhaarige den vom Jugendamt vorgeschlagenen Termin – Montag, um 14 Uhr – bestätigte, lehnte er sich zu ihm rüber, um einen genaueren Blick auf die Zettel in Kuroganes Hand werfen zu können. Wirklich helfen konnte er dem Schwarzhaarigen in dieser Sache wohl nicht, aber er konnte zumindest an seiner Seite bleiben, so lange es ihm möglich war.
 

Das Telefonat war erledigt, der Brief noch zwei-, dreimal gelesen, doch nun gab es wirklich nichts mehr, was sie im Augenblick tun konnten. Kurogane fing schon wieder an, ihn mit diesen eindringlich forschenden Augen anzublicken. Fye versuchte, dem so gut es ging auszuweichen, jetzt, wo er sich gerade mal ein bisschen besser fühlte, doch letztlich konnte Kurogane es natürlich nicht lassen, wieder mit dem leidigen Thema anzufangen.

„Und du bist sicher, dass wir nicht irgendwen um Hilfe bitten sollten, um deiner kleinen Untermieterin zu helfen?“

„Nein!“, lehnte Fye zum wiederholten Mal entschieden ab. „Er würde es herausfinden, egal, wie geheim wir das versuchen würden. Wer weiß, vielleicht hört er sogar dein Telefon ab und hat längst deine Wohnung verwanzt?“

Warum wollte dieser Dickschädel es nicht endlich einsehen? Ashura war ein Experte auf diesem Gebiet. Er selbst hatte auch nur einen kleinen Teil dessen gesehen, was der Chef von CyberCom im Geheimen für Machenschaften trieb, aber das war mehr als genug, um das schreckliche Ausmaß seiner Straftaten zu erahnen. Nur Kurogane wollte es einfach nicht begreifen! Vielleicht konnte er es auch nicht begreifen, solange er es nicht mit eigenen Augen gesehen hatte… Der Schwarzhaarige schüttelte nur wieder den Kopf.

„Die Wohnung ist definitiv nicht verwanzt. Ich kontrolliere das regelmäßig und habe auch sonst Maßnahmen ergriffen, dass ich sofort Bescheid wüsste, wenn sich hier jemand unbefugt Zutritt verschafft hätte. Meine Telefone sind genauso sicher. Die müssen sicher sein, sonst könnte ich meine Arbeit nicht machen. – Deshalb…“, lenkte der Schwarzhaarige das Thema schließlich in die ursprüngliche Richtung zurück. „Irgendetwas muss geschehen. Wir haben keinerlei Informationen über den Gesundheitszustand des Mädchens. Selbst wenn wir vom bestmöglichen Fall ausgehen, nämlich dass sie noch unversehrt ist, wird dies sicher nicht mehr lange so bleiben. Es wird ein Ultimatum geben.“

„Ich weiß…“

Da war sie wieder. Die Übelkeit. Die Verzweiflung. Sie raubte ihm schier den Verstand. Warum musste Kurogane ihn nur so quälen?

„Ich weiß…“, wiederholte er noch einmal. Warum war er nur so hilflos? Ein wenig beneidete er Kurogane um dessen Mut. Doch wenn Chii am Ende diesem Mut zum Opfer fallen sollte, dann könnte er sich das niemals verzeihen.

„Lass uns das doch besprechen, wenn dein Prozess durch ist. Dafür gibt es auch noch so viel zu tun!“, schlug er schließlich ausweichend vor. Kuroganes Gesichtsausdruck wechselte von angespannt in versteinert. Fye war klar, dass er damit nicht zufrieden sein würde, aber auch er selbst würde nicht von seiner Position abrücken. Zur Sicherheit begann er lieber damit, das kaum angerührte Frühstück wieder wegzuräumen, dann hatte er einen guten Grund, dem anderen zumindest für den Moment aus dem Weg zu gehen. Den Teller, den er gerade in der Hand hielt, hätte er um ein Haar fallen gelassen, als es schon wieder an der Tür klingelte. Fye wusste nicht, ob er jetzt dankbar oder verzweifelt sein sollte. Kurogane stapfte noch immer wutgeladen an ihm vorbei in den Flur und riss förmlich den Hörer von der Sprechanlage.

„Was?!“, blaffte er unfreundlich in die Sprechanlage.

Das verdutzte Gesicht, welches auf den unbeherrschten Ausruf folgte, ließ Fye ein wenig auflachen.

„Was wollen Sie denn hier?!“, hörte er den Schwarzhaarigen wenig später entnervt. Kurz darauf legte er den Hörer zurück – deutlich sanfter, als er ihn aufgenommen hatte, und betätigte den automatischen Türöffner. Fye überlegte, ob er fragen sollte, wer der plötzliche Besuch war, aber bei Kuroganes Verhalten hatte er bereits eine Vermutung. Als wenig später Yuuko Ichihara in der Tür stand, bestätigte sich diese.

„Was für ein herzlicher Empfang“, kommentierte sie ironisch, als sie den Flur betrat. „Hallo, Fye! Ich hoffe, der werte Hausherr bringt dir nicht genauso viel Gastfreundschaft entgegen.“

„Yuuko-san! Na das ist eine Überraschung. Und keine Sorge, ich werde bestens umsorgt“, erwiderte Fye mit einem Lächeln.

„Das freut mich zu hören. Dann scheint mein Klient unsere Abmachung ja einzuhalten.“

„Welche Abmachung?“, fragte Fye verwundert. Worüber hatten die beiden gesprochen? Ob es um Tomoyo ging?

„Ach, nur eine Kleinigkeit“, winkte die selbstbewusste Frau ab und wandte sich wieder Kurogane zu. „Aber Kurogane, ich muss dich trotzdem bitten, deine Aufgabe ernster zu nehmen. Schau dir nur mal an, wie der arme Fye aussieht! Ich will nicht wissen, was du die ganze Nacht mit ihm gemacht hast.“

„KLAPPE!!!“, bellte Kurogane mit hochrotem Kopf. Fye musste bei dieser Reaktion schmunzeln. Es erinnerte ihn sehr an das erste Mal, als der grummelige Daddy sein Töchterchen bei ihm im Kindergarten abgegeben hatte.

‚Also Kuro-rin.’ – ‚WAS???!!!’ – ‚Oder wie wäre es mit Kuro-pyon?’ – ‚DU HAST SIE DOCH NICHT MEHR ALLE!!!’

„Oh, habe ich da etwa ins Schwarze getroffen?“, holte Yuukos neckende Stimme ihn in die Gegenwart zurück.

„WENN SIE NUR HIER SIND, UM ZU STÖREN, KÖNNEN SIE GLEICH WIEDER GEHEN!!!“

Ja, das war sein Kuro-muff und sein unglaubliches Temperament, das er vom ersten Moment an lieb gewonnen hatte. Und…irrte er sich, oder war er sogar noch eine Spur roter geworden? Seine Ohren schienen förmlich zu glühen. Wie süß.

„So sehr ich es auch mag, dich ein wenig zu necken, aber das ist tatsächlich nicht der einzige Grund, weshalb ich hier bin“, lenkte Yuuko schließlich ein. „Ich habe Neuigkeiten. Und da ich eh grad in der Nähe war und ein Gespräch im Moment sicher angebracht ist, dachte ich, für einen Kaffee und ein paar Plätzchen würde ich das sogar bei einem Hausbesuch bei meinem Klienten erledigen.“

„Plätzchen gibt’s nicht“, antwortete Kurogane noch immer barsch, wenn auch deutlich beherrschter als zuvor. Von welchen ‚Neuigkeiten’ Yuuko wohl sprach? Kuro-puu war sicher auch neugierig. Heute schien der Tag der Neuigkeiten zu sein.

„Ein Kaffee als Anzahlung würde auch erst einmal reichen, solange die Plätzchen dann später kommen“, lenkte die Geschäftsfrau ein. Kurogane antwortete nicht, ging aber in die Küche. Höchstwahrscheinlich, um den bestellten Kaffee vorzubereiten. Yuuko ließ sich währenddessen im Wohnzimmer nieder.

„Was machen die Kinder?“, wandte sie sich an Fye.

„Alles bestens! Die kleinen Racker sind wirklich voller Energie“, begann er. Dann zögerte er einen Moment. Ob Yuuko schon über die aktuelle Lage informiert war? Sie schien nicht erstaunt darüber, dass Tomoyo nicht da war. „Zu schade, dass Tomo-chan uns vorerst wohl nicht mehr besuchen kann…“

„Deswegen dachte ich, ich komme gleich persönlich vorbei.“

Also tatsächlich. Bewundernswert und auch ein wenig erschreckend, wie gut Yuuko immer informiert war.

„Was sind denn das für Neuigkeiten?“, mischte Kurogane sich in das Gespräch ein, während er mit einem Tablett und drei Tassen zurück ins Wohnzimmer kam. Yuuko gab er den bestellten Kaffee, ihm eine heiße Schokolade. Für sich selbst hatte Kurogane ebenfalls einen Kaffee gemacht.

Nachdem der Schwarzhaarige sich gesetzt hatte, übergab Yuuko ihm wortlos einen Brief aus ihrer Tasche und beobachtete Kuroganes Reaktion. Als dieser den Umschlag genauer betrachtete, weiteten sich seine Augen. Fye warf ebenfalls einen Blick darauf. Der Absender war das Amtsgericht. Noch bevor Kurogane den Umschlag jedoch öffnete, wandte er sich wieder an Yuuko und stellte sie zur Rede: „Warum bekommen Sie so ein wichtiges Dokument ausgehändigt und nicht ich direkt? Haben Sie mich deswegen vorhin ‚mein Klient’ genannt?“

Yuuko schmunzelte. „Du hast eine sehr gute Auffassungsgabe.“

„Heißt das, ich hab Sie jetzt, ohne es zu wissen, als meine rechtliche Verteidigung für den Fall angeheuert?“, brachte Kurogane die Sache auf den Punkt.

„Wenn du es eh längst weißt, warum fragst du dann noch?“

Zufrieden lehnte Yuuko sich zurück und trank von ihrem Kaffee. „Der ist gut.“

Fye wusste zwar nicht, was die beiden in den letzten Tagen in Yuukos Sekretariat alles besprochen hatten, aber dass sie sich bereit erklärte, ihn in dem Prozess um Tomoyo zu unterstützen, ließ ihm einen Stein vom Herzen fallen. Er wusste nicht, wie sie das anstellte, doch wenn Yuuko Ichihara sich etwas vornahm, dann klappte das auch.

„Wirklich? Du würdest Kurogane vertreten? Das ist ja großartig! Wie sollen wir dir nur danken, Yuuko?“ Fye schien außer sich vor Freude bei dieser Offenbarung.

„Ich brauche keinen Dank“, erwiderte sie unerwartet sanft. „Schließlich arbeite ich gegen Bezahlung. Ich lasse keine Schulden offen, wenn ich einen Handel eingehe.“

„Wann hat Kurogane dich engagiert?“

„Das ist eine Sache zwischen mir und meinem Geschäftspartner. Tut mir leid, Fye, aber dazu kann ich dir nicht genauer Auskunft geben“, wehrte die Geschäftsfrau die Frage ab.

Kurogane hatte inzwischen den Brief geöffnet und das Schreiben herausgezogen. Mit zusammengezogenen Augenbrauen fixierte er Yuukos Gesicht.

„Wie ist das möglich?“

Er ließ den Brief auf seinen Schoß sinken, so dass Fye den Inhalt ebenfalls sehen konnte. Eines stach ihm sofort ins Auge: Das Datum.

Dienstagnachmittag, am 31. Oktober, 15 Uhr.

Der Gerichtstermin stand fest. Aber schon am kommenden Dienstag? So schnell bekam man niemals einen Termin beim Gericht! Selbst wenn der Fall seit drei Wochen intensiv bearbeitet wurde und eine Terminfestlegung von Anfang an ausstand. Aber eine so plötzliche Benachrichtigung konnte nicht mit rechten Dingen zugehen.

„Laut dem Schreiben ist der Termin schon am nächsten Dienstag. Das ist in drei Tagen. Wie kann das sein?“ Kurogane musste diese Information noch viel mehr verwirren als ihn selbst.

„Ah, da hast du wirklich Glück gehabt. Es hat also doch geklappt“, antwortete Yuuko halb geistesabwesend, während sie ihm den Brief aus der Hand nahm und kurz überflog. Dann reichte sie ihn an Kurogane zurück und erklärte weiter: „Für kommenden Dienstag ist gerade ein Zeitfenster frei geworden, weil eine andere Verhandlung verschoben werden musste. Alle beteiligten Parteien sind sich einig, dass dein Fall so schnell wie möglich geklärt werden muss. Die Befragungen sind sowieso längst ausgeschlossen und sämtliche Spuren ausgewertet. Wir haben daher gemeinsam ein Gesuch um bevorzugte Behandlung dieses Falls eingereicht. Ob es aber tatsächlich klappen würde, den Termin am Dienstag zu bekommen, hätte ich nicht voraussagen können.“

Yuuko sprach heute erstaunlich offen. Fye war das gar nicht von ihr gewohnt. Kurogane anscheinend genauso wenig, denn er musterte sie eingehend, schwieg aber. Ganz offensichtlich wusste er nicht, was er tun sollte. Kurogane, der sonst jedes Problem allein löste, war plötzlich nicht nur auf die Hilfe anderer angewiesen, sondern regelrecht davon abhängig. Ohne Yuuko konnte er im Moment überhaupt nichts ausrichten. Noch dazu schien er ihr nach wie vor nicht ganz zu vertrauen. Aber Fye vertraute ihr. Sie hatte ihm praktisch das Leben gerettet, ohne genauer nachzufragen, ohne etwas Nennenswertes von ihm zu verlangen. ‚Ich suche momentan nach einem neuen Kindergärtner. Du scheinst mir dafür geeignet zu sein. Arbeite für mich, dann sind wir quitt.’ – Und das war alles gewesen. Sanft drückte Fye Kuroganes Hand, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen.

„Kurogane…ich bin sicher, dass alles gut gehen wird. Jetzt hast du endlich die Möglichkeit, sie zu überzeugen, dass du niemals jemanden ermorden würdest und dass du obendrein ein guter Vater für Tomo-chan bist. Und ich werde dich unterstützen, so gut ich kann. – Yuuko, kann ich mir die nächsten Tage bitte frei nehmen? Ich glaube, unter den derzeitigen Umständen kann ich mich einfach nicht richtig um die Kinder kümmern. Und ich habe in den nächsten Tagen auch noch etwas Wichtiges zu erledigen.“

„Gut, von mir aus. Ich informiere mich nachher, ob jemand als Vertretung für dich einspringen kann. Noch kann ich dir zwar nichts versprechen, aber ich denke, es sollte kein Problem geben.“

„Danke.“

Fye war deutlich erleichtert. Damit hatte sich zumindest ein kleines Problem, das ihn im Moment auch geplagt hatte, gelöst. Auch wenn es bitter war. Er liebte seine kleinen Knirpse und wollte sie nicht allein lassen. Doch im Moment war es einfach nicht anders möglich.

Der Themenwechsel war auch Kurogane aufgefallen und der Blick, mit dem er ihn nun wieder ansah, gefiel Fye gar nicht.

„Du könntest sowieso Unterstützung gebrauchen, bevor du dir am Ende noch zu viel aufbürdest“, meinte er wie beiläufig, sah ihm dabei jedoch so ernst in die Augen, dass kein Zweifel an der Intention dieses Kommentars aufkommen konnte. Hatte Kurogane denn den Verstand verloren?! Er konnte doch nicht vor Yuuko mit diesem Thema anfangen!

Fye war schockiert und verletzt zugleich. Verletzt, dass der andere sogar bereit war, über seinen Kopf hinweg, in seinem Beisein einfach seinen Kopf durchzusetzen, obwohl er genau wusste, dass sich alles in Fye dagegen wehrte. Er musste das Gespräch so schnell wie möglich in eine andere Richtung lenken! Mit einem unbeholfenen Lachen versuchte er seine Unsicherheit zu überspielen.

„Ach, mit meinem Kleinkram muss ich niemanden belästigen. Wir sollten uns viel mehr um die wichtigen Dinge im Leben kümmern. Zum Beispiel, dass in deinem Kühlschrank gähnende Leere herrscht, Kuro-wan. Wir sollten dringend einkaufen gehen. Oder würdest du vielleicht kurz mitkommen, Yuuko? Dann kann Kuro-chin in Ruhe seine Unterlagen weiter lesen und ihr könnt euch nachher noch genauer besprechen. Aber ich brauch wohl irgendwen, der mir beim Tragen hilft. Und Kuro-chi ist dir doch Plätzchen schuldig! So kannst du dir gleich welche aussuchen“, plapperte der Blonde drauflos und suchte derweil schon die Einkaufstüten zusammen.

„Von mir aus. Das klingt nach einem fairen Deal“, willigte die Angesprochene ein.

„Klar!“, bestätigte Fye euphorisch und war schon fast im selben Moment zur Tür raus.

In dem Moment, als die Tür ins Schloss fiel, fiel dem Blonden das Herz in die Hose. Na toll. Da hatte Kurogane ihm ja schön was eingebrockt. Jetzt musste er da durch. Nach draußen, noch dazu zusammen mit Yuuko Ichihara, deren Persönlichkeit und Tätigkeiten so verschleiert waren, dass sie in Insiderkreisen wahrscheinlich als Geheimtipp gehandelt wurde. Wenn Ashura zu diesen Kreisen ebenfalls Beziehungen hatte und er oder eine seiner Handlanger ihn jetzt zusammen mit ihr sehen sollten, dann bedeutete das das Ende für Chii. Und für ihn wohl auch. Und wenn er Yuuko nun ebenfalls in dieses Drama mit hineinzog, sie gefährdete? Gott, er wollte es sich gar nicht genauer vorstellen. Das würde Kurogane zurückkriegen, wenn sie wieder allein waren!

„Geht es dir gut, Fye?“, wurde er in halb beiläufigem Tonfall von der Seite angesprochen.

„Wie? Äh – klar! Natürlich! Ich geh grad nur noch mal im Kopf die Einkaufsliste durch. Wir brauchen irgendwas zum Mittagessen für die nächsten Tage…“, wich Fye aus und machte innerlich drei Kreuze, dass er so schnell noch die Kurve bekommen hatte.

„Schau doch einfach, was gerade im Angebot ist. Beim Ansehen kommen einem meist die besten Ideen“, schlug Yuuko vor.

„Da hast du recht“, stimmte Fye zu. „Was hättest du eigentlich gern, Yuuko-san?“

„Das werde ich mir auch vor Ort erst genauer überlegen“, antwortete sie mit einem Augenzwinkern.
 

Allmählich hatte Fye sich etwas beruhigt. Auf den Straßen waren praktisch nur Familien und Kinder unterwegs und im Supermarkt erwartete sie das gewohnt volle Gedrängel der Samstagseinkäufer. Hier würde wohl kaum jemand Platz haben, ihm hinterherzuspionieren. Er genoss das alltägliche Treiben um ihn herum.

Letzten Endes war der Blonde wirklich froh, dass er jemanden mitgenommen hatte zum Einkaufen. Mit schweren Einkaufstaschen in beiden Händen wirkte der Rückweg durch den Park viel länger als der Hinweg. Und sie hatten zugeschlagen. Von dem ganzen Gemüse und Fleisch konnten sie mehrere Tage lang essen. Yuuko hatte sich eine Packung Gebäck ausgesucht, die sie später zum Kaffee öffnen wollten.

Es wäre lustig gewesen, wenn sie die Plätzchen gemeinsam mit Tomoyo hätten essen können. Sie wäre Feuer und Flamme gewesen. Er hoffte inständig, dass am Dienstag alles gut ging für Kurogane…

„NII-CHAN!!!“, hörte Fye plötzlich eine vertraute Kinderstimme. Perplex drehte er sich zur Seite und hatte einen Augenblick später auch schon ein kleines dunkelhaariges Mädchen an seinen Beinen hängen.

„Tomo-chan?!“, fragte er ganz verblüfft. Er konnte es immer noch nicht glauben.

Wie in Trance ging er in die Hocke, stellte seine Einkaufsbeutel ab und schloss das kleine Mädchen in die Arme, das sich so fieberhaft an ihn klammerte, den Tränen nah.

„Nii-chan, ich hab dich sooooooo vermisst! Und Papa! Nimmst du mich jetzt wieder mit? Bitte, ich will zurück zu Papa!“, schluchzte die Kleine.

„Tomo-chan, was machst du denn hier?“, fragte Fye, noch ganz durch den Wind, erst einmal zurück.

„Tomoyo!“, hörte er eine dritte, äußerst besorgt klingende Stimme. Sie gehörte zu einer Frau, die, bereits ein wenig außer Atem, holprig auf die kleine Gruppe zugerannt kam. Fye brauchte gar nicht erst zu fragen, wer sie war. Ihr Gesicht ähnelte dem seines kleinen Schützlings verblüffend. Das war sie also. Tomoyos Mutter. Halb unbewusst festigte Fye den Griff seiner Arme um das kleine Mädchen noch ein wenig.

„Tomoyo…! Du kannst doch nicht…einfach so…wegrennen… Hab ich mich erschreckt“, keuchte sie. Fye ließ sie nicht aus den Augen. Sie wirkte älter als Kurogane. Und sie schien recht zerbrechlich. Irgendwie hatte er sie sich ein wenig anders vorgestellt.

„Entschuldigung“, wandte sich die Frau schließlich an Fye, nachdem sie einige tiefe Atemzüge genommen hatte. „Meine Tochter muss Sie sehr überrascht haben.“

„Das ist gar kein Problem. Ich freue mich, Tomo-chan wiederzusehen“, entgegnete Fye mit einem galanten Lächeln.

„Wer sind Sie denn?“, fragte die Frau, nun ihrerseits verwirrt.

„Nii-chan ist der Freund von Papa!“, platzte es stolz aus Tomoyo heraus, noch bevor Fye richtig Gelegenheit hatte, Luft zu holen.

Ein wenig erschrocken wollte er die Ausdrucksweise seines kleinen Schützlings berichtigen, als Yuuko hinter ihm gleich noch eins draufsetzte: „Ja, so könnte man es wohl nennen…“

Fye, von diesem Kommentar nun total überrumpelt, wusste erst einmal gar nicht, was er sagen sollte, und hielt sein Gesicht lieber auf Tomoyo gesenkt. War es so offensichtlich? Hoffentlich war er nicht knallrot.

„Wahrscheinlich ist es wirklich besser, dass Tomoyo nicht mehr bei ihrem Vater ist“, kommentierte die Frau ein wenig überrumpelt. Oder schockiert?

„Nun, er ist ein besserer Vater als so manche Mutter“, entgegnete Yuuko spitz.

Fye hörte, wie Tomoyos Mutter plötzlich die Luft einsog. Der Seitenhieb saß. Und Fye war Yuuko dankbar dafür. Diese Frau hatte überhaupt nicht das Recht, einfach so über Kurogane zu urteilen.

„Da haben Sie wohl recht…“, gab die Frau ein wenig kleinlaut zu. „Sind Sie auch eine Bekannte von Kurogane?“

„Ich leite den Kindergarten, auf den Tomoyo geht. Das ist übrigens ihr Erzieher, Fye de Flourite“, stellte Yuuko nun sie beide vor.

Fye blickte nun schließlich doch auf – hoffentlich war sein Gesicht in Ordnung – und reichte der Frau mit einem charmanten Lächeln auf den Lippen die Hand.

„Angenehm.“

„Oruha Sano. Freut mich sehr. Und vielen Dank, dass Sie sich so gut um meine Tochter gekümmert haben.“

„Ich hoffe, dass Tomo-chan unsere kleine Gruppe bald wieder bereichern wird“, entgegnete Fye mit leiser Hoffnung in der Stimme. Er spürte, wie sich der Griff der kleinen Arme an seinen Seiten ein Stück weiter verfestigte. Beruhigend strich er Tomoyo über den Rücken.

Die Augen von Frau Sano nahmen einen traurigen Zug an.

„Was denken Sie als Erzieher denn über Kuroganes Qualitäten als Vater?“

Die plötzliche Offenheit traf Fye unerwartet. Und obwohl er es nicht wollte, war er ihr ein wenig dankbar für diese Frage.“

„Kurogane ist ein sehr guter Vater. Und Tomo-chan liebt ihn, ist das nicht Beweis genug für seine Zuverlässigkeit?“

„Das stimmt wohl. Zu Hause spricht sie die ganze Zeit von ihm.“ Ein gequältes Lächeln huschte über Frau Sanos Gesicht. „Ich wünschte, ich könnte das einfach so glauben und Tomoyo beruhigt in seine Obhut zurückgeben. Aber wie soll ich jemandem einfach so Vertrauen schenken, auf dem ein solch schwerer Verdacht lastet?“

Ein besorgter Blick huschte zu Tomoyo.

„Warum machen Sie sich dann nicht selbst ein Bild von der Lage, wenn es Sie so sehr interessiert? Als Angehörige erhalten Sie ohne Probleme die Kontaktdaten von Herrn Sugawara, wenn Sie danach fragen“, kommentierte Yuuko trocken.

„… Sie haben recht“, räumte Frau Sano ein. „Ehrlich gesagt, das Jugendamt hat mir seine Telefonnummer bereits mitgeteilt. Aber ich befürchte, nach alldem, was vorgefallen ist, will er wohl gar nicht mit mir reden.“

„Diese Entscheidung sollten Sie ihm selbst überlassen und einfach für ihn fällen“, entgegnete Yuuko.

Frau Sano lächelte nun nur noch gequält. Was hätte sie auch groß erwidern können außer einem erneuten „Sie haben recht“? Wenn sie wollte, konnte Yuuko sehr genau den Nerv treffen, doch es war das erste Mal, dass Fye sie von dieser Seite erlebte.

Statt einer mündlichen Erwiderung nahm Frau Sano einen Notizblock und einen Stift aus ihrer Tasche, schrieb kurz etwas in den Block, riss die Seite heraus und hielt sie den beiden hin.

„Falls Kurogane tatsächlich bereit wäre, mit mir zu sprechen, könnten Sie ihm dann bitte meine Telefonnummer geben? Ich würde mich über einen Anruf freuen. Ich weiß, das klingt jetzt sicher wenig überzeugend, aber ich mache mir wirklich viele Gedanken um die derzeitige Situation und habe einfach große Sorgen darum, was das Beste für meine Tochter ist. Ich habe genauso viel Angst davor, sie einer Gefahr auszusetzen wie davor, Tomoyo und ihrem Vater Unrecht zu tun. Bitte glauben Sie mir das.“ Die Stimme von Tomoyos Mutter bekam mehr und mehr einen verzweifelten Unterton, während sie das erklärte. Fye ertappte sich dabei, wie er bereits Mitgefühl mit ihr zu entwickeln schien, rief sich dann aber zur Vernunft. Erst hatte sie Kurogane von einer Minute auf die andere sitzen lassen und nun nahm sie ihm seine Tochter weg. Als ob ihr das nicht eher hätte einfallen können, sich zumindest einmal zu melden und sich nach ihm oder ihrer gemeinsamen Tochter zu erkundigen.

... Auch wenn Fye insgeheim eigentlich froh war, dass sie sich all die Jahre nie gemeldet hatte. Und eigentlich wäre es ihm am liebsten gewesen, wenn sie für immer vom Erdboden verschluckt geblieben wäre.

Dieses nagende Gefühl herunterschluckend, griff er schließlich mit einem Nicken nach dem Zettel und überflog kurz die Notiz. Neben dem Namen standen dort noch eine Festnetznummer und der Name eines Hotels sowie eine Handynummer, allerdings einer ausländischen.

„Ich werde Kurogane Ihre Bitte ausrichten“, versprach der Blonde und hoffte dabei sowohl, dass Kurogane anrufen würde als auch, dass er es nicht tat. Sein Wunsch, Tomoyo helfen zu wollen, kollidierte gerade direkt mit der aufkeimenden Angst, Kurogane vielleicht an diese Frau verlieren zu können. Dabei hatte er doch eigentlich gar nichts mehr zu verlieren.

„Vielen Dank“, bedankte sich Frau Sano. Dann wandte sie sich wieder an ihre Tochter: „Na komm, Tomoyo. Dein Kindergärtner ist bestimmt sehr beschäftigt und muss nach Hause. Wir sollten ihn nicht so lange auf-“

„NEIN!!!“, fuhr die Kleine erschrocken dazwischen. „Ich will zurück zu meinen Papi! Bitte, Nii-chan, nimm mich wieder mit zu Papi!“, flehte sie Fye an.

Es tat ihm in der Seele weh, doch er wusste, er konnte sie jetzt nicht einfach mitnehmen, als wäre nichts gewesen. Am Ende legte ihm das vielleicht noch einer als Kindesentführung aus und Kurogane wäre damit auch nicht geholfen. So schwer es ihm auch fiel, lehnte er Tomoyos Bitte daher sanft ab: „Tut mir leid, Tomo-chan, aber das geht noch nicht.“

„Aber warum nicht? Ich bin auch wirklich immer lieb, ich versprech’ es!“, beharrte das Mädchen.

„Ich weiß, Tomo-chan. Du bist immer lieb. Und es ist auch nicht deine Schuld. Die Erwachsenen haben gerade ein Problem und es tut mir wirklich leid, dass du da mit reingezogen wurdest“, versuchte Fye, ihr das Problem möglichst einfach zu erklären.

„Aber ich kann doch auch einfach bei Papa bleiben, bis das Problem gelöst ist“, schlug Tomoyo vor.

Fye seufzte. Wenn es doch nur so einfach wäre…

Nun kam auch Yuuko hinzu und strich ihr einmal über das Haar.

„Das geht im Moment leider nicht, Kleines. Aber bald gibt es ein großes Gespräch und da wird entschieden, wie man das Problem lösen kann. Wahrscheinlich wird man dich dann auch einladen und dir ein paar Fragen stellen. Auf die musst du dann ganz ehrlich antworten. Und wenn alles gut geht, kannst du dann zurück zu deinem Vater“, erklärte Yuuko ihr.

Tomoyo blickte vorsichtig zu ihr auf.

„Wann ist denn das große Gespräch? Kommt Papa da auch?“

„Ja, dein Vater kommt auch. Und das Gespräch ist schon am Dienstag. Bis dahin ist es wichtig, dass du lieb bist und wartest. Dein Vater gibt sich auch ganz viel Mühe, lieb zu sein und bis Dienstag zu warten, damit er dich schnell wiedersehen kann.“

Tomoyo betrachtete die Frau mit den langen, schwarzen Haaren noch einen Moment forschend, dann sah sie zu ihrem Kindergärtner herüber und anschließend zu ihrer Mutter.

„Ich gebe mir auch ganz viel Mühe und bin auch ganz lieb. Und dann kann ich Papa wiedersehen, ja?“, fragte sie noch einmal nach.

„Genau“, bestätigte Yuuko ihr mit einem Lächeln.

Immer noch ein wenig widerwillig löste Tomoyo sich von Fye. Bevor sie ihn gänzlich gehen ließ, äußerte sie noch eine Bitte: „Bitte sag Papa, dass ich ihn ganz doll lieb habe und vermisse, ja?“

„Natürlich, Indianerehrenwort“, versprach Fye mit zum Schwur erhobener Hand. Er musste ein wenig schlucken. Tomoyo war wirklich überwältigend. Wenn irgendwer diesen Prozess zu Kuroganes Gunsten entscheiden konnte, dann war sie es, dachte Fye.

„Na komm, Schatz. Für uns ist es auch langsam Zeit fürs Mittagessen.“

Frau Sano streckte ihrer Tochter die Hand aus und wartete geduldig darauf, dass diese sie nach einigem Zögern schließlich ergriff.

„Es tut mir leid, dass ich Ihnen so viel Zeit gestohlen habe. Aber ich bin froh, dass ich Sie treffen und ein wenig über Kurogane erfahren konnte“, bedankte sie sich anschließend bei Fye und Yuuko.

„Ganz meinerseits. Es hat mich gefreut, dass ich Tomoyos Mutter nun auch einmal persönlich kennenlernen durfte“, erwiderte Fye.

„Vielen Dank für das interessante Gespräch“, antwortete Yuuko.

Damit verabschiedeten sich die zwei Parteien und gingen wieder ihres Weges.

Zwischen Fye und Yuuko herrschte eine Zeit lang nachdenkliches Schweigen. Es war Fye, der dieses schließlich brach: „Was hältst du von ihr?“

„Sie hat keinerlei Erfahrung, wie man sich als Mutter verhält und ist mit der derzeitigen Situation überfordert. Aber ein schlechter Mensch scheint sie nicht zu sein. Zumindest muss man sich wohl keine Sorgen machen, dass es Tomoyo momentan nicht gut geht. Von ihrer Sehnsucht nach ihrem Vater einmal abgesehen.“

Fye nickte leicht. Sein Eindruck war ähnlich gewesen. Aber es irritierte ihn. Warum war sie so lange von der Bildfläche verschwunden und hatte ihren Lebensgefährten und ihre gemeinsame Tochter einfach so im Stich gelassen, wenn ihr scheinbar doch etwas an den beiden lag? Der Gedanke versetzt Fye einen Stich im Herzen. Erst tauchte sie so plötzlich wieder auf und dann konnte er sie noch nicht einmal ohne schlechtes Gewissen verurteilen. Was, wenn Kurogane ihr all das, was sie ihm angetan hatte, am Ende verzieh? Wenn er sich vielleicht wieder in sie verliebte…?

Nein, er wollte lieber gar nicht weiter darüber nachdenken. Allerdings fiel ihm dabei noch etwas ein, worauf er Yuuko unbedingt ansprechen wollte: „Warum hast du das vorhin überhaupt gesagt? Ich meine…also…na ja, dass ich ‚Kuroganes Freund’ bin, diese Sache. Das kann man natürlich so oder so sehen und ich denke ja auch, dass wir inzwischen vielleicht schon irgendwie befreundet sind oder so, oder jedenfalls, dass wir nicht einfach bloß so was wie Geschäftspartner sind. Wir verstehen uns ja schon irgendwie anders als das mit den Eltern der anderen Kinder der Fall ist, aber…“

Fye unterbrach schließlich mit einem resignierten Seufzer und schüttelte den Kopf. So viel zu dem Versuch, vor Yuuko den Schein von Neutralität zu wahren. Und das verschmitzte Lächeln auf Yuukos Lippen machte die Sache nur noch schlimmer! Der Blonde spürte, wie er schon wieder anfing, rot zu werden. Da hatte Yuuko ja was angerichtet! Bevor von ihrer Seite her noch ein seltsamer Kommentar kommen konnte, sprach er aber dennoch schnell seinen Gedanken zu Ende: „Jedenfalls, sprich doch bitte nicht einfach so zweideutige Sachen aus, wenn überhaupt nicht klar ist, in welchem Verhältnis Kurogane und ich eigentlich zueinander stehen. Wer weiß, was Kurogane über die ganze Situation denkt. Vielleicht...bin ich ja doch nicht mehr als einfach Tomoyos Kindergärtner für ihn.“

„Findest du wirklich, dass das so unklar ist? Ist dir noch nicht aufgefallen, dass er dich ganz anders behandelt als andere Leute? Sofern er privat überhaut regelmäßigen Umgang mit anderen Menschen hat. Ich würde an deiner Stelle langsam mal in die Initiative gehen, bevor die wieder aufgetauchte Maid dir deinen Prinzen wegschnappt“, entgegnete Yuuko.

„Yuuko-san!“

Musste sie denn gleich so direkt sein? Fye beschloss, das Thema jetzt besser fallen zu lassen. Gegen Yuuko kam er einfach nicht an. Hoffentlich hörte sie nicht, wie heftig sein Herz klopfte. Und wie sollte er diese verdammte Röte aus seinem Gesicht kriegen, bis sie wieder bei Kurogane waren?

Am besten schob er es auf die schweren Einkaufstüten.
 

Auch wenn ihn die spontane Flucht zum Einkaufszentrum letztlich weniger belastet hatte als erwartet, fiel Fye doch ein Stein vom Herzen, als er endlich wieder in Kuroganes vertrauter Wohnung war. Dieser kam auch prompt aus dem Wohnzimmer, sah ihn fragend an und nahm ihnen schließlich wortlos die Einkaufstaschen ab und brachte sie in die Küche.

„Was habt ihr da alles angeschleppt?“, fragte er ein wenig überrascht.

„Es gab einfach soooooo viele tolle Sachen, dass ich mich gar nicht entscheiden konnte, was wir in den nächsten Tagen zum Mittag machen sollten. Was willst du essen, Kuro-pii? Chili? Oder Schnitzel? Oder vielleicht ein Curry? Fleisch war grad im Angebot und das Gemüse sah so unwiderstehlich gut aus!“, flötete Fye und half beim Aufräumen.

Kurogane sah ihn mit gerunzelter Stirn an. Dann wandte er sich an Yuuko.

„Hat er irgendwas geraucht?“

„Also Kuro-muff! Das war aber nicht sehr nett von dir!“, empörte der Blonde sich. So ein alter Spielverderber.

„Aber er hat schon recht, Fye. Seit wir im Park waren, bist du wirklich etwas durch den Wind“, pflichtete Yuuko Kurogane bei.

Erschrocken hefteten sich seine Augen an die geheimnisvolle Frau: „Ist etwas passiert?“

„Nichts ist passiert, keine Sorge“, versicherte Fye ihm sanft und berührte kurz die Schulter des Schwarzhaarigen. Kurogane hatte die Erklärung von Yuuko gerade völlig falsch interpretiert. Yuuko musste ebenfalls bemerkt haben, dass Kurogane an eine ganz andere Art von Begegnung gedacht hatte, denn sie zog bereits eine Augenbraue hoch und schien zu einer Frage anzusetzen. Bevor das Gespräch weiter in die falsche Richtung abdriften konnte, musste Fye dazwischen gehen.

„Wir haben im Park Tomo-chan und ihre Mutter getroffen.“

Situation gerettet. Nur Kurogane sah aus, als hätte er einen Schlag in die Magengrube kassiert. Fye wünschte sich, er hätte das Thema schonender ansprechen können.

„Und…“, sprach er weiter und kramte in seiner Jackentasche, aus der er schließlich ein klein zusammengefaltetes Papier zutage förderte, „sie sagt, du sollst sie anrufen, falls du sprechen willst.“

„Ich soll WAS?!“, platzte es aus Kurogane heraus. „Die hat Nerven! Lässt mich über Nacht sitzen, nimmt mir vier Jahre später mein Kind weg und lässt dann ausrichten, dass ich sie anrufen soll?! Was glaubt die eigentlich, wer sie ist? Miss Universum, oder was?“

„Ich glaube, sie will ehrlich wissen, wie du als Vater für Tomoyo bist. Im Park wirkte sie ziemlich hin- und hergerissen zwischen dem, was dir vorgeworfen wird und der Art, wie Tomoyo über dich erzählt“, versuchte Fye, ihn zu beschwichtigen. Aber warum verteidigte er sie überhaupt? Wenn Kurogane nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte, umso besser! Aber…

„Du willst doch sicher auch wissen, wie es Tomoyo jetzt geht, oder?“, fuhr der Blonde fort.

Daraufhin schwieg Kurogane. In den feuerroten Augen konnte man nur allzu gut sehen, wie Wut und Sehnsucht miteinander kämpften.

„Machen wir erst mal Essen. Sonst bekomm ich beim Telefonieren nicht einen einzigen konstruktiven Satz raus“, entschied Kurogane schließlich und wandte sich wieder dem Einkauf zu. Das war selten, dass Herr Mit-dem-Kopf-durch-die-Wand Kurogane etwas auf später verschob.
 

Letztlich war aus dem Essen auch nichts Richtiges geworden. Fye hatte nach wie vor keinen richtigen Hunger und Kurogane schien es im Grunde auch egal zu sein, was er nun aß oder ob überhaupt etwas. So gab es schließlich einen großen Salat und die Plätzchen, die Yuuko sich gewünscht hatte. Während ihrer leichten Mahlzeit sprachen Yuuko und Kurogane hauptsächlich über die bevorstehende Verhandlung. Yuuko erklärte ihm den allgemeinen Ablauf, erzählte über den Richter und die Geschworenen, soweit sie sie kannte, und ging die Namen der Personen durch, die als Zeugen für Kurogane infrage kamen.

Nachdem der Salat gegessen und die Vorbereitungen für den kommenden Dienstag getroffen waren, verabschiedete Yuuko sich und versprach, alles Nötige in die Wege zu leiten, um die besprochenen Personen bei der Verhandlung anhören zu können. Danach gab es für beide nichts weiter zu tun – außer sich endlich mit dem aufgeschobenen Telefonat zu beschäftigen. Kurogane nahm jedoch nicht das Telefon, sondern den Brief vom Amtsgericht wieder auf und begann noch einmal zu lesen. Dabei gab es nun wirklich nichts mehr in dem Schriftstück, was er nicht wusste. Yuuko hatte doch praktisch jede Zeile mit ihm durchgekaut! Wenn Fye genauer hinsah, dann las Kurogane auch eigentlich gar nicht. Er starrte einfach nur vor sich hin. Fye seufzte. So wurde das doch nichts.

„Jetzt ruf sie schon an, Kuro-muff. Deine Grübelei ist ja schlimmer als meine.“

Der Schwarzhaarige warf ihm einen skeptischen Blick zu, ließ aber dennoch den Brief sinken. Fye nahm das schnurlose Telefon aus seiner Ladeschale und hielt es dem anderen hin. Dieser zögerte noch immer.

„Welchen Eindruck hattest du von ihr?“, erkundigte sich der Schwarzhaarige.

Fye zögerte einen Moment. Am liebsten hätte er Kurogane jetzt das Blaue vom Himmel heruntererzählt, aber… er seufzte tief.

„Sie…“, begann er vorsichtig, „wirkte auf mich nicht unbedingt wie eine Rabenmutter. Und ich denke, sie interessiert sich wirklich dafür, wie du und Tomo-chan die letzten Jahre gelebt habt. – Ehrlich gesagt, hatte ich sie mir anders vorgestellt. Weniger…teilnahmsvoll.“

Kurogane hatte ihn die ganze Zeit direkt angesehen, doch Fye konnte diesen intensiven rubinroten Augen einfach nicht standhalten. Er wusste, Kurogane suchte Antworten darauf, wie seine frühere Freundin wirklich war, und es brach ihm das Herz, das so deutlich in seinem Gesicht lesen zu müssen. In einem verzweifelten Versuch, etwas mehr Abstand zwischen sie zu bringen, begann er, ziellos einige Schritte im Wohnzimmer auf und ab zu laufen.

„Jetzt ruf sie schon an“, ermahnte er Kurogane noch einmal, mit dem Rücken zu ihm gewandt.

Endlich gab der Schwarzhaarige sich einen Ruck, nahm das Telefon zur Hand und wählte eine der Nummern auf dem Notizzettel. Praktisch im selben Moment meldete sich eine kleine, misstrauische Stimme in Fyes Kopf: Was, wenn sie ihm jetzt irgendwelche Liebsäuseleien ins Ohr flüsterte? Wenn sie versuchte, ihn wieder rumzukriegen? – Nein, die Chance wollte er ihr nicht geben! Mit einigen wie beiläufig wirkenden Schritten war er wieder an Kuroganes Seite, stützte von hinten seine Ellbögen auf dessen Schultern ab und legte sein Kinn vorsichtig auf den schwarzen Schopf. Das war für Kurogane vielleicht ein wenig umständlich, aber Fye war es egal. Und so sehr schien es denn anderen auch nicht zu stören, denn er ließ in gewähren. Von hier aus konnte er sogar den Ton des Freizeichens am anderen Ende der Leitung hören. Er war zwar leise, aber deutlich. Wenige Augenblicke später endete das monotone Piepen und eine Frauenstimme meldete sich.

„…Sano, guten Abend?“

Fye hielt vor Schreck den Atem an.

„…Kurogane“, meldete der Schwarzhaarige sich knapp. Auch er hatte gezögert.

„…Danke für deinen Anruf…“, kam es zögerlich zurück.

„Wie geht es Tomoyo?“, war schließlich die erste Frage des Schwarzhaarigen.

„Es geht ihr gut. Sie schläft schon. Sie spricht viel von dir und fragt immer, wann sie wieder zu dir kann.“

„Sie hätte gar nicht erst gehen müssen. Als ob ich meine eigene Tochter schlecht behandeln würde!“, kommentierte Kurogane pampig. Fyes Kinn rutschte kurz weg, denn der Schwarzhaarige hatte sich bei seinem kurzen Ausbruch ruckartig bewegt, doch er schien sich gleich wieder zur Ruhe zu ermahnen, als er es bemerkt hatte.

„Es tut mir leid, dass ich mich einfach so eingemischt habe. Aber woher hätte ich denn wissen sollen, ob es ihr gut geht? -“

„Das hat dich vier Jahre nicht interessiert!“

Seine Schultern bebten.

„Es hat mich sehr wohl interessiert! Ich dachte nur…“, der kurze Gefühlsausbruch in der Frauenstimme ebbte abrupt wieder ab. Sie rang scheinbar um ihre Fassung, doch es interessierte Kurogane herzlich wenig.

„Keine Mutter, die sich um ihr Kind sorgt, lässt es im Babyalter so eiskalt zurück!“

„… Ich weiß…“, kam es flüsternd vom anderen Ende der Leitung. Kurogane schwieg.

„…Deshalb habe ich mich ja nie gemeldet und erkundigt, wie es euch geht. Ich weiß, ich habe eigentlich gar kein Recht dazu. Aber was hättest du denn getan, wenn du plötzlich erfahren hättest, dass dein Kind bei jemandem lebt, der eine Morduntersuchung am Hals hat?“

Kurogane schloss die Augen und atmete einmal tief ein. Das musste echt weh getan haben. Fye spürte Wut in sich aufkommen. Für die Bemerkung hätte er ihr am liebsten eine gescheuert.

„Es…es tut mir leid“, meldete Oruha sich nach einer Weile wieder zu Wort. „Aber bitte glaube mir, ich wollte keinesfalls Tomoyos oder dein Glück zerstören. Ich wusste nur nicht, was ich tun sollte…“

„Warum bist du überhaupt abgehauen, wenn es dir angeblich so leid tut und zumindest Tomoyo dir so viel bedeutet?“, wechselte Kurogane noch immer halb benommen das Thema.

„… Können…wir das vielleicht nicht am Telefon besprechen? Ich weiß, das ist viel verlangt, aber kann ich dich vielleicht mal besuchen?“

‚Was?!’ Fyes Augen weiteten sich entsetzt.

„Du hast Nerven! Und das hätte dir nicht einfallen können, bevor du das Jugendamt auf mich hetzt, was?“

„Kurogane, bitte… Ich will auch nicht lange stören. Ich möchte nur nicht am Telefon darüber reden. Und…ich würde auch gern sehen, wie Tomoyo bei dir lebt. Ich möchte mir selbst ein Bild von dir machen.“

Kurogane seufzte resigniert. „Von mir aus…“

Fye wurde leicht übel. Es war nicht so, dass er Kuroganes Entscheidung nicht verstehen konnte, aber es bereitete ihm dennoch Unbehagen, diese Frau in ‚seinem’ Haus zu haben.

„Bringst du Tomoyo mit?“

„Das möchte ich lieber nicht. Sie sollte nicht unbedingt daneben sitzen, wenn wir uns über damals unterhalten. Und ich glaube nicht, dass sie danach noch einmal mit mir zurück ins Hotel kommt.“

„Sie kann auch einfach hier bleiben.“

„Das ist nicht meine Entscheidung und auch nicht deine.“

„Okay, okay. – Dann morgen?“

„Ja, morgen passt mir gut. Wann soll ich denn da sein?“

„Egal. Ich bin eh den ganzen Tag zu Hause.“

„Dann…nach dem Mittagessen?“

„Von mir aus.“

„Du wohnst noch in derselben Wohnung wie früher, oder?“

„Hn.“

„Also…bis morgen dann. Und danke.“

„Denk nicht, dass ich dir verziehen habe, bloß weil du reden willst!“

„N-nein, das erwarte ich auch gar nicht. Ich bin dir nur dankbar, dass du mir zuhörst. Trotz allem, was ich getan habe…“

„Hn.“

„Dann…bis morgen, ja?“

„Hn. Bis dann.“

Damit beendete Kurogane das Gespräch. Es folgte ein ausgedehntes Schweigen. Der Schwarzhaarige sah nicht unbedingt erleichtert aus – was wiederum Fye ein wenig erleichterte. Yuukos Worte klangen ihm immer noch im Ohr: ‚…bevor die wieder aufgetauchte Maid dir deinen Prinzen wegschnappt.’ Er wollte nicht, dass Kurogane sich für jemand anderen interessierte. Selbst wenn es Tomoyos Mutter war. Selbst wenn er diesen ‚Prinzen’ wahrscheinlich genauso wenig haben konnte. Er hatte nicht mehr viel Zeit…

„Alles in Ordnung, Kuro-mii?“

Halb aus Sorge, halb, um vor seinen eigenen Gedanken zu fliehen, versuchte er, den anderen in ein Gespräch zu ziehen. Kurogane antwortete mit einem abgrundtiefen Seufzen.

„Ach, ich weiß auch nicht. Dass diese dumme Kuh gerade jetzt wieder aufgetaucht ist, macht alles nur unnötig kompliziert. Am liebsten würde ich sie einfach auf den Mond schießen und vergessen. Aber sie ist nun mal da und ich kann’s halt nicht ändern. Wenn sie wenigstens so ignorant wäre, wie ich es erwartet hätte, könnte ich sie wenigstens ruhigen Gewissens zur Schnecke machen, aber jetzt ist irgendwie alles ganz anders… Ich weiß nicht, was ich von der Situation halten soll. Wie ich mich verhalten soll.“

Fye hatte es befürchtet. Kurogane sah die Sache ähnlich wie er. Er hasste sie nicht gänzlich. Und er konnte nichts daran ändern. Aber eines konnte er tun: für ihn da sein, jetzt, wo er so unter dieser ganzen Situation litt. Ein bisschen von dem zurückgeben, was er all die Zeit über von Kurogane erhalten hatte.

„Shhh… Du machst deine Sache echt gut“, versicherte er ihm. Er richtete sich hinter Kurogane auf und nahm nun dessen Kopf sanft in seine Arme, zog ihn an seine Brust. Kuroganes Augen waren auf irgendeinen unsichtbaren Punkt in der Ferne gerichtet, sein Gesicht von Sorge gezeichnet. Nach und nach entspannten sich jedoch seine Gesichtszüge, seine Augen schlossen sich. Sanft strich Fye ihm durch das kräftige, kurze Haar. Er mochte Kuroganes Haare. Die Energie, die in ihnen steckte. So verharrten sie noch eine ganze Weile, ohne dass einer es wagte, die beruhigende Stille zu durchbrechen.
 

TBC...

Wiedersehen mit der Vergangenheit

Disclaimer: Die Charas gehören (bis auf wenige Ausnahmen) nicht uns, sondern Clamp. Wir wollen kein Geld damit verdienen, sondern nur unterhalten.
 

Erstschreiber des Kapitels: Lady_Ocean

Kapitel: 22/26
 

-~*~-
 

„Wahr liebt, wen Eifersucht entflammt,

doch besser liebt, wer sie verdammt.“

(Johann Christoph Friedrich Haug)
 

-~*~-
 

Wiedersehen mit der Vergangenheit
 

Kurogane war aufgeregt. Es war eigentlich absolut unnötig, das wusste er, doch er war aufgeregt. ‚Warum? Wovor?’, fragte er sich ständig und versuchte, sich damit zu beruhigen, dass der Besuch eh nichts ändern würde, aber so richtig half es nicht. Jetzt, wo sie so plötzlich wieder aufgetaucht war, spürte er stärker denn je, dass der Schock und das Unverständnis von damals immer noch an ihm nagten.

Tomoyo war damals noch nicht einmal von der Muttermilch entwöhnt gewesen, als ihre Mutter sie beide von einen Tag auf den anderen im Stich gelassen hatte. Und Kurogane war bis dahin jeden Tag von früh bis spät auf Arbeit gewesen. Seine Ausbildung hatte sich dem Ende geneigt, doch gleichzeitig hatte er bereits teilweise Verantwortung für neue Rekruten übertragen bekommen. Den Tag, als er allein zu Hause aufgewacht war, hatte er Tomoyo gezwungenermaßen mit auf Arbeit genommen. Was hätte er auch sonst machen sollen? Einen Betreuer gab es nicht und sie allein zu lassen, wäre in dem Alter absolut unmöglich gewesen. Drei Kreuze, dass sein Vorgesetzter nach seinem anfänglichen Wutanfall, wie es ihm einfallen konnte, ein Baby mit zur Arbeit zu schleppen, bei der Suche nach einer Betreuerin geholfen hatte. Daneben hatte Kurogane auch selbst Kurse für den Umgang mit Babys besucht. Weil Oruha sich bis dahin fast ausschließlich um das Kind gekümmert hatte, hatte er vom Füttern bis zum Windeln wechseln absolut null Ahnung gehabt, was er wie machen sollte. Windeln! Das war sowieso ein Drama gewesen. Schlimmer als jede Chemiewaffe. Was war er froh gewesen, als Tomoyo mit gut einem Jahr endlich gelernt hat, allein auf den Topf zu gehen!

Kurz und knapp – es war echt nicht einfach gewesen. Seine erste Betreuerin war zudem auch schon alt und gebrechlich gewesen und Kurogane war jedes Mal aufs Neue unwohl dabei, Tomoyo in ihre Obhut zu übergeben. Als er schließlich Soma gefunden hatte, wurde es schließlich besser. Er mochte ihre Art nicht, von Anfang an. Ständig musste sie an ihm herumkritteln und alles bemäkeln, was er tat. Als ob es das einfachste auf der Welt war, sich um so ein kleines Baby zu kümmern! Aber mit Tomoyo konnte sie hervorragend umgehen, das musste er ihr lassen. Und so lange sie sich nur wenige Augenblicke am Tag sehen mussten, hatte er sie ertragen können.

„Kuro-wanko, jetzt setz dich doch mal hin und entspann dich. Du siehst aus wie ein streunender Hund, wenn du so durch die Wohnung jagst“, holte ihn Fyes Stimme aus seinen Gedanken. Etwas irritiert blickte er sich um. Was wollte er doch gleich machen? Die Orientierungslosigkeit musste ihm mitten ins Gesicht geschrieben stehen, denn sein neuer Mitbewohner kicherte bloß vor sich hin, nahm ihn dann an der Hand, führte ihn zurück ins Wohnzimmer und platzierte ihn auf einem der Ledersessel. Kurogane ließ es einfach zu. Er hatte eh keine Ahnung, warum er gerade durch die Wohnung gelaufen war.

„Entspann dich ein bisschen“, riet ihm der Kindergärtner.

Der hatte gut reden. Das war ja auch nicht seine Ex, die nach vier Jahren plötzlich aus der Versenkung zurück war! Kurogane seufzte frustriert.

„Was beschäftigt dich so?“, fragte der andere, während er um ihn herum trat und begann, ihm die Schultern zu massieren. Er fühlte sich gleich ein wenig besser.

„Ich weiß einfach nicht, was ich von der ganzen Sache halten soll“, fasste Kurogane nach einigem Überlegen schließlich seine Gedanken zusammen.

„Denkst du…“, setzte Fye nach einer Weile wieder an, „…dass sie dich vielleicht zurückhaben will?“

Kurogane schnaubte.

„Ist mir herzlich egal, was die will. Wenn die denkt, sie kann hier nach vier Jahren aufkreuzen und alles wär’ vergessen, hat sie sich geschnitten.“

Wieder spürte Kurogane die altbekannte Wut in sich aufsteigen. Und den Drang, erneut ziellos durch die Wohnung zu streifen. Fyes vorangegangener Kommentar kam ihn wieder in den Sinn und er entschied sich dafür, doch lieber sitzen zu bleiben.

„Sie ist damals von einen Tag auf den anderen verschwunden. Ich bin am Morgen aufgewacht und es gab keine Spur mehr von ihr. Nichts, bis auf einen billigen, kleinen Zettel.“

Kurogane wusste selbst nicht so recht, warum er das dem anderen nun erzählte. Er hatte sich nie einen Reim darauf machen können. Hoffte er, dass Fye ihm irgendeine Erklärung geben konnte? Wohl kaum. Die Finger des Blonden verschwanden und er konnte hören, wie sich seine Schritte ein wenig entfernten. Als Kurogane sich zu dem anderen umdrehte, hatte dieser ihm bereits den Rücken zugewandt.

„Vielleicht…gab es einen Grund. Vielleicht musste sie ja gehen?“

Irrte er sich oder zitterte Fyes Stimme ein wenig? Auch seine Haltung wirkte angespannt. Warum sagte er so etwas, wenn er es offensichtlich nicht wollte.

„Warum nimmst du sie in Schutz?“, fragte Kurogane ihn misstrauisch.

„Es ist doch eine Möglichkeit, oder? Was, wenn sie wirklich nicht anders konnte? Und wenn sie jetzt zurück will zu dir? Wäre das nicht…schön? Dann hätte Tomoyo einen Vater UND eine Mutter!“

Als Fye sich zu ihm zurückdrehte, war sein fadenscheiniges Lächeln so schief, dass selbst der größte Gesichts-Analphabet nicht mehr darauf hereingefallen wäre. Kaum einen Augenblick später senkte der Blonde den Kopf auch schon und marschierte geradewegs an Kurogane vorbei. Dieser schaffte es kaum noch, den anderen am Handgelenk zu packen und so zum Stehenbleiben zu bringen. Kurogane hatte keine Ahnung, was dem anderen durch den Kopf ging, dass er sich plötzlich so komisch verhielt, aber es gefiel ihm definitiv nicht. Es beunruhigte ihn.

„Ich hab vier Jahre über die Sache nachgedacht und mir ist nicht eine plausible Erklärung eingefallen, für die es nicht irgendeine bessere Lösung gegeben hätte. Daran wird sich heute ganz sicher nichts ändern. Und selbst wenn – die Sache ist Geschichte. Es ist viel zu viel passiert, als dass ich sie jetzt noch mal lieben könnte“, rechtfertigte er sich. Warum eigentlich? Er klang regelrecht so, als wäre er fremd gegangen – lächerlich! Und selbst wenn, dann brauchte er sich vor Fye ja wohl nicht zu rechtfertigen, oder?

Der Blonde hatte weder aufgeblickt noch sonst eine Reaktion gezeigt. Nach einigen Augenblicken machte er sich los und marschierte mit einem gemurmelten „Ich mach Mittagessen“ weiter Richtung Küche.

…Jetzt fühlte er sich endgültig wie ein Ehebrecher.
 

Der Mittag verging viel zu schnell und viel zu langsam zugleich. Viel zu schnell, weil Kurogane den leidigen Zeitpunkt „nach dem Mittagessen“ am liebsten gar nicht haben wollte. Viel zu langsam, weil Fyes betrogene-Ehefrau-Miene beim Essen die reinste Folter war. Und seine eigene Reaktion machte es auch nicht besser. Warum konnte es ihm nicht einfach egal sein, wenn der Blonde mit so einer zickigen Miene seinen Teller zu versteinern versuchte? So war es Kurogane einerseits wie eine Erlösung, als es kurz nach eins an der Tür klingelte, während gleichzeitig sein Magen einige Etagen tiefer sackte. Sich selbst verfluchend, dass er sich hier aufführte wie ein kleines Mädchen – und die blonde Diva gleich mit verfluchend, dass sie alles nur noch schlimmer machte – ging er zur Tür und nahm den Hörer der Freisprechanlage auf.

„Ja?“

„Kurogane? Hier ist Oruha. Ich hoffe, ich störe nicht…“, kam es zögerlich von der anderen Seite.

„Du störst immer, aber das tut nichts zur Sache“, antwortete er pampig und betätigte den Türsummer. Irgendwo in seinem Hinterkopf ermahnte ihn sein gutes Gewissen, dass es nicht in Ordnung war, seine schlechte Laune an ihr auszulassen, doch im Grunde kümmerte es ihn nicht. Ohne ihr plötzliches Auftauchen gäbe es gar keinen Grund für die momentane miserable Stimmung. So gesehen war es sehr wohl ihre Schuld.

Nun, er war gespannt, was sie denn so Großartiges zu erzählen hatte, dass das nicht am Telefon ging. Das leise „Pling“ des Aufzugs verriet ihm, dass der unwillkommene Gast wohl jeden Moment eintreten würde. Und da klopfte es auch schon an der Tür.

„Bitte entschuldige die Störung“, hörte er leise die von früher so vertraute Stimme. Welch Ironie! Als sie das letzte Mal durch diese Tür gekommen war, hätte sie einfach nur den Schlüssel umgedreht und „Bin wieder da!“ gerufen. Als Kurogane ihr Gesicht hinter der Tür hervortreten sah, war er einen Moment erschrocken. Er wusste, dass sich Menschen im Lauf der Zeit sehr verändern konnten. Und vier Jahre waren eine lange Zeit. Aber so sehr? Sie sah aus, als wäre sie um mindestens zehn Jahre gealtert. Mindestens. Oruha trug die Haare mittlerweile kurz – okay – aber auch das täuschte nicht darüber hinweg, dass sie sehr dünn geworden waren. Und ihre Haut hatte jeglichen Glanz verloren, war trocken und kraftlos. So sahen sonst nur die Typen aus, bei denen seine Kollegen wegen Drogenmissbrauchs ermittelten.

„Tee?“, bot er dem Gast an. Der Anblick hatte ihn ein wenig verstört. Eigentlich hatte er nicht vorgehabt, heute irgendwas Nettes zu ihr zu sagen.

„Danke.“

Sie wollte sich gerade auf einen Stuhl am Wohnzimmertisch setzen, als Fye sie in der Bewegung stoppte.

„Ah, aber doch nicht so nah an der Tür! Hier ist immer so viel Durchgang. Kommen Sie lieber hier hinter, wo es ruhiger ist“, bot er Oruha den Platz am anderen Ende des Tisches an. Kurogane zog eine Augenbraue hoch. Wozu diese übertriebene Bewirtung? Als ob sich hier irgendeiner je um die Sitzordnung gekümmert hätte. Im nächsten Moment wurde er in seinen Gedanken unterbrochen, als der Blonde sich an seinem Arm festklammerte und ihn mit sich in die Küche zog.

„Hey!“, protestierte Kurogane halblaut.

„Komm schon, Kuro-pii! Ich helf’ dir bei den Getränken!“

Erst würdigte er ihn keines Blickes und nun hing er an ihm wie ein Kätzchen? Dieser Wechselbalg machte ihn heute echt fertig!
 

„Du wolltest mir was erklären“, setzte Kurogane schließlich an, als alle am Tisch saßen und begonnen hatten, an ihren Getränken zu nippen. Irgendetwas hatte er einfach sagen MÜSSEN. Der Kindergärtner klebte schon wieder wie eine Klette an ihm. Beim Hinsetzen hatte er seinen Stuhl mit Absicht ganz nah an Kuroganes herangeschoben, da war er sich sicher! Und warum musste er sich jetzt auch noch so rüberlehnen? Ist dem sein Sinn für Privatsphäre abhanden gekommen?! Noch dazu vor den Augen seiner Ex!

Nachdem das Thema nun auf dem Tisch war, ging ein spürbarer Schlag durch die Körper aller anwesenden. Fye saß mit einem Mal kerzengerade aufrecht, auch Oruha hatte für einen Moment in ihrer Bewegung inne gehalten, bevor sie ihren Tee mit einem Seufzen auf den Tisch zurückstellte.

„Dann rede ich nicht lange um den heißen Brei rum. Ich hatte Krebs.“

Stille.

„Und das ist ein Grund, von jetzt auf gleich, ohne ein Wort zu sagen, alles stehen und liegen zu lassen und auf Nimmerwiedersehen abzuhauen?“, fragte Kurogane misstrauisch, nachdem er sich ein wenig gefangen hatte. Dass es eine Krankheit gewesen sein könnte, diese Möglichkeit hatte er durchaus in Betracht gezogen. Und wenn er sich Oruhas Erscheinungsbild so ansah, glaubte er es ihr aufs Wort. Doch das rechtfertigte nicht ihre Entscheidung von damals!

„Es war ein Tumor in meinem Gehirn“, erklärte sie schließlich weiter. „Du erinnerst dich vielleicht daran, dass ich damals ständig Kopfschmerzen hatte und mein linkes Auge Probleme gemacht hat, oder?“

Ja, er erinnerte sich.

„Ich habe schließlich eine Computertomographie machen lassen. Dabei haben sie den Tumor gefunden. Er war bereits in einem weit fortgeschrittenen Stadium und noch dazu ziemlich tief sitzend, deshalb die Kopfschmerzen und Sehprobleme. Der Arzt meinte, dass es hier noch keine Technik für die Behandlung solch eines Tumors gibt. Das ginge maximal im Ausland, in Amerika zum Beispiel. Aber selbst da hätte man den Tumor wohl kaum noch entfernen können. Seine Prognose war, dass er sich innerhalb der nächsten Wochen bis Monate wohl so weit ausgebreitet hätte, dass auch die Sprache beeinträchtigt worden wäre und dann weitere Bereiche, je nachdem, wie er gestreut hätte. Höchstwahrscheinlich hätte ich nicht einmal mehr den Jahreswechsel miterlebt. Und das…das wollte ich dir nicht antun.“

Wieder herrschte Stille. Kurogane musterte die dünne Frau von oben bis unten. Er konnte es kaum glauben, dass sie damals so kurz vor dem Tod gestanden haben soll.

„Dann bist du nach Amerika gegangen?“

„Ja.“

„Warum hast du dich dann nicht gemeldet? Wenigstens nach der Behandlung, als es dir wieder besser ging. Du hättest es mir erklären können.“

Ein Anruf hätte wahrscheinlich schon genügt. Vom Krankenhaus aus oder sonst wo. Er hätte es verstanden und sie ganz sicher nicht fallen gelassen. Da war er sich sicher.

Oruhas Lippen formten sich zu einem schiefen Grinsen, ein kurzer Laut entkam ihr, der wohl so etwas wie ein ironisches Auflachen gewesen war. Dann schüttelte sie den Kopf.

„‚Nach der Behandlung’… Das dachte ich damals auch: Falls sie trotz aller Risiken den Tumor erfolgreich entfernen könnten, falls ich weiterleben kann, dann rufe ich dich an und komme zurück, so schnell ich kann. Aber so einfach war es letztlich nicht. Wenige Monate nach der ersten OP und der Chemo-Therapie haben sie neue Metastasen entdeckt. Ein halbes Jahr später wieder eine. Die Chemo hatte mich bis dahin so geschwächt, dass ich zeitweise nicht einmal allein aufrecht sitzen konnte. Es hat über ein Jahr gedauert, bis mein Körper sich davon erholt hatte. Und kaum, dass mein Arzt und ich dachten, dass es nun endlich aufwärts ging, hat er den nächsten Tumor entdeckt. Das war bisher zum Glück erst einmal der letzte. Vor einem Jahr habe ich dann wirklich überlegt, ob ich mich bei dir melden sollte. Ich wollte wissen, wie es dir und Tomoyo inzwischen wohl ging. Doch letztlich habe ich es aufgegeben. Nach so langer Zeit hatte ich einfach kein Recht mehr, mich noch einmal in euer Leben einzumischen. Zumal nicht absehbar war, wann man das nächste Mal etwas entdeckte und sich mein Zustand wieder verschlechterte. Das kann bis heute niemand so genau sagen. Mein Arzt hat mich aber gewarnt, dass das Risiko eines erneuten Ausbruchs bei mir sehr groß ist. Selbst jetzt ist es unmöglich, eine Prognose abzugeben, wie lange ich noch leben werde. Das ist der zweite Grund, warum ich mich nicht gemeldet habe. Ich wollte nicht noch einmal alles kaputt machen.“

Erneutes Schweigen. Was hätte Kurogane auch darauf erwidern sollen? Dass es egoistisch und rücksichtslos war? Dass es dumm gewesen war? Dass sie das zusammen schon irgendwie geschafft hätten? Lächerlich.

„Wie geht es dir jetzt?“, fragte er schließlich.

„Soweit ganz gut. Ich hoffe, dass ich in zwei Wochen nach Amerika zurückfliegen kann. Dann ist es Zeit für den nächsten Check-up.“

„Und was wird aus Tomoyo?“

Oruhas Blick wurde besorgt.

„Ich weiß es nicht“, gab sie schließlich ehrlich zu. „Du machst nicht den Eindruck auf mich, als hättest du absichtlich geschossen, aber…aber wenn es doch wahr ist, dann kann ich Tomoyo nicht bei dir lassen. Ich weiß, ich habe nicht das Recht, mich ihre ‚Mutter’ zu nennen, aber…“

Sie brach ab, schüttelte den Kopf. Es versetzte Kurogane erneut einen Stich in der Brust, aber er brachte es nicht fertig, sich diesbezüglich zu verteidigen. Er wusste ja selbst nicht, was genau passiert war! Wie sollte er verlangen, dass andere ihm noch vertrauten, wenn er sich selbst nicht einmal vertrauen konnte? Dennoch, wenn sie Tomoyo ins Ausland mitnahm, dann war das einfach zu viel!

„Würdest du sie mitnehmen?“, presste er angespannt heraus. Zu seinem Erstaunen schüttelte Oruha zögerlich den Kopf.

„Das wäre zu gefährlich für sie. Meine eigene Zukunft ist zu ungewiss. Was würde aus ihr werden, wenn meine Krankheit das nächste Mal ausbricht? Dann wäre sie allein in einem fremden Land.“

Wieder ein Kopfschütteln ihrerseits. Einerseits war Kurogane ein wenig erleichtert, dass sie Tomoyo nicht mitnehmen würde. Andererseits bereiteten ihm die Konsequenzen, die sich daraus ergaben, umso mehr Bauchschmerzen. Wenn er das Sorgerecht für seine Tochter nicht bekommen würde, hieße das, dass man sie in eine Pflegefamilie geben würde. Zu völlig fremden Menschen. Wahrscheinlich würde man ihm den Kontakt zu ihr dann vollkommen verbieten und spätestens in ein paar Jahren würde sie sich kaum noch an ihn erinnern können. Und bezüglich Oruhas Gesundheit bedeutete es, dass es ihr schlechter gehen musste, als es den Anschein erweckte.

„Danke, dass du mich aufgeklärt hast“, brachte Kurogane nach einer ganzen Weile des Schweigens schließlich heraus. Inzwischen war er froh darüber, dass sie das nicht ‚mal eben nebenbei’ am Telefon besprochen hatten. Er fühlte sich miserabel. Es gab einfach nichts, was er tun konnte, weder für sich, noch für Tomoyo, noch für Oruha.

„Aber denk jetzt nicht, da wär’ noch was zwischen uns!“, fügte er hastig hinzu, als er bemerkte, in welche Richtung seine Aussage auch interpretiert werden konnte.

Oruha schmunzelte ein wenig.

„Nein. Das habe ich weder erwartet, noch würde ich das nach all der Zeit überhaupt wollen.“

Ihr Blick wanderte zu Fye, der während des gesamten Gesprächs stumm und in sich zusammengezogen in seine Milch gestarrt hatte.

„Jeder hat früher oder später eine alte Liebe überwunden und findet eine neue.“

Kuroganes Augenbrauen zogen sich in der Mitte ein Stück zusammen. Woher hatte sie denn jetzt diese Flausen?

„Oruha, ich bitte dich, lass diese Albernheiten. Wir sind erwachsene Menschen.“

„Oh, ach so? Entschuldigung. Ich dachte nur…“, erwiderte sie etwas perplex, während sie fragend zwischen ihm und Fye hin- und herschaute.

„Wer will noch Obst?“, fuhr plötzlich die Stimme des Blonden dazwischen, während er sich gleichzeitig erhob und, ohne überhaupt eine Antwort abzuwarten, förmlich in die Küche flüchtete. Täuschte er sich oder war Fyes Gesichtsausdruck gerade irgendwie…verletzt? Aber warum das auf einmal? Er hatte doch nun wahrlich nichts Falsches gesagt, oder? Dämliche Oruha! Was fing die auch mit so einem Müll an?

Nicht, dass Kurogane wirklich damit gerechnet hätte, aber das angekündigte Obst blieb letztlich aus. Er und Oruha tranken noch jeweils ihre Getränke aus und sie erzählte ihm, dass sie sich in Amerika ebenfalls neu verliebt hatte – in ihren betreuenden Arzt. Sie wohnten inzwischen auch zusammen. Das war ein weiterer Grund, warum sie auch künftig nicht in Japan bleiben wollte. Aber Tomoyo wiederzusehen, war, trotz der widrigen Umstände, dennoch wie ein Traum, der in Erfüllung gegangen ist.

„Sie ist ein zauberhaft süßes Mädchen geworden. Du hast deine Sache wirklich gut gemacht, Kurogane“, hatte sie ihm ihren Respekt ausgesprochen. Ihr ehemaliges Kindermädchen, Soma, war im Moment bei ihr im Hotel und passte auf sie auf, erzählte Oruha ihm auf Nachfrage. Dabei beließen sie es schließlich und verabschiedeten sich. Von Fye war keine Spur mehr zu sehen. Anscheinend hatte er sich zwischenzeitlich in ein anderes Zimmer verzogen.
 

Da der Blonde Stunden später immer noch nicht wieder aufgetaucht war, machte Kurogane sich schließlich daran, ihn zu suchen. Im Gästezimmer fand er ihn schließlich, ein Buch lesend auf dem Gästebett.

„Was ist denn los mit dir?“, fragte er ihn verständnislos.

„Was soll denn sein? Ich lese ein Buch“, kam die gespielt unschuldige Antwort zurück. Kurogane verdrehte die Augen.

„Du weißt, was ich meine. Den ganzen Tag schon bist du so komisch! Und seit Oruha hier war ganz besonders.“

„Wundert es dich denn? Bei der Lebensgeschichte? Dir ist das doch auch nicht egal, oder?“

Kurogane konnte nur schwer einschätzen, inwieweit diese Antwort nun ehrlich oder eine Ausrede war. Die Anteilnahme in den blauen Augen schien echt zu sein. Aber das war doch kein Grund, sich deswegen hier zu verkriechen.

„Hey…“, machte Fye nach einer kurzen Pause auf sich aufmerksam. „Sie macht wirklich einen ganz netten Eindruck, oder?“

„…Hm“, gab Kurogane zögerlich zu.

„Wäre es nicht schön, wenn…ihr doch noch mal einen Neuanfang versuchen könntet? Ich mein, auch wegen Tomoyo und so…“, druckste der Blonde herum, ohne von seinem Buch aufzusehen. Da lag also das Problem – auch wenn Kurogane immer noch nicht richtig sagen konnte, was genau daran nun eigentlich das Problem war.

„Ich hab’s doch vorhin schon gesagt“, antwortete er dennoch wahrheitsgemäß, „das zwischen uns ist vorbei. Ich würd’ sie selbst dann nicht mehr zurückhaben wollen, wenn sie es gewollt hätte. Ich liebe sie nicht mehr und basta.“

Der Blonde blickte auf, betrachtete forschend Kuroganes Gesicht, und lächelte schließlich kurz.

„Ich hoffe, dass du den Prozess gewinnst. Für dich und für Tomo-chan.“

Das wünschte Kurogane sich auch. Nur Hoffnungen machte er sich nicht.
 

Zeit war ein seltsames Phänomen. Es hieß, sie verliefe immer gleich. Sämtliche Wissenschaftler sagten das, sämtliche Uhren mühten sich tagein, tagaus unermüdlich ab, dies zu bestätigen. Doch wenn sie tatsächlich immer gleich verlief, wieso konnte Fye sich dann nicht einfach auf sie verlassen? Wieso stahl sie sich davon, wenn man sie kurz aus den Augen ließ, und klebte wie zäher Schleim, wenn man sich nichts mehr wünschte, als dass sie endlich vorübergehen möge? Und wieso um alles in der Welt machte sie im Moment beides gleichzeitig? Hin- und hergerissen zwischen dem, was war, und dem, was auf ihn zukam, konnte er kaum die Sekunden ertragen, die schmerzhaft langsam an ihm vorüber krochen, doch kaum dass sie Vergangenheit waren, wünschte er sie sehnlichst zurück.

Oruhas gestriger Besuch hatte ihn aus der Bahn geworfen. Nicht, dass bis dahin alles Friede, Freude, Sonnenschein gewesen war, doch jetzt war das Chaos in seinem Innern wahrlich komplett. Kurogane…er verstand Kurogane einfach nicht. Manchmal war er ihm so nah, so warm, und dann war er plötzlich wieder distanziert, kalt. Fye sehnte sich nach seiner Nähe, mehr denn je, doch gleichzeitig verletzte sie ihn. Und er sich selbst gleich mit. Kurogane war grausam, ihn so hinzuhalten, doch er selbst war mindestens genauso schlimm, immer und immer wieder die Nähe des anderen zu suchen, obwohl er ihn damit am Ende nur verletzen würde. Je näher sie einander waren, desto schlimmer würde er Kurogane verletzen. Er hätte nicht nachgeben dürfen, als Kurogane ihm angeboten hatte, bei ihm zu bleiben. Er hätte nicht geradewegs zu ihm zurück rennen dürfen, als er die Nachricht von Ashura gefunden hatte.

Dienstag.

Dienstag würde seine Frist ablaufen. Der letzte Tag des Monats. Morgen.

Er sollte langsam aufhören, die Augen vor den Tatsachen zu verschließen und auf so was wie ein ‚Wunder’ zu hoffen. Es gab nur einen Weg für ihn. Den Weg, den er von Anfang an eingeschlagen hatte. Es gab keine Abzweigungen, kein Umkehren. Nur diesen einen Weg, auf dessen Ende er unweigerlich zusteuerte, Schritt für Schritt.

Das Einzige, was er jetzt noch tun konnte, war, die verbleibende Zeit so sinnvoll wie möglich zu nutzen. Er würde nicht mehr an Kuroganes Seite sein können, wenn dieser seinen Prozess zu bestreiten hatte, aber zumindest jetzt wollte er ihn nach Möglichkeit unterstützen.

So brachten sie gerade gemeinsam die Wohnung für den bevorstehenden Besuch des Jugendamts auf Vordermann, während Fye gleichzeitig gegen sein inneres Zeit-Paradoxon ankämpfte, um nicht die Nerven zu verlieren. Und dass Kurogane ihn dabei die ganze Zeit schon so skeptisch von der Seite anschaute und immer wieder Anstalten unternahm, ihn darauf anzusprechen, machte es nicht besser. Einige Versuche seinerseits, den anderen in ein ungefährliches Gespräch über Tomoyo, die Verhandlung, die Inneneinrichtung der Wohnung und sogar das Wetter zu verwickeln, waren allesamt kläglich gescheitert. Kurogane stand definitiv nicht der Sinn nach Smalltalk. Er sah eher aus, als könnte er es kaum erwarten, einen günstigen Moment abzupassen und ihn wieder mit bohrenden Fragen zu attackieren. Fye fürchtete sich ein wenig vor dem Augenblick, an dem sie nichts mehr zu tun haben würden. Ein Glück, dass Arbeit hungrig machte und die Zeiger der Uhr nun auch langsam gen Mittag gingen. So konnte er erst einmal in die Küche flüchten.

„Hilfst du mir beim Kochen, Kuro-mii?“, neckte Fye den anderen. Er wusste zwar, dass Kurogane durchaus in der Lage war, irgendetwas Essbares zuzubereiten – schließlich musste er bis vor kurzem auch irgendwie als alleinerziehender Vater über die Runden kommen – aber wenn es sich irgendwie vermeiden ließ, hielt Kurogane sich lieber von der Küche fern. Umso erstaunter war der Blonde, als der andere ihm tatsächlich kommentarlos in die Küche folgte. So viel zum Thema „flüchten“.

Aber es war okay. Es machte sogar wirklich Spaß, gemeinsam mit Kurogane zu kochen. Fye gab ihm Messer, Schneidebrett und etwas Gemüse, das Kurogane dann, ganz wie ihm aufgetragen wurde, zerkleinerte, während Fye sich um Zwiebel und Zucchini kümmerte. Heute sollte es Ratatouille geben. Nebenbei erzählte Fye Kurogane, was er über die Herkunft und Zubereitungsvarianten des Gerichts wusste. Er wusste nicht, ob der kochfaule Papa sich überhaupt für solche Sachen interessierte, aber es machte ihm Spaß. So fühlte es sich wohl an, wenn man eine Familie hatte. Es war zu schade, dass Tomoyo nicht bei ihnen war. Mit ihr währe es perfekt gewesen. Aber Fye wollte sich nicht beschweren. Er war dankbar für diese Gelegenheit, die ihm das Schicksal gegönnt hatte.
 

Kurz nach dem Mittagessen klingelte es auch schon an der Tür. Der erwartete Besuch war da. Fye räumte schnell den restlichen Abwasch weg, während Kurogane an der Tür wartete, dass die Mitarbeiter vom Jugendamt ankamen. Oder ‚der Mitarbeiter’, korrigierte Fye sich, denn diesmal war es nur einer. Ein neues Gesicht, wie er feststellte, als er, sich noch die Hände abtrocknend, aus der Küche kam.

„Saito, Guten Tag“, stellte der Neue sich vor und reichte Kurogane und ihm zum Gruß die Hand.

„Sugawara“, erwiderte Kurogane.

„Ich bin Fye.“

Egal, mit wem er sprach, Fye stellte sich grundsätzlich mit seinem Vornamen vor. Mit seinem Nachnamen angesprochen zu werden, war einfach viel zu steif.

„Wohnen Sie auch hier?“, fragte Herr Saito, ungeachtet der Art, wie Fye sich ihm vorgestellt hatte. Er seufzte innerlich. Manche Menschen waren tatsächlich noch humorloser als Kurogane.

„Nur zeitweise. Ich will doch die Güte meines Gastgebers nicht überanspruchen“, witzelte er. Für einen Moment sah Herr Saito so aus, als würde er noch weitere Fragen stellen wollen, entschied sich dann wohl aber, dass es zu weit vom Grund seines Herkommens wegführen würde und richtete sich an Kurogane.

„Schön haben Sie es hier“, sprach er der Wohnung ein Kompliment aus, während er sich nach allen Seiten umsah. „Führen Sie mich ein wenig herum?“

Kurogane zuckte nur mit den Schultern und ging voraus. Sie begannen ihren Rundgang im Wohn- und Esszimmer. Herr Saito schien ehrlich beeindruckt von der Inneneinrichtung. Die Sitzgarnitur aus echtem Leder und die Nussbaum-Möbel waren schon ein echter Hingucker. Auch die große Einbauküche würde so manchen Hobbykoch vor Neid erblassen lassen.

„Kochen Sie auch selbst?“, fragte der Jugendamt-Mitarbeiter, während er die Küchenmöbel ausgiebig betrachtete.

„Wenn es sonst keiner macht, ja“, antwortete Kurogane auf seine gewohnt knappe Art.

„Und wann oder wie oft ist das ungefähr?“, hakte Herr Saito nach.

„Vor allem am Wochenende.“

„Und was kochen Sie so?“

„Nudeln, Suppen, Aufläufe…“ Kurogane zuckte mit den Schultern. „Das Übliche halt.“

„Was isst Ihre Tochter denn am liebsten?“

„Nudeln mit Tomatensoße. Und so süße Sachen wie Milchreis oder Pudding. Aber das gibt’s höchstens zum Nachtisch. Das Zeug macht ihr sonst noch die Zähne kaputt.“

Der gequälte Gesichtsausdruck auf Kuroganes Gesicht bewies deutlich, wie viel er von süßen Gerichten hielt. Fye konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

„Gibt es auch etwas, was sie gar nicht mag?“, fragte der Jugendamt-Mensch weiter.

„Grüne Paprika, Brokkoli und Pilze. Und Scharfes. Da kriegt man sie gar nicht ran.“

„Für scharfe Sachen ist sie ja auch noch ein bisschen zu klein.“

„Hm.“

„Aber Gemüse ist schon wichtig. Was machen Sie denn, wenn Ihre Tochter das nicht essen will?“

„Ist ja nicht so, dass sie gar nichts mag. Möhren, Erbsen, Gurke und so isst sie gern. Also kann sie halt das essen. Und zum Frühstück ein bisschen Obst. Früher oder später wird sie schon von allein auf den Geschmack kommen und sich auch mit Paprika anfreunden.“

„Und wenn nicht?“

„Dann halt nicht. Wenn ich sie zwinge, das zu essen, macht’s das auch nicht besser. Meine Mutter hat mich früher gezwungen, rote Beete zu essen. Das Zeug kann ich bis heute nicht ausstehen.“

Herr Saito zeigte ein schiefes Grinsen. Er besaß also auch irgendwo einen weichen Kern, gestand Fye ihm zu.

„Da kann ich Sie gut verstehen. Mein ewiger Feind heißt Rosenkohl. – Wo ist denn das Kinderzimmer?“

Damit ging die Führung weiter. Tomoyos Zimmer lag am anderen Ende des Flurs auf der rechten Seite. Genau genommen hatte sie sogar zwei Zimmer: vorn ein Spielzimmer und dahinter ein Schlafzimmer. Tomoyo hatte ein Faible für lila, weshalb Bettzeug und Wände in einem pastelligen Fliederton gehalten waren. Ihr Schlafzimmer war relativ klein. Es bot Platz für ihr großes Bett inklusive ihrer Horde an Kuscheltieren, einen Kleiderschrank und einen Nachtschrank, aus dem einige Märchenbücher hervorschauten. Das Spielzimmer war ein wenig größer. An den Wänden reihten sich Schränke und Kisten aneinander, die mit Spielsachen vollgestellt waren. Vor dem Fenster stand ein großer Schreibtisch. Auf dem Boden lag ein weicher, cremefarbener Teppich. Tomoyos Lieblingsbeschäftigung konnte man auf einen Blick erkennen: das Zeichnen. Die Wände schmückten unzählige Bilder mit verschiedensten Motiven: Tiere, Landschaften, Häuser und natürlich auch Menschen. Mit etwas Fantasie konnte man diese als Tomoyo mit Soma, Tomoyo mit ihrem Papa und sogar Tomoyo mit ihrem Papa und Fye zusammen erkennen. Ein ziemlich großes Bild mit sehr vielen bunten, kleinen und großen Menschenfiguren war wohl der Kindergarten. Fye sah die Bilder nicht zum ersten Mal. Das, welches ihn, Kurogane und sie selbst zu dritt zeigte, hatte das Mädchen letzte Woche erst gezeichnet und ihnen voller Stolz präsentiert. Fye war dabei gewesen, als sie alle zusammen einen Platz in ihrer „Galerie“, wie Tomoyo sie stolz nannte, ausgewählt hatten. Durch Bilder konnte man geradewegs in die Seele eines Kindes blicken und erkennen, was es beschäftigte und welche Wünsche es hatte. Fye erlag jedes Mal aufs Neue diesem Zauber, wenn er Tomoyos Zimmer betrat. Und nicht nur ihn schien er erfasst zu haben, denn für eine ganze Weile herrschte Stille zwischen den drei Erwachsenen.

Fye konnte nur Kuroganes Hinterkopf sehen, aber auch ohne in dessen Gesicht zu blicken, war er sich sicher, dass der andere gerade hier, im Herzen des Reiches seines Töchterchens, von all diesen Eindrücken nicht unberührt blieb. Und er hoffte inständig, dass dieser Zauber auch Herrn Saito erreichte.
 

Tatsächlich schien Herr Saito nach der Besichtigung des Kinderzimmers seine detektivische Untersuchung weitestgehend für beendet zu halten. Er bat lediglich darum, noch einige Fragen stellen zu dürfen, die sie dann bei einem Kaffee am Esstisch besprachen. Es ging darum, was Kurogane tat, wenn Tomoyo etwas Unerlaubtes tat, wie er in bestimmten Situationen reagieren würde, was sie machen sollte, durfte und nicht durfte, wie sie generell ihre gemeinsame Zeit verbrachten. Auch über die Zeit, als Soma sich unter der Woche um Tomoyo gekümmert hatte, unterhielten sie sich ein wenig. Seit sie im Kinderzimmer gewesen waren, wirkte auch Kurogane deutlich ruhiger als zuvor. Sein Misstrauen dem Jugendamt-Mitarbeiter gegenüber schien sich verringert zu haben.

Schließlich bedankte Herr Saito sich, bat, noch einige Fotos von der Wohnung machen zu dürfen, und verabschiedete sich. Fye war ein wenig erleichtert, dass er nicht danach gefragt hatte, den Keller sehen zu dürfen. Dort stand immer noch das lädierte Motorrad, mit dem Kurogane seinetwegen am vorletzten Wochenende einen Unfall gehabt hatte. Das zu erklären, wäre sicherlich schwierig geworden. Aber so, wie Herr Saito die Wohnung jetzt verlassen hatte, machte er nicht den Eindruck, als würde er Kurogane für einen schlechten Vater halten. Das würde Kuroganes Chancen am Dienstag definitiv verbessern.

Am Dienstag… Wie sehr wünschte Fye sich, ihn begleiten zu können. Als Tomoyos Erzieher war er natürlich auch eingeladen, vor Gericht auszusagen, und es zerriss ihm das Herz, dass er Kurogane und sein kleines Töchterchen in einer so wichtigen Situation derart hängen lassen würde. Kurogane wäre wohl wirklich besser dran, wenn er Oruha an seiner Seite hätte… Und damit waren all die Angst, all der Schmerz und die Ungewissheit zurück, die ihn seit gestern so plagten.

„Ah, ich bin müde… Ich lese noch ein bisschen“, versuchte Fye, eine Ausrede zu finden, um möglichst ein wenig Abstand zu gewinnen. Diesmal ließ Kurogane ihn jedoch nicht einfach gehen.

„Irgendwas stimmt nicht, oder?“, fragte er direkt heraus.

„Ach, abgesehen davon, dass ich aufgeregt bin, wie die Verhandlung morgen läuft und ich nicht weiß, wie es Chii im Moment geht, geht’s mir eigentlich super“, erwiderte er etwas sarkastisch. Das war ja nicht mal gelogen. Gut, eine Kleinigkeit hatte er dabei außen vor gelassen, aber die würde er Kurogane ganz sicher nicht auf die Nase binden.

Ein wenig perplex starrte Kurogane zurück. Er hatte definitiv nicht damit gerechnet, dass Fye auf einmal in die Initiative gehen würde. Irgendwo war der Blonde ein wenig stolz auf sich, dass er es geschafft hatte, diesen Mann, der so stur wie ein Fels war und am liebsten immer mit dem Kopf durch die Wand wollte, ein klein wenig aus der Fassung zu bringen. Leider hielt der Effekt nur einige Sekunden.

„Wir müssen etwas unternehmen, und zwar bald“, mahnte Kurogane ernst.

„Ich weiß… Lass uns nach deiner Verhandlung mit Yuuko sprechen, okay? Wenn du den Prozess gewinnst und Tomoyo wiederbekommst und Yuuko den Kopf wieder frei hat, schaffen wir es vielleicht, irgendeine Strategie zu entwickeln, um Chii zurückzuholen. Ashura rechnet wahrscheinlich nicht damit, dass ich Außenstehende hinzuziehen würde, das könnte uns helfen…“

Dieses Argument hatte Fye sich im Verlauf des Tages zurecht gelegt, aber jetzt, wo er sich diese Worte sagen höre, fiel es ihm umso schwerer, standhaft zu bleiben. Es klang einfach zu schön, um wahr zu sein. So unrealistisch und realistisch zugleich, dass da vielleicht eine kleine Chance wäre. Er schaffte es kaum, Kurogane ins Gesicht zu sehen, während er sprach.

Ein Ruck ging durch seinen Körper, als Kurogane ihn plötzlich an sich zog und fest in seine Arme schloss. Fyes Herz machte einen plötzlichen Sprung, als er die Wärme des anderen plötzlich so nah spürte. Der feinherbe Geruch von Kuroganes Haut stieg ihm in die Nase. Fye schien regelrecht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Gerade wollte er seine Arme um den Rücken des anderen schlingen, als ihm ein Satz vom vorangegangenen Nachmittag erneut durch den Kopf schoss: ‚Oruha, ich bitte dich, lass diese Albernheiten. Wir sind erwachsene Menschen.’

Als hätte er sich verbrannt, befreite er sich aus Kuroganes Umarmung und brachte einige Schritte Abstand zwischen sich. Sein Atem ging schwer, sein Puls hämmerte gegen seinen Hals. Für Kurogane mochte diese Geste ein Zeichen freundschaftlichen Vertrauens sein, doch für Fye bedeutete sie so viel mehr. Viel zu viel. Aber Kurogane hatte gestern deutlich genug gesagt, was sie waren – oder eher, was sie NICHT waren. Und ganz sicher auch nicht mehr werden würden, denn dafür war einfach keine Zeit mehr. Und es war auch besser so. Kurogane hatte schon einmal jemanden verloren, den er geliebt hatte. Das wollte er ihm kein zweites Mal antun. Also musste er sich zusammenreißen. Er durfte ihm seine egoistischen Gefühle nicht aufdrängen. Er musste… Er musste Abstand gewinnen. Auch wenn es ihm dieser intensive, fragende Blick gerade sehr schwer machte. Warum starrte er ihn auf einmal so an? War er verletzt? Nein, dafür gab es keinen Grund. Das, was Kurogane für ihn fühlte, und das, was er für diesen empfand, waren zwei grundverschiedene Dinge. Oder? Abstand… Er brauchte Abstand!

„Wie gesagt, ich bin etwas erschöpft und muss nachdenken. Über morgen, wie es weiter geht und so. Ich geh wieder ins Gästezimmer, okay?“, murmelte er mit gesenktem Blick und verschwand, hoffentlich nicht zu fluchtartig, im nächsten Raum. Kaum, dass er die Tür hinter sich geschlossen hatte, sank er zu Boden und vergrub sein Gesicht in den Händen.

Oh Gott… Wenn Ashura ihn nicht umbrachte, dann definitiv Kurogane mit diesem ewigen Auf und Ab in seinem Verhalten.
 

Fye hatte es für den gesamten restlichen Abend nicht mehr fertig gebracht, das Gästezimmer zu verlassen. Als es längst dunkel geworden war, hatte Kurogane an der Tür geklopft und ein Tablett mit belegten Broten und Salat vorbei gebracht. Das Essen hatte Fye ganz vergessen! Und noch mehr erstaunte es ihn, dass Kurogane stattdessen kommentarlos welches gemacht hatte und ihm sogar vorbei brachte. Das war das erste Mal, dass er sich freiwillig um das Essen gekümmert hatte…

Schweigend aßen sie zusammen die Brote und den Salat, auch wenn Fye letztlich kaum etwas herunter bekommen hatte. Seine Gefühle fuhren immer noch Achterbahn und hatten, seit Kurogane das Zimmer betreten hatte, wieder um einen Zahn zugelegt. Und wie sollte sein Magen irgendwas drin behalten, wenn er sich nicht mal entscheiden konnte, ob er nun zu einem Bleiklumpen oder einem Schmetterlingsnetz mutieren wollte?

„Magst du ´nen Film sehen?“, fragte Kurogane, nachdem das Essen alle war.

„Was denn für einen?“, fragte Fye etwas perplex zurück. Wie kam Kurogane denn jetzt da drauf? Der andere zuckte jedoch nur mit den Schultern.

„Keine Ahnung. Mal sehen.“

War das bloß eine indirekte Frage, ob er wieder mit ihm ins Wohnzimmer kam? Fye wusste, Abstand halten wäre im Moment am besten, aber…

„Okay.“
 

So saßen sie nun doch wieder nebeneinander auf der Couch – Fye darauf bedacht, zumindest einen gewissen Mindestabstand einzuhalten, bevor er am Ende noch irgendwas Dummes tat, was er später definitiv bereuen würde – und starrten mehr oder minder unbeteiligt auf den Bildschirm. Die Wahl war auf „The Dark Knight“ gefallen. Wobei die Auswahl letztlich auch nicht so schwer gewesen war, denn wirklich viele DVDs hatte Kuroganes Schrank gar nicht zu bieten gehabt. Und im Grunde hätte es jeder andere Film auch getan. Auch wenn Fye ehrlich darum bemüht war, sich auf den Film zu konzentrieren und damit zumindest für zwei Stunden noch einmal der Realität zu entfliehen, so gelang ihm es letztlich nur mäßig. Und Kurogane wirkte auch nicht so, als hätte ihn die Handlung des Films absolut gefesselt. Wobei – dass der Grummelpapa ein begeisterter Filmliebhaber wäre, hätte ihn auch mehr als verwundert.

So saßen sie also schweigend beieinander und jeder ging seinen Gedanken nach. Fye versuchte in erster Linie, sich einen Reim auf Kuroganes Verhalten in letzter Zeit zu machen. Egal, wie sehr er sich diesen Wunsch auch verbieten wollte, ein Teil von ihm hielt hartnäckig an der Hoffnung fest, dass er für Kurogane mehr war als einfach nur ein Gast oder vielleicht ein Freund. Dass die gelegentlich entstehende Nähe, der…Kuss?...auf seinem Kopf, die plötzliche Umarmung heute – dass all diese kleinen Gesten mehr waren als Freundschaftsbezeugungen. So sehr er sich auch davor fürchtete, dass dem so sein könnte, so sehr wünschte er es sich dennoch. Es brannte ihm auf der Seele, dies von Kurogane zu erfahren, und doch: Diese Frage würde er ihm ganz sicher niemals stellen! Auch deshalb, weil der vernünftige Teil von ihm noch immer versuchte ihm klarzumachen, dass Kurogane mit jemandem wie Oruha an seiner Seite besser dran war. Auch wenn Kurogane jetzt behauptete, dass er nichts mehr für sie empfand; vielleicht würden die Ereignisse des kommenden Tages das ändern. Wer weiß? Ein Teil von ihm hoffte es. Der Teil, der Kurogane um nichts in der Welt verletzen wollte.

Der Film ging schließlich zu Ende und Fye nutzte die Gelegenheit, um sich ein wenig die Beine zu vertreten und den Kopf ein wenig klar zu bekommen. Langes Stillsitzen hat noch nie zu seinen Stärken gehört.

„Der Film ist wirklich ein Klassiker. Immer wieder gut“, versuchte er, ihr Schweigen möglichst elegant zu beenden, während er aufstand und sich ausgiebig streckte. „Ich geh duschen.“

Und damit war er auch schon Richtung Bad verschwunden.
 

Der Abend neigte sich dem Ende, er würde Kurogane noch ein Mal eine gute Nacht wünschen, noch einmal in den inzwischen so vertraut gewordenen vier Wänden einschlafen und dann würde der Tag vorüber sein. Dienstag würde anbrechen. Und was danach kam, das wussten wohl nur die Götter.

Frisch geduscht und in von Kurogane geliehene Freizeitsachen gekleidet, die er als Ersatz-Schlafzeug nutzte, suchte er noch einmal den Schwarzhaarigen auf, mit dem er in den wenigen Wochen, die sie sich erst kannten, mehr erlebt hatte als in den gesamten letzten Jahren zusammen. Kurogane saß in seinem Sessel im Wohnzimmer und war wieder in das Schreiben des Amtsgerichts vertieft. Dennoch schien sein Gesichtsausdruck nicht mehr so hart und bitter wie zuvor. Schwermütig betrachtete Fye die entspannten Gesichtszüge, die selbst zu so später Stunde im gedämpften Schein der Wandlampe Kuroganes starken Charakter, seinen loyalen Ernst durchscheinen ließen. Die mysteriösen roten Augen hatten im sanften Licht der Lampe einen orangefarbenen Ton angenommen, ruhig wie der warme Schein einer Kerzenflamme. In diesem Moment überkam ihn eine Welle der Dankbarkeit, dass er diesen Menschen hatte kennenlernen dürfen, der ihn bis zuletzt begleitet und ihm Kraft gegeben hatte.

Die orangeroten Augen lösten sich von dem Schriftstück und glitten zu ihm herüber. Einen Moment noch verharrte Fye regungslos, doch dann gab er sich einen Ruck. Es wurde Zeit.

„Schlaf gut, Kuro-chin. Morgen…es wird sicher alles gut gehen. Da bin ich mir sicher!“

Damit wollte er sich umdrehen und ins Gästezimmer gehen, doch Kuroganes Stimme hielt ihn auf.

„Irgendwas ist doch los, oder?“

… Musste das jetzt wieder sein?

„Ich sagte es doch schon. Ich mache mir wegen der Verhandlung genau so viele Gedanken wie du. Und auch wegen Chii. Da sollte es dich doch nicht wundern, dass ich auch ein wenig aufgeregt bin“, versuchte er es noch einmal mit seinen Argumenten vom Nachmittag.

„Das allein ist es nicht. So komisch bist du erst, seit Oruha hier war.“

Fye wünschte sich wirklich, Kurogane wäre manchmal ein bisschen weniger scharfsinnig.

„Bist du eifersüchtig?“, bohrte er nach einigen Augenblicken weiter nach.

Ja, er war eifersüchtig! Okay? Zufrieden? Wer wäre nicht eifersüchtig, wenn er wüsste, dass man den Menschen, der einem die Welt bedeutete, nicht haben konnte? Wenn man wusste, dass da stattdessen jemand war, der den perfekten Partner für diesen Menschen bilden würde, den man im Grunde nur für sich allein wollte, auch wenn man gleichzeitig wusste, dass das absolut unmöglich war? Aber wahrscheinlich verstand das eh keiner. Das Ganze war eh viel zu verquer.

„Eifersüchtig? Ich habe doch überhaupt keinen Grund, eifersüchtig zu sein!“, lachte Fye schnippisch und wandte sich zum Gehen. Auf das Gespräch hatte er nun wirklich keine Lust. Doch Kurogane hinderte ihn. Schon wieder. Nur diesmal nicht mit seiner Stimme, sondern seiner Hand, die plötzlich nach seinem Handgelenk griff. Wann war er so schnell aufgestanden und hier rüber gekommen?

Eine Weile herrschte Schweigen. Sich loszumachen und einfach zu verschwinden, brachte er nicht übers Herz, doch er traute sich auch nicht, Kurogane in die Augen zu sehen oder das Wort an ihn zu richten. Er fühlte sich so durchschaut, so hilflos unter Kuroganes Blick. Und er hatte Angst, dass Kurogane noch mehr entdecken würde.

„Ich sagte dir doch, zwischen Oruha und mir ist nichts mehr. Das ist längst vorbei“, hörte er irgendwann sanft Kuroganes Stimme dicht bei sich. Fye war, als würde sein Herz schmelzen. Wahrscheinlich tat es das gerade tatsächlich. Jedenfalls taten all seine guten Vorsätze es.

„Und was ist mit mir? Was, denkst du, ist das zwischen uns?“, fragte er flüsternd, hoffend, ein bisschen ängstlich. Kuroganes Griff um sein Handgelenk wurde für einen Moment unstet. Er hörte den anderen deutlich Schlucken.

„Hm...was ist es denn für dich?“

„Ich habe dich zuerst gefragt. Versuch bitte nicht auszuweichen.“

Jetzt, wo das Thema raus war, würde Fye keinen Rückzieher mehr machen. Zumal Kurogane derjenige war, der damit angefangen hatte. Dieser trat von einem Bein aufs andere und auch ohne dass Fye ihn ansehen musste, wusste er, dass der andere, um eine Antwort verlegen, wahrscheinlich gerade überall hinsah, nur nicht auf ihn.

„...Ich weiß es nicht genau. Es...ist irgendwie anders als andere Freundschaften, aber…“, begann er drucksend. Das war untypisch für den sonst immer so souveränen Kurogane. Als er schließlich mit einem entnervten Seufzer sein Handgelenk losließ und sich mit verschränkten Armen gegen den Türrahmen lehnte, drehte Fye sich, neugierig geworden, um.

„Ich habe einfach noch nicht darüber nachgedacht! Ich kann das jetzt nicht so einfach beschreiben“, beendete er seinen zuvor begonnenen Gedanken, wobei er es jedoch tunlichst vermied, Fye ins Gesicht zu sehen. Dessen Herz machte bei diesen Worten einen plötzlichen Satz und schlug dann heftig flackernd weiter. Nun drehte Fye sich ganz zu Kurogane um und suchte regelrecht dessen Blick. Irgendwo tief in sich wusste er, dass er lieber nicht weiter nachbohren sollte, aber er konnte einfach nicht anders.

„Bedeute ich dir mehr als andere Freunde?“

Kuroganes Blick huschte kurz zu ihm, dann wieder zu einem unbestimmten Punkt an der Zimmerdecke.

„Na ja...irgendwie schon...“

Vorsichtig streckte Fye eine Hand nach Kurogane aus, löste sanft dessen gespannt verschränkte Arme und brachte ihn dazu, ihm wieder ins Gesicht zu blicken. Es fiel ihm schwer, die rubinroten Augen zu deuten. Es lag Vorsicht in ihnen, Zögern, vielleicht auch etwas Furcht? Und noch mehr, was er nicht zu beschreiben vermochte.

„Wie viel mehr?“, fragte er weiter. Sein eigener Herzschlag schien ihm fast lauter als seine Stimme.

„Ich…weiß nicht…“

Ein Zittern ging durch Kuroganes Körper. Wann war er ihm so nah gekommen, dass er es so deutlich spüren konnte? Hatte er sich auf Kurogane zu bewegt? Oder war der andere es gewesen? Er lehnte nicht mehr gegen den Türrahmen. Die roten Augen schlossen sich für einen Moment, öffneten sich mit einem tiefen Atemzug wieder. Kuroganes Blick war ernst, aber liebevoll. Fye wagte kaum zu atmen. Zum ersten Mal in seinem Leben schaffte er es nicht, seinen Blick von jemandem abzuwenden. Zögerlich hob Kurogane seinen freien rechten Arm, berührte mit seinen Fingern sanft Fyes Wange, ließ die Fingerspitzen ein wenig weiter nach oben gleiten, in Richtung Schläfe. Nun war Fye es, der seine Augen schloss. Eine prickelnde Gänsehaut breitete sich von seiner Wange über den Nacken aus und kroch schließlich seinen gesamten Rücken hinab. Kuroganes Hand war so warm. Es tat so gut… Er legte sein Gesicht ein wenig schräg, schmiegte es in die warme, weiche Hand seines Gegenübers. Seine freie linke Hand legte sich sacht auf Kuroganes rechte. Als er die Augen wieder öffnete, war Kuroganes Gesicht seinem eigenen ganz nah. Fast konnte er den Atem des anderen auf seiner Haut spüren. Wieder schloss er die Augen, gab sich ganz diesem Gefühl, dieser Wärme hin. Nur einmal…nur einmal wollte er davon probieren dürfen. Danach war es egal. Selbst wenn er Kurogane danach nie wieder würde berühren können.

Und Kurogane? Er würde ihm damit das Herz brechen. Ihn wieder allein zurücklassen. Seine Gefühle verraten.

Nein, er durfte es nicht. Er hatte Kurogane schon viel zu tief in seinen Abgrund hinabgezogen.

Fye spürte noch, wie Kuroganes Lippen sanft seine Wange streiften und dort ein heißes Kribbeln hinterließen, als er seinen Kopf zur Seite drehte, das Kinn so tief wie möglich auf die Brust gesenkt, nur um den Ausdruck in Kuroganes Gesicht jetzt keinesfalls sehen zu müssen. Sein Zurückzucken und der plötzliche Abbruch der Berührung waren schlimm genug. Aber es war besser so. Bevor die Situation noch unerträglicher wurde, als sie es ohnehin schon war, ergriff Fye hastig das Wort.

„Ich hätte nicht erwartet, dass ich dir so viel bedeute, Kuro-tan! Ich fühle mich geehrt. Aber so viel Achtung bin ich gar nicht wert.“

Mit einem verlegenen Lächeln blickte er den anderen an und tänzelte leichtfüßig einige Schritte rückwärts. Wie erwartet, er hatte Kurogane damit aufs äußerste verletzt, doch es ging nicht anders. Hätte er jetzt keinen Schlussstrich gezogen, wäre es später umso schlimmer geworden. Er hätte es gar nicht erst herausfordern sollen. Ja, jetzt wusste er, woran er bei seinem Angebeteten war, doch er konnte beim besten Willen keine Freude in sich entdecken. Nur Schmerz. Schmerz, dass er trotzdem unerreichbar fern für ihn blieb, Schmerz, dass er ihn anlog und so sehr verletze und weiter verletzen würde.

„Wir haben morgen einen wichtigen Tag vor uns. Vor allem du. Du musst auf jeden Fall ausgeruht sein, wenn wir morgen Tomo-chan zurückholen! Also schlaf bald, ja, Kuro-sama? Gute Nacht!“

Und damit war er auch schon an der Tür zu seinem Zimmer angekommen, nur einen kleinen Schritt entfernt von der rettenden Einsamkeit. Da hielt ihn Kuroganes Stimme noch einmal auf, seine Worte schienen sein Herz wahrhaftig entzwei zu spalten: „Bitte versprich mir, dass du keinen Blödsinn machst.“

„Was?“, entfuhr es dem Blonden ertappt. Für diese Reaktion hätte er sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Kurogane blieb weiterhin ruhig, sah ihn aber mit einem so durchdringenden, sorgenvollen Blick an, das Fye ein derart schlechtes Gewissen bescherte, welches sogar das für seine grausame Abfuhr gerade in den Schatten stellte.

„Auch wenn du mir nicht erzählen willst, was noch los ist – ich spüre doch, dass etwas nicht stimmt. Aber was immer es ist, mach bitte nichts Unüberlegtes, okay?“, fügte Kurogane mit Nachdruck hinzu, den intensiven, bittenden Blickkontakt nicht einen Augenblick unterbrechend.

Fye wurde schlecht.

„Okay…“

Mehr konnte er einfach nicht über die Lippen bringen. Dann verschwand er in seinem Zimmer und im selben Moment, in dem die Tür hinter ihm zu fiel, konnte er nicht mehr verhindern, dass ihm die Tränen ungehemmt übers Gesicht strömten.
 

Es war mitten in der Nacht, tiefe Schwärze und eine fast schon gespenstige Stille umgaben ihn. Als wäre die Zeit selbst in stille Träume versunken. Vorsichtig, peinlichst genau darauf bedacht, nur kein Geräusch zu verursachen, öffnete er die Tür. Er wusste, es war dumm und gefährdete obendrein seinen Plan, jetzt noch einmal hierher zu kommen, aber sein egoistisches Herz ließ ihm einfach keine andere Wahl. Denn es war das letzte Mal. Das letzte Mal, dass er Kurogane sehen konnte.

Fye hatte Glück. Leise, ebenmäßige Atemzüge zeigten, dass Kurogane im Moment fest schlief. Auf Zehenspitzen schlich er hinüber zum Bett, von dem das leise Geräusch kam. Als er den weichen Stoff der Decke an seinem Knie spürte, hielt er inne, spähte angestrengt in die Dunkelheit hinein. Seine Augen hatten sich mittlerweile einigermaßen an das fehlende Licht gewöhnt, doch es reichte trotzdem kaum, um überhaupt irgendetwas wahrzunehmen. Lediglich ein hauchzarter Kontrast ein Stück links von ihm ließ ihn vermuten, dass dort wohl Kuroganes Gesicht sein müsste, also bewegte Fye sich noch ein paar Schritte in diese Richtung.

Halb erleichtert, halb bereuend, stand er da und wollte dem anderen eigentlich noch so viel sagen. Was er für ihn empfand, wie sehr Kurogane ihm in den letzten Wochen geholfen hatte. Dank ihm hatte Fye zum ersten Mal seit Jahren wieder unbeschwert lachen können. Es war eine kurze Zeit gewesen, doch für Fye war sie der größte Schatz, den er besaß.

„Danke für alles“, hauchte er sanft gegen die leicht geöffneten Lippen seiner Liebe. Eine Stimme in seinem Hinterkopf warnte ihn eindringlich, dass er hier gerade Chiis Leben aufs Spiel setzte. Dass für sie alles vorbei wäre, wenn Kurogane jetzt aufwachte, aber…

Flüchtig, nur für einen winzigen Augenblick berührten sich ihre Lippen, doch der kurze Kontakt reichte, um ein angenehmes Prickeln bei ihm auszulösen und Schauer seine Wirbelsäule hinab zu jagen. Seine Atmung stockte.

‚Oh Gott…’

Dass es so schlimm würde, hätte er nicht erwartet. Eine Träne bahnte sich ihren Weg über seine Wange. Besser, er ging jetzt wirklich, denn wenn er noch länger wartete, dann würde er es gar nicht mehr schaffen.

„Ich liebe dich…“

Er verließ das Zimmer, die Wohnung, das Wohnhaus. Ging durch den menschenleeren Park, ließ das Wohnviertel hinter sich. Er blickte nicht mehr zurück, verbot sich, noch länger festzuhalten an dem, was er nicht haben durfte. Er musste da jetzt durch. Es gab keinen anderen Weg und auch kein Zurück mehr.
 

Der Himmel färbte sich am Horizont bereits einige Nuancen heller, als Fye sein Ziel erreichte. Das Hauptgebäude der Firma Cybercom. Seit er es damals fluchtartig verlassen hatte, war er nicht mehr hier gewesen. Überhaupt hätte er sich nicht träumen lassen, dass er irgendwann noch einmal hier stehen würde. Und nun war er da. Sein Herz hämmerte derart heftig in seiner Brust, dass ihm regelrecht schlecht wurde.

‚Jetzt bloß nicht zusammenklappen’, ermahnte er sich, nahm einen tiefen Atemzug und schritt die letzten Meter auf die Eingangstür zu. Der Wachposten im Pförtnerhäuschen nickte ihm mit einem angedeuteten Lächeln zu und ließ ihn ein. Anscheinend wurde er bereits erwartet. Aber bei Ashura verwunderte es ihn nicht weiter.

Er nahm den Aufzug bis in das oberste Stockwerk, die Chefetage. Er fühlte sich ein wenig wie in einer Neuauflage von „The Green Mile“, ging es ihm ironisch durch den Kopf. Oben angekommen wandte er sich nach rechts und folgte dem Gang bis zum Ende. Hier war es. Unverändert, genau wie damals. Ashuas privates Büro. An der Tür gab es kein Namensschild, lediglich die Aufschrift ‚privat’. Hierhin wurden normalerweise bloß enge Geschäftspartner oder vertraute Mitarbeiter eingeladen. Auch Fye hatte dieses Zimmer früher einige Male von innen gesehen. Einfach angeklopft, seinen Namen und Anliegen genannt und schon war er auf ein Gespräch bei einer Tasse Tee in dem Zimmer hinter dieser Tür eingeladen worden.

Nun stand er hier und wusste nicht so recht, was er tun sollte. Klopfen? Wie früher? Aber vielleicht war Ashura noch gar nicht im Büro? Vielleicht sollte er die Gelegenheit lieber nutzen und heimlich nach Chii suchen und dann gemeinsam mit ihr abhauen. Fye wusste zwar nicht, wie spät es inzwischen war, aber es musste definitiv noch verdammt früh sein. Er könnte wirklich Glück haben und hier herumspazieren, ohne jemandem zu begegnen. Wenn ihn die Überwachungskameras aufnahmen – was sollte es? Es war ja nicht so, dass er zum Diebstahl oder irgendwas hergekommen war. Ja, besser, er versuchte Chii zu finden und wieder zu-

In diesem Moment öffnete sich die Tür vor seiner Nase.

„Ah, unser verlorenes Schäfchen ist zurückgekehrt.“
 

Zum wiederholten Male drehte Kurogane sich von einer Seite auf die andere. Irgendwann musste er von wirren Träumen in einen halben Wachzustand gedriftet sein, doch seine Gedanken hatten sich einfach nicht beruhigen wollen. Da waren Tomoyo und die anstehende Verhandlung, und dann war da auch Fye. Und dieser Traum, der dort angesetzt hatte, wo der Feigling am vergangenen Abend plötzlich einen Rückzieher gemacht und ihn wie einen Vollidioten im Regen stehen gelassen hatte. Und irgendwo in diesem Traum musste er wohl aufgewacht sein. Seine Lippen, seine Arme, sein ganzer Körper suchte nach etwas, sehnte sich nach einer Berührung, so sehr, wie seit Jahren nicht mehr. Aber da war nur Leere. Leere um ihn herum, Leere in seinem Herzen. Und dieses flaue Kribbeln in seinen Bauch, wenn er an diesen Traum zurückdachte.

Wieder warf er sich auf die andere Seite – und wäre um ein Haar aus dem Bett gefallen.

‚Ach, verdammt!’

Er konnte ja doch nicht mehr schlafen. Wie spät war es überhaupt? 5:39 Uhr, verriet ihm sein Handy. Damit gab Kurogane die Nacht endgültig auf und schälte sich aus seiner Decke. Es ließ ihm einfach keine Ruhe. Fyes mehr als seltsames Verhalten am vergangenen Abend, dann dieser Traum…

Gedankenverloren berührte Kurogane seine Lippen. Im ersten Moment war es ihm einfach unendlich peinlich gewesen, doch inzwischen bereute es, dass er nicht selbstsicherer gewesen war, als er gestern Abend versucht hatte, Fye zu küssen. Spätestens seit dem Traum wollte er wissen, wie es sich in echt anfühlte…

Mit einem Seufzer stand er nun endgültig auf und zog sich ein T-Shirt über. Die Sache von gestern Abend würde ihm ja doch keine Ruhe lassen. Er MUSSTE einfach kurz nach Fye sehen. Sich vergewissern, dass alles in Ordnung war. Und dann würde er sich einen Kaffee machen.

Leise öffnete er die Tür zum Gästezimmer. Er kam sich reichlich bescheuert dabei vor, dem anderen so hinterherzuspionieren. Doch sämtliche Gedanken an Peinlichkeit oder Überfürsorge zerplatzten in dem Moment, als sein Blick auf das leere Bett fiel.

Fye war weg. Weg!

Ihm schwante Übles. Kurogane wusste, was das zu bedeuten hatte. Er hatte gehofft und gebetet, dass Fye vernünftig genug sein würde und nicht versuchte, sich blindlings in sein Verderben zu stürzen. – Sein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. – Er hatte gehofft, dem Blonden wichtig genug zu sein, dass dieser ihm endlich vertrauen würde.

Kurogane musste sich für einen Moment an der Türklinke festklammern und die Augen schließen. Die Erkenntnis drohte ihn schier zu überwältigen. Einige Augenblicke später schüttelte er energisch den Kopf und zwang sich, ruhig zu atmen und die Kontrolle über seinen Körper zu behalten. Er durfte sich nicht so gehen lassen. Vielleicht war Fye auch nur vor ihm aufgestanden und war jetzt im Bad oder im Wohnzimmer oder so – auch wenn er ihn dann eigentlich hätte hören müssen. Dennoch sollte er lieber erst einmal nachsehen.

„Fye?“, rief er vorsichtig seinen Namen in die Dunkelheit, doch es kam keine Antwort zurück. Ein kurzer Blick zur Badtür zeigte ihm, dass das Licht dort aus war. Da konnte er also nicht sein. Kurogane ging weiter Richtung Wohnzimmer. Auch hier Fehlanzeige. Er spürte, wie das Flattern zurückkehrte, das ihn bereits beim Blick in das Gästezimmer überfallen hatte.

‚Ruhig bleiben’, ermahnte er sich. Und erst mal einen Kaffee machen. Er drehte sich um und steuerte geradewegs die Küche an, doch an der Schwelle blieb er so abrupt wieder stehen, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Ein kleiner, weißer Zettel, der sich deutlich vom dunklen Holz des Esstischs abhob, stach ihm förmlich in die Augen. Er ahnte Schlimmes, als er sich auf das Papier zu bewegte.
 

Kurogane,

es tut mir leid.
 

TBC...

Kopfüber in die Hölle

Disclaimer: Die Charas gehören (bis auf wenige Ausnahmen) nicht uns, sondern Clamp. Wir wollen kein Geld damit verdienen, sondern nur unterhalten.
 

Erstschreiber des Kapitels: Lady_Ocean

Kapitel: 23/26
 

-~*~-
 

„Man muß das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen.“

(Hermann Hesse)
 

-~*~-
 

Kopfüber in die Hölle
 

Tuut. Tuut.

„Wer hat die Nerven, mich in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett zu klingeln?“, meldete sich endlich eine müde Yuuko Ichihara am anderen Ende der Leitung. Doch Kurogane hatte jetzt keinen Nerv, sich auf ihre Sticheleien einzulassen.

„Fye ist weg“, brachte er das Thema ohne Umwege auf den Tisch.

Für einige Momente herrschte Stille auf der anderen Seite. Danach war die Müdigkeit aus Yuukos Stimme schlagartig verschwunden.

„Du vermutest, dass ihm etwas passiert ist?“

„Vielleicht in diesem Augenblick noch nicht, aber es wird nur eine Frage der Zeit sein.“

Wieder ging Kuroganes Blick zur Uhr. 5:45 Uhr. Er wusste nicht, wie lange Fye schon weg war und wie viel Zeit ihm noch blieb.

„Was genau vermutest du und warum?“

„Weißt du, warum Fye bei seinem früheren Arbeitgeber gekündigt hat?“, fragte Kurogane zurück.

„Nun…“, begann Yuuko vorsichtig. „Es besteht der Verdacht, dass Fyes ehemaliger Arbeitgeber in zahlreiche Probleme verwickelt ist, die sich in den letzten Jahren in der internationalen Wirtschaftswelt ereignet haben: Unfälle, Drogen, Steuerdelikte, Personenschäden bis hin zum Tod bedeutender Manager. Es wird bereits seit längerem im Geheimen gegen ihn ermittelt, doch bis jetzt fehlen konkrete Beweise. Gut denkbar, dass Fye über einige Hinweise gestolpert ist.“

Yuuko war also informiert. Das verkürzte die Erklärung schon mal.

„Ja. Und nun ist dieser Ashura wieder in seinem Leben aufgetaucht“, ergänzte Kurogane seine Informationen.

„Inwiefern?“

„Zuerst ist ein Mädchen verschwunden, das bei Fye gewohnt hat. Ich weiß nicht, wer sie ist oder warum sie bei ihm gewohnt hat, aber sie heißt Chii.“

„Chii… Sie hatte Probleme mit ihrer Familie. Deshalb hatte Fye gefragt, ob sie eine Zeit lang mit bei ihm wohnen kann. Seit wann ist sie verschwunden?“

„Seit einer Woche ungefähr… vorletztem Samstag.“

„Und ihr habt die ganze Zeit nichts gesagt?!“

Zum ersten Mal hörte Kurogane die stets gefasste Frau entrüstet. Das hatte sie also noch nicht gewusst.

„Zuerst war Fye sich nicht sicher, ob sie nicht vielleicht einfach für ein paar Tage woanders war. Aber dann hat er eine Nachricht bekommen, von Ashua. Damit war klar, dass er sie entführt hatte.“

„Was war das für eine Nachricht? Und wann?“

„Ich weiß nicht, was genau da drin stand und der Idiot hat sie wohl nach dem Lesen entsorgt, aber vermutlich war sie irgendwo bei Fye zu Hause. Er war am Freitag kurz in seiner Wohnung.“

Sein schlechtes Gewissen meldete sich, als Kurogane an jenen zurückdachte. Hoffentlich fragte Yuuko nicht genauer nach.

„Ich schicke trotzdem jemanden bei Fyes Wohnung vorbei. Vielleicht gibt es noch Hinweise. Bleib bitte in Bereitschaft, Kurogane. Ich melde mich später mit genaueren Anweisungen. Wenn jemand Fye dort rausholen kann, dann du.“

Was – er?

„Du weißt schon, dass ich suspendiert bin? Und was ist mit der Verhandlung?“, fragte er skeptisch.

„Das regle ich schon. Zur Not läuft die Verhandlung auch ohne dich. Du bist der Einzige mit den nötigen Fähigkeiten, der schnell genug einsatzbereit ist. Hoffen wir, dass diese Nachricht oder Teile davon noch irgendwo auffindbar sind. Das würde reichen, um deinen Auftrag zu rechtfertigen. Ich schicke dir gleich einige Dateien zu. Versuch, dir in den nächsten Stunden so viele Informationen über Ashura und sein Unternehmen wie möglich anzueignen. Ich melde mich wieder“, wies Yuuko ihn an.

„Roger.“

Hoffentlich kamen sie nicht zu spät. Er hätte nicht auf diesen Einfaltspinsel hören, sondern gleich Yuuko benachrichtigen sollen! Fye… Wenn er ihn verlieren sollte, würde er sich das niemals verzeihen.
 

Es dauerte.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, die Kurogane nun schon darauf wartete, dass das Telefon endlich wieder klingelte. Die angekündigten Daten waren innerhalb weniger Minuten in seinem Postfach gewesen. Zum Teil waren es relativ harmlose, allgemein zugängliche Informationen wie Fakten zur wirtschaftlichen Entwicklung der Firma CyberCom, insbesondere der letzten fünf Jahre. Andere Daten waren hingegen höchst brisant. Einige betrafen sogar Daten zum Telefon- und E-Mailverkehr des CyberCom-Chefs sowie Meta-Daten seiner Diensthandys, anhand derer Kontakte mit der Unterwelt ersichtlich wurden. Einige dieser Kontakte deuteten auf Verbindungen zu Attentaten und Raubüberfällen in den letzten Jahren hin. Informationen dieser Art hatte er durchaus schon zu Gesicht bekommen, doch das war eine enorme Seltenheit. Die Geheimdienste der Regierung sammelten diese Informationen zwar, doch solange kein konkreter Verdacht der Gefährdung staatlicher Sicherheit bestand, gingen diese Informationen an niemanden heraus.

Dass Yuuko Ichihara Zugang zu solchen Informationen besaß, ließ einige Spekulationen über ihre hauptberufliche Tätigkeit zu. Aber er versuchte gar nicht erst, genauer nachzufragen. Besser, er wusste darüber so wenig wie möglich.

Als sein Telefon plötzlich wieder klingelte, war Kurogane erleichtert und aufs Äußerste angespannt zugleich. Dass Yuuko zurückrief, hieß, dass es endlich etwas Konkretes zu tun gab. Gleichzeitig war er nie so schlecht auf einen Auftrag vorbereitet gewesen wie heute. Seit knapp einem Monat hatte er kein Spezialtraining mehr absolviert und das bisschen Sport, was er zu Hause allein machen konnte, kam da bei weitem nicht ran. Zudem war er seit gerade einmal drei Stunden dabei, sich über sein Ziel zu informieren, und dabei stand für ihn so viel mehr auf dem Spiel, als es je zuvor der Fall gewesen war. Sie würden verdammt viel Glück brauchen.

„Die Nachricht konnte sichergestellt werden. Sie lag auf dem Küchentisch“, waren Yuukos erste Worte.

Sie hat da einfach so rumgelegen?! Gott sei Dank! Wenn Fye ihn nur nicht angelogen hätte… Aber für solche Gedanken war es zu spät. Wenigstens gab es das Beweisstück noch und das war ein wichtiger Erfolg. Damit hatten sie etwas Konkretes gegen Ashura in der Hand.

„Fye hat auch eine Abschiedsnotiz hier gelassen“, informierte Kurogane Yuuko zusätzlich. Das hätte er zuvor schon machen sollen. Er machte unnötige Fehler.

„Hast du sie berührt?“

„Nein. Ich habe Fotos gemacht, aber nichts berührt.“

„Denkst du, es bringt noch was, einen Spezialisten deswegen zu dir zu schicken?“

„Ich glaube nicht.“

„Dann stell die Notiz sicher und bring sie mit. Ich gebe dir eine Adresse, wo wir uns treffen.“

Nachdem sie ihm die Anschrift gegeben hatte, legte sie wieder auf. Kurogane steckte die Notiz vorsichtig mit einer Pinzette in eine Klarsichthülle, nahm seine Kamera mit den Fotos und machte sich auf den Weg.
 

Die Anschrift gehörte zu einer kleinen Polizeiwache am anderen Ende der Stadt, nicht unweit ihres Zielobjekts. Drinnen wurde er bereits von einer Gruppe von Leuten erwartet; anscheinend Mitarbeiter, die Yuuko in der Kürze der Zeit hatte mobilisieren können.

„Gut, nun sind wir vollzählig“, kommentierte Yuuko, als sie ihn entdeckte, und winkte Kurogane zu sich heran. Bis auf einen standen alle Anwesenden um einen Tisch herum, auf den ein Gebäudeplan ausgebreitet lag: der Plan der CyberCom-Zentrale, wie Kurogane auf den ersten Blick erkannte. Die letzte Person, ein Polizist in Uniform, saß vor einem Computer und war, mit Headset ausgestattet, ganz in den Bildschirm vertieft. Kurogane ging hinüber zu Yuuko und übergab ihr seine Kamera und die Klarsichthülle mit Fyes Abschiedsworten. Yuuko reichte beides an einen weiteren Anwesenden weiter, der sich daraufhin von der Gruppe entfernte. Nun wandte Yuuko sich wieder der versammelten Runde zu.

„Damit alle den aktuellen Stand der Dinge kennen“, begann sie ihre Erklärung. „Es ist uns gelungen, eine Gruppe von Ratten durch die Lüftungsschächte ins Innere des Gebäudes zu bringen. Toya“, sie nickte kurz in Richtung Computer, „konnte die Frequenz einiger der Sicherheitskameras entschlüsseln und sie mit einem Störsignal belegen.“

„Die Mäuse wurden bereits entdeckt. Sie machen sie dafür verantwortlich“, kommentierte dieser daraufhin, während er irgendetwas auf dem Computer eintippte.

„Sehr gut. Dem Sicherheitsdienst von CyberCom wird damit nichts anderes übrig bleiben, als einen Kammerjäger und einen Elektriker kommen zu lassen, um die Schäden zu beheben. Und dort kommen Kurogane und Seishiro ins Spiel.“

Yuuko deutete mit einem Kopfnicken auf die beiden Angesprochenen. Seishiro war ein relativ entspannt dreinblickender, hochgewachsener Mann, der kaum älter zu sein schien als er selbst.

„Seishiro ist Technik-Spezialist und wird den Sicherheitsdienst eine Weile ablenken können. Kurogane, du übernimmst den Part des Kammerjägers. Damit solltest du dich relativ frei bewegen können, ohne sofort Aufsehen zu erregen.“

Die Idee war nicht schlecht, hatte jedoch einen Haken.

„Das Problem ist nur, dass man mein Gesicht und meine Verbindung zu Fye dort wahrscheinlich längst kennt. Ashura hat mich sicher nicht unbeschattet wochenlang mit ihm rumlaufen lassen.“

„Deswegen haben wir Himawari hier“, erklärte Yuuko und deutete auf eine junge Frau ihnen gegenüber. „Sie ist Maskenbildnerin und wird dir gleich ein neues Aussehen verpassen. Bei Seishiro reicht ein entsprechender Ausweis.“

„Eine der Ratten hat es bereits bis in den zehnten Stock geschafft“, meldete Toya sich erneut vom Computer aus. Ein Grinsen huschte kurz über Yuukos Gesicht.

„Je weiter sie kommen, desto mehr Spielraum wirst du haben“, wandte sie sich an Kurogane.

Als nächstes blickte Yuuko zu dem neben ihr stehenden jungen Mann: „Watanuki, du kennst den Bauplan. Wo ist am ehesten mit einem Versteck der entführten Personen zu rechnen?“

Der Angesprochene rückte seine Brille zurecht und beugte sich tiefer über das riesige Papier.

„Vom Erdgeschoss bis in den 15. Stock hoch sind hauptsächlich Empfangszimmer, Labore, Fertigungsräume und Büroräume. Hier ist am wenigsten mit dem Aufenthalt der Entführten zu rechnen. Da die meisten Mitarbeiter nicht in die Entscheidungsprozesse der Geschäftsführung involviert sind, wäre das für die Entführer zu riskant. Am wahrscheinlichsten sind daher die Chefetage im 16. Stock oder der Keller, wobei ich mit ‚Keller’ das unterste Geschoss hier meine. In den Etagen darüber müssten sich ein Archiv sowie Lagerräume befinden. Diese sind auch über Fahrstühle – das sehen Sie hier – mit dem Erdgeschoss und teilweise mit den anderen Stockwerken verbunden. Hier, im hinteren Teil des Gebäudes, gibt es noch eine schmale Treppe und daneben einen kleineren Aufzug. Das sind die einzigen Verbindungen zwischen der sechzehnten Etage und dem untersten Kellergeschoss. Außerdem gelangt man über diese Treppe auch auf das Dach und zu einer Hintertür nach draußen, hier.“

„Dann sind die entführten Personen also entweder ganz oben oder ganz unten. Oder beides“, schlussfolgerte Kurogane.

„So ist es“, bestätigte Watanuki. „In der Chefetage soll Ashura sich die meiste Zeit über aufhalten. Neben dem offiziellen Empfangszimmer für hohen Besuch und einer Privatwohnung befinden sich hier auch einige Räume, deren Nutzen mir nicht genauer bekannt ist. Es ist gut denkbar, dass dort Personen zur Befragung festgehalten werden könnten. Auf dem Dach gibt es zudem einen Hubschrauber-Landeplatz, so dass man von dort aus leicht fliehen könnte. Dieser Bereich hingegen“, er deutete auf das letzte Untergeschoss, „ist durch seine große Entfernung zu den offiziellen Bereichen und seine tiefe Lage im Erdreich praktisch schalldicht und nur sehr schwer zugänglich. Es kommt wohl ganz darauf an, was Ashura mit den Entführten vor hat, wo sie letztlich untergebracht sind.“

Kurogane ahnte, wo er Fye finden würde.

„Da hat er wohl seine Leichen im Keller“, kommentierte ein weiterer Anwesender trocken. Kurogane hätte ihm dafür am liebsten die Fresse poliert.

„Das ist nicht lustig, Fuuma“, wies Yuuko den Kommentator in seine Schranken. „Unser oberstes Ziel ist es, die beiden entführten Personen lebend dort rauszuholen. – Wie Kurogane vermutet, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Personen jeweils einzeln festgehalten werden. Der Entführer hat damit eine höhere Chance, die zweite Person als Druckmittel einzusetzen, wenn auffällt, dass eine Geisel befreit wurde. Aller Wahrscheinlichkeit nach müsste das Mädchen Chii in der Chefetage sein. Ihre Handschrift in dem Brief, den wir in Fyes Wohnung sichergestellt haben, gibt keinerlei Hinweise darauf, dass sie unter Drohung oder Gewalteinwirkung geschrieben hat. Demnach ist der Aufenthaltsort von Fye d. Flourite im Keller zu vermuten.“

Alle Umstehenden nickten zustimmend.

Kurogane hörte schweigend zu, konnte seinen Blick nur schwer von dem im Plan dargestellten Kellergeschoss lösen. Am liebsten würde er geradewegs dort unten einmarschieren, doch es war zu riskant. Die kleine Chii würde er damit in akute Lebensgefahr bringen und das würde Fye, selbst wenn er ihn retten könnte, nie verzeihen.

„Ich werde zuerst nach Chii suchen. Dem Plan zufolge komme ich leichter in die oberen Etagen als in den Keller. Das erweckt weniger Aufsehen. Wo kann ich sie am schnellsten in Sicherheit bringen, wenn ich sie gefunden habe?“, meldete er sich schließlich zu Wort.

„Eventuell über den Hinterausgang. Den erreicht ihr über das hintere Treppenhaus. Allerdings kann ich nicht sagen, wie gut diese hintere Treppe und der Fahrstuhl bewacht oder gesichert sind. Falls es dort Probleme gibt, musst du wohl vor Ort sehen, wo du ein geeignetes Versteck für sie findest. Das Gebäude ist groß. Sicher werden nicht alle Räume aktiv genutzt.“

Kurogane nickte.

„Ich werde sehen, was am besten ist.“

Yuuko stimmte dem zu.

„Noch Fragen?“

Sie warf einen Blick in die Runde. Keine Meldungen.

„Gut, dann machen sich jetzt alle an die Arbeit. Himawari, du kümmerst dich darum, dass nicht mal seine eigene Mutter Kurogane wiedererkennen würde. Und Kurogane lernt währenddessen gleich noch die Grundlagen seines Handwerks kennen. Watanuki, verschaff ihm einen guten Überblick. Und Fuuma, du kümmerst dich um die Ausweise. Bei Seishiro kannst du gleich anfangen.“

Augenblicklich kam Bewegung in die Gruppe. Fuuma setzte sich an einen freien Computer, Watanuki kramte in seiner Tasche, wahrscheinlich nach den Infomaterialien für den Beruf als Kammerjäger, und Himawari steuerte zielsicher auf Kurogane zu und zog ihn am Arm mit sich.

„Komm. Ich mach in Nullkommanix einen anderen Menschen aus dir.“

Damit verschwanden sie in einem angrenzenden Waschraum. Zuerst wurden Kurogane Haare und Augenbrauen gefärbt, zudem verpasste die junge Frau ihm eine leichte Dauerwelle, die die Spannung aus den sonst so kräftig abstehenden Haaren nahm. Dazu dunkelbraune Kontaktlinsen, genau auf die Größe seiner Iris abgestimmt, so dass beim normalen Hinsehen überhaupt nicht auffiel. Danach ging es ans Make-up. Die Haut an Gesicht, Hals, Nacken und Armen wurde einige Nuancen heller gefärbt, die markanten Wangenknochen etwas abgemildert, einige Fältchen an den Augen und der Stirn hinzugefügt und schließlich ein künstlicher Drei-Tage-Bart angeklebt, Stoppel für Stoppel. Währenddessen erklärte Watanuki ihm unermüdlich anhand von Bildern seine Aufgaben als Kammerjäger, die verschiedenen Arten von Schädlingen und wie diese jeweils bekämpft werden konnten – speziell natürlich die Vielzahl von Mäusefallen und Mäuseködern.

Als Himawari mit ihrem Make-up fertig war, wurde ein Foto von Kurogane gemacht, das Fuuma zu Kuroganes neuen Personaldaten hinzufügte. Als er sein neues Gesicht im Spiegel erblickte, staunte er nicht schlecht. Mit einer derart großen Veränderung hätte er nicht gerechnet. Er erkannte sich selbst nicht wieder, doch gleichzeitig wusste er, dass es sein Spiegelbild war, sein MUSSTE, welches so irritiert zu ihm zurückstarrte. Ein sehr befremdliches Gefühl.

„Schau doch nicht so mürrisch! Ein kleines Lächeln steht dir viel besser“, munterte Himawari ihn auf. Kurogane versuchte es, doch es gelang mehr schlecht als recht. Allerdings, machte er sich eine mentale Notiz, sollte er später unbedingt daran denken. Schon eine kleine Veränderung seiner Gesichtszüge änderte sein Erscheinungsbild erneut drastisch.

Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es mittlerweile 10:11 war. Noch immer gab es keine Reaktion von CyberCom. Kurogane las nun selbstständig die Informationen über Kammerjäger weiter. Toya informierte sie zwischenzeitlich, dass nun sogar eine Maus in der Chefetage und einige im Lager gefunden wurden. Das Sicherheitspersonal versuchte im Moment intern, den Nagern Herr zu werden.

Alles war still. Die Stimmung im Raum war zum Zerreißen gespannt. Es fiel Kurogane schwer, sich auf seinen Text zu konzentrieren. Mit jeder Sekunde, die verstrich, fürchtete er um Fyes Leben. Es zermürbte ihn, hier herumsitzen und warten zu müssen. Als Toya die Stille erneut durchbrach, wanderte alle Aufmerksamkeit auf ihm.

„Ich hab noch eine Kamera ausgeschaltet. Die am Hintereingang.“

Das war ein strategisch sehr wichtiger Punkt. Jetzt musste CyberCom handeln. Und es dauerte auch keine zehn Minuten mehr, bis Toya erneut rief: „Yuuko, es geht los!“ und den Ton auf die Lautsprecher übertrug.

„…hier Mäuse, die uns unsere Kabel anfressen. Die müssen schnellstmöglich beseitigt werden“, hörte man eine angespannte Männerstimme.

„Wir schicken sofort jemanden vorbei.“

„Danke, auf Wiederhören.“

Damit war das Gespräch auch schon vorbei, es folgte sogleich ein zweites, diesmal an eine Elektrikerfirma, doch Toya schaltete bereits wieder auf stumm und begann, anhand der Firmennamen im Internet die Anschriften zu suchen.

„Ihr habt es gehört. Macht euch bereit“, trieb Yuuko die Umstehenden zur Arbeit an. Fuuya drehte sich zurück an seinen Arbeitsplatz und suchte die passenden Designs für Kuroganes und Seishiros Mitarbeiterausweise heraus, Himawari nähte den beiden jeweils noch schnell ein Mini-Funkgerät mit Peilsender in ihre T-Shirts ein und half beim Anlegen der schusssicheren Westen, Watanuki verschwand in einem der Nebenräume; vielleicht um dem irgendwohin verschwundenen Spurensicherer mitzuteilen, dass es jetzt los ging. Auch Yuuko selbst war nicht untätig. Sie sah Toya bei seiner Arbeit am Bildschirm über die Schulter und wählte gleichzeitig eine Nummer auf ihrem Handy. Anscheinend sprach sie mit der Polizeizentrale; sie gab die Namen und Adressen der beiden Firmen, die CyberCom soeben angerufen hatte, durch und wies an, das jeweilige Firmenfahrzeug abzupassen und hierher kommen zu lassen.

Nach dem Telefonat drehte Toya sich mit leicht angesäuertem Gesichtsausdruck zu ihr um.

„Ich hoffe, dir ist bewusst, dass wir hier eine verdammt schmale Gratwanderung machen, Yuuko. Du spielst nicht nur mit deiner Karriere, sondern auch mit der meiner ganzen Einheit! Noch dazu, wenn du einen wegen Mordes Verdächtigten mit der Rettungsaktion beauftragst.“

Der starre Blick wanderte weiter zu Kurogane. Er schwieg nur. Er konnte Toyas Ansicht mehr als verstehen. Von rechtlicher Seite her war es mehr als fragwürdig, was Yuuko hier tat.

„Das ist mir klar, Toya, aber anders geht es nicht“, verteidigte Yuuko sich. „Dieser Mann ist unsere beste und vielleicht einzige Chance, Ashura endlich an den Haken zu bekommen. Und an seinen Fähigkeiten solltest du ja wohl keinen Zweifel haben. Hab ein wenig Vertrauen in mich. Oder habe ich euch je in irgendetwas reingeritten?“

Stumm drehte Toya sein Gesicht wieder dem Rechner zu.

„Nein, bis jetzt lagst du immer richtig. Ich wollte dich nur noch einmal darauf hinweisen, wie brisant das hier ist. Diese Sache geht weit über unsere bisherigen Einsätze hinaus. Und über unsere Befugnisse.“

„Hier sind zwei Menschenleben in akuter Gefahr und wer weiß, wie viele weitere Leben längerfristig noch gefährdet sind“, ermahnte die selbstsichere Frau ihn. „Aber ohne deine Unterstützung schaffen wir das nicht. Kann ich auf dich zählen?“

Toya stieß einen verzweifelten Seufzer aus, seine verspannten Schultern sackten ein wenig nach unten.

„Wann konntest du das mal nicht?“
 

Zehn Minuten später war der Minivan der Elektrikerfirma da, den CyberCom bestellt hatte. Seishiro zog sich den Overall über, den die Polizisten, die den Van hergebracht hatten, ihm bereithielten, und verschwand mit diesen zum Zielort. Wenige Minuten später hielt auch der Wagen des Kammerjägers vor der Polizeiwache, wiederum stiegen zwei Polizisten aus und übergaben Kurogane seine Arbeitskleidung. Als er angezogen war, begleitete Yuuko ihn mit nach draußen.

„Viel Glück. Ich verlasse mich auf dich.“

Kurogane nickte knapp. Seine Sinne waren bis zum Zerreißen angespannt.

„Ich muss jetzt los, Vorbereitungen für die Verhandlung treffen.“

„Wenn ich es schaffe, komme ich nach“, versicherte Kurogane ihr. Der Gedanke, den Prozess vielleicht zu verpassen, behagte ihm ebenfalls nicht.

„Konzentrier dich auf die Aufgabe, die vor dir liegt, und überlass den Rest mir. Ich regle das schon“, versprach sie ihm mit einem angedeuteten Lächeln.

Kurogane nickte knapp, dann ging Yuuko zu ihrem Wagen und fuhr los. Der Polizist, der das Kammerjäger-Auto hergebracht hatte, überreichte Kurogane den Schlüssel und eine Pistole.

„Ist zwar nur zum Betäuben, aber trotzdem Vorsicht“, warnte er Kurogane.

Dieser nahm die Waffe nach einem kurzen Zögern entgegen. Natürlich würde er so einen Einsatz nicht unbewaffnet starten können, aber es war das erste Mal seit dem Zwischenfall mit seinem Kollegen, dass er eine Waffe in der Hand hielt, auch wenn sie keine scharfe Munition enthielt. Kurogane war jedoch ganz froh darüber. Auch wenn er in früheren Einsätzen stets eine scharfe Waffe dabei gehabt hatte, musste er sich eingestehen, dass sie ihn diesmal deutlich belastet hätte. Nachdem er die Pistole in einer Innentasche seines Overalls angebracht hatte, nahm er die Schlüssel und machte sich ebenfalls auf den Weg.
 

Als er bei CyberCom ankam, war der Elektriker-Van wie erwartet schon da. Kurogane parkte direkt daneben, nahm die beiden hinten stehenden Arbeitskoffer, in denen sich Mäusefallen und Giftköder befanden, und ging Richtung Pförtnerhaus.

„Ich soll mich um ein Rattenproblem kümmern“, erklärte er kurz, während er einen der Koffer abstellte, seinen Ausweis von der Brusttasche nahm und ihn dem Pförtner hinhielt. Dieser winkte ihn gleich durch.

„Wo dieses Viehzeug jetzt schon wieder her gekommen ist. Dabei wurde letztes Jahr erst überprüft, dass es keine Risse oder Öffnungen gibt, durch die die reinkommen können“, kommentierte er ratlos. So wie es aussah, war zumindest ein Großteil des Sicherheitspersonals von CyberCom bereits über die Situation informiert.

„Das kann manchmal schnell gehen. Mäuse sind gute Kletterer. An Regenrinnen oder rauen Wänden können die locker bis in die fünfte Etage klettern oder noch höher“, erklärte Kurogane tröstend. Die Informationen von diesem Watanuki waren wirklich Gold wert.

„Na Hilfe! Hoffentlich haben die nicht schon Nester gebaut!“

„Ich schau’s mir mal an.“

Damit ging Kurogane an ihm vorbei und betrat das Gebäude. Im Eingangsbereich wurde er bereits von einem weiteren Sicherheitsangestellten erwartet.

„Kato, guten Tag“, stellte Kurogane sich vor.

„Vielen Dank, dass Sie so schnell kommen konnten. Diese Viecher fressen uns die Kabel an! Zu den Laboren haben wir erst einmal alle Zugänge verschlossen, damit sie dort nicht auch noch Schaden anrichten“, erzählte der Mann drauflos. Auch er wirkte mehr als Besorgt wegen der plötzlichen ‚Rattenplage’.

Es schien noch niemand Verdacht zu schöpfen. Kurogane war ein wenig erleichtert.

„Auch die Klimaanlagen und Durchbrüche für Kabel?“, fragte Kurogane nach.

„Die auch.“

„Ich kontrollier das später trotzdem lieber mal. Durch dünne Materialien können sich Nagetiere sehr schnell durchbeißen. Und ewig kann die Belüftung auch nicht ausfallen.“

Kurogane machte sich auf den Weg Richtung Aufzug, der Sicherheitstyp begleitete ihn.

„Wie gehen Sie jetzt vor?“

„Ich fange oben an, Köder auszulegen und Fallen aufzustellen, und arbeite mich dann Schritt für Schritt nach unten vor. So ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine entwischt, am geringsten.“

Hatte dieser Typ jetzt etwa vor, ihm die ganze Zeit an den Fersen zu kleben? Den musste er irgendwie loswerden. Sie fuhren gemeinsam bis in den obersten Stock. Dort inspizierte Kurogane zuerst den Gang und registrierte beiläufig, dass die roten Lämpchen der Alarmanlagen hier oben gänzlich fehlten. Allem Anschein nach hatte Toya inzwischen die restlichen Kameras auf dieser Etage ausgeschaltet. Oder die Mäuse hatten tatsächlich ein wenig nachgeholfen. Egal, was es war, es kam ihm jedenfalls sehr entgegen. Allerdings erklärte es auch, weshalb die Security ihm diesen Wachhund ans Bein gebunden hatte. Hoffentlich konnte Seishiro die da unten eine Weile beschäftigen.

Als Kurogane mit dem Inspizieren und Auslegen der Köder im Flur fertig war, wagte er einen Versuch, in die Bürozimmer hineinzukommen.

„Haben Sie Schlüssel für diese Räume?“

„Tut mir leid, aber da haben nur die Chefs Zutritt.“

Kurogane hatte geahnt, dass es nicht so leicht werden würde.

„Dann können wir nur hoffen, dass sich hier nicht irgendwo schon eine Mäusefamilie häuslich eingerichtet hat“, warnte er skeptisch.

„Ich hoff’s auch. Diese Biester rauben uns hier echt grad den letzten Nerv“, stimmte der Sicherheitsmann mit einem leicht gequälten Gesichtsausdruck zu.

„Kann man eine Genehmigung zum Betreten der Räume einholen?“, hakte Kurogane nach.

„Heute wahrscheinlich nicht. Die Chefs sind zurzeit alle unterwegs.“

Dann würde er sich etwas anderes einfallen lassen müssen. Auf jeden Fall musste er diesen Typen loswerden. Er schien Kurogane nicht zu misstrauen, doch das hielt ihn augenscheinlich auch nicht davon ab, seine Pflichten ernst zu nehmen. Kurogane musste versuchen, ihn stärker für sich zu gewinnen.

„Ich lass Ihnen nachher ein Spray da, um Mäuse zu vertreiben. Das können Sie bei Bedarf für die Räume verwenden. Ist gesundheitlich unbedenklich, weil es nur mit Duftstoffen arbeitet, die die Nager nicht ausstehen können. Allerdings kann ich ihnen nicht garantieren, dass es zu hundert Prozent wirkt. Manche Mäuse sind hartnäckiger als andere.“

Der Mann lächelte Kurogane dankbar an.

„Das ist wirklich nett. Wie lange hält der Effekt denn?“

„Ungefähr zwei Wochen. Sie sollten möglichst gründlich sprühen, vor allem in den Ecken. Direkten Kontakt mit Lebensmitteln sollten Sie allerdings vermeiden. Dort sind dann eher Mäusefallen zu bevorzugen…“

So erklärte Kurogane dem Sicherheitsdienst die Verwendung des Sprays und einiges über die verschiedenen Fangmethoden, während sie in die 15. Etage hinab stiegen und dort weitermachten. Hier konnten sie nun auch an einige Bürotüren klopfen und die Räume inspizieren – nur brachte Kurogane das herzlich wenig. Ihm blieb wohl nichts anderes übrig. Er musste seinen Begleiter außer Gefecht setzen, sprech- und bewegungsunfähig machen und ihn dann irgendwo einsperren, wo man ihn hoffentlich nicht so schnell finden würde.

„Hier haben die Kameras vorhin übrigens eine Maus rauskommen sehen“, riss sein Begleiter Kurogane aus seinen Gedanken und wies auf eine schlichte, unbeschriftete Tür vor ihnen. Kurogane öffnete sie und sah hinein. Eine dunkle Abstellkammer. Und schräg gegenüber befand sich eine Teeküche. Ein idealer Platz für Mäuse.

„Wann ist die Maus denn hier raus gekommen?“, fragte Kurogane nach.

„Vor einer Stunde ungefähr – IIIIIIEH!“

Der Mann stieß einen spitzen Schrei aus und sprang einen Schritt zurück, als wie aufs Stichwort eine weitere Maus zwischen den Eimern hervorgeschossen kam und in die Küche flitzte. Kurogane musste sich ein Grinsen verkneifen. Sein Begleiter hatte doch tatsächlich Angst vor Mäusen.

„Ich hasse diese Viecher!“, zischte dieser wie zur Bestätigung. Kurogane erkannte seine Chance. Er platzierte eine Falle und einen Köder in der Besenkammer und hielt dann seinem Begleiter einige weitere Utensilien hin.

„Sie können mir nicht zufällig helfen, oder? Diese Firma ist so riesig, dass ich allein mindestens den halben Tag dafür brauche. Zu zweit wären wir wesentlich schneller.“

„Warum hat man Ihnen denn keinen Kollegen zur Seite gestellt? Die Leute wissen doch, wie groß unsere Firma ist?“, fragte der Sicherheitsdienst ein wenig hilflos.

„Ging leider nicht anders. Diese Viecher scheinen im Moment überall zu sein. Der Chef ist sogar schon dabei, ein paar Kollegen aus ihrem Urlaub zu holen, weil das Telefon heut einfach nicht still steht. Ist echt die Hölle los“, redete Kurogane sich mit gespielt wehleidiger Mine heraus.

„Ihren Job will ich echt nicht haben, ganz ehrlich“, antwortete sein Wachhund, sein Gesicht einigen Hauch heller als noch vor einigen Minuten.

„Na wenigstens hat man mich nicht zu den Kakerlaken geschickt“, setzte Kurogane noch eins drauf und konnte richtig sehen, wie nun auch der letzte Rest Farbe aus dem Gesicht seines Gesprächspartners wich.

„Also wie gesagt, wenn wir das zusammen machen könnten, könnten wir das Rattenproblem wesentlich schneller aus der Welt schaffen“, wiederholte Kurogane noch einmal sein Angebot vom Beginn.

„Aber ich hab doch gar keine Ahnung, was ich machen soll!“, antwortete der Mitarbeiter etwas perplex.

Perfekt! Endlich hatte er angebissen!

„Ach, so schwer ist das nicht“, winkte Kurogane ab. „Sie haben doch gesehen, wie ich die Fallen oben ausgelegt habe. Die Köder müssen in dunklen Ecken oder an Öffnungen platziert werden, wo die Mäuse vorbei kommen könnten. Die Fallen kommen in die Nähe von Lebensmitteln, in Teeküchen oder in die Nähe von Abfalleimern zu Beispiel. Nicht zu nah ran an das gute Essen, lieber ein bisschen weiter nach vorn und weniger schwer erreichbar, sonst lassen die Mäuse den Köder in der Falle vielleicht links liegen. Das war’s eigentlich schon.“

Der Mann zögerte noch einen Moment und betrachtete die Gegenstände, die Kurogane ihm noch immer hinhielt, dann nickte er und nahm ihm die Sachen ab.

„Okay.“

Kurogane nickte ihm dankend zu.

„Dann mach ich dieses Stockwerk fertig und geh dann runter in den 14. Können Sie im 13. weitermachen? Wenn was ist, wissen Sie ja, wo sie mich finden“, schlug er vor.

„Einverstanden.“

Damit machte der Sicherheitsbeamte sich auf den Weg. Kurogane fiel ein Stein vom Herzen. Um nicht zu sehr aufzufallen, widmete er sich erst einmal weiter seiner Aufgabe als Kammerjäger und stellte noch eine Mäusefalle in der Teeküche auf. Danach warf er einen Blick zurück in den Gang. Es war ruhig, niemand war im Flur. Jetzt oder nie!

Die Frage war nur: Wie kam er unbemerkt zurück in den 16. Stock? Die Kameras auf dieser Etage funktionierten noch, das hieß, er würde seine Tarnung als Kammerjäger auffliegen lassen, wenn er allein dort hoch spazierte. Er versuchte es mit einem Umweg über die Toilette. Dort waren in der Regel keine Kameras installiert. Kurogane musste sich bis zum Äußersten zwingen, nicht einfach loszustürmen und nach Fye zu suchen. Er wusste, es würde diesem letztendlich nur schaden, wenn er jetzt unüberlegt handelte, doch es war trotzdem unendlich schwer. Deswegen wurden normalerweise keine Angehörigen auf solche Einsätze geschickt.

Glück gehabt. Auch hier bildeten die Toiletten keine Ausnahme – es gab keine Überwachungskamera. Und es gab ein großes Fenster. Kurogane öffnete das bereits einen Spalt breit offen stehende Fenster ganz und sah sich um. Diese Seite des Gebäudes war der Hauptstraße abgewandt. Ungefähr drei Meter über sich entdeckte er ein weiteres Fenster, das ebenfalls nach unten hin angeklappt war. Wahrscheinlich wieder die Herrentoilette. Er sah sich noch einmal um. In der Umgebung gab es zwar viele Wohnhäuser, doch keines reichte auch nur annähernd an die Größe des CyberCom-Gebäudes heran. Auch auf den kleinen Nebenstraßen herrschte nicht viel Betrieb. Wenn er schnell genug war, würde man ihn wahrscheinlich nicht bemerken. Er holte ein Seil hervor und befestigte an einem Ende einen Haken.

‚Bitte lass niemanden oben auf der Toilette sein’, schickte er ein kurzes Stoßgebet gen Himmel, dann schwang er das Seil. Es flog durch den Fensterspalt und hakte sich dahinter fest. Der Haken saß fest. Blieb nun die Frage: Was machte er mit seiner Tasche? Am besten hier in einer der Toiletten verstecken. Selbst wenn er sie nach oben mitnahm, wäre er so oder so verdächtig, weil er allein dort herumlief. Also stellte er sie in die nächstbeste Toilette, verriegelte diese und kletterte dann über den Spalt über der Tür zurück nach außen. Nun befestigte er das andere Ende seines Seils an seinem Gürtel und stieg aus dem Fenster. Sich streckend, konnte er bereits gut die Hälfte der Distanz überwinden. Mit einigen weiteren kräftigen Klimmzügen am Seil erreichte er das obere Fenster. Ein vorsichtiger Blick hindurch bestätigte ihm, dass die Toilette im Moment leer war. Wahrscheinlich hatte der Sicherheitsdienst vorhin die Wahrheit gesagt und die Chefetage war im Moment wirklich menschenleer. Am Fensterrahmen zog er sich weiter hoch, bis er ein Bein auf der schmalen Fassung des Fensters abstützen und es durch die schmale Öffnung schieben konnte. Dann schob er das Fenster mit seinem Rücken weiter auf, so dass er hindurch passte. Innen angekommen, verstaute er Seil und Haken wieder in seinem Overall und verließ den Raum. Schräg rechts gegenüber von sich sah er die Treppe und den Fahrstuhl, links erstreckte sich ein Flur mit mehreren Türen. Kurogane bog nach links ein. Die Räume in der Nähe des Aufzugs waren alle mit Namensschildern beschriftet. Hier brauchte er gar nicht erst nachzusehen. Blieben noch drei unbeschriftete Türen am Ende des Gangs, zwei links und eine rechts von ihm. Wenn Chii sich bereits seit mehr als einer Woche hier aufhielt, ohne erkannt zu haben, dass sie entführt worden war, musste Ashura ihr viel Freiraum zugestanden haben.

Kurogane entschied sich für die vordere der linken Türen. Mit einem Messer löste er vorsichtig die Abdeckung des Zahlenschlosses und das Eingabefeld. Er musste sich beeilen. Er wusste weder, wo Ashura im Moment steckte, noch wie es Fye inzwischen ging. Dass er der CyberCom-Chef nicht hier war, hieß mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass er sich bei Fye aufhielt. Noch problematischer aber wäre es, wenn er gerade auf dem Weg hierher wäre. Das würde den gesamten Plan in höchstem Maße gefährden.

Endlich gelang es Kurogane, die Tasten so weit zu lösen, dass die dahinter liegenden Kontakte und Kabel zum Vorschein kamen. Er fand das Kabel, auf das er es abgesehen hatte, und stellte mit seinem Schraubenzieher eine Verbindung zwischen diesem und einem der Kontakte her. Ein leises Klicken zeigte an, dass die Türverriegelung sich gelöst hatte. Kurogane drückte die Klinke herunter und trat ein. Der Raum, den er vorfand, wirkte eher wie ein Wohnzimmer und weniger wie ein Büro. Um einen runden Tisch standen drei Sessel, die linke Wand füllten Regale, rechts gab es sogar einen Fernseher sowie eine Tür in den Nebenraum. Kurogane wollte gerade darauf zugehen und nachsehen, was sich dort befand, als eine Silhouette im Türrahmen auftauchte. Seine rechte Hand schnellte reflexartig in Richtung der Pistole, hielt jedoch in der Bewegung inne, als er erkannte, wen er dort vor sich hatte: Er hatte Chii gefunden.

„Kann ich Ihnen helfen…?“, fragte das Mädchen unsicher.

„Ich bin es, Kurogane“, gab er sich zu erkennen.

„Kuro…gane? Was? Aber…wie?“

Sie verstand offensichtlich überhaupt nicht, was um sie herum vorging. Aber für lange Erklärungen hatte Kurogane keine Zeit.

„Chii, bist du verletzt?“, ignorierte er ihre Frage.

„N- nein, mir geht es gut…“, gab sie, noch immer verunsichert, zurück.

„Gut. Komm mit, wir müssen hier so schnell wie möglich verschwinden. Fye und du, ihr wurdet entführt.“

„Fye ist da? Aber – entführt? Ich wurde nicht entführt, mir geht es gut.“

„Ashura ist ein Mörder, der viele Menschen auf dem Gewissen hat. Fye hat davon erfahren und Ashura hat dich benutzt, um ihn hierher zu locken“, klärte er sie über das Wichtigste auf. Das war vielleicht nicht die schonendste Art, aber für mehr hatte er jetzt wirklich weder Zeit noch Nerven.

Chii schlug die Hände vor den Mund und schüttelte mit weit aufgerissenen Augen den Kopf.

„Herr Ashura soll Menschen getötet haben? Das kann ich nicht glauben! Er ist so nett und verständnisvoll…“

„Glaub, was du willst, aber je länger wir hier trödeln, desto größer ist die Gefahr, in der Fye schwebt. Er könnte bereits tot sein!“

Er wusste, es war vor allem Chii gegenüber grausam, aber Kurogane hatte einfach keine Zeit für lange Erklärungen. Die Uhr tickte. Und endlich löste Chii sich auch aus ihrer Starre und kam zu ihm herüber – auch wenn sie immer noch reichlich verwirrt dabei aussah.

„Wenn ich Fye damit irgendwie helfen kann, folge ich dir, ganz egal wohin“, versprach sie. Ihre Unschuld hatte das Mädchen vor Ashuras grausamen Methoden beschützt und nun half sie Kurogane, schnell handlungsfähig zu bleiben, aber dennoch fand er es bedenklich, dass sie so weltfremd war. Doch das war jetzt nicht wichtig. Laut dem Gebäudeplan müssten hier irgendwo der zweite Aufzug und die Treppe sein, die die sechzehnte Etage mit dem untersten Kellergeschoss verbanden. Ein kurzer Blick in das Nebenzimmer bestätigte ihm, dass es hier keinen Zugang gab. Vom Gang aus hatte er ebenfalls keinen Ausgang erkennen können. Blieb also nur noch der Raum gegenüber. Kurogane knackte das Schloss auf dieselbe Weise wie das letzte und trat, dicht gefolgt von Chii, ein. Der Raum war deutlich schlichter eingerichtet als der letzte und schien eher als Büro genutzt zu werden. Hinten war je an der linken und rechten Wand eine Tür eingelassen. Kurogane steuerte die linke an – und stand im Treppenhaus. Direkt daneben war der Aufzug. Volltreffer. Eine Anzeige, wo der Aufzug sich gerade befand, gab es nicht. Kurogane konnte nicht das Risiko eingehen, ihn erst zu rufen. Mit ein paar großen Schritten war er wieder im angrenzenden Büro und durchsuchte die Schubladen am Schreibtisch. Wenn das hier Ashuras privater Aufzug war, dann sollte hier irgendwo auch ein Notöffner sein. Kurogane fand ihn in der obersten Schublade des Schreibtischschranks: einen einfachen Dreikant. Zurück am Aufzug schob er den Dreikant in die dafür vorgesehene Vorrichtung über den Türen, woraufhin diese sich sanft öffneten. Wie erwartet, war der Schacht leer. Mit einem kleinen Strahler versuchte Kurogane, den Aufenthaltsort des Fahrstuhls auszumachen, doch das Licht verlor sich in der Tiefe. Wahrscheinlich war der Aufzug im Moment im untersten Geschoss. Er zog ein Band aus dem Gehäuse des Strahlers, band es sich um den Kopf und befestigte es an der anderen Seite der Vorrichtung. Dann zog er die Arbeitshandschuhe an, die an seinem Gürtel befestigt gewesen waren und wandte sich schließlich Chii zu.

„Du musst dich jetzt mit aller Kraft an mir festhalten, verstehst du? Und schau nicht runter. Am besten machst du die Augen zu.“

„Müssen wir da etwa runterklettern? Warum nehmen wir nicht die Treppe?“

Es war klar, dass ihr diese Idee nicht gefallen würde, doch es ging nicht anders.

„Das dauert zu lange. Und da sind Überwachungskameras. Vertrau mir!“

„…Okay.“

Damit kletterte sie auf seinen Rücken und klammerte sich mit ihren Armen und Beinen um seinen Oberkörper. Kurogane nahm ein weiteres Band aus einer seiner Hosentaschen, band Chii, so gut es ging, an sich fest und schüttelte sich einige Male, um sicher zu gehen, dass sie ausreichend gesichert war.

„Okay, es geht los. Pass auf, dass du mir nicht die Luft abdrückst“, warnte er sie, dann sprang er ab, umklammerte die dicken Seile des Fahrstuhls und rutschte daran herab. Chii entkam ein kurzer, erstickter Laut, doch dann war sie still. Kuogane musste vorsichtig sein, dass sie nicht zu schnell fielen. Die Schmiere an den Drahtseilen machte es schwierig, genügend Reibung aufzubauen und ihre Geschwindigkeit zu kontrollieren, und seine Kleidung nahm mit jedem Meter, den sie zurücklegten, mehr Schmiere an. Auf dem Weg nach unten fiel Kurogane auf, dass sie an nicht einer einzigen Tür vorbei kamen. Wahrscheinlich war der Fahrstuhl darauf ausgelegt, nur im obersten, im untersten und im Erdgeschoss zu halten. Bald konnte er unter sich ein schwaches Licht wahrnehmen. Das musste die Tür im Erdgeschoss sein. Kurogane verstärkte den Halt seiner Beine und des linken Arms so gut er konnte und griff blitzartig mit seiner rechten Hand nach dem Haken, den er nach seiner Kletteraktion am Gürtel befestigt hatte, und rammte ihn in die Drahtseile. Knapp fünf Meter weiter unten spannte das Seil an seinem Gürtel und sie kamen mit einem kurzen Ruck endlich zum Stillstand. Chii zuckte an seinem Rücken zusammen, das Gesicht fest in seinem Nacken versteckt und am ganzen Körper zitternd, doch für die Umstände beherrschte sie sich erstaunlich gut.

„Gleich geschafft“, beruhigte Kurogane sie und besah sich ihre genaue Position. Die Schachttür endete gut einen halben Meter über ihnen. Den Stopp hatte er relativ gut abgepasst. Um die Türen herum war die hydraulische Schließvorrichtung angebracht. Die würde ihnen genug Halt bieten. Mit einem Ruck stieß Kurogane sich von den Seilen ab und schwang sich hinüber zu den dicken Schläuchen und Bolzen der Hydraulikvorrichtung. Wieder ein kurzes Aufschrecken von Chii, doch gleich danach war sie wieder still, starr. Unter einem Hosenbein zog Kurogane ein Messer hervor und stach den Schlauch, der zur rechten Fahrschachttür führte, auf. Mit einem lauten Zischen verschwand der Überdruck nach draußen. Nun konnte Kurogane die Tür problemlos aufschieben und aus dem Schacht klettern. Mit einem Messer zerschnitt er kurzerhand die Bänder, mit denen er Chii an sich gebunden hatte, merkte aber, wie sie im selben Moment umzukippen drohte und drehte sich blitzschnell um, das leichenblasse Mädchen auffangend und an sich drückend. Dass sie jetzt genauso vollgeschmiert war wie er selbst, war erst einmal uninteressant. Jetzt, wo sie aus dem Schacht raus waren, schien es ihr langsam zu dämmern, wie ernst die Lage war und wie gefährlich das, was sie da gerade gemacht hatten, gewesen war. Das Zittern ihres Körpers steigerte sich zu einem Beben, begleitet von mehreren Schluchzern. Kurogane brauchte ihr Gesicht nicht sehen, um zu wissen, dass sie weinte. Vorsichtig zog er seine Handschuhe aus und strich ihr über ihre glatten Haare.

„Sh… Alles wird gut. Du bist jetzt sicher und Fye hole ich auch gleich ab. Du kannst hier gleich raus und direkt zu einem Polizisten gehen. Es warten viele ganz in der Nähe“, versuchte er sie zu beruhigen. Das Zittern wurde nicht weniger, aber ein Nicken an seiner Schulter signalisierte ihm, dass sie verstanden hatte. Kurogane zwang sich, noch zwei, dreimal tief durchzuatmen, dann löste er sich von dem Mädchen, wischte sanft die Tränenspuren auf ihren Wangen weg und nickte ihr Mut machend zu.

Es wurde Zeit, dass er sich um seine Umgebung kümmerte, vor allem die Ausgangstür. Er sah sich um. Das Treppenhaus sah hier genauso aus wie oben, nur mit dem Unterschied, dass es zwei Türen gab, von denen die eine direkt nach draußen führte. Eine kurze Inspektion genügte jedoch und er wusste, dass die Tür mit einem starken Sicherheitsschloss und einer Alarmanlage ausgestattet war. Beides zusammen, vor allem das Sicherheitsschloss, waren ein ernstzunehmendes Hindernis. Das konnte er nicht so einfach ausschalten. Ihm reichte die Zeit nicht! Er griff unter seinem Arbeitspullover nach dem Funkgerät, das Himawari ihm kurz vor der Abfahrt eingenäht hatte.

„Ich hab das Mädchen, aber die Hintertür bekomme ich so schnell nicht einfach auf. Könnt ihr sie hier rausholen?“

„Alles klar, verlass dich auf uns. Versteck sie solange irgendwo in der Nähe!“, hörte er Toyas Antwort durch den Lautsprecher.

Kurogane wandte sich an Chii, die verängstigt hinter ihm stand.

„Tut mir leid, Kleines. Ich kann die Tür leider nicht öffnen, das ist zu gefährlich. Aber hier kommt gleich jemand von der Polizei, der dich raus holt. Bis dahin musst du dich verstecken.“

Sie nickte folgsam.

Hier im Erdgeschoss sah er keinerlei Möglichkeit, sie kurzzeitig in Sicherheit zu bringen, also nahm er sie noch zwei Etagen mit nach unten. Laut Gebäudeplan war hier das Archiv und damit die Chance auf ein gutes Versteck deutlich höher. Auch hier gab es eine Tür und sie war zum Glück offen und führte in eine Lagerhalle, die bis zur Decke hin gefüllt war mit Regalen und Schränken. Allerdings besaß sie innen keine Klinke oder sonst irgendeinen Öffnungsmechanismus und war auch nur schwer von der umgebenden Wandverkleidung zu unterscheiden. Definitiv ein Durchgang nur für Eingeweihte. Bevor sie weiter in den Raum hineingingen, stopfte Kurogane daher seine verschmierten Handschuhe in die Ecke der Türöffnung und sicherte so, dass sie nicht zufallen konnte. Dann besah er sich die verschiedenen Schränke und fand einige, die leer waren und genug Platz für einen Menschen boten.

„Versteck dich hier drin, sei ganz leise und beweg dich nicht“, wies er Chii an. Diese nickte nur stumm und mit großen Augen und folgte Kuroganes Anweisung. Der löste daraufhin sein Funkgerät von seinem T-Shirt und gab es ihr.

„Hier, damit findet dich die Polizei auf jeden Fall. Pass gut darauf auf.“

Sie nahm das kleine Gerät an sich und drückte es fest an ihre Brust, wie einen Schatz. Kurogane warf ihr einen aufmunternden Blick zu.

„Ich mach die Tür jetzt zu, aber ich schließe nicht ab. Zur Not kannst du jederzeit aus dem Schrank rauskommen“, warnte er sie vor. Wieder ein abgehacktes Nicken. Als Kurogane sich bereits aufgerichtet hatte und dabei war, seine Ankündigung umzusetzen, unterbrach ihn Chii mit schwacher Stimme: „Bitte rette Fye.“

Kuroganes Gesichtszüge wurden ernst. Er schaffte es nicht, ein Wort herauszubringen, also nickte er nur knapp. Versprechen konnte er es ihr nicht. Er wusste ja nicht einmal, ob er ihn überhaupt rechtzeitig finden würde. Doch an diese Möglichkeit wollte er gar nicht denken, konnte es nicht. Zu sehr lähmte sie ihn, ließ pure Verzweiflung in ihm aufsteigen. Fuumas unpassender Kommentar kam ihm wieder in den Sinn.

‚Da hat er wohl seine Leichen im Keller.’

Ihm wurde schlecht. – Nein! Er durfte sich jetzt nicht so gehen lassen! Er musste sich zusammenreißen. Das war Fyes einzige Chance. Kurogane sprintete los. Das letzte Untergeschoss war nur noch ein Stockwerk entfernt.
 

Das Licht hier ganz unten war spärlich. Verglichen mit dem Rest des Gebäudes betrat man eine ganz andere Welt. Auch hier reihte sich Tür an Tür, doch keine von ihnen war beschriftet. Der Korridor lag wie ausgestorben da. Kurogane schlich leise an den ersten Türen vorbei und lauschte angestrengt, ob dahinter irgendein Ton zu vernehmen war, doch er hörte absolut nichts. Vorsichtig drückte er eine der Klinken hinunter – und die Tür schwang geräuschlos auf. Der Anblick dahinter verwunderte Kurogane angesichts der düsteren Atmosphäre des Flures etwas. Hier gab es nur einen weiteren Büroschreibtisch und haufenweise Aktenschränke, alles bedeckt mit dem Mief und Staub von mindestens zwei, drei Jahren. Diesen Raum hat definitiv schon lange niemand mehr betreten. Bei dem nächsten und übernächsten Raum machte er genau die gleiche Entdeckung. Auch jede weitere Tür brachte nichts Neues zum Vorschein.

Kurogane wurde langsam ungeduldig. In keinem dieser Räume war ganz offensichtlich je irgendeine Person festgehalten worden. Das waren alles nur Abstellkammern für Material, das nicht oder nicht mehr benötigt wurde. Aber Fye musste hier unten irgendwo sein! Niemand machte sich die Mühe, eine ganze Etage derart zu verstecken, wenn er darin nichts zu verbergen hatte!

Um ein Haar hätte Kurogane die hintere Tür nicht bemerkt, die von dem Raum ausging, in den er gerade hineinsah, hätte ihn nicht im letzten Moment ein leises Geräusch darauf aufmerksam gemacht, dass es hier mehr geben musste als nur eingestaubte Möbel. Er hielt in seiner Bewegung inne und spähte intensiver in die Düsternis hinein. Da fiel es ihm auf: Der Boden zu seinen Füßen, den das schwache Licht vom Flur gerade so noch erreichte, war ungleichmäßig mit Staub bedeckt. Unter normalen Umständen hätte man einfach denken können, dass hier vor kurzem ein Möbelstück hinzugekommen oder entfernt worden war, doch in der aktuellen Situation war die Tragweite dieser Entdeckung weit größer.

Leise betrat Kurogane den Raum. Er ließ die Tür hinter sich ein Stück weit angelehnt, um wenigstens die Umrisse der Gegenstände im Raum halbwegs erkennen zu können.

Wieder ein Laut – eine Art Keuchen oder Husten, aber so leise, dass er es definitiv überhört hätte, hätte er nicht so angestrengt in die Dunkelheit hineingelauscht. Kein Zweifel, hier war er richtig. Hier war Fye. All seine Sinne spannten sich an, sein Blick fixierte die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. So schnell es in der Dunkelheit möglich war, versuchte er, sich dem Ort zu nähern, von dem aus er das Geräusch wahrgenommen hatte. Links, verdeckt durch einen weiteren großen Aktenschrank, fand er sie schließlich, die Tür, die in einen weiteren Raum führte. Kurogane tastete sie vorsichtig ab; sehen konnte er in dieser Ecke praktisch gar nichts mehr. Sie fühlte sich an wie eine gewöhnliche Holztür, doch er war sich sicher, dass sie einen Metallkern haben musste, sonst hätte sie niemals so gut Geräusche schlucken können.

Kurogane fand die Klinke, doch konnte er es wagen, sie einfach runterzudrücken und die Tür zu öffnen? Er durfte auf keinen Fall riskieren, jetzt entdeckt zu werden. Nicht zu handeln, stand jedoch ebenfalls außer Frage.

Wieder ein Laut, diesmal ein Röcheln. Kuroganes Magen verkrampfte sich, genauso wie seine Hand um der Klinke. Er drückte. Das Türschloss gab mit einem leisen Knacken nach. Nun waren die Geräusche aus dem Innern wesentlich deutlicher zu hören. Ein schwaches Stöhnen, rasselnder Atem. Schritte. Dann eine Stimme.

„Hältst du mich wirklich für so dumm zu glauben, dass du mit einem Armeeoffizier anbandelst, ohne dich bei ihm auszuweinen? Einem Offizier der Spezialeinheit noch dazu?“, drang eine weiche und doch eisig kalte Männerstimme an Kurganes Ohr. Ashura. Das war also Ashura. Und er sprach von ihm. Er hatte Fye seinetwegen hierher gelockt!

Eine Welle von Schuldgefühlen drohte ihn zu ersticken. Sein rechter Arm zuckte, seine Hand zitterte vor unterdrückter Anspannung.

‚Reiß dich zusammen!’, rief Kurogane sich zur Ordnung, schloss einen Moment die Augen und atmete tief ein. Er musste sich auf die Tatsachen konzentrieren. Er hatte Fye gefunden. Fye lebte. Ashura war bei ihm, aber er hatte ihn noch nicht bemerkt. Vorsichtig öffnete er die Tür ein Stück weiter, einzig darauf bedacht, keinen Laut zu verursachen. In der Zwischenzeit ging das einseitige Verhör im Innern des Raumes weiter.

„Fye, wenn du tatsächlich geglaubt hast, dass ich tatenlos zusehe, wie du meine Firma, mein Leben kaputt machst, bist du dümmer, als ich dachte. Und undankbar noch dazu! Da gestatte ich dir sogar zu gehen und du nutzt meine Güte so schamlos aus!“

Es folgte ein harter Schlag.

„ARGH!!“

Wieder Husten, Keuchen.

‚Tief durchatmen, Kurogane, tief durchatmen’, ermahnte er sich. Er schob seinen Oberkörper durch den Türspalt, doch noch immer konnte er nicht viel vom Innern des Raumes sehen. Links erstreckte sich nichts weiter als eine kahle Betonwand bis zum anderen Ende des Raumes, rechts von ihm führte eine weitere Wand noch knapp einen Meter geradeaus in den Raum hinein, bevor sie um die Ecke bog. Dieser Raum musste vom Grundriss her also direkt hinter dem angestaubten Büro liegen, durch sehr dicke Wände von diesem abgetrennt. Diese Wand schluckte nicht nur jegliches Geräusch, sie nahm Kurogane auch vollständig die Sicht. Gleichzeitig bedeutete das aber auch, dass Ashura ihn in seiner jetzigen Position ebenfalls nicht sehen konnte. Er schlüpfte gänzlich durch den Spalt und presste seinen Körper eng an die Wand. Aus der Innentasche seiner Jacke holte er einen kleinen metallnen Handspiegel hervor. Zum Glück war das Glas noch nicht beschädigt. Er drehte den Spiegel so, dass er sich einen Eindruck von dem Raum machen konnte. Er war nicht sonderlich groß und sehr kahl. An der hinteren Wand, ihm gegenüber, standen einige große Kisten, eine davon offen. Den Inhalt konnte Kurogane jedoch nicht erkennen. In der Mitte des Raumes stand ein großer, schwerer Metalltisch, daneben auf dem Boden sah er einen Eimer. Weiter rechts konnte er Ashuras lange, schwarze Haare und seinen Rücken ausmachen. War er bewaffnet? Und womit? In welchem Zustand befand Fye sich? Es wurmte Kurogane, dass er selbst mit Hilfe des Spiegels einfach nicht mehr erkennen konnte. Als der Firmenchef sich plötzlich umdrehte, zog Kurogane den Spiegel blitzschnell zurück. Ob er ihn bemerkt hatte?

Doch die Schritte kamen nicht in seine Richtung und stoppten auch fast sofort wieder. Ein Geräusch wie das Schöpfen von Wasser ertönte, dann wieder zwei Schritte und ein Platschen, gefolgt von Fyes kraftlosem Husten.

„Ich habe dir nicht erlaubt, schon zu schlafen“, ertönte Ashuras eisige Stimme erneut. „Wir sind hier nicht eher fertig, ehe du alle meine Fragen beantwortet hast. Und wenn du nicht freiwillig mit mir sprichst, werde ich nachhelfen.“

Er ließ eine kurze Pause, doch bis auf Fyes Keuchen und Stöhnen war nichts zu hören.

„Oder wollen wir lieber deine kleine Freundin mit hinzu holen? Zu dritt macht es doch viel mehr Spaß.“

„Chii…nicht…“, keuchte Fye heiser und kraftlos. Kuroganes linke Hand wanderte zu dem Messer in seiner Beintasche und umklammerte den Griff.

„Dann wird es Zeit, dass du redest.“

Diesmal war die Stimme des Firmenchefs kalt wie Eis.

„Er…weiß…nichts…wirklich“, wimmerte Fye schwach.

Ein harter Aufschlag ertönte, begleitet von einem weitern schmerzerfüllten Aufschrei Fyes.

GENUG!!!

Noch ehe Kurogane seine nächsten Schritte überhaupt richtig durchdacht hatte, sprang er auf, zog sein Messer und stürzte sich auf sein Ziel. Ashura schien so überrascht, dass er kaum Zeit hatte zu reagieren und Kuroganes rechte Faust praktisch ungebremst in seinem Gesicht einschlug. Die Wucht des Aufpralls riss den Firmenchef von seinen Füßen und ließ ihn gegen die nächste Wand prallen. Kurogane setzte sofort nach und wollte bereits zu einem weiteren Schlag ausholen, doch obwohl sein Gegner so schmächtig wirkte, war er erstaunlich zäh und schneller wieder auf den Beinen, als er es ihm zugetraut hatte, und holte seinerseits sofort zu einem Gegenangriff aus. Kurogane ließ die Faust knapp an sich vorbeigehen, griff mit seiner rechten Hand danach und nutzte den Schwung, um seinen Gegner aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er wollte mit dem Messergriff in seiner linken Hand einen Schlag nachsetzen, doch Ashura drehte sich noch im Fallen und versuchte, Kurogane mit seiner freien Hand zu greifen. Blitzschnell drehte dieser das Messer in seiner linken Hand und schnitt Ashura mit der Klinge die Handfläche auf. Der hisste vor Schmerz auf und zog seine Hand zurück. Nun war er völlig offen. Kurogane nutzte die Chance und schlug seinem Gegner blitzschnell gegen die Pulsader, so dass dieser taumelte. Sofort setzte er einen weiteren Schlag gegen die Schläfe nach und sein Gegner klappte bewusstlos zusammen.

Auch wenn er Ashura so schnell wie möglich bewegungsunfähig machen musste, konnte er seinem ersten Impuls nicht widerstehen und blickte sich nach Fye um. Dieser hing, in sich zusammengesackt, in einem Stuhl, an Händen, Hals, Bauch und Füßen daran gefesselt. Sein Körper sowie Wand und Boden in seiner Umgebung waren mit Blut verschmiert. Die Menge sah bedenklich aus.

„Fye!“

Mit einem Satz war Kurogane bei ihm und begann, die Lederriemen zu lösen.

„Fye!“

Wieder erhielt er keine Reaktion. Die Fesseln an den Händen hatte er endlich gelöst, als nächstes kümmerte er sich um die Füße. Fyes Beine mussten unter der Hose ebenfalls schlimm aussehen. Sie war von Blutflecken und Rinnsälen durchtränkt und teilweise aufgerissen, einige hell blutende Wunden freilegend. Kurogane musste dem schier überwältigenden Drang widerstehen, an Fyes Peiniger keine Lynchjustiz zu vollziehen. Egal, wie schwer der Fall, wie kaltblütig das Ziel war, es war seine oberste Pflicht, Schäden auf ein Minimum zu reduzieren, vor allem bei Personen.

Der Riemen am Bauch war nun ebenfalls gelöst und schließlich wandte Kurogane sich der Fessel am Hals zu. Dabei bekam er erstmals einen genaueren Blick auf Fyes Gesicht. Er hatte in seinem Beruf schon viele Formen von Gewalteinwirkung gesehen, doch was er sah, erschrak ihn zutiefst. Das ganze Gesicht war von unzähligen Blutergüssen übersät und geschwollen. Die meisten Sorgen bereitete Kurogane aber Fyes linkes Auge. Es war vollkommen zugeschwollen und von Blutresten ganz verklebt. Hoffentlich konnte man es noch retten. Und das alles nur, weil Fye ihm begegnet war? Weil er Fye an sich herangelassen hatte…? All die Angst, all die Qual wären ihm vielleicht erspart geblieben, wenn sie sich nicht getroffen hätten… Kurogane wusste, es war irrational und falsch, doch er hätte schreien können vor Wut. Wut auf sich selbst, weil er der Auslöser für Ashuras Handeln gewesen war. Weil er Fye die ganze Zeit dazu gedrängt hatte, mit ihm zu reden, ehrlich mit ihm zu sein, seine Vergangenheit mit ihm zu teilen. Er wusste, dass es falsch war so zu denken, aber dennoch schrie alles in ihm auf, nachdem er die Worte dieses Kriminellen gehört hatte…!

Endlich war auch die Schnalle am Hals gelöst und Fye wäre augenblicklich vornüber gekippt, wenn Kurogane ihn nicht sofort aufgefangen hätte. Die Bewegung ließ ihn erneut gequält aufstöhnen. Gut möglich, dass auch einige Rippen gebrochen waren.

„Fye!“, versuchte er erneut, zu dem anderen durchzudringen. Eine Welle von Schuld, Angst, Mitleid und Erleichterung überrollte ihn, alles gleichzeitig, und noch ehe er richtig realisiert hatte, was er eigentlich tat, hatte er seine Lippen fest auf die seines Gegenübers gepresst. Ein wehmütiger Stich jagte durch sein Herz. Er hatte so sehr gefürchtet, dass er diese Gelegenheit nie wieder bekommen würde!

„Kuro… Wer…? Was…?“, verließ plötzlich ein abgehackter Flüsterton Fyes Lippen, sein rechtes Auge flackerte unfokussiert hin und her, bevor es sich wieder schloss und Fyes Körper in seinen Armen erschlaffte.

Er musste sich zusammenreißen. Es gab im Moment so viel Wichtigeres zu tun. Vorsichtig hob er den bewusstlosen Körper aus diesem Folterstuhl und legte ihn etwas abseits ab. Ein Blick nach hinten zeigte ihm, dass Ashura bereits dabei war, das Bewusstsein wiederzuerlangen. Darum musste er sich zuerst kümmern. Mit wenigen Schritten war Kurogane wieder bei dem Firmenchef und setzte ihn mit einem weiteren Schlag gegen die Schläfe erneut außer Gefecht. Dann durchsuchte er ihn nach Waffen, fand ein Messer und eine Pistole. Scharf. Schnell nahm er ihm beides ab und platzierte ihn nun auf dem Stuhl, auf dem zuvor Fye festgehalten worden war, und legte ihm nun selbst die Fesseln an. Das würde ihnen hoffentlich genügend Vorsprung verschaffen. Nun sammelte Kurogane sein eigenes Messer wieder ein sowie die Waffen des Firmenchefs. Sein Messer verstaute er wieder in der Halterung in seiner Beintasche, die anderen beiden Waffen versteckte er in einem der Aktenfächer im Nebenraum. Selbst wenn es Ashura wie durch ein Wunder gelingen sollte, sich selbst aus dieser Lage zu befreien, würde er seine Waffen dort sicher nicht vermuten.

Nun ging er zu Fye zurück. Er zog seine ölverschmierte Jacke aus, um Fyes Wunden unnötigen Kontakt mit Schadstoffen zu ersparen, nahm ihn so behutsam wie möglich hoch und verließ diesen verfluchten Raum. Ashuras Atmen signalisierte Kurogane, dass dieser bereits wieder am Aufwachen war. Er musste sich beeilen.

Als er wieder draußen auf dem Korridor war, wollte er losstürmen, doch ein gequältes Aufstöhnen seines Schützlings zwang ihn, seine Geschwindigkeit zu reduzieren. Kurogane wollte hier so schnell wie möglich raus, doch das Letzte, was er wollte, war, damit noch mehr Schaden anzurichten. Es kam ihm fast vor, als bewegte er sich in Zeitlupe, als er mit langen, gleichmäßigen Schritten den Flur hinter sich ließ und dann die Treppe nach oben nahm, immer drei Stufen auf einmal.

Im Erdgeschoss angekommen, sah er, dass die Außentür noch immer abgeschlossen war. Wo zum Henker blieben die, verdammt noch mal?! Das wäre sein sicherster Fluchtweg gewesen!!

Gezwungenermaßen probierte er die Tür zum Flur aus. Auch verschlossen. DRECK!! Allerdings mit einem ganz normalen Schloss gesichert. Ungeduldig fischte Kurogane erneut nach seinem Messer, löste den in den Griff eingearbeiteten Draht heraus und steckte ihn in das Schlüsselloch. Nach einigen Versuchen sprang es auf, doch zeitgleich begann das Heulen der Alarmanlage.

‚VERDAMMT!’, fluchte Kurogane innerlich, doch genauso schnell beruhigte er sich wieder. Wenn er hier jetzt mit einem Schwerverletzten auf dem Arm durch die Gänge rannte, war es auch egal, ob nebenbei die Alarmanlage schrillte oder nicht.

Wie erwartet, begegnete er hier vielen Menschen. Neugierig gewordenen Mitarbeitern, die ob des plötzlichen Lärms verständnislos die Köpfe aus ihren Bürozimmern streckten, Leuten, die gerade irgendwohin unterwegs gewesen waren und nun mitten in ihrer Bewegung inne hielten, Putzpersonal. Auch Sicherheitsmitarbeitern. Sie alle starrten Kurogane nur mit offenen Mündern und geschockt geweiteten Augen an, als er mit dem bewusstlosen Fye auf den Armen an ihnen vorbeirauschte.

„Stehen bleiben! Was ist hier los?“, forderte ihn ein Wachmann auf und kam auf ihn zu gerannt, als er die große Eingangshalle passierte.

„Ich habe hier einen Schwerverletzten, der muss umgehend ins Krankenhaus! Oder haben Sie Tomaten auf den Augen?“, giftete Kurogane zurück und ließ ihn dann links liegen.

„Stehen bleiben!!“, brüllte ein weiterer Wachmann und blockierte ihm den Weg zum Ausgang. Kurogane überlegte, ihn zur Not einfach umzurennen, doch dann bemerkte er den abgeklärten Blick des Mannes und sah, wie dieser nach seinem Waffengurt griff.

Ohne eine Sekunde zu zögern, rettete Kurogane sich mit Fye in den Armen mit einem Hechtsprung nach links hinter die Rezeption, wenige Augenblicke bevor ein Schuss eine Marmorfliese zerstörte, ganz dort in der Nähe, wo er sich eben noch befunden hatte. Ein Schrei ging durch die Menschen im Foyer und alle stoben wie wild auseinander, versteckten sich.

Ohne Zweifel, dieser Wachmann war nicht um die Sicherheit der Firma bemüht. Er befolgte Ashuras direkte Anweisungen. Sicher war er nicht der einzige. Ein schneller Blick zurück zeigte Kurogane, dass noch keine weiteren bewaffneten Sicherheitsmänner auf dem Weg waren, doch das konnte sich jederzeit ändern.

Ein weiterer Schuss schlug in der Holzverkleidung der Rezeption ein. Verdammt, er kam hier nicht weg!!

„Polizei, Waffe runter!“, erschallte plötzlich eine lautstarke Stimme aus Richtung Eingang. Ein weiterer Schuss fiel, diesmal jedoch nicht in Kuroganes Richtung. Das war seine Chance. Kurogane erneuerte den Griff um Fyes schlaffen Körper und sprintete los. Der Blick des Sicherheitsmannes ging wieder in seine Richtung, doch noch bevor er den Arm wieder herumreißen und auf Kurogane zielen konnte, war dieser hinter einem Modell des Firmenmaskottchens in Deckung gegangen.

„Waffe runter!“, brüllte der Kollege von der Polizei erneut und wieder fiel ein Schuss. Kurogane wusste nicht, wer von beiden geschossen hatte. Von seiner jetzigen Position aus konnte er erkennen, dass der Sicherheitsmann jetzt ebenfalls in Deckung gegangen war und die Kollegen von der Polizei von ihrer Position aus nicht an ihn herankamen. Er selbst konnte auf die Distanz jedoch nach wie vor nicht riskieren loszurennen. Fye wäre zu lange ungeschützt.

Mit klopfendem Herzen nahm er die Betäubungspistole zur Hand, die der Polizist ihm zuvor mit dem Wagenschlüssel zusammen übergeben hatte. Er fühlte sich alles andere als wohl dabei, eine Schusswaffe benutzen zu müssen, doch so wie es aussah, blieb ihm nichts anderes übrig. Kurogane legte Fye kurz ab und späte um die Ecke. Der Sicherheitstyp war durch die Polizei abgelenkt und wusste zudem nicht, dass Kurogane ebenfalls eine Waffe bei sich hatte. Gut so. Vorsichtig visierte er das Bein des Mannes an – er wollte nicht riskieren, ihn durch einen ungünstig platzierten Schuss vielleicht doch lebensgefährlich zu verletzen – und drückte ab. Der darauf folgende Aufschrei zeigte ihm, dass er getroffen hatte. Schnell verstaute er die Waffe wieder, lud Fye erneut auf und rannte weiter. Der Polizist, nein, zwei waren es sogar, erwarteten ihn bereits an der Tür.

„DECKUNG!!“, rief plötzlich der eine und beide Polizisten richteten ihre Waffen auf Kurogane – oder besser, an Kurogane vorbei. Er wusste, was das zu bedeuten hatte, und zögerte keinen Moment länger. Mit einem weiteren Hechtsprung ging er diesmal auf der anderen Seite der Rezeption in Sicherheit, mehrere Schüsse lösten sich, einen spürte Kurogane knapp an sich vorbei ziehen.

Jetzt saß er wieder fest, mit Blick zum Ausgang, dem Ziel so nah, aber weiterlaufen konnte er dennoch nicht.

„Ashura, Sie sind verhaftet!!“, rief einer der beiden Polizisten.

Was?! Kurogane glaubte, sich verhört zu haben. Wie hatte er sich so schnell von diesem Stuhl befreien und ihn einholen können? Und woher hatte er diese Waffe? Ob er seine doch zwischen den Akten gefunden hatte? Nein, unwahrscheinlich. Eher ist ihm ein Komplize zu Hilfe geeilt – auch wenn er keine Ahnung hatte, wie er diesen so schnell hatte benachrichtigen können. Er hatte beim Abtasten keinen Pieper oder Ähnliches bemerkt. Oder hatte er ihn übersehen?

Ein weiterer Schuss fiel. Erneut spürte Kurogane Wut in sich aufsteigen. Dieser Tyrann würde Fye ganz sicher nicht kriegen! Dafür sorgte er! Kurz spähte Kurogane über den Rand der Rezeption, suchte nach Ashuras Standort. Er fand ihn am Treppenaufgang, rechts neben dem Gang, aus dem er selbst gerade herausgekommen war. Ashura sah ihn, doch sein Schuss ging an Kurogane vorbei in die Wand über ihm. Wieder zog er seine Pistole, verließ kurz seine Deckung und gab ebenfalls einen Schuss ab, der jedoch gut einen Meter Abseits in die Wand einschlug. Noch einmal versuchte er es, doch wieder verfehlte er sein Ziel weit. Auch der nächste Schuss ging um Längen daneben. Was war bloß los mit ihm?! So schlecht hatte Kurogane noch nie geschossen! Warum verließ ihn gerade jetzt, wo ausgerechnet Fyes Leben auf dem Spiel stand, seine Zielsicherheit?! Er probierte es erneut, wieder daneben. Dann war die Munition leer.

VERDAMMT!

„Hey!“, verschaffte einer der Polizisten sich Kuroganes Aufmerksamkeit. „Hier!“

Damit schob er ihm eine Waffe über den Fußboden hinweg zu. Allerdings blieb sie an einer zersprengten Bodenfliese hängen und kam nicht bis zu Kurogane herüber. Klappte denn gar nichts hier?!

Wie oft hatte Ashura schon geschossen? Achtmal? Neunmal? So langsam müssten seine Patronen jedenfalls zur Neige gehen. Kurogane zögerte nicht lange und wagte einen Sprung zu der unweit von ihm liegen gebliebenen Pistole, rollte sich ab und ging hinter dem nächsten Pfeiler in Deckung. Es war kein weiterer Schuss gefallen. Anscheinend ging Ashura wirklich langsam die Munition aus.

Jetzt oder nie! Das war seine letzte Chance! Kurogane entsicherte die Waffe und sah vor seinem Pfeiler hervor, um auf Ashura zielen zu können. Der stand jedoch nicht mehr an der Treppe, so wie einen Moment vorher noch, sondern weiter links hinter der Maskottchen-Statue, die Kurogane zuvor selbst als Deckung gedient hatte. Der Lauf von Ashuras Waffe war auf ihn gerichtet. Shit!

Ein Schuss löste sich und schlug in den Pfeiler ein, knapp neben Kuroganes Gesicht. Einige Splitter schnitten in seine Wange, doch abgesehen davon hatte er Glück gehabt. War das Ashuras letzter Schuss gewesen? Erneut drehte Kurogane sich um und zielte auf ihn, der Firmenchef hatte seine Waffe noch nicht wieder erhoben, sah ihn durchdringend kann.

Konnte er abdrücken? Mit dieser Waffe würde er ihn wahrscheinlich töten. Er hörte einen Schuss. – Nein, das bildete er sich ein. Das war nur in seiner Erinnerung. Ein Gesicht flammte vor seinem inneren Auge auf, das im Schock erstarrte Gesicht von Stephan Dukari.

„Was machst du? Schieß!“, hörte er die Stimme des Kollegen hinter sich, der ihm die Waffe zugespielt hatte.

Ja, verdammt, was tat er hier eigentlich? Kurogane hob die Waffe und zielte, doch das triumphale Grinsen im Gesicht seines Gegners ließ ihn innehalten.

Was…?

Dann begriff er. Er ließ die Waffe fallen und stürzte zurück zu seiner ursprünglichen Deckung, wo Fye noch immer bewusstlos auf dem Boden lag.

Fye!

Von Ashuras jetziger Position aus war er ihm schutzlos ausgeliefert! Kurogane stolperte, fing sich mit der Hand ab und schlitterte den letzten Meter zu ihm herüber.

Ein Schuss fiel.

Schmerz explodierte in Kuroganes rechter Schulter, schleuderte ihn herum und fast auf Fye drauf. Gerade so gelang es ihm, sich mit seinem rechten Arm und Bein an der Verkleidung der Rezeption abzustützen und Fye damit nicht unter sich zu begraben. Erneut explodierte der Schmerz in seiner Schulter, Kurogane zog vor Schreck die Luft ein und fiel auf den Rücken.

Schritte – einige in einiger Entfernung, andere ganz in seiner Nähe. Ein letzter Schuss fiel, dann nur noch Schritte und Stimmen, Flüche. Weitere Schritte hasteten an ihm vorbei. Nur mit Mühe gelang es Kurogane, sich einigermaßen aufzurichten. Wo war Ashura? Versuchte er zu flüchten?

„Alles okay? Wie geht es dir?“, hörte er die besorgte Stimme eines weiteren Polizeibeamten hinter sich.

„Fragen Sie das nicht mich, sehen Sie sich lieber seinen Zustand an!“ Er deutete auf Fye. „Er muss sofort ins Krankenhaus!“

Der Polizist warf einen kurzen Blick auf Fye und sprach dann eilig in sein Funkgerät. Irgendwas von „Notarzt“ und „schnell“. Na endlich. Die Details bekam Kurogane gar nicht so genau mit. Das Pulsieren seiner Schulter wurde rasant schlimmer. Und seine Aufgabe war auch noch nicht beendet. Er musste nach Chii sehen. So schnell wie möglich.

„Hey, wo wollen Sie in Ihrem Zustand denn hin?“, hielt der Polizist ihn auf.

„Da ist noch jemand in Gefahr, unten im Lager.“

„Das Mädchen wurde bereits in Sicherheit gebracht“, klärte der Polizist ihn auf.

Na ein Glück. Aber wann und wie hatten sie Chii denn nun da raus geholt? An der Hintertür war doch überhaupt keiner gewesen. Egal jetzt. Das würde er im Bericht nachlesen können.

Weitere Personen kamen in das Gebäude gerannt. Endlich waren Rettungskräfte da! Sie kontrollierten sofort Atmung und Blutdruck, einer hatte ein Beatmungsgerät dabei und stülpte Fye eine Atemmaske über. Ein anderer bereitete eine Jod-Infusion vor.

„Wie schlimm ist es?“, fragte Kurogane den Sanitäter, der Fyes Kreislauf überprüft hatte.

„Puls und Atmung sind vorhanden, aber schwach und unregelmäßig. Wir müssen schnellstmöglich die Blutungen stoppen. Alles andere können wir später erst genauer sagen“, erklärte der Arzt ihm, während zwei andere Fye auf eine Trage verfrachteten.

„Wird er überleben?“, hakte Kurogane nach und griff nach dem Arm des Sanitäters. Dieser lächelte beruhigend.

„Die Chancen stehen gut. Das Schlimmste haben Sie wohl verhindern können.“

„Und sein Auge?“

„… Das weiß ich nicht“, antwortete der Arzt ernst. Dann löste er Kuroganes Hand und folgte seinen Kollegen nach draußen zum Krankenwagen.

„Wie geht es Ihnen?“, erkundigte der zurückgebliebene Polizist sich.

„Kein Problem“, winkte Kurogane ab und biss die Zähne zusammen, als er aufstand. Gemeinsam folgten sie dem Krankenwagen nach draußen. Wenige Meter weiter saß Chii auf dem Beifahrersitz eines Polizeiautos, eine Decke um ihre Schultern, stille Tränen vor sich hinweinend und immer wieder in ein Taschentuch schniefend. Seishiro stand bei ihr und strich ihr über den Rücken. Kurogane war mehr als erleichtert, als er sie dort sitzen sah, und ging auf die beiden zu.

„Bist du unverletzt?“, fragte er das Mädchen.

„Ja. – Wie geht es Fye?“, fragte sie sogleich mit gebrochener Stimme zurück.

Kurogane blickte zurück. Von hier aus sah man nur die geschlossene Seite des Krankenwagens. Die Kleine hatte wahrscheinlich gar nicht gesehen, wie er raus gebracht worden war.

„Er ist verletzt, aber der Arzt sagt, er wird schon wieder“, versuchte er, das Mädchen nicht zu sehr zu beunruhigen.

„Fye…“, sie schlug die Hände vor das Gesicht. Erneut stiegen ihr Tränen in die Augen. „Es ist meine Schuld. Wenn ich bloß nicht mit Herrn Ashura mitgegangen wäre…“

Es war klar, dass das früher oder später kommen musste.

„Shhh“, unterbrach Seishiro sie und nahm ihre Hände. „Gar nichts ist deine Schuld. Entführt zu werden, ist niemals die Schuld des Entführten!“, erklärte er ihr eindringlich.

Kurogane konnte dem nur zustimmen.

„Auch wenn das jetzt vielleicht hart klingt, aber wenn du ihm nicht aus freien Stücken gefolgt wärst, hätte dieser Ashura dich wahrscheinlich mit Gewalt dazu gebracht, zu machen, was er will. Dann hätte es jetzt mit Sicherheit noch mehr Verletzte gegeben. Und stärkere Bewachung. Wer weiß, ob ich euch dann noch da hätte rausholen können. Es war schon gut so, wie du dich verhalten hast“, ergänzte er.

Chiis Schluchzen wurde daraufhin noch stärker, aber sie widersprach nicht. Seishiro nahm sie in die Arme und strich ihr weiter über den Rücken. Er schien gut mit solchen Situationen umgehen zu können, sah aus wie ein liebevoller Vater, wie er sich so um die kleine Chii kümmerte. Endlich konnte er sich einen Moment der Entspannung erlauben.

- Dachte er, als plötzlich lautstarker Hubschrauberlärm über ihren Köpfen erschallte. Kurogane blickte nach oben. Ein Hubschrauber auf dem Dach von CyberCom? Dass dort ein Landeplatz war, wusste er aus dem Gebäudeplan, aber wenn dort ein Hubschrauber gewesen wäre, hätte man das doch gewusst! Wo kam der her?

„Er flieht!“, hörte Kurogane einen Polizisten in seiner Nähe über den Lärm hinweg rufen. „Verständigt die Luftsicherheit!“

Das konnte nicht sein. Das DURFTE nicht sein!

Kurogane war fassungslos. Die konnten ihn doch nicht einfach so entkommen lassen! Wie konnten bewaffnete Polizeibeamte einen unbewaffnet flüchtenden Verbrecher entkommen lassen?! Und wie war der so schnell bis in den 16. Stock gekommen? Das war unmöglich!

Doch egal, wie sehr Kurogane den Hubschrauber mit seinen Blicken durchbohrte und der Situation ihre Realität absprach, der Hubschrauber gewann immer schneller an Höhe und war bald Richtung Osten aus ihrer Sichtweite verschwunden.

Sie hatten ihn entkommen lassen. Diese Idioten hatten ihn tatsächlich entkommen lassen!!

Nein, falsch. ER hatte ihn entkommen lassen. Er hatte ihm gegenüber gestanden, Auge in Auge, eine geladene Waffe in der Hand. Er hatte nicht geschossen, als er die Gelegenheit dazu gehabt hatte. Er war der größte Idiot von allen. Und er hatte Fye bitter im Stich gelassen.
 

TBC…

Du bist viel mehr/ Das Herz eines Kindes

Disclaimer: Die Charas gehören (bis auf wenige Ausnahmen) nicht uns, sondern Clamp. Wir wollen kein Geld damit verdienen, sondern nur unterhalten.
 

Erstschreiber des Kapitels: Lady_Ocean

Kapitel: 24/26
 

-~*~-
 

„Im Grunde sind es doch die Verbindungen mit Menschen, die dem Leben seinen Wert geben.“

(Wilhelm von Humboldt)
 

-~*~-
 

Du bist viel mehr/ Das Herz eines Kindes
 

Am liebsten hätte Kurogane jetzt gegen irgendetwas geschlagen – eine Mauer, einen Laternenpfahl, irgendwas, wenn seine pochende Schulter es zugelassen hätte. Die Wut in ihm drohte ihn schier zu überwältigen. Wut auf sich selbst, sein dilettantisches Handeln in der Lobby, das es diesem Verbrecher ermöglicht hatte zu fliehen. Wie sollte er Fye noch unter die Augen treten können? Er hatte jämmerlich versagt. Er hatte die Chance gehabt, ihn zu beschützen und diesen Ashura dingfest zu machen, um Fye endlich von seiner Angst zu erlösen, aber er hatte sie vertan.

Sein Blick glitt zurück zu dem Krankenwagen, in den man Fye gebracht hatte. Das Schließen der Türen verriet ihm, dass der Patient jetzt wohl transportfertig war und ins Krankenhaus gebracht werden konnte. Wenige Augenblicke später fuhr der Wagen auch schon los. Kurogane sah ihm eine Weile schwermütig hinterher. Am liebsten wäre er gleich mitgefahren, hätte Fye keine Sekunde mehr aus den Augen gelassen, aber es gab noch eine weitere wichtige Angelegenheit, der er dringend nachgehen musste. Er sah auf die Uhr; selbst bei dieser kleinen Bewegung musste er die Zähne zusammenbeißen. Er gestand es sich nur ungern ein, aber der Schmerz in seiner Schulter wurde immer schlimmer. Dabei hatte er jetzt überhaupt keine Zeit für so was! Wenn er sich beeilte, war er vielleicht noch rechtzeitig im Gerichtssaal. Also riss er sich zusammen. Da musste er jetzt einfach durch. Mit steifen Schritten ging er zu einem der verbliebenen Rettungssanitäter, der bei einem weiteren Krankenwagen gerade ein Protokoll ausfüllte und kritzelte seine Handynummer auf den oberen Rand des Formulars, das empörte „Hey! Was machen Sie da?“ des Arztes gekonnt ignorierend.

„Ich muss weg. Sollte sich am Zustand des Verletzten irgendetwas verändern, benachrichtigen Sie mich sofort.“

Damit machten er auf dem Absatz kehrt und wollte bereits verschwinden, als ihn plötzlich jemand grob packte, ausgerechnet am rechten Arm, und so zum Stehenbleiben zwang. Vor Schreck entwich Kurogane ein markerschütternder Schmerzensschrei, er taumelte einige Schritte zurück und hatte für einige Augenblicke Mühe, das Gleichgewicht zu behalten.

„Sie müssen nirgendwo hin. Sie kommen gefälligst mit, so wie Sie aussehen“, kommentierte der Arzt, der ihn gerade so grob am Gehen gehindert hatte, trocken. Wenn nicht schon das Atmen schmerzhaft genug gewesen wäre, hätte Kurogane ihm diese Dreistigkeit prompt heimgezahlt, aber im Moment hatte er noch immer genug damit zu tun, nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Dennoch konnte er nicht hier bleiben. Die Zeit drängte.

„Es gibt Wichtigeres!“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Ich muss dringend bei einem Gerichtsverfahren aussagen.“

Doch den Arzt schien das wenig zu interessieren.

„Wenn Sie hier weiter so mit ihrem Blut um sich werfen, sagen Sie bald gar nix mehr. Da veranstalten Sie höchstens noch eine Freakshow im Bus und im Gerichtssaal, falls sie es bis dahin schaffen sollten, und ich werde mir bestimmt nicht nachsagen lassen, das toleriert zu haben.“

„Du hast nicht wirklich vor gehabt, in dem Zustand zum Gerichtsgebäude zu fahren?“, hörte er plötzlich Toyas Stimme hinter sich. Er war also auch hier? „Dass du heute nicht aussagen kannst, ist längst geklärt. Lass zuerst deine Verletzungen versorgen. Oder willst du mit dem Anblick deiner Tochter den Schreck ihres Lebens verpassen?“

Kurogane wusste, eigentlich war das ein weitaus weniger wichtiges Argument als das dieses Arztes, aber es traf. Auch ohne Spiegel konnte er sich denken, wie er im Moment aussehen musste: direkt dem Gruselkabinett entflohen.

„Doktor Kyle wird sich erst mal um dich kümmern und wenn deine Schulter versorgt ist, sehen wir weiter.“

Toyas Blick ging hinüber zu dem sadistischen Arzt, der ihn mit seinem Ruck am Arm praktisch bewegungsunfähig gemacht hatte. Kyle also… Den Namen würde er sich merken. Aber…! Er konnte einfach nicht hier bleiben. Tomoyos Zukunft stand auf dem Spiel. Lieber verlor er einen Arm als seine Tochter!

„Stoppen Sie einfach die Blutung und helfen Sie mir, etwas Sauberes überzuziehen. Wenn der Prozess vorbei ist, können Sie mich von mir aus durchchecken.“

„Der Blutverlust beeinträchtigt Ihr Urteilsvermögen stärker, als ich erwartet hatte“, kommentierte Dr. Kyle und machte keinerlei Anstalten, Kuroganes Anweisung Folge zu leisten.

„Kurogane, sei nicht albern!“, pflichtete Toya, langsam deutlich genervt, dem Arzt bei. „Ob du nun zur Verhandlung gehst oder nicht, macht überhaupt keinen Unterschied mehr. Wenn deine Aussage heute überhaupt noch gefordert wird, geht das auch per Videokonferenz. Du gehst jetzt ins Krankenhaus und lässt dich behandeln. Das ist ein Befehl.“

Bei dem letzten Satz hatten Toyas Gesicht und Stimme dieselbe Härte angenommen, die er ihm vor dem Einsatz entgegen gebracht hatte. Doch davon ließ Kurogane sich nicht beirren.

„Du hast überhaupt keine Befugnis, mir Befehle zu erteilen“, erwiderte er desinteressiert. Auch wenn er eigentlich wusste, dass dem nicht so war. Und Toya wusste das genauso.

„Solange du suspendiert bist, gelten für dich die gleichen Regeln wie für jeden anderen Bürger. Also entweder lässt du dich jetzt freiwillig ins Krankenhaus bringen, oder ich weise Dr. Kyle an, die nötigen Maßnahmen zu ergreifen, um dich notfalls auch ohne dein Einverständnis dort hin zu schleifen.“

„Wenn meine Abwesenheit in irgendeiner Form negative Auswirkungen auf die Verhandlung hat, mache ich Sie dafür verantwortlich, Toya!“, knurrte Kurogane den Hauptkommissar an, gab dann aber seinen Widerstand auf. Das überhebliche Grinsen im Gesicht des Arztes gefiel ihm gar nicht. So setzte er sich unfreiwillig auf einen Stuhl im Innern des Krankenwagens und ließ es über sich ergehen, transportfertig gemacht und ins Krankenhaus geschleppt zu werden. Wenigstens konnte er so ein besseres Auge auf Fye haben, ging es ihm durch den Kopf. Doch die Sorge um seine Tochter verringerte das kein Stück.
 

Im Gerichtssaal war ein heilloses Durcheinander entstanden, als Yuuko die Botschaft überbracht hatte, dass die Hauptperson, um die es in der heutigen Verhandlung gehen sollte, nicht anwesend sein würde. Nachdem die Umstände erklärt und die ersten Ergebnisse der Auswertung des Beweismaterials eingesehen waren, schlug die Stimmung jedoch schlagartig in Sorge um. Yuukos eigenmächtiges Handeln wurde von ihrem Kollegen und heutigen Kontrahenten Fei Wong Reed scharf kritisiert, die Armee suchte fieberhaft nach einer Lösung, Kurogane schnellstmöglich von diesem Fall abzuziehen und durch einen Kollegen zu ersetzen. Der Richter, Yukito Tsukishiro, ein noch junger Mann, der vor wenigen Jahren erst sein Amt angetreten hatte und im Fall des Soldaten Stephan Dukari und bezüglich des Sorgerechts für Tomoyo Sugawara verantwortlich war, plädierte für eine Verschiebung des Prozesses. Doch egal, wie diskutiert und überlegt wurde, nun konnte niemand mehr groß etwas an der Situation ändern. Die Vorbereitungen für Kuroganes Einsatz waren bereits in vollem Gange. Es war zu spät, um nun noch einen neuen Spezialisten für diesen Einsatz auszuwählen, davon einmal abgesehen, dass Kuroganes Fähigkeiten die seiner Kollegen deutlich in den Schatten stellten und selbst in der Spezialeinheit der Armee kein besser geeigneter Soldat zu finden war. Eine Verschiebung der Verhandlung wäre vor allem mit Blick auf den Gesundheitszustand der Mutter problematisch. Sie würde in zwei Wochen nach Amerika zurückfliegen müssen und noch einmal so ein Wunder zu bewerkstelligen, innerhalb dieser kurzen Zeit einen neuen Gerichtstermin festzusetzen, war undenkbar. Und das kleine Mädchen so lange in verschiedene Hände zu geben ohne zu wissen, was letztlich aus ihr werden würde, war für das Kind ebenfalls nicht zumutbar, entschied man. So blieb es dabei, dass sich zähneknirschend und mit flauem Gefühl im Magen alle einigten, die Verhandlung wie geplant durchzuführen und dass man auf die Anwesenheit der zentralen Person und die Aussage von Tomoyos Kindergärtner, um dessen Leben bangend, wohl oder übel verzichten musste.

Nachdem dies intern entschieden war, wurden die Zeugen über den veränderten Ablauf informiert. Das Ehepaar Dukari, vor allem die Ehefrau, war außer sich vor Wut, dass Kurogane nicht einmal den Anstand besäße, öffentlich zu seiner Tat zu stehen und sich so feige verkroch. Yuuko hätte ihr gern den Grund für die Abwesenheit mitgeteilt, denn die verletzenden Anschuldigungen der Frau fand sie ungeheuerlich. Doch es war das Beste, wenn keiner der Zeugen die genaueren Details über die Abwesenheit der fehlenden Personen kannte. Vor allem Kuroganes Tochter nicht, die schon bei der Nachricht, dass ihr Vater und ihr Kindergärtner nicht kommen würden, in Tränen ausgebrochen war.

„Nii-chan hat es mir aber versprochen! Nii-chan hat gesagt, dass ich meinen Papa heute wiedersehen kann! Wo ist mein Papa? Ich will zu meinem Papa!“

Sie war kaum zu beruhigen, weder durch Oruha noch Sakura und Shaolan oder irgendeinen der anderen Anwesenden. Auch Yuuko wurde beim Anblick des Kindes schwer ums Herz. Vor allem ihretwegen durfte niemand der hier Anwesenden den Grund für die Abwesenheit erfahren. Dass sie nicht aufgeklärt wurden, schien alle Zeugen zu beunruhigen, doch niemand traute sich, vor Tomoyo weiter zu fragen.

Die Verhandlung wurde schließlich mit einiger Verzögerung eröffnet. Zuerst wurde das Gutachten besprochen, welches die Untersuchungsergebnisse der Armee beinhaltete. Anschließend sollte der Tathergang anhand der Zeugenaussagen noch einmal rekonstruiert werden. Dafür wurden zuerst zwei Kollegen von Kurogane und dem Verstorbenen Stephan Dukari vorgeladen, die das Verhältnis der Einsatzmitglieder und speziell das zwischen dem Verstorbenen und Kurogane als seinem Vorgesetzten beschreiben sollten.

„Dukari war kein schlechter Kerl“, begann der erste. „Er war vielleicht manchmal etwas hitzköpfig, aber nicht im negativen Sinne. Also nicht gewalttätig oder so.“

„Er trug sein Herz einfach auf der Zunge. Und wenn er etwas tat, dann mit voller Überzeugung“, fügte der andere Kollege bei. Der erste nickte bestätigend.

„Er war ein richtiger Idealist“, bestätigte der erste Sprecher. „Viele von uns haben ihn dafür bewundert. Dass er immer genau wusste, was er wollte und das auch durchgezogen hat.“

„Was denken Sie, woran könnte es gelegen haben, dass er so ein schlechtes Verhältnis zu Herrn Sugawara hatte?“, fragte Fei Wong Reed.

Beide verzogen wehleidig die Gesichter, ein resigniertes Seufzen klang leise durch das Zimmer.

„Hauptmann Sugawara und er sind sich relativ ähnlich, würde ich sagen. Auch der Hauptmann ist absolut prinzipientreu. Und sie waren wohl beide nicht sehr kompromissbereit, wenn es Meinungsverschiedenheiten gab“, erinnerte sich der zweite Kollege. „Aber ihre Art, wie sie das zum Ausdruck brachten, war grundverschieden. Egal um wen oder was es ging, Dukari wollte Meinungsverschiedenheiten immer ausdiskutieren und versuchen, andere von seinem Standpunkt zu überzeugen. Der Hauptmann hingegen ist kein Mann großer Worte. Er wehrt solche Debatten meistens ab. Vor allem, wenn Dukari mit irgendeiner Beschwerde zu ihm kam.“

„Wie oft kam das in etwa vor?“, hakte Reed weiter nach.

„Anfangs noch eher selten. Doch in den letzten Monaten wurde es immer häufiger. Fast schon täglich, könnte man sagen“, überlegte der erste Soldat laut und sah zu seinem Kollegen hinüber, der bestätigend nickte.

„Wie genau reagierte Herr Sugawara denn auf die Gesprächsversuche von Herrn Dukari? Hatten Sie das Gefühl, dass er Herrn Dukari gegenüber strenger oder kompromissloser war als bei anderen Mitgliedern Ihrer Einheit?“, hakte der Anwalt weiter nach.

„Hm…vielleicht. Irgendwo hatten wir schon das Gefühl, dass der Hauptmann bei Dukaris Diskussionsversuchen langsam die Geduld verlor. Im Grunde war es immer das Gleiche: Er verwies ihn auf den Rangunterschied und dass Entscheidungen über die Mannschaftsführung bei ihm liegen“, berichtete der Soldat weiter.

„Denken Sie, dass Herr Sugawara eine persönliche Abneigung gegen Herrn Dukari entwickelt hatte?“

„Vorstellbar ist es schon. Also ich an seiner Stelle hätte mich jedenfalls nicht sonderlich gefreut, wenn ich in seiner Haut gesteckt hätte“, antwortete der zweite Soldat.

„Dann wäre es also vorstellbar, dass Herr Sugawara in einer Handgreiflichkeit die Beherrschung verloren und – aus dem Affekt oder vielleicht sogar vorsätzlich – seine Dienstwaffe gezogen und geschossen haben könnte?“, hakte Reed weiter nach.

„Einspruch, euer Ehren“, unterbrach Yuuko ihn an dieser Stelle. „Es geht hier um rein subjektive Einschätzungen und Spekulationen. Das ist keine Argumentationsgrundlage, um den Vorfall vom 6. Oktober ausreichend begründen zu können.“

„Einspruch stattgegeben. Bitte bleiben Sie näher an den Fakten, Herr Reed“, stimmte Richter Tsukishiro ihr zu.

Ein wenig zerknirscht fügte er sich der Entscheidung des Richters, ließ seinen letzten Gedanken fallen und wandte sich mit einer neuen Frage an die beiden Soldaten: „Um welche Themen ging es dem Soldaten Dukari konkret, wenn er Herrn Sugawara um ein Gespräch ersuchte? Kennen Sie Beispiele?“

Kurzes nachdenkliches Schweigen folgte, bis sich der zweite Soldat wieder zu Wort meldete.

„Dukari war mit Teilen des Trainingsplans und der Mannschaftsaufstellung nicht zufrieden. Dass wir so ein hohes Pensum im waffenlosen Kampftraining haben zum Beispiel. Er meinte, heutzutage, wo jeder so leicht an Schuss- oder Schlagwaffen herankommt – gerade dort, wo unsere Einsätze häufig stattfinden – müsste der Umgang mit Waffen und Technik viel stärker im Mittelpunkt stehen. Und dann gibt es natürlich auch Spezialisierungen innerhalb der Mannschaft. Dukari selbst wollte eigentlich zu den Scharfschützen, ist aber der Überwachung zugeteilt worden. Das war sehr bitter für ihn.“

„Denken Sie, dass Herr Sugawara in dieser Entscheidung parteiisch vorgegangen ist?“, wollte Reed weiter wissen.

„Ich erhebe Einspruch gegen diese Frage“, meldete sich an der Stelle Yuuko zu Wort. „Noch in der Ausbildung befindliche Rekruten besitzen nicht die Kompetenz, diese Entscheidung zu beurteilen. Außerdem geht aus dem Protokoll eindeutig hervor, dass diese Entscheidung von Herrn Sugawara auf Grundlage der Trainingsergebnisse getroffen worden war.“

„Verehrte Kollegin, die Tests, die dieser Entscheidung zugrunde lagen, liegen bereits knapp zwei Jahre zurück, was Sie ebenfalls dem Protokoll entnehmen können. Da uns im Moment keine aktuellen Zahlen vorliegen, ist eine Einschätzung aus erster Hand an dieser Stelle von großer Bedeutung.“, konterte Reed und sah zum Richter herüber, dessen Entscheidung abwartend.

„Einspruch abgelehnt. Die Frage ist zulässig“, stimmte Tsukishiro dem Anwalt zu. Ein triumphierendes Lächeln halb unterdrückend, wandte er sich zurück zu den beiden Soldaten: „Nun?“

Etwas zögerlich setzte der erste Soldat schließlich an: „Ich denke zwar, dass es mir nicht zusteht, die Entscheidung des Hauptmanns zu beurteilen, aber ich finde schon, dass es vielleicht die richtige Entscheidung war. – Also, ob Dukari in der Spionage gut aufgehoben ist, das weiß ich nicht, aber zumindest was die Scharfschützen angeht, haben wir zwei wirklich talentierte Kollegen im Jahrgang.“

„Die liefern jedes Mal die besten Ergebnisse bei den Schusstrainings, von Anfang an und ohne Ausnahme“, pflichtete sein Kollege ihm bei.

Das dezente Grinsen im Gesicht Reeds gefror zu einer steinernen Maske.

„Und Sie? Sind sie selbst zufrieden mit Ihren Positionen und finden diese gerechtfertigt?“, wandte er sich nun direkt an die beiden Soldaten.

„Ich kann mich nicht beklagen. Ich habe die Position bekommen, die ich wollte“, antwortete der erste.

„Na ja, ich hatte mich eigentlich für Cyberangriffe und Netzwerksicherheit beworben, aber das hat leider nicht geklappt. Aber ich bin in den Informationssektor gekommen, also zumindest nicht so weit weg von meinem ursprünglichen Ziel. Dass wir vom IT-Bereich trotzdem mit der ganzen Truppe zusammen so viel hartes Geländetraining haben, war aber schon bitter, vor allem im ersten Jahr.“

„Dann können Sie Herrn Dukaris Unzufriedenheit in diesem Punkt nachvollziehen?“, fragte Reed nach.

„Ja, das schon. Das war öfters mal Thema bei uns in der Arbeitsgruppe.“

„Und hat außer Herrn Dukari niemand versucht, mit dem Hauptmann darüber zu reden?“

„Doch, schon. Aber er hat sich halt nicht auf einen Kompromiss eingelassen, also haben wir es dann aufgegeben.“

„Bis auf Herrn Dukari?“

„Genau.“

„Aber Sie sprachen von ‚aufgegeben’. Dann würden Sie sich nach wie vor wünschen, das Training würde stärker an die Bedürfnisse der jeweiligen Einheit angepasst, ja?“

„Na ja, ein Stück weit wenigstens. Ich verstehe ja, dass im Ernstfall alle topfit sein müssen. Man weiß nie, was wo passiert. Aber dennoch, ja“, gab der Soldat zu.

„Vielen Dank. Das wäre alles“, beendete Reed seine Befragung.

„Möchte die Anwältin Frau Ichihara noch eine Frage an die Zeugen richten?“, wandte sich Richter Tsukishiro nun an Yuuko.

„Ja, eines würde ich gern fragen.“ Damit wandte sie sich den beiden Soldaten zu: „Abgesehen von den Ansichten über die Gestaltung des Trainings; gibt es außer Herrn Dukari noch weitere Mitglieder in der Sondereinheit, bei denen es in der Vergangenheit eindeutigen Spannungen zu Spannungen mit Herrn Sugawara gekommen war?“

„Nein…eigentlich nicht“, antwortete der erste Soldat nachdenklich.

„Und in der IT-Abteilung?“, wandte sich Yuuko an den zweiten Soldaten.

„Nein, bei uns eigentlich auch nicht. Unverständnis und teilweise Unzufriedenheit, ja. Aber keine ernsthaften Spannungen“, antwortete der zweite.

„Keine Probleme, trotz Unzufriedenheit?“, hakte Yuuko nach.

„Bisher haben sich die Entscheidungen des Hauptmanns halt wirklich noch nie als schlecht erwiesen. Deshalb gibt es einfach keinen Grund“, erklärte er.

„Und es ist ja auch nicht so, dass man gar nicht mit ihm reden kann“, ergänzte der erste. „Wenn man nach Gründen für eine Entscheidung fragt, bekommt man normalerweise auch eine Antwort. Man muss halt bloß einen günstigen Zeitpunkt abpassen, nach dem Training oder beim Essen zum Beispiel. Dukari hatte dafür echt kein Gespür. Er ist immer zu den ungünstigsten Zeiten zum Büro des Hauptmanns gegangen. So gesehen war es wohl kein Wunder, dass der Hauptmann ihm nie zugehört hat…“
 

Kuroganes Krankenwagen war währenddessen im Krankenhaus angekommen. Während der Fahrt hatte man ihm ein Betäubungsmittel verabreicht, das den Schmerz in seiner Schulter wesentlich erträglicher gemacht hatte und die Schusswunde notdürftig gereinigt und versorgt. Zum Ausgleich des Blutverlusts hatte Dr. Kyle ihm eine Kanüle gelegt und an eine Nährlösung angeschlossen. Solange man nicht wusste, wie stark die Schulter verletzt war und wo genau die Kugel feststeckte, konnte man ihm keinen Druckverband anlegen.

Vom Krankenwagen wurde er geradewegs in einen Rollstuhl bugsiert und zum Röntgen gefahren. Kurogane hatte dagegen protestiert, dass er problemlos allein laufen konnte, doch die Schmerzmittel in Kombination mit dem Blutverlust hatten wohl ausreichend dafür gesorgt, dass sein Protest inzwischen von niemandem mehr ernst genommen wurde. Aber im Grunde war das auch zweitrangig. Er wollte es nur schnell hinter sich bringen, damit er sich endlich nach Fye erkundigen konnte.

Das Röntgenbild zeigte, dass die Kugel wie durch ein Wunder keine Knochen oder Sehnen zerstört hatte. Allerdings saß sie ziemlich tief und war von seinem Schlüsselbein gestoppt worden, das davon eine Fraktur davongetragen hatte. Zumindest kein Bruch. Ober er nun Glück oder Pech gehabt hatte mit dem Schuss, war Ansichtssache. Fünf Zentimeter weiter links und die Kugel wäre von der schusssicheren Weste abgefangen wurden und hätte wahrscheinlich überhaupt keinen Schaden angerichtet. Zehn Zentimeter weiter oben und sie hätte auch seinen Kopf treffen können. Oder Fyes, wenn er nicht schnell genug gewesen wäre.

„Sie sind mir auch ein toller Soldat“, meckerte Dr. Kyle vor sich hin, während er mit einer Pinzette die Kugel aus der betäubten Schulter entfernte. „Drohen einem Mörder heldenhaft mit Ihrer Waffe und werfen sich mitten in die Schusslinie.“

‚Ja, bohr in meinen Wunden!’, dachte Kurogane brodelnd und schwieg verbissen. Das Schlimme war ja, dass dieses Schandmaul von Arzt recht hatte. Er hatte sich im entscheidenden Moment total idiotisch verhalten. Wie ein verschüchtertes Kind. Es kam ihm gerade selbst bizarr vor, dass man ihn einst als bestem Absolventen seiner Einheit befördert und ihm damit auch die Verantwortung über die Ausbildung der Rekruten übertragen hatte. Vielleicht wäre alles reibungsloser verlaufen, wenn jemand anders den Auftrag übernommen hätte. Vielleicht wäre Fye dann jetzt nicht in solch einem Zustand. Er hatte ganz recht damit gehabt, ihm nicht zu vertrauen, was Ashura betraf…

„So, fast wie neu!“, riss Dr. Kyle ihn mit einem Klopfer auf den Rücken aus seinen Gedanken. Auch wenn er ein ganzes Stück abseits der Wunde zugeschlagen hatte, konnte er den dumpfen Schmerz bis in seine Schulter hinauf pulsieren fühlen.

Fleischer… Der hatte eindeutig den Beruf verfehlt! Wenigstens war Kurogane die Kugel jetzt los, die Schusswunde war versorgt und genäht und er hatte einen anständigen Verband umgelegt bekommen. Sein rechter Arm ruhte in einer Armschlinge, was seine Schulter deutlich entlastete und ihm das Bewegen im Allgemeinen erleichterte.

„Gut, dann gehe ich jetzt“, entschied Kurogane und stand schwankend aus seinem Rollstuhl auf – oder versuchte es zumindest, denn Dr. Kyle erhob sich augenblicklich mit ihm, packte ihn an der Schulter – Gott sei Dank diesmal an der linken – und drückte ihn wieder nach unten.

„Sie stehen nicht auf, bevor ich das Okay dafür gebe. Und das kriegen Sie erst, wenn Sie nicht mehr rumtorkeln wie ein Besoffener.“

Na wunderbar…
 

„Stephan konnte keiner Fliege etwas zuleide tun“, berichtet Frau Dukari mit brüchiger Stimme, sich immer wieder die Tränen aus den Augenwinkeln tupfend. Sein Mann, der dicht neben ihr stand und einen Arm um die Taille seiner Frau gelegt hatte, musste ebenfalls schlucken und blickte mit glasigen Augen von den Anwälten zum Richter und wieder zurück.

„Er… Er war ein fröhlicher, lebhafter Junge und hatte viele Freunde. Niemals wäre er von sich aus handgreiflich geworden. Er hätte sich höchstens verteidigt.“

„Wie erklären Sie sich das schlechte Verhältnis zwischen Ihrem Sohn und seinem Vorgesetzten? Hat er Ihnen etwas darüber erzählt?“, fragte Fei Wong Reed.

„Nun“, begann sie naserümpfend, sich noch einmal die Tränen wegtupfend, „er war meinem Sohn gegenüber jedenfalls sehr parteiisch. Er hat ihm seinen Karriereweg verbaut, seinen Traum zerstört, er hat ihm nie zugehört, ja, nicht mal zu Wort kommen lassen! Und generell muss er die Soldaten in der Kaserne wohl wie kleine Kinder behandelt haben. Sie sind zwar noch in der Ausbildung, aber sie sind erwachsene Menschen und vollwertige Mitglieder unserer Gesellschaft. Die kann man doch nicht so gängeln!“

„Wissen Sie, was konkret Ihrem Sohn an den Regeln missfallen hat?“, fragte Reed weiter.

„Ich weiß leider nicht viel über die Ausbildung, denn vieles unterliegt natürlich der Geheimhaltung und daran hat er sich stets gehalten“, begann sie stolz, doch dann wechselte ihr Tonfall wieder in den bitteren Klang von zuvor zurück. „Aber er hat mir erzählt, dass sie die Kaserne abends nur an einigen Tagen in der Woche verlassen durften und dann bis Mitternacht oder noch früher wieder zurück sein mussten. Auch die Anzahl und Art der privaten Gegenstände, die man mit in die Kaserne nehmen durfte, war stark eingeschränkt und wurde immer kontrolliert. Wie bei Kindern. Und der allgemeine Umgangston muss auch sehr barsch gewesen sein. So kann man doch nicht mit erwachsenen Menschen umgehen!“ Ein Naseschnäuzen, noch einmal tupfte sich die aufgewühlte Frau die Tränen aus dem Gesicht. Dann schüttelte sie energisch den Kopf und blickte zu Fei Wong Reed und Richter Tsukishiro zurück.

„Und mal ganz abgesehen davon – Herr Sugawara hat doch ausreichend bewiesen, wie gewissenlos er ist. Wenn es ihm in irgendeiner Form nahegegangen wäre, was mit unserem Sohn passiert ist, hätte er doch wenigstens psychologische Hilfe in Anspruch genommen, aber wie Sie selbst gesagt haben, liegt überhaupt kein psychologisches Gutachten von einem Facharzt vor. Es war ihm also völlig egal, dass er einen Menschen getötet hat. Einen Menschen, für den er verantwortlich gewesen ist. Unseren einzigen Sohn!“
 

Nachdem man Kurogane auf sein Zimmer gebracht hatte, musste er für einige Zeit weggedöst sein. Jedenfalls lag plötzlich ein Teller mit Brot, Obst, Gemüse und Joghurt sowie eine Tasse Tee vor ihm, als er die Augen wieder öffnete. Wann ihm das gebracht worden war, hätte er beim besten Willen nicht sagen können. Wie lange war er wohl weg gewesen? Ein Blick auf die Uhr im Zimmer sagte ihm, dass es maximal eine halbe Stunde gewesen sein konnte. Wo man Fye wohl hingebracht hatte? Ob er wieder bei Bewusstsein war? Ob er zu ihm gehen konnte? Erneut versuchte er aufzustehen, doch seine Beine fühlten sich noch immer wackelig an. So würde der Doktor ihn sicher nicht herumlaufen lassen. Er musste zu Kräften kommen. Da kam ihm die Mahlzeit gerade recht. Hunger hatte er sowieso, irgendwo zwischen diesem Mischmasch aus Übelkeit und Flattern im Magen jedenfalls.
 

Die Kollegen von Stephan Dukari waren erneut in den Zeugenstand geladen worden. Yuuko wollte auch sie zum Umgangston in der Kaserne befragen.

„Ich finde, es ist nicht anders als in anderen Kasernen oder Regimentern“, nannte der eine seine Einschätzung.

„In wie vielen Regimentern haben Sie schon gedient?“, wollte Yuuko genauer wissen.

„Meinen Grundwehrdienst habe ich in einer ziemlich abgelegenen Kaserne auf dem Land abgeleistet. Dann habe ich mich zu den Bodentruppen versetzen lassen. Da ging es ein wenig strammer zu. Also die Befehle waren schärfer und als Rekrut hatte man sich eine Hinterfragung oder gar eine gegenteilige Meinung gar nicht erst erlauben brauchen. Verglichen damit ist meine jetzige Einheit ein bisschen…flexibler. Während des Trainings und der Arbeit natürlich nicht, aber danach hat man manchmal Gelegenheit, mit den Vorgesetzten ein wenig ins Gespräch zu kommen.“

„Und wie stehen Sie dazu?“, wandte Yuuko anschließend das Wort an den anderen Soldaten.

„Der IT-Bereich ist ein bisschen speziell. Ich habe außerhalb meiner Abteilung noch nicht so viel gesehen und weiß nicht, wie es anderswo aussieht. Aber wenn mir Diskussion und Fachsimpelei mit Kollegen am wichtigsten gewesen wären, wäre ich an der Universität geblieben“, meinte er schulterzuckend.
 

Kurogane riskierte einen vorsichtigen Blick in den Flur hinaus. Bis auf ein paar Schwestern war niemand zu sehen. Gut. Möglichst entspannt wirkend, verließ er sein Zimmer und ging den Gang hinunter. Er musste sich noch immer konzentrieren, um sicher laufen zu können, aber es ging schon besser als zuvor. Dass man ihn in eines dieser Krankenhausjäckchen gesteckt hatte, störte ihn ein wenig, denn er wollte nicht wie ein Patient behandelt werden. Bei der erstbesten Gelegenheit war er hier eh weg. Allerdings – wenn man stattdessen den frischen Verband an seinem Oberkörper gesehen hätte, würde wahrscheinlich die nächstbeste Schwester versuchen, ihn in sein Zimmer zurückzuscheuchen. Wenn er Glück hatte, erkannten sie ihn vielleicht auch gar nicht so schnell als den neuen Patienten mit der Schussverletzung an der Schulter. Mit viel Geduld und Seife hatte er es endlich geschafft, sein Gesicht von Himawaris Make-up zu befreien, so dass er endlich wieder das Gefühl hatte, sich selbst im Spiegel zu erblicken. Von der befremdlichen Haarfarbe und den Augenbrauen einmal abgesehen.

Wo war nun Fye? In der Notaufnahme? Und wenn ja, wo genau? Oder in einem der Operationssäle? Er wusste ja nicht einmal, welche Verletzungen genau er erlitten hatte und wie man ihn jetzt behandeln musste. Es blieb ihm wohl doch nichts anderes übrig, als nach seinem Aufenthaltsort zu fragen und zu hoffen, dass er Auskunft erhielt.

„Hier wurde vor anderthalb Stunden ein schwer verletzter Mann eingeliefert, Mitte zwanzig, ziemlich schmächtig, blonde Haare. Er heißt Fye D. Flourite. Können Sie mir sagen, wo ich ihn finde?“, sprach er die Schwester am nächstbesten Infoschalter an, den er finden konnte.

„Sind Sie ein Angehöriger?“, fragte die Schwester zurück und musterte misstrauisch Kuroganes Krankenhaushemd.

„Ich bin der, der ihn knapp dem Tod entrissen hat, also sagen Sie mir endlich, wo er ist. Ich hab keine Lust, das ganze Krankenhaus abzusuchen“, antwortete Kurogane ungeduldig.

Mit einer Mischung aus Erstaunen und Skepsis musterte die Schwester Kurogane erneut und antwortete schließlich knapp: „Ich werde sehen, was ich tun kann. Bitte warten Sie solange im Aufenthaltsraum.“

Widerwillig gehorchte er der Frau und ließ sich auf einem Stuhl in dem gläsernen Raum nieder, von dem aus er sie gut im Blick hatte. Die Schwester sah ihm so lange nach, bis er sich gesetzt hatte, dann begann sie, an ihrem Computer zu arbeiten, ein Telefonat zu tätigen und weiter auf den Tasten des Computers herumzutippen. Kurogane wurde misstrauisch. So schwer konnte es doch nicht sein, Fyes Aufenthaltsort aus der Datenbank herauszusuchen. Und dass sie ihm diese Information gab, hieß ja noch lange nicht, dass er einfach mitten in den Operationsraum hineinplatzen konnte oder wollte. Nein, das hier gefiel ihm nicht. Und sein Bauchgefühl trog ihn bei so etwas in der Regel nicht. Besser, er machte sich allein auf den Weg und suchte weiter. Doch kaum dass er den Raum verlassen hatte und den nächstbesten Fahrstuhl ansteuerte, lief er der Person in die Arme, die er im Moment am wenigsten sehen wollte.

„Hat Ihr Gedächtnis etwa auch Schaden genommen? Ich habe Ihnen noch keine Erlaubnis erteilt, hier herumzuspazieren“, kam der erwartet kühle Kommentar. Auch das noch. Kurogane warf einen hasserfüllten Blick auf die Krankenschwester, doch diese hatte ihm gerade den Rücken zugewandt. Mit Absicht, so viel war sicher!

„Um IHR Gedächtnis ein wenig aufzufrischen: Die Bedingung war, dass ich problemlos laufen kann“, giftete Kurogane zurück.

Dr. Kyle ging nicht darauf ein, griff nach Kuroganes linker Hand, setzte sein Stethoskop auf und überprüfte den Puls am Handgelenk. Nach einigen Sekunden ließ er beides wieder sinken.

„Nun gut, dann laufen Sie von mir aus hier rum, aber übertreiben Sie es nicht. Ich habe genug andere Patienten, um die ich mich kümmern muss. Operationssaal drei unten im Erdgeschoss im Ostflügel. Aber stören Sie die Kollegen nicht bei ihrer Arbeit.“

Damit ließ er Kurogane stehen und ging weiter seines Weges. Ein bisschen verdutzt sah Kurogane dem wehenden Kittel des Arztes nach. So viel Entgegenkommen hätte er von ihm am wenigsten erwartet. Nun, Kurogane hatte die Information, die er wollte. Der Rest konnte ihm egal sein. Sein eigenes Zimmer lag ebenfalls im Ostflügel, so dass es nicht lange dauerte, bis er den richtigen OP-Saal gefunden hatte. Die rote Lampe über den Türen leuchtete. Anscheinend wurde Fye noch immer behandelt. Was hätte er jetzt darum gegeben, dort drin bei ihm sein zu können! Doch Kurogane wusste, dass er damit niemandem einen Gefallen getan hätte. Er musste hier warten. Warten und hoffen, dass der Rettungssanitäter mit seiner ersten Einschätzung am Einsatzgebiet richtig gelegen hatte und die Ärzte dort drinnen gerade nicht um sein Leben kämpften.

Erschöpft ließ er sein Gesicht in seiner linken Hand verschwinden. Was sollte er nur tun, wenn er ihn nun doch verlieren sollte? Wenn er zu spät gekommen war? Warum war er sich erst sicher, was er wollte, als es vielleicht schon zu spät war?
 

Der Tathergang musste noch einmal genauestens ergründet werden. Aus den Akten war nur Folgendes bekannt: Der Vorfall hatte sich am Freitag vor dreieinhalb Wochen ereignet, als die Rekruten nach Arbeitsende bis 23 Uhr Ausgang erhalten hatten. Stephan Dukari hatte mit einigen Kollegen eine Kneipe im nahe gelegenen Ort besucht und dort gemeinsam den Abend ausklingen lassen. Bis auf ihn waren alle pünktlich in die Kaserne zurückgekehrt. Dukari selbst hatte noch ein wenig bleiben und in Ruhe sein Bier austrinken wollen, wie er den Kollegen mitgeteilt hatte. Seine Laune war an dem Tag nicht besonders gut gewesen. Er war wieder einmal mit Kurogane zusammengeraten. Diesmal war es so schlimm gewesen, dass Kurogane ihm sogar eine Verwarnung ausgesprochen hatte, ihn in eine andere Einheit versetzen zu lassen, wenn er sein Verhalten nicht änderte. Seine Freunde hatten ihm in der Bar ein paar Bier spendiert, ihn mit ein wenig kollegialem Zusammenhalt aufzuheitern versucht, doch es hatte nicht viel geholfen. Die Unzufriedenheit wich nicht aus Dukaris Gesichtszügen und immer wieder kreisten seine Gespräche um die „Zustände“ in der Kaserne, wie er es nannte. Seine Kollegen beschrieben ihn jedoch alle als „deprimiert“, nicht „wütend“. Laut Aussage der Gruppe, mit der er zusammen in der Kneipe gewesen war, hatte er bis zu deren Abschied auch nicht besonders viel getrunken, war zwar angetrunken, aber im Besitz seines Urteils- und Handlungsvermögens gewesen. Die nach dem Vorfall durchgeführte Blutuntersuchung hatte jedoch einen Blutalkoholgehalt von fast 3 Promille ergeben, was sich mit den Aussagen der Soldaten keinesfalls decken konnte. So wurde der Barkeeper vorgeladen, welcher an jenem Abend in der Kneipe Dienst gehabt hatte.

„Ich erinnere mich an den jungen Mann. Er war öfters mit seinen Kollegen in meinem Lokal. Als er das letzte Mal da war, wirkte er wirklich sehr niedergeschlagen. Er hat nicht viel gesprochen und auch nicht viel getrunken. Dabei haben ihm seine Kollegen das Bier sogar spendiert“, erinnerte sich der Mann.

„Wie viel hatte Herr Dukari denn getrunken?“, wollte Reed wissen.

„Hm… Anfangs so drei, vier Bier vielleicht? Vielleicht waren es auch fünf. Ich weiß es nicht genau. Sie waren ja eine ganze Weile da und weil seine Kollegen alles auf ihre Rechnungen genommen haben, kann ich nicht genau sagen, wer von ihnen nun was getrunken hat. Aber hemmungslos betrunken hat er sich jedenfalls nicht. Nur…nachdem seine Kollegen gegangen waren, hat er sich noch einiges bestellt.“

„Erinnern Sie sich, was er danach noch getrunken hat?“

„Er hat die Reste vom Bier ausgetrunken und sich dann noch ein paar Whiskey bestellt. Vier Gläser, in einer halben Stunde etwa.“

„Warum sind Sie sich da plötzlich so sicher, obwohl Sie kaum noch sagen können, wie viel Bier Herr Dukari zuvor mit seinen Kollegen getrunken hatte?“, fragte Reed skeptisch.

„Ich bin kurz nach dem Vorfall ja schon einmal dazu befragt worden, also wollte ich auf Nummer sicher gehen und habe die Abrechnung von dem Abend noch mal rausgesucht. Ich habe sie auch dabei, falls Sie sie brauchen“, antwortete er und holte einen zusammengefalteten kleinen Zettel aus seiner Tasche hervor.

„Warum haben Sie diese Information nicht dem Ermittlerteam gemeldet?!“ Fei Wong Reed war sichtlich nicht der einzige, den diese plötzliche Information überraschte.

„Ich wusste ja nicht, dass es bei der Befragung damals um eine SO heiße Sache ging!“, verteidigte sich der Mann. „Da kamen so ein paar Leute, die irgendwas meinten von wegen ‚Untersuchung’ und so und wollten eben von mir wissen, was die Soldaten ein paar Tage vorher in der Kneipe so gemacht und getrunken hätten und Ende. Das erlebt man immer mal wieder als Barkeeper. Dass der junge Mann an dem Abend gestorben ist, weiß ich doch selbst erst seit ein paar Tagen, seit ich die Einladung zu dieser Verhandlung im Briefkasten hatte!“

Beide Anwälte schwiegen daraufhin. Die Reaktion des Mannes war durchaus nachvollziehbar. Angelegenheiten innerhalb der Armee, noch dazu in Sondereinsatzteams, wurden stets mit höchster Verschwiegenheit behandelt. Dass der Mann sich danach überhaupt die Mühe gemacht hatte, die entsprechende Rechnung herauszusuchen und aufzuheben, war schon ein großes Glück.

„Vielen Dank für Ihre Umsichtigkeit. Könnten Sie uns bitte die Rechnung zeigen?“, unterbrach Yuuko die unangenehm schwere Stille. Ein Mitarbeiter der Untersuchungskommission nahm das Schriftstück entgegen.

„Ist Ihnen am Verhalten von Herrn Dukari eine Veränderung aufgefallen, nachdem seine Kollegen gegangen waren?“, fragte Yuuko anschließend.

„Nun… Ab dem dritten Glas ist er langsam redselig geworden. Er erzählte mir, dass man ihn ungerecht behandelte, dass sein Chef ihn nicht leiden konnte und ihm seine Zukunft verbaute und ähnliches. Er hat ziemlich geschimpft. Die anderen Gäste sind durch seine Beschwerden auch langsam unruhig geworden. Nach dem vierten Whisky hielt ich es für das Beste, ihm keinen weiteren Alkohol auszuschenken, denn er sah wirklich nicht mehr gut aus. Da fing er an aggressiv zu werden und mich zu bedrängen, dass ich meinen Job machen soll und dass ich ihm nicht vorzuschreiben habe, was er zu tun habe und so.“
 

Ein Adrenalinschub durchfuhr Kurogane, als die rote Aufschrift über den Türen zum OP-Saal erlosch. Um ein Haar wäre er wieder umgekippt, so schwindelig wurde ihm, als er plötzlich aufsprang, doch er kämpfte das Gefühl nieder und war bald wieder Herr seiner Sinne. Es dauerte noch eine gefühlte weitere Ewigkeit, bis sich die beiden OP-Türen öffneten und ein Ärzteteam mit Fye – es war tatsächlich Fye! – herauskam und geradewegs an ihm vorbeilief. Kurogane bemühte sich, mit den Ärzten Schritt zu halten.

„Wie geht es ihm?“

Einer der Weißkittel musterte ihn kurz, bevor er schließlich antwortete: „Gut sicher nicht. Durch zahlreiche innere und äußere Verletzungen hat er sehr viel Blut verloren, eine Fraktur am Jochbein, drei gebrochene Rippen, Quetschungen an Magen und Darm, Milzruptur und ein oder mehrere Schädel-Hirn-Trauma 1. bis 2. Grades erlitten. Von seinem psychischen Zustand ganz zu schweigen, nach dem, was er durchlitten haben muss.“

Kurogane wurde übel, als der Arzt all das herunterratterte. Besorgt fiel sein Blick auf das verbundene rechte Auge des Blonden. Der Arzt hatte nichts dazu gesagt. Sollte er fragen…?

„Sind Sie ein enger Vertrauter des Patienten?“, unterbrach der Arzt Kuroganes Gedanken.

„Ja…“, antwortete er unsicher.

„Dann bleiben Sie besser bei ihm. Eine nahestehende Person kann er mehr als gebrauchen, wenn er aufwacht.“
 

„…Das war echt nicht einfach, ihn festzuhalten und zur Tür raus zu bringen. Als der Chef ihm gedroht hat, ihn rauszuschmeißen, wenn er sich nicht benimmt, ist er richtig ausgetickt. Normalerweise ist das kein Problem für uns, denn wenn die Leute erst mal so dicht sind wie der, haben die meisten kaum noch Kontrolle über ihren Körper. Aber der war ja Soldat. Der war echt gut, das hat man gemerkt. Da waren mein Kollege und ich beide heilfroh, als draußen gerade sein Vorgesetzter ankam, um ihn abzuholen. Und plötzlich ist er auch wieder ruhig geworden, als er seinen Boss erkannt hat“, beendete der kräftig gebaute Mann, der an jenem Abend Stephan Dukari wegen seines zunehmend schlechten Benehmens rauswerfen musste, seine Erklärung.

„Wie wirkte Herr Sugawara auf Sie, als er Herrn Dukari abgeholt hat?“, fragte Yuuko den Mann.

„Ziemlich nüchtern, würde ich sagen. Also jetzt nicht im alkoholischen Sinne. Einfach…neutral halt“, versuchte er, den Eindruck aus seinen Erinnerungen zu rekapitulieren. „Er war ruhig und meinte irgendwas von wegen, dass Herr Dukari sich an die die Zeit halten soll und am nächsten Tag noch eine Trainingseinheit anstand oder so was.“

„War Herr Sugawara nicht gestresst oder genervt, als er seinen Kollegen abholen gekommen ist? Hat er vielleicht irgendeinen provozierenden Kommentar gemacht?“, hakte Fei Wong Reed nach.

„Nicht, dass es mir aufgefallen wäre… Er wirkte wirklich ruhig. Also falls er angespannt war, hat er sich das zumindest nicht anmerken lassen“, antwortete der Türsteher nachdenklich.

„Sind Sie sich sicher? Herr Sugawara musste nachts halb zwölf extra los, um seinen Rekruten abzuholen, mit dem er am Abend vor dem Ausflug Streit gehabt hatte und der als einziger nicht zur vorgeschriebenen Uhrzeit in der Kaserne zurück war. Wie hätte er da so ruhig bleiben sollen?“, fragte Reed kritisch.

„Einspruch, Euer Ehren“, unterbrach Yuuko die Befragung. „Die Art der Fragestellung des ehrenwerten Herrn Kollegen ist zu suggestiv. Er schränkt die Aussage des Zeugen ein.“

„Einspruch stattgegeben“, entschied Richter Tsukishiro. „Halten wir also die Fakten bis hierhin noch einmal fest. Herr Domeki, verlesen Sie bitte noch einmal das bisherige Protokoll.“
 

Das leise Piepen des EKG-Monitors war das einzige Geräusch, welches die gespenstische Stille im Zimmer durchbrach. Hin und wieder kam eine Schwester herein, um Fyes Zustand zu überprüfen, aber die meiste Zeit über war Kurogane allein mit ihm und bewachte seinen Schlaf. So sehr er sich auch wünschte, dass Fye endlich die Augen öffnen möge, so hatte er gleichzeitig Angst vor diesem Moment. Schuldgefühle lasteten auf ihm. Die Schuld, Ashura entkommen lassen zu haben. Die Freiheit, die er Fye hatte geben wollen, nicht eingelöst zu haben. Und die Schuld darüber, nicht ehrlich mit sich selbst gewesen zu sein. Wenn er jetzt so darüber nachdachte, wunderte ihn Fyes seltsames Verhalten der letzten Tage nicht mehr. Dass er auf Oruhas Besuch so empfindlich reagiert hatte. Dass er sich danach so zurückgezogen hatte. Seine schroffe Antwort auf Oruhas Bemerkung zu seiner „neuen Liebe“ musste wie ein Dolchstoß für diesen zerbrechlichen Menschen gewesen sein.

Wann hatte Fye wohl angefangen, sich in ihn zu verlieben? Als er die Nachricht von Chiis Entführung mit nach Hause gebracht hatte und Kurogane sich für seinen vorangegangenen Wutausbruch entschuldigt hatte? Nach dem Motorradunfall? Oder noch früher? Und seit wann fühlte er selbst sich eigentlich so zu dem anderen hingezogen? Er hatte lange gedacht – oder sich eingeredet? – es wäre einfach sein Beschützerinstinkt gewesen, dass er den Blonden so nah bei sich haben wollte. Aber hatte er ihm damit wirklich nur helfen, ihn beruhigen wollen? Hatte es sich nur deshalb so gut angefühlt, weil es Fye ein wenig beruhigen konnte? – Nein, gestand er sich ein. Es war damals schon mehr gewesen. So sehr der Blonde ihm zeitweise auch auf die Nerven gegangen war, mit seinen gespielten Albernheiten, seinen Ausflüchten, so sehr hatte es ihn auch beschäftigt. Diese dunkle Seite, die der andere mit aller Macht zu verstecken versucht hatte und die ihn doch so sehr zusetzte, hatte Kurogane nie losgelassen. Und obwohl Fye ihn anfangs ganz offensichtlich aus allem hatte heraushalten wollen, wollte Kurogane einfach nicht nachgeben und die Wahrheit erfahren, wollte ihm helfen.

Kurogane dachte an Fyes Geständnis zurück, an diese verzweifelte, gebrochene Gestalt, als er ihm das erste Mal von Ashura erzählt hatte. Allein bei dem Gedanken daran verkrampfte sich sein Magen wieder. An dem Abend hätte er ihn am liebsten umarmen und nie wieder loslassen wollen. Auch jetzt spürte er es wieder, dieses Bedürfnis, den anderen zu berühren, bei ihm zu bleiben, ihn nie wieder loszulassen.

… Ach, was sollte es! Wenn er von Anfang an ehrlich zu sich selbst gewesen wäre, hätte Fye es vielleicht geschafft, ihm das nötige Vertrauen entgegenzubringen, statt sich diesem Ashura direkt vors Messer zu liefern. Um ein Haar wäre es zu spät gewesen. Um ein Haar hätte er ihn unwiederbringlich verloren, und das nur wegen seiner Feigheit.

Vorsichtig rückte Kurogane seinen Stuhl ein Stück näher Richtung Mitte des Bettes und schob Fyes Decke ein wenig zurück, so dass die blasse Hand des Blonden zum Vorschein kam. Das Handgelenk war von roten Striemen und blauen Flecken übersät, die Fingernägel zerbrochen und blutunterlaufen. Kuroganes Magen verkrampfte sich einen Moment, als die Szene unten im Keller von CyberCom erneut in seinem Kopf aufflackerte. Vorsichtig umschloss er die geschundene Hand mit seiner eigenen linken.

Es tat ihm so leid…
 

„Warum waren Sie überhaupt so spät auf dieser abgelegenen Straße unterwegs? Ein Bus oder Taxi wäre viel sicherer gewesen“, fragte Fei Wong Reed Sakura und Shaolan.

„Wir wollten den Heimweg noch für einen kleinen Spaziergang nutzen. Das Wetter war so schön und wir gehen da öfter lang, auch nachts“, erklärte Shaolan sachlich. Ihnen hatte halt einfach der Sinn nach einem Spaziergang gestanden.

„Die Natur ist sehr schön und es war immer sehr friedlich“, ergänzte Sakura.

„Sie laufen nachts öfter allein über diesen Feldweg, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wie gefährlich das sein könnte?“, wiederholte Fei Wong in ungläubigem Tonfall.

„Einspruch, euer Ehren. Besagter Feldweg birgt keine offensichtlichen Gefahren. Das zeigen Fotos, Satellitenbilder und auch die persönliche Inspektion eines Polizeibeamten. Den Zeugen einen Vorwurf wegen fahrlässigen Verhaltens zu machen, ist übertrieben“, widersprach Yuuko.

„Einspruch stattgegeben“, gab Richter Tsukishiro ihr recht. „Bitte beschreiben Sie uns, wie Sie das Zusammentreffen mit Herrn Dukari und Herrn Sugawara erlebt haben.“

„Der Mann, Herr Dukari, ist uns schon von Weitem aufgefallen. Er hat stark geschwankt und wurde von Kurogane – ich meine, Herrn Sugawara, gestützt. Er hat auch die ganze Zeit lallend gesprochen. Ich habe nicht viel verstanden, aber ich glaube, es war etwas wie ‚keinen Spaß gönnen’, ‚wie kleine Kinder’ und ‚kann alleine laufen’ und ähnliches. Sakura ist vorsichtshalber ein Stück hinter mir gelaufen, als wir näher kamen. Herr Sugawara sah nicht aus, als ob er etwas getrunken hätte, aber der andere Mann hat uns Angst gemacht-“

„Ich erhebe Einspruch, euer Ehren. Die Aussage von Herrn Li ist aufgrund seiner Bekanntschaft mit dem Angeklagten eindeutig parteiisch. Wir sollten diesen Teil der Anhörung überspringen“, wandte Reed ein.

„An welcher Stelle genau sehen Sie Parteilichkeit, verehrter Herr Kollege?“, fragte Yuuko den anderen Anwalt.

„Die Beschreibung des Herrn Dukari schreit doch förmlich danach. Was daran ist bitteschön nicht parteilich?“, fragte Reed zurück.

„Die Beschreibung deckt sich mit dem Ergebnis der Blutprobe, ist also durchaus nicht unrealistisch. Herr Sugawara hatte nachweislich keinen Alkohol getrunken an jenem Tag und die Alkoholmenge, die Herr Dukari zu jenem Zeitpunkt im Blut hatte, brauche ich Ihnen sicher nicht noch einmal zu wiederholen, da wir dies gerade erst besprochen hatten“, ermahnte Yuuko ihn.

„Ich stimme Frau Ichiharas Argumentation zu“, entschied der Richter. „Bitte fahren Sie fort, Herr Li. Und behalten Sie dabei immer im Gedächtnis, dass Sie unter Eid aussagen und eine unvoreingenommene Aussage äußerst wichtig für die Verhandlung ist.“

„Dessen bin ich mir bewusst“, antwortete Shaolan mit ernstem Blick. Nachdem das geklärt war, nahm Yuuko den vorherigen Gesprächsfaden wieder auf: „Was ist passiert, als Sie sich begegnet sind?“

„Wie gesagt, Sakura lief ein bisschen hinter mir und wir versuchten, möglichst zügig vorbei zu kommen, weil Herr Dukari uns ein bisschen Angst gemacht hat“, wiederholte Shaolan.

„Was genau hat Ihnen Angst gemacht?“, wollte Yuuko wissen.

„Er hat so intensiv zu uns herüber gestarrt, als wir näher gekommen sind. Ich kann den Grund zwar nur vermuten, aber ich denke, er ist wohl auf Sakura aufmerksam geworden. Jedenfalls hat er mir nicht direkt ins Gesicht geschaut“, überlegte Shaolan laut.

„Ist es möglich, dass diese Blicke, bedingt durch den stark angetrunkenen Zustand von Herrn Dukari, nur Zufall gewesen sind? Bei einer Blutalkoholkonzentration über 0,8 Promille lässt bei den meisten Menschen die Kontrolle über den Körper bereits nach“, wand Fei Wong Reed ein.

„Das wäre möglich, ja“, gestand Shaolan ein.

„Laut Protokoll begann Herr Dukari, Frau Sakura Kinomoto zu belästigen. Können Sie den genauen Hergang beschreiben?“, fragte Yuuko, ungeachtet der kurzen Unterbrechung, weiter. Diesmal war es Sakura, die das Wort erhob: „Wir wollten gerade an ihnen vorbei gehen, als Herr Dukari mich ansprach. Er sagte: ‚Hey Süße, Lust auf ein bisschen Spaß? Der kleine Hänfling hat doch nichts zu bieten.’ Wir haben nicht reagiert und uns beeilt weiterzukommen, aber da hat er nach meinem Handgelenk gegriffen und wollte mich zu sich ziehen. Shaolan ist dazwischen gegangen und hat ihm gesagt, dass er mich loslassen soll. Da hat er Shaolan gepackt, zu Boden geschleudert und ihm gedroht. Er hat gesagt: ‚Du Grünschnabel hast hier gar nichts zu melden!’ Da hat…Herr Sugawara sich dann eingemischt und hat sich zwischen uns und den Soldaten gestellt. Ich bin zu Shaolan gegangen, um ihm hoch zu helfen. In der Zeit hat Herr Dukari Herrn Sugawara angeschrien und ihm vorgeworfen, dass er ihn wie ein Kind behandle und ihm sämtlichen Spaß verderbe. Dass…dass er gesehen hätte, dass ich mich eigentlich mit ihm vergnügen wollte…“

Sakura war zum Ende hin immer leiser geworden und ein deutlicher Rotschimmer hatte sich auf ihre Wangen gelegt. Shaolan drückte Beistand spendend ihre Hand.

„Das klingt alles sehr schlimm, was Sie da beschreiben“, kommentierte Reed trocken, „aber wie kommt es, dass Sie sich nach über drei Wochen noch so genau an all die Einzelheiten erinnern? Sogar an einzelne Dialoge?“

Sakura nickte stumm. Dann sprach sie weiter: „Ich hatte so große Angst. Ich weiß nicht, ob ich jemals vergessen werde, was der Mann in der Nacht gesagt hat…“

Sie rang mit Worten, sah sichtlich verloren aus. Yuuko kam ihr zu Hilfe: „Da auch Sie vereidigt aussagen, werden Ihre Aussagen hier nicht angezweifelt. Können Sie uns erzählen, was passiert ist, nachdem Herr Sugawara dazwischen gegangen ist?“

Sakura nickte, atmete noch einmal tief durch und sprach weiter: „Herr Dukari hat angefangen, Herrn Sugawara von sich weg zu schubsen und sah aus, als würde er eine Schlägerei anfangen wollen. Also er hatte die Hände zu Fäusten geballt. Da hat Herr Sugawara ihm eine Ohrfeige gegeben und ihm gesagt, er ist Soldat und ein Vorbild für sein Land, also soll er sich zusammenreißen. Herr Dukari war dann plötzlich ganz still und hat ihn nur seltsam angesehen. Herr Sugawara hat sich kurz zu uns umgedreht und uns gesagt, wir sollen hier verschwinden, da sind wir schnell weitergelaufen. Ein wenig später…später haben wir dann einen Schuss gehört. Das war einfach furchtbar. Wir haben uns umgedreht, aber in der Dunkelheit konnten wir niemanden mehr sehen. Shaolan hat gesagt, dass wir schnell die Polizei rufen müssen. Die nächste Polizeiwache war nicht weit weg, also sind wir gerannt, so schnell es ging, und haben dann dort einen Polizisten informiert.“

Damit endete Sakuras Bericht. Sie sah erschöpft aus, Tränen in den Augen. Die Erinnerung an jene Nacht hatte all die Ängste erneut in ihr aufgewühlt. Und jetzt, wo sicher war, dass durch diesen einen Schuss tatsächlich ein Mensch gestorben war, fühlte es sich umso schlimmer an.
 

„Herr Sugawara?“, riss ihn plötzlich jemand aus seinen Gedanken. Schnell zog Kurogane seine Hand zurück, sich im gleichen Moment dafür scheltend, warum er sich gerade aufführte wie ein kleiner Junge, den man bei etwas Verbotenem erwischt hatte. Die Hand zurück auf Fyes legend, drehte er seinen Kopf ein Stück um.

„Ja?“

Die Person an der Tür kam ein Stück näher. Es war ein Polizist, mit einem Klemmbrett unter dem Arm.

„Können wir kurz den Ort wechseln? Ich benötige eine Protokollaussage von Ihnen zu den Ereignissen bei CyberCom am heutigen Vormittag“, nannte er sein Anliegen.

Kuroganes Blick glitt zurück zu Fyes unruhig schlafendem Gesicht, das sich trotz der Störung kein Stück verändert hatte.

„Geht das nicht auch hier?“, fragte Kurogane müde. Jetzt, wo ihn der Vormittag wieder einholte, fühlte er sich unendlich erschöpft. Und er wollte keinesfalls verpassen, wenn Fye die Augen öffnete.

„Ich halte es für keine gute Idee, den Verletzten unnötig zu stören und ihn beim Aufwachen als erstes Einzelheiten über den Vorfall hören zu lassen“, wandte der Polizist ein. Widerwillig gestand Kurogane sich ein, dass er damit recht hatte. Mit einem letzten vorsichtigen Druck an Fyes Hand löste er ihre Verbindung wieder, erhob sich und folgte dem Mann aus dem Zimmer.
 

„Im Gespräch mit Herrn Sugawara und bei der Besichtigung seiner Wohnverhältnisse konnte ich keine Indizien dafür feststellen, dass er seine Tochter nicht kindgerecht erzieht“, fasste Herr Saito seine Eindrücke vom Besuch im Hause Sugawara am vergangenen Tag zusammen. Nachdem der Tathergang rekapituliert worden war, wandte man sich dem dritten und letzten Punkt auf der heutigen Tagesordnung zu: Kuroganes Eignung als alleinerziehender Vater und die Sicherheit seiner Tochter. „Das Kind hat zwei Zimmer mit vielen Spielsachen, auch Bücher, ernährt sich gesund – was auch das ärztliche Gesundheitsgutachten bestätigt, welches das Jugendamt in Auftrag gegeben hat. Dem schriftlichen Bericht sind einige Fotos von Zeichnungen des Kindes beigelegt.“

An der Stelle machte Herr Saito eine kurze Pause, um den Anwesenden Zeit zu geben, entsprechende Bilder aus ihren Mappen herauszusuchen. Dann sprach er weiter: „Ein Kinderpsychologe hat mir bestätigt, dass ein Kind, welches im Elternhaus sehr viel Leid erfährt, keine solchen Bilder zeichnen würde.“
 

„Sie standen dem Entführer Auge in Auge gegenüber und haben die geladene Waffe, die der Kollege Ihnen zugespielt hatte, entsichert und gezielt. Warum haben Sie nicht geschossen?“, fragte der Polizist für die Protokollaussage.

Erschöpft vergrub Kurogane sein Gesicht in der linken Hand, den Ellbogen auf den Tisch gestützt.

„Ich weiß es immer noch nicht genau“, gestand er kraftlos. „Das Einzige, was mir in dem Moment durch den Kopf ging, war der Gedanke, dass ich ihn hätte töten können.“

Ein wenig skeptisch hob der Polizist den Kopf.

„Sie sind dafür ausgebildet worden, in besonders gefährlichen Einsätzen aktiv zu sein. Ich nehme an, dass Sie schon viele Male in die Situation gekommen sind, auf einen Menschen zu schießen, um größeres Unglück zu vermeiden?“

„Ja, natürlich“, bestätigte Kurogane genervt.

„Haben Sie zuvor jemals gezögert?“

„Natürlich nicht. Ich weiß, dass das zu meinem Job gehört, verdammt“, erwiderte er etwas bissiger als beabsichtigt. Er wollte sich jetzt nicht damit auseinandersetzen. Er konnte es noch nicht. Doch der Polizeibeamte fragte weiter: „Haben Sie dabei schon einmal einen Kriminellen erschießen müssen?“

„Nein“, antwortete Kurogane sofort. „Bewegungsunfähig gemacht, ja, getötet, nein. Ich habe bei einem Einsatz noch nie mein Ziel verfehlt.“

„Dann…war der Vorfall mit Ihrem Kollegen das erste Mal, dass mit Ihrer Dienstwaffe ein Mensch ums Leben gekommen ist?“, hakte der Polizist vorsichtig nach. An seinem Tonfall konnte man erkennen, dass er sehr wohl wusste, dass er sich hier auf sehr dünnes Eis wagte. Kurogane schloss die Augen und nickte wortlos. Die Bilder ließen ihn einfach nicht los. Seit er vor Einsatzbeginn die Betäubungswaffe ausgehändigt bekommen hatte, tauchten sie immer wieder vor seinem inneren Auge auf.

„…Es liegen keinerlei Informationen einer psychologischen Behandlung vor. Haben Sie nach dem Vorfall keine Hilfe in Anspruch genommen?“, fragte der Polizist ihm nach einigen Augenblicken der Stille.

„Nicht nötig“, antwortete Kurogane knapp, nun wieder mit der gleichen Härte wie zuvor. Sie sollten ihn einfach nur alle in Ruhe lassen und ihn nicht ständig daran erinnern! Dann würde er sich schon von selbst erholen. Aber nein, es musste ja jeder Salz in die Wunde streuen!

„Es ist keine Schande, mit einem Spezialisten darüber zu sprechen. Dafür sind diese Leute da“, kommentierte der Protokollant sanftmütig, schob Kurogane seine Mappe und den Kugelschreiber zu und erhob sich, bevor Kurogane weiteren Einspruch erheben konnte.

„Ich danke Ihnen für Ihre Zeit. Wenn Sie keine Einwände haben, unterschreiben Sie bitte hier. Ich werde das Protokoll dann der Einsatzleitung zukommen lassen“, beendete er die Sitzung.

„Hn.“

Für Kurogane war die Sache damit auch beendet. Er wollte zu Fye zurück. Mehr schlecht als recht, durch den Verband und die Betäubung seiner Schulter kaum zu einer Bewegung fähig, kritzelte er seine Unterschrift unter das Dokument und machte sich auf den Rückweg.
 

„Ich bin mit Herrn Sugawara nicht oft einer Meinung, was die Erziehung von Tomoyo angeht“, erklärte Soma wahrheitsgemäß.

„Inwiefern genau?“, fragte Fei Wong Reed.

„Es sind meist Kleinigkeiten. Er gibt ihr keine geregelten Zeiten vor, wann gespielt und wann aufgeräumt wird. Vor allem das Aufräumen sollte er besser kontrollieren und anleiten, damit Tomoyo dies als normalen Teil des Alltags kennenlernt. Und er will jedes Mal Salz auf ihre Möhren- und Gurkenstücke streuen. Dabei ist in den meisten Nahrungsmitteln heutzutage schon genug Salz enthalten und Kinder sollten lernen, auch den natürlichen Geschmack von Lebensmitteln zu schätzen. Das führt sonst später oft zu ungesundem Essverhalten. Außerdem schneidet er das Gemüse immer in ziemlich grobe Stücke. Nun…“, fügte Soma hinzu und lächelte ein wenig verschmitzt, „es sind, wie gesagt, Kleinigkeiten. Tomoyo bewegt sich viel und isst viel Gesundes. Sie hat gesunde Zähne – sie putzt sie auch immer ordentlich – und kann ohne Probleme abbeißen und kauen. Es ist wohl eher eine Geschmacks- als eine Gesundheitsfrage. Ich persönlich finde kleinere Stücke für kleine Kinder einfach passender und niedlicher.“

Der anfänglich verhalten erwartungsvolle Blick war nach diesem letzten Kommentar wieder aus Reeds Blick gewichen.

„Und ist Ihnen sonst irgendetwas an Herrn Sugawaras Erziehung aufgefallen? Von persönlichen Vorlieben einmal abgesehen. Etwas, wo Sie als erfahrene Kindererzieherin echte Bedenken haben?“, versuchte Reed es noch einmal.

„Echte Bedenken…nein, eigentlich nicht“, antwortete sie, zögerte dann einen Moment und fügte schließlich hinzu: „Zugegeben… Direkt nach seiner Beurlaubung war ich zuerst besorgt. Herr Sugawara hatte mich am selben Tag entlassen – was ich soweit ja auch nachvollziehen kann. Immerhin war es meine Aufgabe gewesen, in seiner Abwesenheit auf Tomoyo aufzupassen. Wenn er nun zu Hause war, brauchte er mich natürlich nicht mehr. Aber… Am ersten Tag seines Urlaubs gab es einen ziemlichen Streit in seiner Wohnung. Ich bin hoch gegangen, um nach dem Rechten zu sehen. Tomoyo war ganz aufgelöst und Herr Sugawara wirkte völlig überfordert. Da habe ich mir natürlich Sorgen gemacht, ob er der Kindererziehung allein gewachsen war. Natürlich hat Herr Sugawara mir nichts erzählt und sich auch nicht helfen lassen, aber ich habe versucht, ein Auge auf die Situation zu halten. Nach ein paar Tagen hatte sich ihr Verhältnis aber schon erstaunlich gebessert. Tomoyo wirkte glücklich und Herr Sugawara war entspannt, wenn ich sie auf der Straße oder im Treppenhaus sah. Und jetzt, wo ich den Grund für seinen plötzlichen Urlaub kenne, wundert es mich auch nicht mehr, dass er die ersten Tage so überfordert war. Da ist es eher erstaunlich, dass sich alles so schnell beruhigt hat…“
 

Kurogane fühlte sich sehr erschöpft, als er zurück in Fyes Zimmer war. An der Tür hielt er kurz inne. Noch immer lag der Blonde so reglos da, wie er ihn verlassen hatte. Wie lange es wohl dauern würde, bis er aufwachte? Laut den Ärzten und der Krankenschwester war er außer Gefahr und brauchte nur noch ausreichend Erholung, bis er wieder zu sich kam. Aber es beunruhigte ihn dennoch. Wie viel Zeit war vergangen, seit die Operation abgeschlossen war? Würde er heute noch zu sich kommen? Oder morgen…? Wie lange es auch dauern würde – Kurogane würde ihn nicht mehr allein lassen. Nie wieder würde er ihn so im Stich lassen.
 

„Sie haben sich die vergangenen vier Tage um Tomoyo gekümmert. Wie würden Sie ihr Verhältnis zu ihrem Vater einschätzen?“, fragte Yuuko Oruha, als diese im Zeugenstand Platz genommen hatte.

„Die erste Nacht hat sie sich die Augen nach ihrem Vater ausgeweint und wollte überhaupt nicht mit mir reden“, erinnerte sich die gebrechliche Frau sorgenvoll. „In den nächsten Tagen ist es besser geworden, aber sie hat immer wieder nach ihm gefragt. Warum sie nicht bei ihrem Vater sein darf, wann sie wieder zu ihm zurück kann. Alles, was ich tat, hat sie mit ihm verglichen. Oder mit ihrem Kindergärtner oder dem Kindermädchen Soma. Vom Essen bis hin zu den Märchen, die ich ihr erzählt habe. Bei allem hieß es: ‚Papa macht das aber so’ oder ‚Soma hat das aber so gemacht’. – Im ersten Moment war ich froh, als ich sie gesund und wohlbehalten in die Arme schließen konnte, aber jetzt weiß ich nicht mehr, ob ich das Richtige getan habe.“

„Sie haben eingangs zu Protokoll gegeben, dass Sie auch persönlich Kontakt mit Herrn Sugawara aufgenommen und ihn getroffen haben. Wie ist das Treffen abgelaufen?“, fragte Yuuko, nachdem Oruha ihre Erklärung beendet hatte.

„Nachdem ich so plötzlich verschwunden war, hätte ich, ehrlich gesagt, nicht einmal damit gerechnet, dass er sich überhaupt auf ein Gespräch mit mir einlässt, geschweige denn meine Bitte akzeptiert, ihn noch einmal treffen zu können“, begann sie. „Begeistert war er natürlich nicht. Weder am Telefon noch als ich dann in der Tür stand. Ich bin ihm aber dankbar, dass er mir dennoch zugehört hat. Ich weiß nicht, inwieweit er meine Entscheidung von damals nachvollziehen kann. Vielleicht weiß er es selbst noch nicht. Alles in allem verlief das Treffen jedenfalls ziemlich ruhig.“

„Gibt es Ihrer Einschätzung nach irgendwelche Einwände dagegen, Herrn Sugawara das Sorgerecht über seine Tochter zu überlassen?“, fragte Yuuko weiter.

„Darüber möchte ich mir lieber kein Urteil erlauben“, antwortete Oruha zögerlich. „Ich hatte zwar bei dem Gespräch keinen schlechten Eindruck von ihm, aber ich weiß einfach zu wenig über die weiteren Umstände. Diese Entscheidung möchte ich dem Jugendamt und dem Gericht überlassen.“
 

Ein kurzes Zucken unter seiner linken Hand ließ Kurogane aus seinem dämmrigen Zustand aufschrecken. Ein tiefer Atemzug, ein gequältes Stöhnen. Mit sichtbarer Anstrengung öffnete sich ein Augenlid, hinter dem eine trüb glimmende mattblaue Iris zum Vorschein kam.

„Was…? Wo…?“, vernahm Kurogane Fyes schwache Stimme, die Angst nicht nur deutlich hörbar, sondern auch in dem plötzlich einsetzenden Zittern, dem Verkrampfen des Körpers zu spüren. Das nicht verbundenes Auge blickte wild umher.

„Sch…“, zog Kurogane seine Aufmerksamkeit auf sich und legte behutsam seine Hand an Fyes kühle Wange.

„Du bist im Krankenhaus. In Sicherheit. Dir kann nichts mehr passieren“, informierte Kurogane ihn.

„…Kurogane?“, fragte der Blonde nach einem Moment. Unsicher, ungläubig. Der Angesprochene nickte zur Bestätigung.

„Dein Gesicht… Dann…war das kein Traum gewesen? Dort, dort unten, bei…“

Das Zittern wurde stärker, sein Körper verspannte sich. Das EKG-Gerät zeigte, wie sich seine Herzfrequenz erhöhte. Kurogane musste ihn aus seinen Gedanken reißen, in das Hier und Jetzt zurückholen.

„Es ist alles gut. Du bist jetzt im Krankenhaus, hörst du? Du bist in Sicherheit“, wiederholte er seine Worte noch einmal, eindringlicher. Mit sanftem Druck auf Fyes Wange brachte er ihn dazu, ihn direkt anzusehen und ergänzte: „Ich werde nicht zulassen, dass dich je wieder jemand verletzt.“

Fye suchte eine Weile Kuroganes Gesicht ab, schweigend. Noch immer irritiert, ungläubig, verängstigt. Halt suchend. Schließlich schien er den Worten langsam Glauben zu schenken – oder er hatte einfach keine Kraft mehr für mehr Aufregung. Jedenfalls war Kurogane froh, als Fyes Gesichtszüge sich etwas entspannten.

„Chii… Was ist mit Chii?“, kam die nächste Frage voller Sorge.

„Ihr geht es gut. Sie ist unverletzt. Steht ein bisschen unter Schock, aber man kümmert sich gut um sie.“

Wo genau das Mädchen jetzt war und ob Seishiro immer noch bei ihr war oder irgendein anderer, das wusste Kurogane gar nicht, aber es war im Moment auch Nebensache. Wichtiger war es, Fye zu beruhigen. Und die kleine Chii war definitiv in guten Händen, so viel war sicher.

Fye schloss erschöpft die Augen, eine Träne stahl sich aus seinem Augenwinkel, erneut musste er tief durchatmen, um die Fassung nicht zu verlieren. Dann öffnete er es wieder und musterte Kuroganes Gesicht erneut.

„Was genau ist passiert?“, fragte er schließlich. Die Anstrengung hinter den Worten war nicht zu überhören.

„Lass uns später darüber reden, wenn es dir besser geht“, wollte Kurogane einlenken, doch der andere blieb hartnäckig.

„Was ist passiert?“, wiederholte er, diesmal eindringlicher. Kurogane gab sich geschlagen.

„Wir haben euch da raus geholt. Yuuko, die Polizei und ich. Deshalb hat man mir dieses neue Gesicht verpasst, damit ich erst mal unbemerkt in die Firma reinkommen konnte.“

„Unmöglich… Er…ist mächtig. Er ist zu gut informiert…!“, hauchte Fye fassungslos und versuchte, sich ein Stück aufzurichten, wurde jedoch durch Kuroganes Hand auf seiner Brust sanft davon abgehalten.

„Ruh dich aus“, ermahnte der Schwarzhaarige ihn sanft. Er zögerte, sah zur Seite. Er wusste, er musste es ihm irgendwie beibringen, aber wie? Er sollte noch ein bisschen warten, auf einen besseren Zeitpunkt. Nur wann sollte der sein?

„Was ist los?“

Fye hatte die Unruhe in seinem Gesicht natürlich bemerkt.

„Ashura…ist mir entkommen. Es tut mir leid“, gestand er schließlich. Es war bitter. Bitter, das bodenlose Entsetzen, diese Panik in Fyes Gesicht sehen zu müssen. Und zu wissen, dass er Schuld daran war.

„Ich hatte eine Waffe. Ich hätte schießen können. Ich hätte schießen MÜSSEN. Ich hätte ihn aufhalten können und habe es nicht getan. Ich-“

Fye brachte ihn mit einer kurzen Bewegung seines Armes zum Schweigen.

„Danke“, hauchte er.

„Was?“

Kurogane war verwirrt.

„Du hast mir das Leben gerettet. Und es musste niemand sterben.“

„Besser, er wäre jetzt tot als irgendwohin entkommen!“, widersprach Kurogane. Wie konnte Fye nach all den Qualen, die er durchgemacht hatte, die er jetzt erneut durchlebte, plötzlich so etwas sagen?!

„Bitte sprich nicht so einfach vom Sterben. Ich weiß, dass er viele Menschen auf dem Gewissen hat. Und ich war genauso daran beteiligt. Aber ich will nicht, dass noch jemand meinetwegen stirbt, egal wer“, erklärte Fye brüchig, mit einem Hauch von Verzweiflung in der Stimme.

„Du trägst keine Schuld!“, widersprach Kurogane heftig. „Er hat dich ausgenutzt, deine Gutmütigkeit und- argh!“

Er hielt in der Bewegung inne und griff reflexartig nach seiner rechten Schulter. Die Wirkung des Schmerzmittels war inzwischen so gut wie verklungen und die plötzliche Bewegung hatte einen deutlichen Stich durch seinen Oberkörper gejagt.

Fyes Auge weitete sich.

„Kurogane… Du bist verletzt! Das ist passiert, als du mich gerettet hast, oder? Warum? Warum bringst du dich in solche Gefahr? Was habe ich nur getan? Ich habe dich viel zu tief da mit reingezogen. Ich bin so ein Egoist. Ich habe es überhaupt nicht verdient, dass-“

Weiter kam er nicht, denn Kurogane hatte seine Lippen mit seinen eigenen verschlossen, den erneuten Schmerz in seiner Schulter ob der plötzlichen Bewegung ignorierend. Das Gefühl, welches es in seinem Herzen, in seinem Bauch auslöste, war es allemal wert. Am liebsten hätte er den Kuss intensiviert, mit seiner Zunge um Einlass gebeten, Lippen, Zunge, alles erkundet, Fyes Geschmack kennengelernt, durch sein Haar gestrichen…

Doch die verletzten Lippen des anderen erinnerten ihn nur zu deutlich daran, in welch schwierigem Zustand der fragile Mann sich nach wie vor befand und so ermahnte er sich zur Zurückhaltung. Er spürte kaum eine Gegenreaktion von den Lippen des Blonden, doch die dünnen, kalten Finger, die zittrig nach seiner Hand suchten, waren ihm Zeichen genug.

Als er schließlich den Kontakt ihrer Lippen löste, ging ihrer beider Atem schneller und der Ton des EKG-Geräts verriet, dass sich nicht nur sein Herzschlag deutlich beschleunigt hatte. Weitere Tränen stahlen sich aus Fyes Augenwinkel und verschwanden im Kopfkissen.

„Es war meine eigene Entscheidung. Ich bin nicht gut darin, mich mit Gefühlen auseinanderzusetzen und stell mich manchmal an wie die Axt im Walde. Aber ich weiß jetzt, was ich will. Und ich bereue diese Erkenntnis keine Sekunde. Das einzige, was ich bereue, ist, dass ich es nicht früher verstanden habe“, gestand er dem anderen.

Eine weitere Träne stahl sich durch das inzwischen wieder geschlossene Augenlied des Blonden. Sein Atem und seine Herzfrequenz hatten sich wieder beruhigt. Es folgte keine weitere Reaktion. Ob Fye seine Worte noch gehört hatte, bevor er wieder weggedämmert war? Kurogane wusste, es war ein unpassender Zeitpunkt, das zu denken, aber Fye hatte wirklich lange Wimpern und schön geschwungene Augenbrauen. Vorsichtig zog er sie mit einem Finger nach und tupfte die Tränenspur in seinem Augenwinkel weg.
 

Tränen. Und ein herzzerreißendes „Papaaaaaa!“ Das waren die ersten Reaktionen von Tomoyo, als das kleine Mädchen, sich ängstlich an Somas Hand festklammernd, im Zeugenstand vor dem Richter, den beiden Anwälten und den Geschworenen stehen musste. Überfordert sah man sich an. Wie umgehen mit diesem kleinen Kind? Die Aussage war zu wichtig, als dass man sie hätte auslassen können. Mitleidsvolle Blicke von Yuuko und den Schöffen, Besorgnis im Gesicht von Richter Tsukishiro. Und erstmals Ratlosigkeit auf dem meist harten, zynischen Gesicht von Fei Wong Reed. Yuuko schlug schließlich vor, das Gespräch mit Tomoyo in einen gemütlicher eingerichteten Raum zu verlegen und nur die nötigsten Personen, also beide Anwälte, den Richter und Soma, dabei zu haben. In Anbetracht der Umstände willigte man ein – Tomoyo war ebenfalls einverstanden – und zog um. Ein Mikrofon würde die Unterhaltung aufnehmen und die Schöffen konnten das Geschehen zusätzlich über eine Überwachungskamera mitverfolgen, deren Bild in den ursprünglichen Gerichtsraum umgeleitet wurde. Richter Tsukishiro legte sogar seine schwarze Robe ab, Tomoyo, die auf Somas Schoß sitzen durfte, bekam eine Tasse warme Milch.

Richter Tsukishiro war es schließlich, der als erster das Wort an Tomoyo richtete: „Warum hast du vorhin nach deinem Papa gerufen?“

Sofort wurden Tomoyos Augen wieder glasig.

„Ich vermisse meinen Papa so sehr. Warum kann er heute nicht kommen? Yuuko-san hat versprochen, dass ich ihn heute sehen darf.“

„Das tut mir wirklich leid, mein Liebes. Es gab ein großes Problem und dein Papa ist der Einzige, der helfen kann. Das haben wir dir doch vorhin erklärt“, versuchte Yuuko sie noch einmal zu trösten, ohne zu viel preiszugeben. Es hätte Tomoyo nur noch mehr Angst gemacht, wenn sie die ganze Wahrheit gekannt hätte. Aber man sah dem Mädchen an, dass es mit der Erklärung nicht wirklich zufrieden war.

„Warum sprichst du denn immer nur von deinem Vater? Hast du deine Mama gar nicht lieb?“, wechselte Reed das Thema.

„Doch…schon…“, überlegte Tomoyo unsicher.

„Ist es nicht schöner, bei einer Mama zu sein?“

„NEIN!“, antwortete sie prompt empört. „Mein Papa ist der beste Papa der Welt!“

„Was macht dein Papa denn Tolles?“, fragte nun wieder Yuuko.

„Wir sind zusammen auf den Jahrmarkt gegangen! Und seit Papa zu Hause ist, gehen wir ganz oft zusammen in den Kindergarten. Und am Wochenende gehen wir manchmal in den Park spielen. Manchmal gehen wir auch zusammen mit Fye-nii-chan und Hataki zusammen spazieren. Und-“

„Wer ist denn Hataki?“, unterbrach Reed den immer munterer werdenden Redeschwall des Mädchens verwirrt.

„Der Hund vom Tierheim.“

„Ihr kümmert euch um einen Hund aus dem Tierheim?“, fragte er skeptisch nach.

„Ja. Einmal, da waren wir mit Nii-chan und den anderen Kindern vom Kindergarten im Park spielen, da kam ein großer, böser Hund auf uns zugerannt und hat Nii-chan gebissen. Das war ganz furchtbar! Ich hatte ganz viel Angst. Und eigentlich wollte ich gar nicht mit Hataki spazieren gehen, aber Hataki ist nicht so böse wie der andere Hund. Eigentlich ist er süß.“

Tomoyo schaute ein bisschen angestrengt an die Decke, als würde sie überlegen. „Letzte Woche waren wir gar nicht mit ihm spazieren. Auch Nii-chan wollte plötzlich gar nicht mehr gern spazieren gehen und hat immer ganz traurig geguckt. Ich habe Angst, dass Nii-chan wieder etwas Schlimmes passiert ist…“

Tomoyos Gedanken gingen in eine gefährliche Richtung. Die Erwachsenen wussten, dass dieses Thema schnell gewechselt werden musste.

„Also unternimmt dein Papa sehr viel mit dir, ja?“, fasste Richter Tsukishiro die Aussage auf Yuukos ursprüngliche Frage zusammen.

„Ja!“, bestätigte das Mädchen freudig.

„Aber warum hat dein Papa dich dann in den Kindergarten gebracht? Zu Hause könntet ihr doch noch viel mehr gemeinsam machen“, wandte Reed ein.

„Hm…“, überlegte Tomoyo und ihr Blick wurde traurig. „Ich glaube, Papa war krank. Vielleicht hat er deshalb Urlaub bekommen? Er sah ganz schlecht und traurig aus. Und wenn man krank ist, braucht man viel Ruhe und muss ganz viel schlafen. Also bin ich in den Kindergarten gegangen. Damit Papa wieder gesund werden konnte. Und dann ging es ihm wieder besser! Papa lacht wieder und manchmal ist er den ganzen Tag bei meinen Freunden und mir im Kindergarten und wir spielen alle zusammen und er hilft Nii-chan. Das ist so toll! Am liebsten möchte ich für immer zusammen mit Nii-chan und Papa in den Kindergarten gehen, zu Sakura-chan und Yuzu-chan und Ryu-kun. Ryu-kun sagt manchmal freche Sachen, auch zu Papa, aber eigentlich findet er meinen Papi toll und möchte auch so werden wie er. Ryu-kuns Vater ist nämlich Polizist und beschützt die Menschen und Ryu-kun möchte auch alle beschützen und-“

„Das hört sich wirklich fantastisch an“, unterbrach Reed Tomoyo schließlich, die sich schon wieder in ihrer Euphorie verlor, und machte sich dabei nicht einmal die Mühe, sein Desinteresse zu verbergen. „Aber ist dein Papa denn nie streng mit dir? Vor allem in der Zeit, als er so ‚krank’ war? Hat er dich nie geschlagen?“, fragte Reed ungläubig.

„Nein. Man darf doch niemanden schlagen“, antwortete das Mädchen ganz selbstverständlich.

„Und geschimpft? Er schimpft doch bestimmt manchmal“, versuchte Reed es weiter. Diesmal wurde Tomoyo still, fuhr etwas ertappt zusammen. Alle Augen ruhten auf ihr, doch sie schwieg.

„Wir wollen deinen Papa besser kennenlernen, deshalb ist es wichtig, dass du uns alles erzählst“, erinnerte Richter Tsukishiro sie sanft.

„Na ja…“, begann sie zögerlich. „Einmal hat Papa ganz schön geschimpft. Ich wollte Plätzchen backen, aber Papa wollte nicht. Also wollte ich allein backen. Aber ich konnte nicht an die hohen Schränke kommen, also bin ich auf den Herd geklettert. Da kam Papa ganz plötzlich, hat mich weggezogen und ganz doll geschimpft, weil ich nicht gehört habe…“

„Weil du allein in der Küche backen wolltest? Hast du alles schmutzig gemacht?“

„Ja, aber deshalb hat Papa nicht geschimpft. Er hat gesagt, dass der Herd gefährlich ist und dass ich mir weh tun kann. Und dann hat er ‚Entschuldigung’ gesagt, weil er geschimpft hat.“

„Hast du den Herd etwa an gemacht?“, fragte Yuuko dazwischen, deutlich erschrocken.

„Ja…“, gab sie kleinlaut zu. „Aber ich mach’s nie, nie wieder. Versprochen. Papa hab ich es auch versprochen.“

„Aber dein Papa hätte doch ruhig mit dir backen können. Das ist doch etwas Schönes“, warf Reed ein.

„Ich denke, wann Vater und Tochter was zusammen machen, das sollten wir hier nicht diskutieren. Und wir können ihm auch nicht vorschreiben, wann er welchem Wunsch von Tomoyo nachkommt und wann nicht“, gab Yuuko zu bedenken.

„Das ist wahr“, entschied Richter Tsukishiro. „Es gibt kein Patentrezept für DIE einzig richtige Erziehung.“

„Später hat Papa dann trotzdem mit mir gebacken“, ergänzte Tomoyo leise.

„Hat er das? Kann dein Papa denn gut backen?“, fragte Yuuko.

„Na ja… Also der Teig sah ganz lustig aus, aber wir konnten keine Plätzchen damit machen. Also haben wir dann Nii-chan angerufen und er hat uns gesagt, was wir machen sollen.“

„Das klingt doch schön! Habt ihr noch mehr so tolle Sachen gemacht in letzter Zeit?“, fragte Richter Tsukishiro.

„Ja! Bevor die bösen Menschen kamen, die mich von zu Hause entführt haben, haben Papa und Fye-nii-chan Musik gemacht. Und Papa kann ganz toll singen, aber das wusste ich vorher schon, denn er singt mir abends manchmal Schlaflieder vor, wenn ich nicht einschlafen kann.“

Ein Schlaflieder singender Kurogane Sugawara? Richter wie Anwälten stand bei dieser Offenbarung die Überraschung ins Gesicht geschrieben. Als Tomoyo das bemerkte, schlug sie erschrocken die Hände vor den Mund.

„Bitte, bitte, sagen Sie das nicht Papa! Das darf ich eigentlich gar nicht sagen. Ich glaube, Papa schämt sich, wenn andere Leute das wissen. Er hat gesagt, dass das ein Geheimnis ist. Sie verraten mich doch nicht, oder? Oder?“

Gegen Ende hin wurde Tomoyos Stimme regelrecht flehend, verzweifelt.

„Natürlich nicht“, lächelte Yuuko beruhigend und strich ihr einmal durch ihre lockigen Haare. „Versprochen.“

„Sie auch?“, fragte Tomoyo weiter und sah einem nach dem anderen an, inklusive Soma, und war nicht eher zufrieden, ehe sie von jedem ein Ehrenwort erhalten hatte.
 

Die Sonne war längst unter gegangen. Kurogane hatte sich geweigert, noch einmal von Fyes Seite zu weichen. Auch dessen Hand hatte er nur losgelassen, gezwungenermaßen, damit eine Schwester Fyes Gesundheitszustand überprüfen konnte. Das Abendessen hatte man Kurogane schließlich auch in Fyes Zimmer gebracht. Jetzt, wo es vor ihm stand, merkte er, wie hungrig er war. Er hatte seit den frühen Morgenstunden kaum gegessen oder getrunken. Da störte ihn der fade Geschmack jetzt auch nicht weiter. Er hatte gerade erst aufgegessen, als es erneut an der Tür klopfte.

„Herr Sugawara?“, sprach ihn ein junger Mann an. Vielleicht Arzthelfer oder Pfleger. „Telefon für Sie. Eine Frau Ichihara möchte Sie sprechen.“
 

TBC…

Weil du da bist

Disclaimer: Die Charas gehören (bis auf wenige Ausnahmen) nicht uns, sondern Clamp. Wir wollen kein Geld damit verdienen, sondern nur unterhalten.
 

Erstschreiber des Kapitels: Lady_Ocean

Kapitel: 25/26
 

-~*~-
 

„Die Liebe ist vielleicht der höchste Versuch, den die Natur macht, um das Individuum aus sich heraus und zu dem anderen hinzuführen.“

(José Ortega y Gasset)
 

-~*~-
 

Weil du da bist
 

„Wie geht es euch?“, erkundigte Yuuko sich, kaum dass Kurogane den Hörer zur Hand genommen hatte.

„Bestens. Die Kleine ist unverletzt. Nur Fye…“ Er zögerte kurz. „Er wird eine ganze Weile brauchen, bis er sich erholt hat“, beendete Kurogane seine Einschätzung schließlich vage. Was hätte er auch sonst groß sagen sollen? Wenn sie die medizinischen Einzelheiten wissen wollte, konnte sie die Ärzte fragen.

„… Das ist mehr, als ich zu hoffen gewagt hatte“, gestand seine Gesprächspartnerin mit deutlicher Erleichterung in der Stimme.

Kurogane wollte zum Sprechen ansetzen, stockte. Zögerte. Er hatte damit gerechnet, dass Yuuko ihn sofort über den Verlauf der Verhandlung aufklären würde, doch stattdessen hatte sie zuerst nach ihnen gefragt. War es nicht gut verlaufen? Sein Fernbleiben, die eigenmächtige Durchsetzung des Einsatzes hatten mit Sicherheit ein schlechtes Licht auf sie geworfen. Wollte sie sich deshalb zuerst über sein Wohlbefinden erkundigen, um zu sehen, ob sie ihm die schlechte Nachricht jetzt zumuten konnte?

Sein Schweigen musste wohl langsam auffällig sein, dem amüsierten Unterton in Yuukos Stimme nach zu urteilen, als diese erneut das Wort ergriff: „Willst du denn gar nicht wissen, wie die Verhandlung ausgegangen ist?“

„Dann spuck es doch endlich aus!“, blaffte Kurogane entnervt zurück, fertig mit den Nerven, sein Innerstes tosend. Erst mied sie das Thema und dann machte sie schon wieder Späße. Er hatte wahrlich genug Aufregung für heute!

„Die endgültige Entscheidung über den Vorfall mit dem verstorbenen Soldaten Dukari ist auf später vertagt worden. Es wird davon ausgegangen, dass du nicht vorsätzlich gehandelt hast, aber viel mehr ist aus den vorliegenden Informationen einfach nicht rekonstruierbar. Wir werden uns daher zuerst noch die Aussagen ansehen, die du vorhin zu Protokoll gegeben hast, und dann soll noch einmal ein persönliches Gespräch mit dir folgen, inklusive des Richters und der Schöffen. Sie wollen sich selbst ein Bild von dir machen, bevor das endgültige Urteil fällt. Was Tomoyo angeht, ist bereits alles entschieden.“

Pause. Diese Hexe! Warum unterbrach sie ausgerechnet hier?!

„Komm auf den Punkt!“, zischte Kurogane sie ungehalten an.

„Dir wird das Sorgerecht für Tomoyo nicht aberkannt. Du kannst sie abholen, sobald du herkommen kannst.“

‚Tomoyo…’

Ein tonnenschweres Gewicht fiel auf einen Schlag von ihm ab. Seine Knie wurden weich. Gut, dass das Telefon auf einem Tisch stand, ein Stuhl direkt daneben. Ein wenig benebelt ließ er sich darauf nieder.

Tomoyo… Er durfte sie wiedersehen. Sie wieder mit nach Hause nehmen. Sie konnten wieder so leben wie zuvor…

„Dein Töchterchen hat sehr eindrucksvoll gezeigt, für wen ihr Herz schlägt“, erklärte Yuuko mit schmunzelndem Unterton nach einer Weile, als von Kurogane keinerlei Reaktion kam. „Und auch alle weiteren Aussagen und Fakten ließen keinen Verdacht aufkommen, dass du als alleinerziehender Vater überfordert oder gar gefährlich seiest. Und seit der Richter ihr verkündet hat, dass sie zu dir zurück darf, fragt sie alle fünf Minuten, wann du da bist.“

„Ich bin in 20 Minuten da“, antwortete Kurogane, stand wieder auf und wollte schon auflegen, als ihn Yuukos Stimme noch einmal innehalten ließ.

„Bevor du dich auf den Weg machst, sieh lieber noch mal in den Spiegel und geh sicher, dass du vorzeigbar bist. Sonst versetzt du deiner armen Tochter gleich den nächsten Schock. Für stilistische Hilfe wende dich an Himawari.“

Stimmt, daran hatte er gar nicht mehr gedacht.

„Wie erreiche ich sie?“, fragte Kurogane.

„Sie ist immer noch dort, wo sie dir dein neues Image verpasst hat“, antwortete Yuuko.

Damit beendeten sie das Gespräch. Kurogane ging noch einmal zu Fye zurück. Vielleicht war dieser in der Zwischenzeit wieder aufgewacht? Oder er wurde noch einmal kurz wach, wenn Kurogane rein kam. Eigentlich gefiel es ihm nicht, ihn nun doch allein lassen zu müssen. Er wollte bei ihm bleiben und warten, bis er wieder aufwachte, ihm zeigen, dass er vor nichts mehr Angst zu haben brauchte. Auch einer der Ärzte, der ihn aus der Notaufnahme geschoben hatte, hatte angedeutet, wie wichtig es jetzt für Fye war, dass jemand bei ihm war, der ihm Halt gab. Aber Tomoyo… Er sehnte sich nach seiner kleinen Tochter, genauso wie er sich nach Fyes Nähe sehnte. Wenn er Yuukos Worten glauben konnte, dann hatte seine Kleine bei Gericht wohl ein ziemliches Drama veranstaltet und vermisste ihn genauso wie er sie. Nein, er konnte und wollte seine Tochter nicht länger warten lassen. Je schneller er sie endlich wieder mit nach Hause nehmen konnte, desto besser.

Kurogane suchte einen Stift und ein Blatt Papier, faltete es einmal und schrieb auf die untere Hälfte umständlich eine kurze Notiz: „Tomoyo kann zurück nach Hause. Ich bin sofort zurück, sobald sie sie zu Hause ist.“

Dann hängte er es über die Armschlaufe an Fyes Bett, so dass er sie sofort sehen würde, wenn er die Augen öffnete. Das Zimmer zu verlassen, fiel ihm unendlich schwer. Er hoffte, dass er zurück sein würde, bevor Fye die Augen wieder öffnete.
 

„Kurogane!“

Er war schon fast zur Tür heraus, als ihn die Stimme von Seishiro aufhielt. Sich umdrehend, erblickte er als erstes jedoch nicht Seishiro, sondern die kleine Chii, die mit ihrem langen, wehenden Haar hastig auf ihn zugerannt kam und sich an seinen gesunden linken Arm klammerte, kaum dass sie ihn erreicht hatte. Weiter hinten erblickte er nun Chiis Begleiter, der weniger eilig und ein wenig sorgenvoll dreinblickend ebenfalls auf ihn zukam.

„Alles in Ordnung mit dir?“, wandte er sich erst einmal dem Mädchen zu, das verstört sein Gesicht in Kuroganes Arm versteckte und nicht so aussah, als würde sie so bald wieder loslassen wollen. Zumindest gab sie ihm ein zögerliches Nicken als Reaktion. Wahrscheinlich hatte sie inzwischen das ganze Ausmaß des Schocks eingeholt. Behutsam strich Kurogane ihr über den Kopf.

„Keine Sorge, alles wird gut.“

„…Fye…?“, kam es leise von seinem Arm.

„Er schläft jetzt und braucht Ruhe. Aber er wird wieder gesund.“

Sicher hatte Chii auch Seishiro und die Ärzte nach Fye befragt und versucht, zu ihm zu kommen, aber man hatte sie nicht gelassen. Im Moment war das sicher das Beste. Für beide.

„Kurogane, wie geht es deinem Arm? Lassen sie dich schon gehen?“, fragte nun Seishiro, nachdem er sie erreicht hatte.

„Der Doc hat mein Bewegungsverbot aufgehoben. Außerdem habe ich etwas Wichtiges zu erledigen“, antwortete er vage.

„Hast du etwas von der Verhandlung gehört?“

Als einer derer, die in die Mission eingeweiht waren, brauchte es keine großen Worte, dass Seishiro verstand.

„Ich kann Tomoyo wieder mit nach Hause nehmen“, berichtete Kurogane.

„Ich bin froh, das zu hören.“ Die Erleichterung schwang deutlich in Seishiros Stimme mit. Dann wechselte sein Blick wieder in Besorgnis und glitt über die verschreckte Chii.

„Chii, möchtest du bei Kurogane bleiben?“, fragte er sie, ohne vorher überhaupt die Meinung des Schwarzhaarigen einzuholen. Ein schnelles Nicken war die Antwort.

„Dir geht es nicht gut hier im Krankenhaus, was?“, fügte er hinzu. Kopfschütteln.

Na ja, so oder so hätte Kurogane jetzt sicher nicht protestiert. Er würde dieses mit den Nerven blank liegende Kind nicht hier zurücklassen, wenn es ihr davon nur noch schlechter ging. Und ob er nun allein zu Tomoyo fuhr oder mit Chii zusammen, machte am Ende auch keinen Unterschied. Vielleicht tat es beiden ganz gut. Außerdem dürften der Junge und seine Freundin auch noch beim Gericht sein, immerhin hatten sie als Zeugen ausgesagt. Ein paar vertraute Gesichter konnten die kleine Chii vielleicht etwas beruhigen. Kurogane würde jedenfalls nicht lange bleiben, so viel stand fest. Er wollte seine Tochter zurück, aber danach gleich wieder ins Krankenhaus, wieder zu Fye, so schnell es ging.

„Dann komm. Wir holen Tomoyo ab und gehen dann zu mir nach Hause“, entschied er und hinkte, durch das Hindernis an seinem linken Arm zusätzlich im Gehen eingeschränkt, die letzten Meter nach draußen und rief ein Taxi.
 

Ihr erster Halt war jedoch die Polizeistation. Zu allererst brauchte Kurogane wirklich sein altes Aussehen zurück. Tomoyo würde auch so genug Fragen stellen und er musste ihr Misstrauen nicht noch weiter schüren. Es war anfangs nicht ganz einfach gewesen, Chii davon zu überzeugen, dass sie Kurogane loslassen musste, damit Himawari ihm sein altes Aussehen zurückgeben konnte, aber mit ihrer sanften, fröhlichen Art schien sie Chiis Herz zu erreichen und ihr ein Stück ihrer Angst zu nehmen. Himawari bot ihr direkt neben sich einen Stuhl an und ließ sie bei ihrer Arbeit zusehen. Und es schien Chii langsam wieder aus ihrer Starre herauszuholen. Erste Tränen liefen ihr über die Wange.

„Es tut mir so leid…“, flüsterte sie verzweifelt. „Fye-san war immer so vorsichtig. Ich…ich wusste, dass er Angst vor Herrn Ashura hatte, dass er Schlimmes erlebt hatte. Und ich bin ihm trotzdem einfach so gefolgt. Obwohl ich es gewusst habe. Und Fye…Fye…“ Ihr Schluchzen erstickte weitere Worte. Nicht weiter wissend, vergrub sie das Gesicht in ihren Händen. Kurogane fühlte sich ratlos. Was sollte er noch tun? Er hatte ihr bereits gesagt, dass es nicht ihre Schuld war. Dass höchstwahrscheinlich alles schlimmer geworden wäre, wenn sie Ashura nicht freiwillig gefolgt wäre. Wenn dieser Verdacht geschöpft hätte, wenn sie ihm nicht vertraute. Doch das half wohl alles nichts gegen die Schuldgefühle.

„Du arme Kleine“, unterbrach Himawari ihre Arbeit und schloss das weinende Mädchen in ihre Arme. „Dass du etwas so Schlimmes erleben musstest. Ich versteh, wie du dich fühlst. Yuuko, ich, Watanuki-kun… Wir alle wussten, was in CyberCom passiert ist, aber trotzdem haben wir nichts tun können. So viele schlimme Dinge und wir haben sie nicht verhindern können. Ich habe mich auch so gefühlt, bei jedem Menschen, den wir verloren haben. Aber jetzt ist es vorbei. Jetzt ist es endlich vorbei…“

Schmerz. Trauer und Reue prägten Himawaris Gesicht, als sie Chii fest in ihre Arme schloss und sich an ihrer Brust ausweinen ließ. Als sie Kurogane vor dem Eintrag die neue Identität gegeben hatte, hätte er nicht damit gerechnet, dass auch die junge Frau so viel Schmerz in sich trug. Dass alle des Teams unter diesen Gefühlen leiden mussten, weil sie wussten, was geschah, ohne dass sie es nachweisen und damit stoppen konnten. Wie viel Verantwortung tatsächlich auf ihm gelegen hatte, wurde Kurogane erst in diesem Moment vollauf bewusst.
 

Sich endlich wieder wie er selbst fühlend, betrat er klopfenden Herzens und mit Chii am Zipfel seines frischen Hemdes das Gerichtsgebäude. Wo war Tomoyo? Und die anderen? Sie würden sicher noch alle hier irgendwo sein und auf ihn warten, nach seinem Telefonat mit Yuuko.

„Kurogane Sugawara. Ich suche meine Tochter Tomoyo“, sprach er ohne Umschweife den Polizisten am Empfang an.

„Zimmer 203. Die Treppe hoch und dann links, der große Raum“, erhielt er ohne Umschweife die gewünschte Information. Nicht mal nach seinem Ausweis hatte der Mann ihn gefragt. Seine Verhandlung, vor allem aber der Einsatz bei CyberCom mussten Gesprächsthema Nummer Eins des ganzen Gebäudes geworden sein.

So schnell es mit dem verletzten Arm und Chii im Schlepptau ging, erklomm er die Stufen bis in den zweiten Stock und steuerte besagtes Zimmer an. Mit wenigen Schritten hatte er die Tür erreicht, drückte die Klinke herunter und platzte hinein. Unzählige überraschte Augenpaare bekannter Personen hefteten auf ihn. Wo war Tomoyo?

„Papaaaaaaaaa!“

Der vertrauten Stimme seiner kleinen Tochter folgend, sah er noch, wie sie von Somas Schoß aufsprang und ihm entgegen eilte, neue Tränen kullerten ihr aus den ohnehin bereits vom Weinen geschwollenen Augen.

„Kurogane!“ „Hauptmann!“, drangen weitere Stimmen bunt durcheinander an sein Ohr, doch er nahm sie kaum wahr.

„Tomoyo…!“

Er trat einen Schritt auf sie zu und ging in die Hocke, Chiis Hand an seinem linken Ärmel völlig vergessen, und streckte den Arm nach seinem Mädchen aus. Keinen Augenblick später hing sie auch schon an seinem Hals, klammerte sich mit aller Kraft an ihm fest und schluchzte herzhaft. Es fiel Kurogane nicht leicht, seine eigenen Tränen zu unterdrücken. Teils aus unendlicher Erleichterung, dass er sie endlich wieder hatte, teils weil die heftige Umarmung trotz der noch wirkenden Schmerzmittel seiner Schulter arg zusetzte.

„Willkommen, Herr Sugawara. Ihre Tochter hat Sie schmerzlichst vermisst“, richtete direkt darauf der junge Richter, an seiner schwarzen Robe unschwer zu erkennen, das Wort an ihn. Kurogane, seiner Tochter beruhigend durch das lockige Haar streichelnd, musterte sie mit einem unsicheren Blick, abwägend, wie viel er in ihrer Gegenwart sagen konnte. Besser nicht zu viel.

„Entschuldigung, dass ich spät dran bin“, entschied er sich, das Thema lieber ganz zu meiden.

„Wo warst du, Papa? Ich hab dich soooo vermisst! Und Nii-chan auch. Und – Papa, dein Arm!“ Wie von der Tarantel gestochen, ließ Tomoyo von ihm ab. „War das ein großer, böser Hund?“

„Nein, Liebes.“ Wenigstens in der Hinsicht konnte er sie beruhigen. Aber der schwierigere Teil folgte unweigerlich. Innerlich seufzend, wandte er den Blick an Yuuko. Doch die machte keine Anstalten sich einzumischen. Bei Tomoyo führte nur wirklich kein Weg dran vorbei. Schweigen oder ein Abblocken ihrer Fragen würden ihre Ängste nur verschlimmern.

„Fye hatte ein Problem“, begann er schließlich vorsichtig, möglichst schonend. „Ein schlechter Mensch hat ihn bedroht. Ich wollte ihm helfen, aber dabei hatten wir einen Unfall. Deshalb die Verletzung an meiner Schulter. Aber es ist nicht schlimm.“

„Und…Nii-chan? Ist Nii-chan auch verletzt?“, fragte seine Tochter voller Sorge.

Es schmerzte ihn, ihr das sagen zu müssen. Fyes blutüberströmter Körper, seine bewusstlose Gestalt, all die Verletzungen drängten so intensiv in sein Bewusstsein zurück, als würde er erneut direkt davor stehen, ihn erneut in seinen Armen zum Ausgang tragen, um Fyes Leben bangend. Er bekam keinen Ton heraus. Mit Mühe hielt er seine Gesichtszüge beisammen, nickte bestätigend. Er durfte vor Tomoyo jetzt keinesfalls Schwäche zeigen.

„Er ist noch im Krankenhaus und schläft.“

Mit vor Schreck geweiteten Augen schlug Tomoyo die Hände vor dem Mund zusammen.

„Aber wir können ihn bestimmt bald besuchen“, fügte Kurogane hastig hinzu. „Wollen wir jetzt erst mal nach Hause fahren?“

„Wann können wir Nii-chan besuchen?“, beharrte seine Tochter.

„Bald“, wiederholte er. „Willst du denn nicht nach Hause?“

„Doch! Ich will wieder nach Hause, Papa“, willigte seine Tochter endlich ein und kuschelte sich wieder an ihn, diesmal aber darauf bedacht, seinen rechten Arm zu meiden. Damit war für Kurogane alles erledigt.

„Können wir gehen?“, fragte er in die Runde hinein, speziell aber an den Richter und die Anwälte gewandt.

„Sollte sich herausstellen, dass dem Kind Ihre Erziehung doch nicht gut tut, kann Ihnen das Sorgerecht jederzeit entzogen werden“, warnte Fei Wong Reed Kurogane, ihn mit einem eisigen, misstrauischen Blick durchbohrend.

„Das kann Ihre kleinste Sorge sein“, erwiderte der Schwarzhaarige ebenso unterkühlt und zog seine Tochter instinktiv fester an sich.

„Die Verhandlung ist beendet und Sie können das Sorgerecht über Ihre Tochter behalten. Sie können jederzeit zusammen nach Hause gehen“, beantwortete der Richter die ursprüngliche Frage schlichtend. „Sie werden allerdings später noch einmal zu einem Gespräch über den Vorfall mit Herrn Dukari eingeladen.“

Kurogane nickte. „Darüber wurde ich bereits informiert.“

Damit stand er auf, nahm seine Tochter an der Hand und wollte diesen Ort endlich hinter sich lassen, doch wieder wurde er aufgehalten.

„Kurogane-san!“

Es war der Junge, seine Freundin im Schlepptau, der nach vorn geeilt war und nach ihm gerufen hatte.

„Können… Können wir mitkommen?“, fragte er zögerlich. Er sprach es nicht aus, aber die Sorge um alles, was passiert sein musste, stand ihm förmlich ins Gesicht geschrieben, genauso wie der Praktikantin mit ihren waldgrünen Augen. Im ersten Moment war Kurogane nah dran zu sagen, dass er weder Sorge noch Mitleid brauchte, doch dann kam ihm etwas Weiteres in den Sinn. Wenn er Tomoyo zu Hause abgesetzt und sie sich beruhigt hatte, würde er das nächstbeste Taxi zurück zum Krankenhaus nehmen. Da wäre es besser, wenn Chii und Tomoyo nicht allein zurückbleiben müssten. Nicht jetzt.

Er nickte knapp. „Dann kommt“, und drehte sich wieder um.

„Herr Sugawara!“

Innerlich abgrundtief seufzend und die Augen verleiernd blieb er erneut stehen. Gaben die denn gar keine Ruhe? Vor allem DIE nicht? Die hatte ihm wahrlich genug Nerven gekostet und Ärger gemacht. Dennoch, er war hier im Gerichtssaal, vor sämtlichen Zeugen, Schöffen, Anwälten und Richter. Also zwang er sich zu Anstand. Auch wenn das hieß, noch einmal Angesicht in Angesicht dieser Dukari gegenüberstehen zu müssen.

„Ja?“

Da stand sie, schon wieder mit roten Augen und tränenüberströmten Gesicht.

„Ich sage Ihnen das jetzt von Elternteil zu Elternteil. Vergessen sie NIEMALS, wie es sich anfühlt, ein Kind zu haben. Und wie es sich anfühlen muss, es zu Grabe tragen zu müssen.“

Er schluckte hart und dachte an Tomoyo. Nein, das war ein Schmerz, den er sich wahrlich nicht vorstellen konnte, musste er zugeben. Und er hoffte, dass er ihn niemals würde erleben müssen. Wieder dachte er an Fye. Zum ersten Mal seit all den Eskapaden hatte er das Gefühl, dieses Biest von Frau ein wenig verstehen zu können.

„Ich werde Stephan niemals vergessen“, versprach er ihr. Mehr konnte er nicht für sie tun. Er drehte sich um, als sie erneut von einem Weinkrampf geschüttelt zusammenbrach und die verbliebenen Anwesenden sich ihr zuwandten. Besser, er ging jetzt wirklich.
 

Da aus dem Plan ‚Tomoyo abholen und nach Hause bringen’ ‚Mit Chii zusammen Tomoyo abholen, Shaolan und Sakura mitnehmen und nach Hause fahren’ geworden war, bestellte er schließlich ein Großraumtaxi, das sie alle in seine trauten vier Wände brachte. Tomoyo klammerte sich die ganze Fahrt über nach Leibeskräften links an ihrem Vater fest, Chii hielt schüchtern, aber beharrlich den Saum seines Hemdes zu seiner rechten Seite fest, Sakura und Shaolan saßen ihnen gegenüber und hatten ihre Hände ineinander verschlungen. Doch auch bei ihnen wirkte es nicht so, wie verliebte Pärchen normalerweise händchenhaltend durch die Welt gingen. Man spürte, dass auch sie diese Verbindung gerade brauchten, um sich gegenseitig Halt und Trost zu geben. Während der ganzen Fahrt sagte niemand auch nur ein Wort.

Zu Hause angekommen, wollte Kurogane Tomoyo direkt ins Bett bringen. Sie sah inzwischen so erschöpft und müde aus, als würden ihr eh jeden Moment die Augen zufallen. Und auch Chii wollte er anbieten, die Nacht über im Bett in ‚Fyes’ Gästezimmer oder auf der Couch im Wohnzimmer zu schlafen. Doch da begann das Problem. In beiden Zimmern wäre sie allein. Sie wollte jetzt nicht allein sein. Am liebsten wäre sie an Kuroganes Seite geblieben, aber sie verstand auch, dass Tomoyo ihren Vater nun am meisten brauchte. Und hier, in seiner schönen Wohnung, in der auch Fye in letzter Zeit gewohnt hatte, wo sie Spuren seines Lebens fand – eine Jacke und den Schal, Bilder mit ihm, die Tomoyo gezeichnet hatte – fühlte sie sich geborgen. Die Angst um Fyes Gesundheit und die Schuldgefühle ließen sie nicht los, aber der Ort beruhigte sie. Dennoch wollte sie allein sein beim Schlafen. Und das Sofa oder Gästebett konnte er allein nicht in Tomoyos Zimmer tragen; vor allem mit seiner Verletzung nicht. Man löste das Problem schließlich so, dass die zwei großen Sessel, die die gemütliche Sitzgarnitur abrundeten, zu einem kleinen Bett zusammengeschoben und mit Bettzeug bezogen wurden und Tomoyo bei Chii im Wohnzimmer blieb. Chii mochte Kuroganes Tochter sehr und war froh, in ihrer Nähe sein zu können. Tomoyo mochte sie umgekehrt genauso.

„Chii-chan, wo warst du denn? Nii-san hat nach dir gesucht“, fragte sie müde, als ihr Bett fertig war und sie es sich darin gemütlich gemacht hatte, ohne jedoch auch nur einmal die Hand ihres Vaters loszulassen.

„Ich war bei Herrn Ashura zu Besuch“, gestand das blonde Mädchen. „Wir haben zusammen Tee getrunken, ich konnte viele Bücher lesen und Spiele spielen. Wir haben immer zusammen gegessen. Und er hat mir seine Firma gezeigt. Ich hätte nie gedacht, dass er ein schlechter Mensch ist. Dass er anderen Menschen weh tat…“

„Aber er hat dir nicht weh getan, oder?“, fragte Tomoyo besorgt.

„Nein, gar nicht. Er war immer nett zu mir“, bestätigte die ältere.

„Ich bin sehr froh, dass Chii-chan gesund ist.“ Das kleine Mädchen gähnte herzhaft.

„Tomo-chan…“, setzte Chii an, doch ihr fehlten die Worte.

„Warum hat er Nii-chan weh getan, Papa?“, wandte Tomoyo sich an ihren Vater. Es beschäftigte sie noch immer. Sicher dachte auch sie die ganze Zeit an Fye und machte sich Sorgen um ihn. Und warum es Menschen gab, die andere verletzen wollten. Sie konnte es nicht verstehen.

„Tja, das ist schwierig… Fye wusste ein wichtiges Geheimnis, das niemand wissen durfte. Aber ich weiß nicht, ob das der einzige Grund war“, antwortete Kurogane wahrheitsgemäß. Er dachte an die Szene im Keller zurück. An Ashuras Worte. ‚Hältst du mich wirklich für so dumm zu glauben, dass du mit einem Armeeoffizier anbandelst, ohne dich bei ihm auszuweinen?’

Nein, eigentlich war es nicht die ganze Wahrheit gewesen. Die Bedeutung dieser Worte ließ noch einen ganz anderen Grund erahnen: Ihn. Nicht Fye war eine Gefahr für Ashura gewesen, ER war es. Er musste zurück. Zurück ins Krankenhaus, zu Fye, sehen, wie es ihm ging. Er wollte mit ihm reden. Es war zu spät, etwas daran zu ändern, was geschehen war, aber sie mussten endlich ehrlich miteinander sein.

„Tomoyo, ich werde noch einmal Fye besuchen. Chii und die anderen beiden Kinder bleiben aber hier. Versuch zu schlafen und dich zu erholen. Ich bin-“

„Bitte geh nicht, Papa! Bitte!“, unterbrach Tomoyo ihn flehend und umklammerte seine Hand noch stärker, angstvoller.

„Keine Sorge, mein Schatz. Du musst nie wieder weggehen. Und ich bin nicht lange weg“, versuchte er, sie zu beruhigen.

„Bitte, Papa, bleib! Ich hab dich so doll vermisst…“

Schon standen ihr die ersten Tränen in den Augen. Kurogane merkte, wie seine väterlichen Gefühle die Oberhand über sein Inneres übernahmen. Er konnte seinem Kind diese Bitte nicht abschlagen. Sie hatte genauso viel durchgemacht die letzten Tage.

„Na gut. Ich bleibe, bis du schlafen kannst.“

„Ab-“, wollte Tomoyo schon protestieren, doch Kurogane schnitt ihr das Wort ab.

„Lass mich bitte ausreden. Ich bleibe an deiner Seite, bis du einschlafen kannst. Aber Fye braucht mich jetzt auch, verstehst du? Und er ist ganz allein im Krankenhaus.“

Tomoyo nickte zögerlich.

„Können wir ihn dann nicht zusammen besuchen?“, versuchte sie es doch noch einmal mit einem Kompromiss.

„Später, okay? Ich möchte schauen, wie es ihm geht. Aber er braucht noch Ruhe. Und du brauchst auch Ruhe. Beim nächsten Mal besuchen wir ihn gemeinsam. Und ich gebe deiner Praktikantin die Telefonnummer vom Krankenhaus. Dann kannst du anrufen, wenn du möchtest, okay?“

Shaolan und Sakura, die sich jeweils einen Stuhl vom Tisch genommen und zu der kleinen Gruppe gesetzt hatten, nickten bestätigend.

„Natürlich rufen wir an“, versicherte Sakura Tomoyo.

„… Okay“, gab sie sich schließlich geschlagen. „Nii-chan wird doch bestimmt schnell wieder gesund, oder?“, fügte sie dennoch hinzu.

„Bestimmt“, bestätigte er ihr und setzte dabei darauf, dass Kinder in Tomoyos Alter Zeiteinheiten wie „schnell“ oder „langsam“ eh noch nicht gut abschätzen konnten.

Gut eine halbe Stunde später war seine Tochter dann wirklich ins Land der Träume gesunken und Kurogane konnte seine Hand unter ihrer hervorziehen. Auch Chii war vor Erschöpfung eingeschlafen. Einzig die beiden größeren Kinder waren noch wach und beobachteten die Szene. Mit einem letzten liebevollen Blick auf Tomoyo wandte er sich schließlich an sie.

„Ich schreibe euch die Nummer vom Krankenhaus auf. Wie lange ich weg sein werde, kann ich noch nicht sagen. Falls irgendwas sein sollte oder Tomoyo etwas braucht, ruft sofort an, ja?“

Beide nickten. Ein kurzes Telefonat mit Yuuko folgte, um die genaue Nummer herauszubekommen, mit der sie ihn zuvor so schnell erreicht hatte. Diese diktierte er Shaolan, der sie auf einem Stück Schmierpapier notierte.

„Danke für eure Hilfe. Und wenn ihr müde seid, könnt ihr euch im Schlafzimmer hinlegen“, gab er ihnen noch mit, bevor er sich endlich auf den Weg zurück ins Krankenhaus machte.
 

Über zwei Stunden war er weg gewesen. Verdammt. Das hatte er nicht geplant. Was, wenn Fye in der Zwischenzeit wieder aufgewacht war? Allein mit seinen Ängsten in diesem fremden Zimmer…

Endlich hielt das Taxi vor dem Haupteingang des Krankenhauses. Er beeilte sich, so gut es eben ging, was seiner rechten Schulter gar nicht passte. Und im Grunde wusste er auch, dass es auf die zwei Minuten mehr oder weniger nun auch nicht mehr ankam. Aber wer würde sich in so einer Situation schon die Zeit nehmen und im Spaziergang durch die Gänge schlendern?

Vorsichtig betrat er das Zimmer. Die Lampe über dem Krankenbett brannte und tauchte den Patienten in ein weißes, hartes Licht. Fyes Gesicht wandte sich seinem zu.

„Willkommen zurück“, begrüßte der Blonde ihn. „Und herzlichen Glückwunsch für das Ergebnis des Prozesses. Wie geht es Tomoyo?“

Die Frage übergehend, eilte Kurogane zu ihm herüber. Er hatte Fyes Aufwachen schließlich doch verpasst, war nicht an seiner Seite gewesen.

„Wie geht es DIR?“, fragte er zurück, zog seinen Stuhl zurück ans Bett und suchte nach Fyes linker Hand. Er entdeckte darin die Notiz, die er ihm dagelassen hatte, bevor er sich auf den Weg zum Gerichtssaal gemacht hatte. Sanft zog er sie ihm zwischen den Fingern hervor und legte stattdessen seine eigene Hand hinein. Dann sah er dem Blonden wieder ins Gesicht. Er hatte noch keine Antwort auf seine Frage bekommen. Doch Fye schaute nur genauso abwartend zurück. Kurogane seufzte. Na gut, der Blonde hatte zuerst gefragt und die Frage nach Tomoyos Wohl war ihm definitiv wichtig.

„Sie schläft jetzt. Chii, der Junge und deine Praktikantin sind auch bei ihr“, gab er schließlich nach.

„Ah…ein Glück. Chii auch… Chii ist nichts passiert…“ Ein Zittern ging durch Fyes Körper.

„Hast du Schmerzen?! Soll ich einen Arzt holen?“, fragte Kurogane alarmiert.

„Nein, es geht schon…“

Tief durchatmend versuchte der Blonde, sich wieder zu beruhigen. Kurogane ließ ihm Zeit. Auch wenn es ihm auf der Zunge brannte, seine eingangs gestellte Frage noch einmal zu wiederholen.

„Ehrlich gesagt, weiß ich selbst nicht, wie es mir geht“, begann Fye schließlich von selbst zu erzählen. „Einerseits fühl’ ich mich wie vom Laster überfahren. Mindestens… Andererseits…“ Er zögerte. Eines dieser bedrückenden Zögern, nach denen nur etwas Schlimmes folgen konnte. Kurogane wusste, was kam, noch bevor Fye es ausgesprochen hatte.

„Andererseits hätte ich nicht gedacht, jetzt überhaupt noch am Leben zu sein“, haucht er schließlich kaum hörbar in den totenstillen Raum hinein. Kurogane fand keine Worte. Er wusste genauso gut wie der andere, wie extrem knapp es gewesen war. Und warum Fye so gehandelt hatte. Schließlich war dieser es, der die schwere Stille zwischen ihnen wieder brach.

„Ihr habt den Brief in meiner Wohnung gefunden, oder?“

„Dann hast du ihn also doch absichtlich dort liegen lassen! Wenn du ihn mitgebracht – oder wenigstens was gesagt hättest – dann hätten wir sofort handeln können!“ Kurogane war empört. Und irritiert.

„Und dann? Alle hätten einen riesigen Aufriss gemacht und …Ashura… hätte davon Wind bekommen, noch bevor irgendwer auch nur in seine Nähe gekommen wäre“, entgegnete Fye sarkastisch und hilflos zugleich. Ein seltsames Gemisch von Gefühlen.

„Okay, ich verstehe, warum du so misstrauisch warst“, beschwichtigte Kurogane ihn. „Dass du um das Leben der kleinen Chii gefürchtet hast und die Gefahr, die von Ashura ausging, nicht unterschätzen wolltest. Aber warum dann? Warum hast du mir extra erzählt, dass der Brief zerstört ist, wenn du ihn die ganze Zeit über dort liegen gelassen hast? Du hast verdammt hoch gepokert, wenn du darauf gesetzt hast, dass wir es schaffen könnten euch da rauszuholen, wenn du den Lockvogel spielst.“

„Nein, ich hab nicht gepokert.“ Ein trauriges Lächeln umspielte Fyes trockene Lippen. „Wie gesagt, ich hatte nicht einmal davon zu träumen gewagt, dass ich jetzt noch am Leben sein würde. Ich hatte lediglich gehofft, dass es reicht, um weitere Opfer zu vermeiden. Vielleicht auch Chii, wenn es irgendwie möglich war. Dass du es tatsächlich in ...sein Hauptquartier schaffen würdest, all die Sicherheitsmaßnahmen umgehen und Chii unverletzt da rausholen könntest, dass du sogar mein Leben retten könntest, hätte ich niemals für möglich gehalten. Ich habe dich unterschätzt. Und Yuuko. Und ich habe dir nicht vertraut. Es tut mir leid, Kurogane.“

Schmerz, Enttäuschung und Erleichterung wüteten in Kuroganes Innern. Und Schuldgefühle.

„Das will ich auch hoffen. … Aber mir tut es auch leid.“

„Was denn?“ Fye war offensichtlich verwirrt.

„Ich muss zugeben, ich habe Ashura tatsächlich unterschätzt. Eine Garantie dafür, dass es besser ausgegangen wäre, wenn du dich mir anvertraut hättest, kann ich dir nicht geben. Und es gab und gibt vieles, was du noch nicht von mir weißt. Vieles konnte ich dir nicht sagen und werde es auch zukünftig nicht können, weil es der Geheimhaltung unterliegt. Aber ich war ja nicht mal ehrlich mit mir selbst. Mit uns. Wie soll ich da erwarten, dass du mir vertraust?“

„Meinst du, dass ich dir die Wahrheit erzählt hätte, wenn wir uns unserer Gefühle früher klar gewesen wären?“

„Das müsste ich dich fragen“, gab Kurogane zurück.

„…Ich weiß es nicht. Es wäre noch schwerer geworden. Es war auch so schon schwer genug. Aber ich weiß es wirklich nicht“, gestand der Blonde ehrlich.

Es war das erste Mal, dass sie sich so zwanglos aufrichtig unterhielten. Selbst wenn es bisher Momente der Wahrheit zwischen ihnen gegeben hatte, waren diese stets mehr oder weniger aus einem Zwang heraus entstanden. Auch wenn das Thema alles andere als angenehm war, tat es gut, sich endlich einmal aussprechen zu können.

„Ich verstehe. Nun, ich kann dich nicht zwingen. Weder zuvor noch jetzt. Ich kann dich nur bitten“, gab er sich letztlich geschlagen. Ihm blieb gar nichts anderes übrig. Er wollte, dass Fye ihm vertraute. Aber dafür musste auch er bereit sein, Vertrauen zu geben. Er konnte nur seine Hand ausstrecken. Würde er weiterhin versuchen, Fye gewaltsam zu ergreifen, würde es die Distanz zwischen ihnen nur wieder vergrößern.

„Ich vertraue dir. Ich will dir nichts mehr verheimlichen. Im Moment schaffe ich es noch nicht, denke ich, aber irgendwann will ich dir alles erzählen.“

Wie zur Bestätigung verstärkte Fye ihren Händedruck, soweit es sein geschwächter Körper zuließ. Es war ein Versprechen. Ein Versprechen des Vertrauens. Verbunden durch so viel mehr als nur den Druck ihrer Hände. Aber etwas gab es noch, was Kurogane nicht losließ. Gerade wegen dieses Bandes zwischen ihnen. Denn wenn es dieses Band nicht gegeben hätte, lange bevor sie beide es verstanden hatten, wenn sie sich nicht längst so nah gewesen wären…

„Ashura…“, begann Kurogane vorsichtig. Er fühlte sich mies, in doppelter Hinsicht. Einerseits wollte er das Thema endlich ruhen lassen und Fye nicht noch mehr Schmerzen bereiten. Andererseits ahnte er, wusste er, dass er eine besondere Bedeutung bei der Entführung von Chii und Fye gespielt hatte.

„… Er hat dich jahrelang in Ruhe gelassen. Du hast nie etwas von ihm gehört oder gesehen…bis ich in dein Leben getreten bin.“

„Kurogane!“, rief Fye empört aus. „Denk nicht mal im Traum daran, dass du Schuld daran trägst! Er ist paranoid. Er misstraut jedem außer sich selbst. Mit dir hat das nichts zu tun!“

„Er hat bemerkt, dass wir uns näher gekommen sind. Ich habe gehört, wie er dich über uns ausgefragt hat“, hielt er Fye die Fakten vor Augen. Und fragte sich gleichzeitig, was er damit überhaupt erreichen wollte. Sich entschuldigen? Buße tun?

„Wenn du es nicht gewesen wärest, hätte er mich früher oder später wegen Yuuko gejagt. Oder Ryu-kuns Vater. Oder sonst irgendwem. Ein gewisser Jemand hat mich mal ganz schön dafür zurechtgewiesen, dass ich über die Opfer, die …Ashuras Machtgier gefordert hat, auf diese Art gesprochen habe“, erinnerte der Blonde ihn zynisch.

Er hatte recht. Es tröstete ihn nicht im Geringsten, aber Fye hatte recht. Es war, als hätten sie gerade die Rollen getauscht. Vielleicht waren sie sich ähnlicher, als er bisher angenommen hatte. Oder sie waren sich ähnlicher geworden. Nach allem, was Fye durchgemacht hatte, hätte Kurogane ihm niemals diese Willensstärke und Festigkeit zugetraut. Er wusste, dass das nicht hieß, dass Fye in ein, zwei Wochen aus dem Krankenhaus spazieren und ins alltägliche Leben zurückkehren würde, als wäre nie etwas gewesen. Die jahrelangen Schuldgefühle ließen sich nicht so einfach verwischen, genauso wenig wie die Angst und die qualvolle Pein, die er hatte durchmachen müssen. Aber er würde ihn unterstützen. Fye musste all das nicht mehr allein schultern. Und er spürte, wie der andere auch ihm schon mit seiner bloßen Anwesenheit Halt und Kraft gab, das zu verarbeiten, wovor er die letzten Wochen die Augen verschlossen hatte und davongerannt war. Ja, er war davongerannt. Hatte es ignoriert, hatte es ausblenden, aus seinem Gedächtnis löschen wollen. Aber so funktionierte es nicht, das war ihm nun klar. Zu spät, aber er hatte daraus gelernt. Und er würde diesen Fehler nicht wiederholen.

Kurogane holte tief Luft. Wenn er endlich etwas an seinem bisherigen Verhalten ändern wollte, war jetzt der beste Zeitpunkt dafür.

„Wenn du aus dem Krankenhaus raus kannst…“, begann er. Todernst. „…willst du bei Tomoyo und mir bleiben?“

Das unverbundene blaue Auge weitete sich vor Unglauben, sämtliche Angst und Unsicherheit wie weggewischt.

„Kurogane…meinst du das ernst?“

„Ich werde nicht mehr davonlaufen. Weder vor mir, noch vor uns“, bestätigte er mit ernster Mine.

Wieder begann Fyes Hand zu zittern. Doch diesmal nahm Kurogane nicht an, dass es an den Gedanken an die Folter lag. Sein saphirblaues Auge sprach eine ganz andere Sprache. Er lockerte die Verbindung ihrer Hände, versuchte, seinen linken Arm anzuheben.

„Ja… Kurogane, nichts lieber als das…“

Kurogane verstand, wohin Fye mit seinem Arm wollte. Er beugte sich ein Stück vor, dirigierte die zierliche Hand an sein Gesicht, wo sie sich sogleich an seine Wange schmiegte, sein Ohr entlang strich, in seinen Nacken fuhr, seinen Haaransatz kraulend. Ein Prickeln, wie ein Stromschlag, rauschte durch Kuroganes Wirbelsäule und entlud sich in seinem Bauch. Sein Herz setzte einen Schlag aus und schlug in schnellen Sprüngen weiter, als ihre Lippen sich berührten. Für einen Augenblick musste er sich an Fyes Bettkante abstützen, so sehr überrannte ihn dieser Rausch der Gefühle. Obwohl sich ihre Lippen nur leicht liebkosten, ihre Zungen sich sanft anstupsten und umspielten, hatte Kurogane das Gefühl, in seinem Leben noch nie so intensiv geküsst zu haben.

„Dem Patienten scheint es ja schon viel besser zu gehen.“

Ertappt fuhren sie auseinander, Kurogane sich kerzengerade aufrichtend, Fye den bereits rot angelaufenen Kopf so weit wie möglich dem Fenster zudrehend. Wahrscheinlich hätte er sich am liebsten unter seiner Decke verkrochen, wenn sein Zustand ihm mehr Bewegungsfreiheit gelassen hätten.

Doch im nächsten Moment schellte Kurogane sich innerlich für seine Reaktion. Wollte er sich nicht ändern? Nicht mehr davonlaufen? Na der Vorsatz hatte ja lange gehalten. Betont lässig lehnte er sich in den unbequemen Krankenhausstuhl und warf der Krankenschwester, die sie unterbrochen hatte, einen genervten Blick zu.

„Was wollen Sie? Sie sehen doch, dass wir beschäftigt sind.“

„Kurogane…!“, fiepte es kleinlaut neben ihm und aus dem Augenwinkel heraus sah er, wie Fye gleich noch eine Stufe roter wurde. Bei seinem blassblonden Haar war der Kontrast umso auffälliger. Aber er entschied sich, den schüchternen Protest zu ignorieren.

„Tut mir ja leid, dass ich Sie bei Ihrer ‚wichtigen Arbeit’ unterbreche, aber ich muss den Gesundheitszustand des Patienten überprüfen“, antwortete die Schwester ungerührt, stellte sich neben Kurogane an Fyes Bett und drehte dessen tomatenfarbenes Gesicht mit sanftem Druck zu sich herum, um ihm ein Fieberthermometer in den Mund stecken zu können. Während das Thermometer die Temperatur maß, zog sie mit einer routinierten Bewegung Fyes linken Arm hervor und überprüfte mit ihrem Stethoskop den Blutdruck. Dann fragte sie noch nach irgendwelchen Auffälligkeiten. Übelkeit, Schmerzen, Schwindel oder ähnliches. Fye verneinte kopfschüttelnd. Als die Schwester mit ihrer Überprüfung fertig war, notierte sie, scheinbar zufrieden, einige Werte auf Fyes Krankenkarte. Kurogane konnte nicht einschätzen, ob sie ihre Abneigung über die Szene, in die sie gerade hineingeplatzt war, einfach nur gut verbergen konnte, oder ob es sie tatsächlich nicht das geringste Bisschen interessierte.

„Ihr Blutdruck sieht schon deutlich besser aus. Aus medizinischer Sicht empfehle ich, Ihre Therapie noch eine Weile fortzusetzen“, kommentierte sie abschließend und zwinkerte Kurogane amüsiert zu. Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Dass Fyes Gesicht sich alle Mühe gab, einen neuen Rekord im Rotwerden aufzustellen, ließ sein Grinsen nur noch breiter werden. Wahrscheinlich hatte der Blonde im gesamten restlichen Körper inzwischen keinen Tropfen Blut mehr.

„Musste das sein?“, maulte er, nachdem die Schwester die Tür hinter sich wieder zugezogen hatte.

„Ich habe gesagt, ich werde nicht mehr davonlaufen. Und das meine ich absolut ernst“, erinnerte Kurogane ihn – und auch sich selbst – an sein zuvor gegebenes Versprechen.

„Das freut und ehrt mich ja, aber…musst du denn gleich in Angriff übergehen?“, jammerte Fye weiter.

„Willst du denn ewig weglaufen?“, fragte Kurogane zurück. Sanft, aber bestimmt.

„Nein, das will ich nicht, aber…ich glaub, ich brauch einfach ein bisschen länger als du, mich an diese neue Situation zu gewöhnen“, gestand er.

Nun, im Gegensatz zu Fye hatte Kurogane auch eine ganze Nacht und den halben Nachmittag Zeit gehabt, sich mit seinen Gefühlen und dieser neuen Verbindung zwischen ihnen auseinanderzusetzen, musste er zugeben. Aber jetzt hatten sie alle Zeit, die sie wollten. Er musste nichts überstürzen, nichts mehr befürchten.

„Dann warte ich auf dich“, versprach er.

Fyes überforderter Gesichtsausdruck wich einem größer werdenden Grinsen. Die Verliebtheit strahlte ihm hell wie die Sonne aus einem strahlendblauen Himmel entgegen.

„Du kannst ja richtig süß sein, Kuro-pii.“

„Aber wehe, du erzählst das irgendwem“, warnte der Schwarzhaarige. Seltsamerweise störte es ihn gerade überhaupt nicht, dass Fye wieder zu seinen albernen Spitznamen zurückgekehrt war.

„Wie war das noch mal mit dem ‚sich verstecken’?“, neckte nun Fye ihn.

„Geht halt alles nicht von heute auf morgen“, entgegnete Kurogane grinsend, ihn nachäffend. Sein Blick glitt über Fyes Lippen, doch mit dem Gedanken daran, was er mit diesen jetzt gern anstellen wollte, wurde ihm noch etwas anderes bewusst und sämtliche Leichtigkeit verschwand aus seinem Gesicht.

„Kurocchin, was ist los?“, fragte der Blonde besorgt.

Gut, die Krankenschwester war erträglich gewesen, ein bisschen amüsant sogar, aber warum musste sie von allen erdenklichen Möglichkeiten ausgerechnet in DIESEM Moment hereinplatzen?!

„Unser erster richtiger Kuss und ausgerechnet DANN wird man gestört!“, beschwerte er sich, Verärgerung und Wehmut über die verpatzte Situation schwangen deutlich in seiner Stimme mit. Das musste er niemandem weiter auf die Nase binden, aber ja, verdammt, das war ihm wichtig gewesen!

„Aber es muss ja nicht bei einem bleiben, oder?“, entgegnete Fye verführerisch. Kuroganes Selbstbeherrschung war schneller weg, als ihm lieb war. Die Einladung war zu verlockend. Sein Gesichtsausdruck wechselte zurück zu einem raubtierartigen Grinsen. Da ließ er sich nicht zweimal bitten.
 

Fin~

Der Weg zum Glück

Disclaimer: Die Charas gehören (bis auf wenige Ausnahmen) nicht uns, sondern Clamp. Wir wollen kein Geld damit verdienen, sondern nur unterhalten.
 

Erstschreiber des Kapitels: Lady_Ocean

Epilog (Kapitel 26/26)
 

-~*~-
 

„Ein beidarmig zu umfassender Baum

wächst aus des Sprösslings feinstem Flaum,

ein Turm, der einmal neunstöckig werde,

erhebt sich aus einem Häufchen Erde.

Eine Reise, tausend Meilen lang,

mit einem ersten Schritt fing sie an!“

(Laotse)
 

-~*~-
 

Der Weg zum Glück
 

Angenehm warm kitzelten die letzten Sonnenstrahlen des Jahres seine Haut, die Luft war kühl und klar, der Wald um sie herum eine geradezu paradiesisch friedliche Idylle. Die perfekte Zeit am perfekten Ort also, um sich zu entspannen. Eigentlich. Wenn da nicht immer noch diese Angst wäre, dass sich hinter dem Knacken der Äste, dem Rascheln des Laubes eine potentielle Gefahr verbergen könnte. Doch sein Verstand rief ihn immer wieder zur Ordnung und er zwang sich, seine Aufmerksamkeit den schönen Dingen um ihn herum zuzuwenden.

Sechs Wochen lagen Kuro-wans Prozess und…nun, das schmerzhafte Wiedersehen mit Ashura inzwischen zurück. Die Verletzungen, die sein Körper davongetragen hatte, heilten gut. Die Knochenbrüche hatten begonnen sich zu schließen, was seine Schmerzen deutlich reduziert hatte. Allerdings machten Fye die Folgen der fehlenden Bewegung zu schaffen, seine Muskeln und Sehnen waren völlig verspannt und unflexibel, was nicht nur seinen Bewegungsraum einschränkte, sondern auch jede Bewegung auf eine neue Art schmerzhaft machte. Die Physiotherapie wirkte dem zwar entgegen, aber wie eine verwundete Schnecke in Zeitlupe durchs Leben zu kriechen und bei so gut wie allen alltäglichen Handlungen auf Hilfe angewiesen zu sein, machte wirklich keinen Spaß. Zugegeben, es hatte auch seinen Charme, wie hingebungsvoll und sanft sein Kuro-Papa sich um ihn kümmerte, aber insgesamt überwog doch der Frust über seinen passiven, handlungsunfähigen Zustand. Das war der eine Grund, warum er Oberschwester Kuro zu diesem Ausflug breitgeschlagen hatte. Der andere…

Knack!

Abrupt fuhr Fyes Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war – und er bereute die unüberlegte Bewegung sofort, als sich explosionsartig neue Schmerzen ausbreiteten. Mit Mühe unterdrückte er den Impuls, scharf Luft einzuziehen und schmerzverzerrt das Gesicht zu verziehen, doch ein Teil seines Innern musste wohl doch nach außen durchgedrungen sein. Die Hand, mit der Fyes Finger verwoben waren, verstärkte ihren Druck ein winziges Stück und ein besorgter Blick flackerte ihm aus den rubinroten Augen seines Begleiters entgegen.

„Alles okay?“

„Alles bestens, Kuro-mii!“, trällerte Fye als Antwort und bestätigte die Worte seinerseits mit einem leichten Händedruck.

„Du musst nichts überstürzen. Wenn es dir noch zu viel ist, können wir auch wieder nach Hause fahren“, versuchte es sein Wachhündchen noch einmal. Kuro-wanko war einfach immer viel zu besorgt. Aber das war auch ein Grund, warum er das hier durchziehen wollte.

„Nein, ich möchte hier sein. Mit dir“, widersprach Fye mit Nachdruck. Diesmal ließ der andere es dabei beruhen.

Und es war wahr. Weil es Kurogane war, der ihm zur Seite stand und ihn beschützte, wollte er hier sein. Er machte sich gar nicht die Illusion, dass es ein vollkommen unbeschwerter, lustiger Ausflug würde, aber er wusste auch, dass er das nie erleben würde, wenn er nicht endlich aufhörte zurückzublicken. Er wollte nicht mehr in ständiger Angst leben, mit der ständigen Erwartung, hinter jeder Ecke dem Tod ins Gesicht zublicken. Er wollte nicht nur körperlich heilen, sondern auch seelisch und er wusste, mit Kurogane an seiner Seite konnte er es irgendwann schaffen. Kurogane war für ihn da und konnte ihn, sollte es nötig sein, beschützen. Daran wollte er glauben. Fyes Therapeut meinte, es wäre ein großer Fortschritt, dass er zu dieser Einstellung gekommen ist. Dass es einen Menschen gab, dem er vertraute. Aber Fye wusste auch, dass das nur der erste Schritt des Weges war und das Ziel noch in weiter Ferne lag. Aber wie hieß es so schön? ‚Auch der längste Weg beginnt mit dem ersten Schritt.’ Und solange sein Kuro-chu an seiner Seite war, ihn beschützte und ihn liebte, war es Fye, zu seinem eigenen Erstaunen, fast schon egal, wie lang der Weg sein würde.

Fye blieb stehen und brachte Kurogane damit dazu, es ihm gleich zu tun. ‚Fehlt dir etwas?’, verriet der besorgte Blick sogleich. Doch statt zu antworten trat Fye einen weiteren Schritt auf seinen Liebsten zu, überwand die letzte Distanz zwischen ihnen und versiegelte ihre Lippen mit einem sanften Kuss. Sofort legte sich ein starker Arm in seinen Rücken, die Hand, die gerade noch mit seiner eigenen verschlungen gewesen war, fuhr in sein Haar, Kopfhaut und Nacken kraulend. Wohlige Schauer durchfluteten ihn, ihr Kuss intensivierte sich und die Umgebung verlor für einige Augenblicke der Vollkommenheit völlig an Bedeutung.

Als sich ihre Lippen trennten, begann der Zauber, der sie umgab, langsam zu verlöschen und erneut der Realität zu weichen. Aber er wollte noch nicht zurückkehren. Er wollte noch ein wenig in dem Duft und der Wärme seines Geliebten baden, sich in den sanften roten Augen verlieren.

„Ich liebe dich.“

Raue und doch erstaunlich sanfte Finger umspielten seine Schläfe und Wange, ein schüchternes Lächeln – Fye liebte diesen Gesichtsausdruck – huschte über die Lippen seines Kuro-chan, bevor er ihm noch einen federleichten Kuss auf die Lippen hauchte.

„Fye-Mama!“, zerriss eine vergnügte Kinderstimme die magische Atmosphäre. Ah, schon wieder. Augenblicklich spürte Fye, wie ihm die Röte in die Wangen stieg.

„Äh, Fye…“, korrigierte sich das schwarzhaarige Mädchen verlegen. Doch schon einen Augenblick später strahlte Tomoyo wieder über das ganze Gesicht und streckte ihm stolz ihre Hände entgegen.

„Schau mal, das haben Chii-nee-chan und ich gefunden! Nee-chan hat gesagt, man kann die Beeren essen!“

Für den Moment verbannte Fye die gemischten Gefühle bezüglich Tomoyos Anrede und konzentrierte sich auf die Fundstücke, die sie ihm voller Stolz präsentierte.

„Oh, was für eine Entdeckung! Das sind ja Brombeeren!“, bekundete Fye freudig. Die dicken, schwarzen Beeren in Tomoyos Händen sahen wirklich köstlich aus.

„Dann können wir sie essen?“, fragte das Mädchen voller Vorfreude. Er und Kurogane hatten die beiden, bevor sie ihren Spaziergang im Wald begonnen hatten, eindringlich darauf hingewiesen, nichts zu essen, ohne sich vorher bei ihnen zu vergewissern, dass es ungiftig ist.

„Ja, die könnt ihr essen“, bestätigte Fye ihr und sofort war eine der Beeren mit einem genüsslichen „Hmmmmmm~“ im Mund verschwunden.

„Lecker!“, quietschte Tomoyo vergnügt. „Fye-ma- äh, Fye, die ist für dich.“

„Wirklich? Wie lieb von dir, Tomo-chan!“, frohlockte Fye, nahm sich auch eine Beere und verspeiste diese genauso genießerisch wie zuvor Kuro-tans Töchterchen.

„Du auch, Papa?“, bot sie anschließend ihrem Vater eine an.

„Nein danke, iss ruhig selbst, Kleines“, lehnte dieser jedoch ab.

„Echt nicht? Sie sind wirklich lecker“, hakte das Kind erstaunt nach.

„Ich kenne Brombeeren. Die sind eher was für dich und Mama.“ Bei dem letzten Wort blitzte es in Kuroganes Augen diabolisch auf.

Er tat es schon wieder! Halb gespielt, halb ernsthaft beleidigt, stieß Fye ihm mit dem Ellbogen gegen die Rippen. Es war allein Kuro-blödis Schuld, dass Tomo-chan ständig dieses „Mama“ rausrutschte. Als er sie nach der Entlassung aus dem Krankenhaus gefragt hatte, ob er weiter bei ihr und ihrem Papi wohnen durfte, hatte sie voller Erwartung zurückgefragt: „Bist du jetzt meine neue Mami?“, und doof-Kuro nutzte das seither schamlos aus.

Fye wusste, dass ein Kind in ihrem Alter das mit den Geschlechterrollen noch nicht wirklich verstand. Aber die Frage hatte ihn ziemlich überrumpelt. Er wollte nicht Tomoyos leibliche Mutter ersetzen; überhaupt führte es ein Stück zu weit, ihn von jetzt auf gleich vollständig in die Familie zu integrieren – und ihm darüber hinaus eine Frauenrolle zuzuordnen. Natürlich liebte er Kurogane. Aber das bedeutete nicht, dass er sich wie eine Frau fühlte. Nur hatte Kurogane leider sofort bemerkt, wie peinlich es ihm war, so angesprochen zu werden, und genoss es sichtlich, ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit damit aufzuziehen. Und leider half kein Bitten und Argumentieren, es dem Kuro-Fiesling wieder abzugewöhnen. Vielleicht war es seine Art der Rache für all die Spitznamen, die Fye ihm immer gab. Ansprechen würde er das aber ganz bestimmt nicht, das käme einer Niederlage gleich.

„Warum sammelt ihr nicht noch ein paar Beeren fürs Picknick?“, schlug Fye vor.

„Au ja!“ Tomoyo war natürlich Feuer und Flamme von der Idee. „Komm, Chii-nee-chan, wir müssen ein Festessen vorbereiten! Und Hataki hilft auch!“

Und damit war der kleine Wirbelwind, mit Chii und ihrem liebgewonnenen vierbeinigen Spielgefährten im Schlepptau, gleich wieder davon gestürmt.

„Aber bleibt auf dem Weg und rennt nicht so weit vor!“, warf Kuro-daddy den Mädchen zum wiederholten Mal hinterher.

„Ja-ha~!“, kam die routinierte Antwort, bevor die beiden einige Meter weiter ein Stück im Unterholz verschwanden und mit ihrer Ernte begannen. Kurogane beobachtete das etwas misstrauisch, ließ sie aber gewähren.

Ja, Chii… Praktisch im gleichen Atemzug, als Kuro-puus Töchterchen ihn zum ersten Mal gefragt hatte, ob er jetzt seine Mutter war, hatte sie auch Chii gefragt – oder eigentlich war es eher eine Feststellung gewesen – dass sie ja jetzt ihre große Schwester sei. Und Chii nahm ihre große Schwester-Rolle sehr ernst. Sie kümmerte sich rührend um Tomoyo, spielte viel mit ihr und hatte bei jeder noch so verrückten Idee eine Engelsgeduld mit der Kleinen. Chii sprach nach wie vor nicht viel, eher noch weniger seit den Ereignissen in CyberCom, aber seit Tomoyo sie zu ihrer Schwester auserkoren hatte, spürte man deutlich, wie glücklich und ausgeglichen sie war. Chii hatte nie eine liebende Familie erfahren können. Das Geschenk, das Tomoyo ihr mit ihrer Zuneigung machte, war unschätzbar wertvoll.

Das brachte ihn zur großen Preisfrage zurück: Waren sie alle nicht doch schon so etwas wie eine richtige Familie? Sollte Fye es vielleicht einfach so akzeptieren, auch wenn es sich wirklich komisch anfühlte, ihn in diesen Begriff mit einzuschließen? Aber das rechtfertigte immer noch nicht Kuro-muffs Spitzen.

„Du weißt genau, dass ich es nicht mag, wenn du mich so nennst“, begann er es einen halbherzigen Protest.

„Daran wirst du dich wohl gewöhnen müssen.“

War ja klar.

„Du hast gut reden, Daddy. Nur falls es dir bisher entgangen ist: Ich bin genauso wenig weiblich wie du.“

„Das musst du mir erst mal beweisen“, kam die Retourkutsche, begleitet von einem anzüglichen Grinsen. Fyes Herzschlag beschleunigte sich augenblicklich. Beweisen. Soso. – Halt! Gedanke, raus! Solange sein Körper nicht richtig geheilt war, würde daraus sowieso nichts werden. Aber wenn er erst wieder gesund war… Ja, das könnte interessant werden.

Verführerisch schmiegte er sich an seinen Verehrer, wohl darauf bedacht, dass sich vor allem ihre Körpermitten näher kamen, und raunte in sein Ohr: „Glaub mir, nichts lieber als das, aber ein bisschen wirst du dich noch gedulden müssen.“

Fye spürte, wie sich sämtliche Muskeln im Körper des Schwarzhaarigen anspannten und sein Adamsapfel hob sich mit einem deutlichen Schlucken, während seine Gesichtsfarbe den gleichen Ton wie seine Augenfarbe anzunehmen begann.

Touché.

Wenn es ernst wurde, war Kuro-wanwan halt doch nur ein großes, schüchternes Hündchen.

Bevor das kleine Spiel aber aus dem Ruder laufen konnte, unterbrach Fye den Körperkontakt zwischen ihnen – wobei er es sich nicht nehmen lassen konnte, sexy Kuro noch mal in den Hintern zu zwicken – und tänzelte davon.
 

„Autsch. … Autsch.“

„Hihi, du bist aber ungeschickt, Fye“, gluckste Tomoyo.

„Stimmt, du kannst das viel besser als ich, Tomo-chan.“, witzelte er mit. „Autsch.“

„Deine Hände sehen wirklich nicht gut aus, Fye“, meldete sich sogar Chiis besorgte Stimme.

„Keine Sorge, das sieht schlimmer aus, als es ist. Autsch.“

Das tat es wirklich. Er sah aus, als hätte er versucht, den Brombeerstrauch mit bloßen Händen umzutopfen. Mit nur einem Auge war es wirklich schwierig, die Beeren zu erwischen.

„Autsch.“

Aufhören wollte er trotzdem nicht. Jetzt hatte ihn die alte Sammelleidenschaft gepackt. Es erinnerte ihn an früher, als er als kleines Kind praktisch ständig zwischen Beerensträuchern oder in Bäumen gehangen hatte, um sich von dem schier endlosen Angebot leckerer Früchte zu bedienen.

„Autsch.“

„Jetzt reicht’s aber! Genug Beeren gepflückt für heute“, mischte sich Kuro-grumpy genervt ein, eine Hand packte den Kragen seiner Jacke und zog ihn langsam aber unnachgiebig von seinem Brombeerstrauch weg. „Das kann sich ja keiner mit anhören“, schimpfte sein Brummbär weiter und stiefelte an ihm vorbei, in seinen Sammelplatz im Dickicht der Hecke hinein. „Wie viele willst du noch?“

Kuro-pii half ihm beim Sammeln?!

„Alle!“, rief Fye erfreut und streckte ihm seine Sammelschale erwartungsvoll entgegen. Ein genervtes Seufzen zusammen mit einem Augenrollen war seine einzige Reaktion. Wortlos drehte sein Brummbär sich den Brombeeren zu und begann zu sammeln – nur für ihn.

„Au ja, Papa, dann machen wir einen Wettbewerb! Wer die meisten Brombeeren pflückt“, schlug sein Töchterchen begeistert vor, doch Kuro-muff wäre nicht Kuro-muff, wenn er sich so leicht mitreißen lassen würde.

„Es sind genug für alle da und am Ende essen wir sie sowieso gemeinsam. Pass lieber auf, dass du dir die Finger nicht auch so zerstichst.“

Und Tomo-chan wäre nicht Tomo-chan, wenn sie sich so leicht geschlagen geben würde.

„Na gut… Nee-chan, dann machen wir einen Wettbewerb, ja? Ja?“

Chii nickte verhalten, was die kleine Tomoyo mit einem freudigen „Yaaaaaay!“ quittierte und sich voller Leidenschaft an die Eroberung des Brombeerstrauchs machte.

Einige Sekunden herrschte emsiges Schweigen. Die einzige Kommunikation waren ermahnende Blicke von Kuro-Papa, wenn er Fye dabei ertappte, wie er hinter seinem Rücken aus der Beerenschale naschte. Frische Brombeeren waren aber auch zu lecker! Fye verstand überhaupt nicht, wie Kuro-pon dieser Versuchung widerstehen konnte.

„Ich hab dir schon hundertmal gesagt, dass du mich fragen sollst, wenn du wegen deinem Auge Probleme hast“, kam es nach einer Weile mit gedämpfter Stimme von seinem selbsternannten Sammelhelfer.

„Ach, Kuro-pon, sieh das doch nicht so ernst! Von den drei Kratzern sieht man in zwei Tagen nichts mehr. So ist das nun mal, wenn man Brombeeren pflückt. Und es hat Spaß gemacht“, versuchte er, das wilde Geflecht von Schrammen und Stichen auf seinen Händen zu rechtfertigen. Doch in Kuroganes Gesicht lag überhaupt nichts Scherzhaftes, als er sich wieder zu Fye umdrehte und ihm geradewegs in die Augen sah.

„Auch wenn es keine größeren Verletzungen sind, will ich nicht, dass du so unvorsichtig bist. Dein Körper hat noch genug zu heilen. Da musst du nicht noch mehr hinzufügen.“

„Ich pass auf mich auf“, versprach er.

Der Ernst in den rot leuchtenden Augen ließ keinen Zweifel daran aufkommen, wie wichtig das für Kurogane war. Fye war nicht der Einzige, den die Ereignisse in CyberCom noch immer jagten. Vielleicht merkte Kurogane es gar nicht, aber wann immer sein Auge Teil des Gesprächs wurde, wurde er besonders empfindlich. Fye konnte nur hoffen, dass es nicht mehr als Sorge um sein linkes Augenlicht war, was diese Emotionen hervorrief. Dass er sich keine Mitschuld daran gab. Dass Kurogane sich wieder entspannte, wenn es seinem Auge besser ging. Dem Arzt zufolge sollte es sich weitgehend erholen. Die erste Untersuchung nach dem Unglück hatte eine Augapfelprellung und eine Fraktur am Boden der Augenhöhle ergeben, so dass er kurz nach der ersten großen OP noch einmal unters Messer musste. Konnte der Schaden wohl größtenteils behoben werden. Seine volle Sehkraft würde er vielleicht nicht zurückbekommen, aber zumindest hatte er sein Augenlicht nicht dauerhaft verloren. Blieb nur zu hoffen, dass keine unangenehmen Spätfolgen auftraten.

Eine leichte Gänsehaut bildete sich auf seinen Armen und im Nacken. Fye wusste, dass daran weniger der kühle Wind Schuld war. Ihm war doch wohler, wenn Kurogane neben ihm stand und seine Aufmerksamkeit nicht durch Brombeerbüsche oder dergleichen abgelenkt war.

„Wollen wir langsam zurück zum Campingplatz?“

Das ließ Kuro-wuff sich nicht zweimal sagen und war mit einem großen Satz aus dem Gestrüpp heraus und wieder auf dem Wanderweg.

„Auf geht’s“, signalisierte der Grummelpapa mit knappen Worten seinem Töchterchen, dass der Sammelwettbewerb hiermit beendet war.

„Was? Schon? Aber wir haben doch grad erst angefangen!“, protestierte der Lockenkopf – oder eher Struwwelpeter, so, wie die Dornensträucher Tomoyos Haare durchgekämmt hatten. Der Anblick ließ Fye schmunzeln und es ging ihm augenblicklich etwas besser.

Ja, er war froh, hierher gekommen zu sein. Der Ausflug hatte so viel Freude in Tomo-chans Gesicht zurückgezaubert, wie er sie lange nicht mehr gesehen hatte. Daheim bei Kurogane –bei ihnen – überschattete noch immer ein gewisser Ernst ihr Kindergesicht und sie war ständig bemüht, sich um ihn zu kümmern, ihm irgendwie zu helfen. Natürlich störte Fye das nicht, im Gegenteil, ihre kindliche Fürsorge freute ihn sehr, aber gleichzeitig wünschte er sich auch ihre Sorglosigkeit zurück. Und die hatte ihr der Ausflug in den Wald definitiv geschenkt.

„Bitte bitte, Papi, nur noch fünf Minuten!“, quengelte die Kleine weinerlich. Doch ihr humorloser Papa blieb hartnäckig.

„Ich sagte ‚wir gehen’ und damit basta!“

„Papa, du bist gemein!“, wehrte das Mädchen sich weiterhin. Ihre Stimme hatte einen gefährlich weinerlichen Ton angenommen.

„Aber fünf Minuten sind doch nicht lange, Kuro-pon“, ging Fye dazwischen, um die verhärteten Fronten zu entschärfen. Doch wenn man für eine Seite Partei ergriff, zog man gewöhnlich den Groll der anderen auf sich und dieser folgte auch prompt in einem weiteren Kontra: „Und in fünf Minuten besteht sie dann darauf, dass es nur zwei waren und will wieder fünf Minuten länger bleiben und so weiter. Und wir kommen nie los!“

„Gar nicht wahr!“, fuhr der Zauskopf von seiner Buschfestung aus dazwischen.

„Dafür haben wir doch Uhren!“, präsentierte Fye seinen Geniestreich. „Wir messen ganz genau die Zeit und nach fünf Minuten sehen wir, wie viel Tomo-chan und Chii gesammelt haben und gehen nach Hause. Deal, Tomo-chan?“

„Deal!“

„Dann… los!“

Und schneller, als man gucken konnte, ging das Wettsammeln weiter.

„Chii-nee-chan, beeil dich!”, spornte Tomoyo ihre selbst gewählte Schwester an, emsig weitersammelnd. Fye beobachtete sie mit einem warmen Lächeln auf den Lippen, sich gegen seine schwarzhaarige Zitrone lehnend.

„Siehst du, Kuro-muff? War doch kein Problem!“

„Das werden wir sehen, wenn die fünf Minuten um sind“, kam die gewohnt pessimistische Erwiderung. Aber das würde schon klappen. Bei Tomo-chan machte Fye sich da keine Sorgen.

„Uuuuuund… STOP!!“, gab Fye nach exakt fünf Minuten das Signal.

Kurzes Innehalten, die beiden Brombeerkörbchen der Mädchen wurden angehoben und verglichen und – „Yippiiiiieeeee!“, ertönte sogleich Tomo-chans Siegesruf. Auch auf Chiis Lippen stahl sich ein schüchternes Lächeln. Nicht, dass sie eine reelle Chance gegen Tomoyo gehabt hatte, wenn sie gleichzeitig Hatakis Leine halten und auf ihn aufpassen musste. Aber Chii war generell niemand, die sich viel aus Konkurrenz machte.

„Herzlichen Glückwunsch, Tomo-chan! Teilst du deine Beute denn mit uns, wenn wir picknicken?“, fragte er mit bittendem Blick.

„Natürlich!“

Wenn die Kleine eines ganz und gar nicht war, dann geizig.

„Aber müssen wir echt schon gehen, Fye-ma… äh, Fye?“

„Nach fünf Minuten gehen wir zurück. Das hast du versprochen“, erinnerte er sie.

„Aber es sind doch noch so viele Beeren übrig…“, entgegnete sie traurig.

„Und das ist auch wichtig. Was sollen denn die ganzen Vögel, die Eichhörnchen und die Rehe essen, wenn wir alles wegsammeln?“, fragte er mit dramatischer Sorge in der Stimme. Das kleine Mädchen schwieg für einen Moment, die Augen ganz groß, und nickte entschlossen.

„Stimmt!“

Und damit kam sie herüber zu ihnen auf den Wanderweg, bereit für den Rückweg. Fye warf Kurogane einen triumphierenden Blick zu, doch seine Miesmuschel zog es vor, in eine andere Richtung zu blicken.
 

„Sitz! Sitz!!“, drang unermüdlich Tomoyos piepsige Kinderstimme an sein Ohr, während Fye mehr oder weniger entspannt an Kuroganes Seite lehnte und diesem beim Angeln zusah. Ihre kleine Campingstelle hatte wirklich alles: eine schöne Wiese, eine Feuerstelle und sogar einen kleinen Angelteich mit Steg. Und auf genau diesem hatten Fye und Kuro-wan es sich nach dem Picknick bequem gemacht und kümmerten sich nun um ihr Abendessen. Oder besser: Kuro-daddy kümmerte sich um das Abendessen und Fye tat sein Möglichstes, ihn dabei zu stören.

„Schau, Kuro-blubb, ist da ein Fisch? Darf ich an der Angel ziehen?“

„Nein!“

„Aber die Angelschnur ist doch viel zu weit rechts! Wir müssen sie weiter nach links ziehen.“

Und damit war Fye drauf und dran, die Angel zu packen und sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, wenn Kurogane nicht im letzten Moment dazwischen gegangen wäre und seine Hände gepackt hätte.

„Wirst du wohl die Angel in Ruhe lassen!“

„Aber Kuro-chan, ich will doch nur helfen!“

„Du bist so hilfreich wie ein drittes Bein.“

„So eins kann man immer gebrauchen. Ein drittes Bein kann zum Beispiel-“

Doch weiter kam Fye nicht, denn sein Freund hatte seine Lippen in Beschlag genommen und ihn damit erfolgreich zum Schweigen gebracht. Diese Sprache gefiel Fye noch besser, so dass er sich nicht zweimal bitten ließ und den Kuss erwiderte. Nach einigen Sekunden löste Kurogane ihre Verbindung, ein triumphierendes Grinsen auf den Lippen.

„Viel besser.“

Hm... Dem konnte er nicht widersprechen. Er sollte öfter stören.

Seine Gedanken mussten ihm mitten ins Gesicht geschrieben stehen, denn Kurogane hob skeptisch eine Augenbraue und sah ihn durchdringend an. Vor einem möglichen Zur-Rede-Gestelltwerden wurde er jedoch von Tomo-chan bewahrt.

„Papa, Fye, seht nur, was Hataki gelernt hat!“, rief sie aufgeregt herüber.

„Oho?“, flötete Fye interessiert und drehte sich um, so dass er Kuro-pons Töchterchen und den kleinen Hund direkt ansehen konnte. Als das Mädchen sich sicher war, dass sie ihrer beider Aufmerksamkeit hatte, drehte sie sich zu ihrem vierbeinigen Schützling zurück, der sie mit wedelndem Schwänzchen und schräg gelegtem Kopf neugierig ansah.

„Hataki, Sitz! Sitz! – Sitz!“

Das Köpfchen des Hundes wanderte von einer Seite auf die andere, dann trat es zwei vorsichtige Schritte auf sein Frauchen zu und stellte eine Vorderpfote auf ihren Fuß.

„Nein, du sollst doch Sitz machen, Hataki. Sitz!“

Mit etwas Nachdruck drückte sie den Hund in eine sitzende Position, doch die Position hielt nicht einmal lang genug, um ein Wort des Lobes auszusprechen. Kaum, dass er auf seinen Hinterpfoten saß, verlagerte sich sein Gewicht nach rechts und das schwarze Fellknäuel plumpste auf dem Rücken, seine vier Beinchen Tomoyo entgegen gestreckt.

„Nein, das ist doch nicht Sitz, Hataki. Du machst das falsch!“, tadelte sie ihn, enttäuscht, dass sie ihr Kunststück nicht vorführen konnte.

„Haha, Vorführeffekt. Mach dir nichts draus, Tomo-chan!“, tröstete Fye sie lachend.

„Vorführeffekt?“, wiederholte das Mädchen ahnungslos.

„Immer, wenn man etwas zeigen möchte, geht es schief. Das ist ‚Vorführeffekt’“, klärte er sie auf.

„Vorführeffekt“, wiederholte sie nickend.

„Aber du machst das sehr gut, Tomo-chan. Wenn du so weiter übst, dann kann Hataki ‚Sitz’ bald in- und auswendig“, lobte Fye sie.

„Dann üben wir gleich weiter!“, versprach sie euphorisch. „Komm, Hataki, noch mal. Sitz!“

Und so ging es wieder von vorn los. Zufrieden drehte Fye sich in seine Ausgangsposition zurück, Kurogane tat es ihm gleich. Die Nähe des anderen genießend, schweifte sein Blick gedankenverloren über das Wasser. Schade, dass es nicht immer so sein konnte…

„Was ist?“, vernahm er gedämpft Kuroganes tiefe, sanfte Stimme. Sein Kuro-chan war einfach zu feinfühlig.

„In einer Woche musst du zurück auf Arbeit“, konstatierte Fye.

„Denkst du, du kommst zu Hause allein zurecht?“, fragte der andere besorgt. Manchmal war er auch ein bisschen übervorsichtig mit ihm.

„Ja, das ist nicht das Problem. Es wird nur ungewohnt still sein, wenn du tagsüber nicht mehr da bist.“

„Einsam“ wollte er eigentlich sagen. Doch er wusste, dass das zu egoistisch wäre.

„… Ich würde auch lieber noch eine Weile bleiben“, gab der Schwarzhaarige nach einigen Sekunden zurück und legte seine linke Hand auf Fyes Oberschenkel. Dieser schenkte ihm dafür ein dankbares Lächeln.

„Aber früher oder später muss es ja weitergehen. Und immerhin musst du nicht mehr so lange arbeiten wie vorher“, tröstete Fye ihn – oder eher sich selbst.

„Hn“, war die knappe Antwort und Kuroganes Gesichtsmuskeln verspannten sich ein wenig.

Fye wusste, dass er im Grunde auch froh über die kürzeren Arbeitszeiten war, aber dass sein Chef ihn vom Einsatzdienst abgezogen und seine Einsatzgruppe jemand anders übertragen hatte, kratzte an seiner Ehre. Kurogane war alles andere als begeistert gewesen, als er erst zum Gespräch mit dem Richter und den zwei Anwälten zitiert worden war und drei Tage später dann zu seinem Chef. Das erste Gespräch musste schon schlecht gelaufen sein – jedenfalls hatte sich Kuro-grummel in einer Tour über den Anwalt der Gegenseite ausgelassen, seit er nach Hause zurückgekommen war. Die Schimpftiraden waren jedoch auf einen Schlag verklungen, als das Gespräch mit seinem Chef auch vorbei war. Das plötzliche Schweigen war richtig beunruhigend gewesen und noch immer blickte Kurogane finster drein, wann immer er an seine Arbeit erinnert wurde. Das Schlimmste am Ausgang des Gesprächs war für seinen Freund, dass sein Chef ihn dazu verdonnert hatte, psychologische Betreuung in Anspruch zu nehmen, um den Vorfall mit Stephan Dukari zu verarbeiten. Insgeheim gab Fye dem Chef in diesem Punkt aber recht. Psychologen waren ausgebildete Leute, die Leuten in solchen Situationen helfen konnten. Er merkte es auch an sich selbst. Auch wenn es weh tat, über seine Vergangenheit mit Ashura zu sprechen, half es ihm, sie langsam zu akzeptieren. Auch wenn es Passagen gab, die er nach wie vor lieber meiden wollte. Sein letzter Aufenthalt in CyberCom war eine davon und es graulte ihm gewaltig vor dem Tag, an dem er sich damit würde auseinandersetzen müssen. Doch noch war es nicht soweit und sein Therapeut hatte ihm versichert, dass sie nur über die Dinge sprechen würden, die Fye von sich aus bereit war zu diskutieren. Aber was, wenn er dieses Thema nie berühren können würde?

Energisch wies er den Gedanken von sich. Er war jetzt hier im Wald mit Kurogane, Tomo-chan und Chii, sie machten einen Ausflug, um den Rest ihres langen gemeinsamen Urlaubs zu genießen und nicht, um sich von seiner festgefahrenen Vergangenheit direkt in Zukunftsängste zu stürzen.

Die Augen schließend, lehnte er sich gegen Kuroganes Schultern und versuchte, ein bisschen zu entspannen. Der sanfte Arm, der sich dabei um seinen Rücken legte und ihn wärmte, half dabei ungemein.
 

Bis zum Abendessen hatte Kurogane zwei Fische gefangen, die sie sich zu zweit teilten. Chii aß generell kein Fleisch und Tomoyo hätten keine zehn Pferde dazu bringen können, Tiere zu essen, die kurz vorher noch lebendig durch den Teich geschwommen waren.

„Deine Fleischbällchen haben auch mal quiekend im Stall gestanden“, versuchte Kurogane zu argumentieren, doch das Argument stieß bei seiner Tochter auf taube Ohren. Ihre Empörung über den Fisch war jedoch vergessen, kaum dass zum Nachtisch der Teig rausgeholt wurde – unter Fyes professioneller Anleitung von Tomo-chan und Kuro-chii mehr bzw. weniger liebevoll vorbereitet – und sie sich daran machten, Knüppelkuchen zu backen. Kurogane zog es vor zuzusehen und seinem Töchterchen und Chii beim Backen zu helfen, damit ihre Teigbälle nicht als Rußklumpen endeten. Diesmal versuchte niemand, ihn zum Mitessen zu überreden. So blieb mehr für sie übrig.

Die Sonne neigte sich langsam dem Horizont entgegen und der lange Tag hinterließ nun deutliche Spuren bei der kleinen Tomoyo. Noch während sie an ihrem zweiten Knüppelkuchen kaute, begannen ihre Augen zuzufallen und der gesamte Campingplatz wurde von der Ruhe des Waldes umarmt, nun, da das Spielen und Lachen des Kindes verklungen waren.

„Na los, Kleines. Zähne putzen und schlafen“, entschied ihr Papa und nahm ihr den Rest ihres Knüppelkuchens ab, bevor das Kind komplett einschlief und zur Seite umkippte.

„Hm~m“, murmelte der Lockenkopf nur unbestimmt und rieb sich die Augen. Sich den Kuchenrest spontan selbst in den Mund steckend – Fye machte eine mentale Notiz, dass er das rot im Kalender anstreichen musste – hob Kurogane sein Töchterchen hoch und machte sie bettfertig. Chii hatte unterdessen die Fellbürste gegriffen und sich geduldig daran gemacht, die viele Knoten vom Spielen im Wald aus Hatakis Fell zu kämmen. Zuerst hatte das kleine Hündchen deutlichen Widerstand gegen die Pflegemaßnahme bekundet, doch immer, wenn er versuchte, sich aus Chiis Armen zu winden, kraulte sie ihn an den Ohren oder am Hals und beruhigte ihn damit wieder. Es war niedlich mit anzusehen, wie das kleine Fellknäuel zwischen der Bürste und der kraulenden Hand hin- und hergerissen war und sein Widerstand immer weiter schwand, bis er schließlich einfach entspannt liegen blieb und beides genoss, als nachdem hartnäckigsten Knoten beseitigt waren. Chiis beruhigende, liebevolle Art zog nicht nur Menschen in ihren Bann, auch Tiere konnten ihr nicht widerstehen. Tiere wahrscheinlich sogar noch mehr. Sie waren unkomplizierter, unschuldiger.

Tomo-chan hatte inzwischen geputzte Zähne und einen niedlichen Hausanzug mit Hasen-Bildern darauf an. Definitiv eine der Sachen, die Souma für sie ausgesucht hatte. Wäre es die letzten Jahre nur nach Kuro-blacky gegangen, hätte sie wahrscheinlich nichts anderes als Grau, Weiß oder Schwarz im Schrank. Maximal vielleicht noch etwas in Dunkelrot. Das war die einzige Farbe, die Fye bisher bei seinem Stilmuffel im Kleiderschrank entdeckt hatte. In Zukunft musste er das auf jeden Fall ändern.

Mit seinem Töchterchen auf dem Arm kam er heran und unterbrach Fye in seinen Gedanken, als es gerade anfing, lustig zu werden.

„So, Kleines, dann sag noch ‚Gute Nacht’ zu allen.“

Doch statt einem „Gute Nacht“ fragte sie: „Kann Chii-nee-chan mitkommen?“

„Gern. Ich putze auch Zähne“, erwiderte sie leise und stand auf. Hataki warf ihr sofort sehnsüchtige Blicke nach. Chii schlug Tomoyo wirklich keinen Wunsch aus.

„Kann ich noch so lange bei euch bleiben, Papi?“, fragte sein Töchterchen weiter.

„… Na schön“, stimmte der Papa zu und setzte sich zurück auf seinen Platz neben Fye.

„Da können wir morgen ganz viele tolle Bilder für unser Tagebuch malen, was, Tomo-chan?“, schlug Fye vor.

„Au ja.“

Ihre Antwort war zwar von der Müdigkeit gedämpft, aber dennoch konnte man die Vorfreude darauf heraushören. Die Tagebücher waren in den letzten Wochen zu ihrem gemeinsamen Hobby geworden und füllten bereits eine beachtliche Zahl an Seiten. Tomo-chan malte sie in erster Linie für ihre Freunde im Kindergarten, die im Moment von Sakura-chan und Souma betreut wurden. Tomoyos ehemaliges Kindermädchen war kurzerhand als Aushilfe für Fye eingesprungen, als Yuuko sie darauf angesprochen hatte. Tomo-chan hätte natürlich auch zurück in den Kindergarten gehen können. Es war nicht so, dass Kurogane es ihr verboten hatte. Aber sie bestand darauf, gemeinsam mit Fye zurückzugehen, wenn er wieder gesund war. Das ließ Fye immer wieder ein schlechtes Gewissen bekommen. Er wollte dem kleinen Wirbelwind diesen Wunsch gern erfüllen und natürlich vermisste er selbst seine kleine Bande und Sakura-chan auch, aber… Wenn Kurogane nun bald wieder arbeiten ging, würde er in Zukunft definitiv allein in den Kindergarten gehen müssen. Im Moment müssten sich die Kinder dann eher um ihn kümmern als umgekehrt. Und auch wenn er vielleicht irgendwann seine Angst besiegen konnte, wusste er nicht, wie lange er dafür brauchen würde. Was, wenn Tomo-chan schon zur Schule ging, bis er wieder arbeiten konnte? Wenn sie ihre Freunde dann gar nicht mehr wiedersah…?

„Fye-mama… Erzählst du mir eine Gute-Nacht-Geschichte?“

Oh! Das war erstaunlich. Und so, wie Kuro-daddy dreinblickte, überraschte es ihn genauso. Geschichten erzählen war eigentlich allein sein Vorrecht.

„Wenn der Papi nichts dagegen hat“, witzelte er ein wenig.

„Die Mami kann das auch gern machen“, gab der andere sein Okay, ohne die Gelegenheit für die kleine Stichelei ungenutzt zu lassen. Fye warf ihm einen bösen Blick zu, der, wie immer, ignoriert wurde.
 

Als Chii fertig war, setzten sie sich zu dritt ins Auto, Hataki sprang ihnen hinterher auf den Rücksitz und machte es sich zwischen Tomoyos Kindersitz und Chiis Beinen bequem.

„Welche Geschichte möchtest du denn hören, Tomo-chan?“, fragte Fye.

„Eine neue Geschichte.“

„Eine neue Geschichte…“, wiederholte er nachdenklich. „Hm… Kennst du schon die Geschichte von den zwei Prinzen im Schneeland? Der eine Prinz wurde vom Schneekönig entführt und sein Herz in Eis verwandelt, aber sein Bruder ist losgezogen um ihn zu retten und konnte sein Herz wieder erwärmen.“

„Sind es nicht ein Mädchen und ein Junge und eine Schneekönigin?“, fragte Chii ihn.

„Die Geschichte gibt es in verschiedenen Varianten. Ich mag die mit den zwei Prinzen am liebsten“, erklärte Fye ihr.

„Ich kenne beide nicht“, meldete sich Tomoyo, die Müdigkeit ein Stück weit aus der Stimme verdrängt und ihn erwartungsvoll anblickend.

„Dann erzähle ich sie jetzt euch beiden. Also: Es war einmal vor langer, langer Zeit, im fernen Schneeland Ceres. Da lebten zwei Prinzen, Zwillinge, die sich näher waren als jeder andere auf der Welt. Sie waren wie eine Seele in zwei Körpern und nur dann vollständig, wenn sie zusammen waren…“

So begann Fye sein Märchen und Tomo-chan und Chii lauschten gespannt. Er erzählte, wie unzertrennlich die Prinzen waren, bis eines Tages die dunkle Magie des herzlosen Schneekönigs sie entzweite. Ein magischer Spiegel war ihm zerbrochen und einige Splitter in das Herz und Auge des einen Zwillings gedrungen. Dieser veränderte sich daraufhin, wurde kalt und böse und eines Tages, als er beim Spielen den Schneekönig auf einem Schlitten vorbeikommen sah, stieg er in dessen Kutsche und ließ sich von ihm entführen, in seinen Palast ganz aus Eis im hohen Norden. Dort verzauberte der König den jungen Prinzen vollends, so dass dieser alles vergaß, sogar seinen geliebten Bruder, und fortan als gefühllose Hülle im Eispalast des Schneekönigs lebte. Seinem Bruder brach das Herz, sein zweites Ich so zu verlieren, und so beschloss er, nach ihm zu suchen. Die Blumen und Tiere und liebe Menschen halfen ihm auf seiner Reise, so dass er schließlich den Weg zum Schloss des Schneekönigs fand und seine Liebe den eisigen Zauber schmolz, der die Seele seines Bruders gefangen gehalten hatte. Nun konnten sie gemeinsam aus dem Palast fliehen und nach Hause zurückkehren, wo sie für den Rest ihres Lebens gemeinsam glücklich lebten.

„Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“, beendete Fye sein Märchen.

„Deine Version der Geschichte ist auch sehr schön“, fand Chii.

„Ja, wirklich schön“, stimmte Tomoyo ihr zu. „Chii-nee-chan, erzählst du mir deine Geschichte auch? Mit dem Mädchen und dem Jungen?“

„Morgen, okay? Jetzt ist Zeit zu schlafen“, vertröstete Fye sie.

„Hm-hm“, nuschelte das Mädchen zustimmend und kuschelte sich enger an Chiis Seite.

Fye wollte den Mädchen gerade eine gute Nacht wünschen, als Tomoyos müde Stimme sich noch einmal meldete.

„Fye-ma-, äh, Fye? Warum sind in deinem Märchen eigentlich kein Prinz und eine Prinzessin?“

„Warum sollten es denn Prinz und Prinzessin sein, Tomo-chan?“, fragte er zurück.

„Na ja, ich dachte, Märchen haben immer ein Mädchen und einen Jungen“, erklärte sie.

„Ich denke, das ist gar nicht so wichtig. Wichtig ist, dass es liebe Menschen sind, die sich gegenseitig helfen und für einander da sind. Meinst du nicht auch?“

„Ja…“, stimmte sie zu. Eigentlich war das gerade eine gute Gelegenheit, fand Fye. Wenn sich die Kleine mit der Frage nach Jungen und Mädchen beschäftigen wollte, könnte er doch mal versuchen, ihr das mit dem „Mama“ zu erklären.

„Genauso ist es auch bei Eltern. Die meisten Kinder haben einen Papa und eine Mama, aber manche Kinder haben eben zwei Papas oder zwei Mamas. Wichtig ist nur, dass sich alle ganz doll lieb haben.“

„Aber Papa sagt auch ‚Mama’ zu dir“, wandte das Kind ein.

„Das meint der Papa aber nicht ernst. Er will mich bloß ärgern“, beschwerte er sich halb ernst über den Doof-Papa.

„Dann...kann ich ‚Fye-papa’ sagen?“, fragte das Mädchen unsicher. Uff. Tomo-chan war schon ein harter Brocken.

„Na ja… Das… ist irgendwie auch ein bisschen komisch, Tomo-chan“, setzte er hilflos zu einer Antwort an. Fye wusste wirklich nicht, ob diese Alternative besser war. Okay, besser vielleicht schon, aber von ‚gut’ immer noch meilenweit entfernt.

„Nur Fye?“, fragte sie ein wenig zweifelnd.

„Einfach nur Fye. Das ist am besten, ja“, bestätigte er ihr.

„Und wenn Papa und du noch ein Kind bekommen?“, fragte sie weiter.

Fye musste sich zusammenreißen, um nicht loszuprusten. Die unschuldige Art, mit der sie das fragte, war einfach zu süß.

„Das geht wohl nicht, Tomo-chan. Das geht nur mit einer Mama und einem Papa“, erklärte er ihr. „Aber wir haben dich und Chii und mit euch sind wir glücklich.“

Bei der Erwähnung von Chii begann die Kleine, das ältere Mädchen zu mustern.

„Chii-nee-chan sagt auch nicht ‚Papa’ zu dir. Wo sind denn ihre Mama und ihr Papa?“

Fye lächelte ein wenig und strich ihr durchs Haar, um sein Unbehagen zu überspielen. Es war nicht sein Recht, darüber zu sprechen. Und Tomoyo könnte es sicher noch nicht verstehen.

„Ihr seid meine Familie“, antwortete Chii in ihrer gewohnt leisen Stimmlage anstelle von Fye. „Fye, Kurogane-san und du, Tomo-chan.“

Tomoyo sah das stille Mädchen einige Augenblicke aus großen Augen an, als sei ihr gerade etwas klar geworden.

„Ich bin froh, dass du jetzt meine große Schwester bist, Chii-nee-chan.“

„Ich bin auch froh, dass du meine kleine Schwester bist.“

Die zwei konnten auch das kälteste Herz zum Schmelzen bringen, dachte sich Fye. Er wünschte ihnen beiden eine gute Nacht und verließ dann leise das Auto.
 

Kurogane hatte in der Zwischenzeit angefangen, ihre Sachen zusammenzuräumen. Gerade verfeuerte er ihre Pappteller vom Abendessen an die Reste des Lagerfeuers. Als er Fyes Herannahen bemerkte, sah er fragend in seine Richtung.

„Das war aber eine lange Gute-Nacht-Geschichte.“

„Eine Gute-Nacht-Geschichte und ein kleiner Exkurs über Geschlechterrollen in der Familie. Vielleicht sollten wir den auch mal durchgehen“, kommentierte Fye, doch Kurogane ging nicht darauf ein.

„In 15 Minuten bin ich fertig, dann können wir los“, antwortete er nur. Fye beschloss, das Thema ebenfalls fallen zu lassen. Er fühlte sich gerade so entspannt und ausgeglichen, dass er keine Lust auf Sticheleien oder Streit hatte. Früher oder später würde es Kurogane schon langweilig werden, wenn er den Beinamen lange genug ignorierte.

„Ich helfe dir“, bot er an und blickte sich um, was es eigentlich noch zu tun gab.

„Aber pass auf dich auf. Die Tasche nehme ich.“

„Natürlich!“

Ah, die Angel lag noch am Steg. Die konnte er ja verstauen – oder erst mal einholen, denn die Angelschnur hing immer noch vergessen im Teich. Fye begann gerade zu kurbeln, als er ein Zucken am Faden bemerkte.

„Kuro-chii? Ich glaub, da hat noch was angeb-“

In dem Moment wurde er von einem erneuten Ruck unterbrochen, diesmal so kräftig, dass er mitsamt der Angel einen unfreiwilligen Hechtsprung ins Teichwasser machte. Schmerz explodierte in seinem Körper, als seine Wunden unter der plötzlichen groben Bewegung aufschrien und eisige Wellen ihn unter sich begruben. Für einen Moment verlor er die Orientierung, dann spürte er den Teichboden im Rücken, oben und unten kehrten in ihre Position zurück und die Kälte, die ihm gerade noch die Luft aus den Lungen zu drücken gedroht hatte, stach zwar immer noch in seine Haut, begann gleichzeitig aber, ein wenig wohltuend seine frischen Narben zu kühlen.

Gerade als Fye das Gefühl hatte, wieder Herr der Lage zu sein, war das Wasser um ihn verschwunden und er fand sich in den Armen eines ebenfalls von oben bis unten triefenden Kurogane wieder, der ihn mit schreckgeweiteten Augen anstarrte, das schnelle Pochen seines Herzens deutlich an seiner eigenen Brust spürend.

„Bist du verletzt? Ist eine der Wunden aufgerissen?“ Die Stirn in Falten gelegt, musterte er in schneller Abfolge Fyes Gesicht und Körper, wahrscheinlich, um nach verdächtigen Blutflecken Ausschau zu halten. Aber der kurze Schmerz von seinem weniger eleganten Sprung war bereits verklungen und aufgeplatzt war erst recht nichts. Ein rohes Ei war er ja nun auch wieder nicht.

„Kuro-muu, du übertreibst“, maulte er ob der übertriebenen Alarmiertheit seines Freundes. „Sieht das Wasser so aus, als würde es einen verprügeln, wenn man hineinspringt?“

„Das ist nicht witzig! Du weißt genau, wie gefährlich hektische Bewegungen für deinen Körper sind!“, beschwerte sich der Hitzkopf, Fyes indirekte Bestätigung, dass er okay war, ignorierend. Oder dadurch ermutigt, dass er sich mit seinem Gemecker nicht zurückhalten musste.

„Ist es mein Körper oder deiner? Ich werd ja wohl wissen, wie viel ich aushalte!“, gab Fye scharf zurück.

„Warum nur fällt es mir so schwer, das zu glauben, wenn ich sehe, wie du auf dich aufpasst?“, kam die sarkastische Antwort.

„Ach, aber du bist besser, ja? Springst ohne Nachzudenken kopfüber in nen Teich, Anfang Dezember, und machst nicht mal Anstalten wieder rauszugehen! Du hättest sonst wo dagegen stoßen können!“

„Wenn du nicht mit den Fischen gespielt hättest, hätt’ ich nicht hinterher springen müssen! Und im Gegensatz zu dir kann ich sehr wohl auf mich aufpassen!“

„Ach? Und warum stehst du dann immer noch hier? Bist du scharf auf ’ne Lungenentzündung?“

„Lenk nicht ab! Hier geht’s um was ganz anderes!“

„Ich lenk nicht ab!“

»Ich mach’ mir einfach Sorgen um dich!!«

Stille. Den letzten Satz hatten sie sich gleichzeitig um die Ohren gedonnert.

„Pffft!“, entkam es Fye. Er bekam auch Kuroganes unterdrücktes Grinsen mit, auch wenn dieser gerade seinen Kopf wegdrehte und sich nun endlich daran machte, aus dem Teich zu waten, Fye immer noch fest in seinen Armen, gerade so hoch, dass er das Wasser nicht mehr berührte. Da hielten sie sich hier umschlungen, bauchtief im Wasser und hatten nichts Besseres zu tun, als sich anzuzicken. Die Fische hielten sich wahrscheinlich grad alle die Bäuche vor lachen.

„Tut mir leid, dass ich dir Sorgen gemacht habe“, lenkte Fye ein.

Sein überbesorgter Freund warf ihm einen versöhnenden Blick zu.

„Sorry, dass ich dich angefahren habe. Bist ja nicht mit Absicht baden gegangen.“

Endlich waren sie raus aus dem Wasser. Nur wirklich wärmer wurde es trotzdem nicht. Anfang Dezember, noch dazu nach Sonnenuntergang, war das einfach nicht mehr zu erwarten.

„Und was machen wir jetzt? Wir haben keine trockenen Klamotten mehr“, überlegte Fye laut. Nicht, dass er ernsthaft erwartete, Kuro-wuff könnte irgendwas aus dem Nichts herzaubern, aber er wollte sich einfach noch ein wenig unterhalten. Nur war sein wortkarger Freund nach wie vor kein Fan von Smalltalk, so dass er ihm eine Antwort auf diese Frage schuldig blieb. Stattdessen legte er Fye in der Nähe des Feuers ab, warf die letzten dickeren Äste hinein, die noch daneben bereitgelegen hatten, und ging zum Auto. Kurz darauf kam er mit einer flauschigen Decke unterm Arm zurück, deren Farbe und Muster so gar nicht zum großen Schwärzli passen wollten.

„Ob du die dir einfach so ausleihen darfst?“, witzelte Fye.

„Die Kleine wird’s überleben. Außerdem schläft sie sowieso.“

Die Kombination rosarot mit Hasenmuster und Kuro-chan wurde für gut befunden. Jetzt wusste Fye, was er seinem Grummel zum Geburtstag schenken konnte.

Die Decke neben sich ablegend, setzte er sich zurück zu Fye, zog sein klitschnasses T-Shirt aus, wrang es aus und hängte es über einen der Stöcke, die sie vorhin für den Knüppelkuchen benutzt hatten, möglichst nah an das neu auflebende Feuer. Eigentlich keine schlechte Idee, fand Fye, und begann, sich seiner nassen Sachen ebenfalls zu entledigen. Mit der Jacke ging das noch ganz gut, aber sein Pulli war schon schwieriger, so vollgesogen mit Wasser. Seine Arme wollten einfach nicht richtig mitmachen. Ergeben seufzend legte Kurogane seine Hände an Fyes Arme, um ihn zum Stillhalten zu bringen und dann die begonnene Arbeit zu beenden. Nachdem alles provisorisch an den Stöcken aufgehängt war, warf er Tomo-chans flauschige Decke um ihre Schultern. Seine Haut wurde gleich spürbar wärmer. Nur seine Beine waren immer noch eiskalt und seine Hose fing langsam an, unangenehm zu kratzen. Na ja, da musste er jetzt wohl durch. – Oder auch nicht. Zumindest schien Kuro-wan das zu denken, denn der schwarzhaarige nestelte als nächstes an seiner Hose rum und fing an, sich diese ebenfalls von den Beinen zu ziehen.

„Kuro-pervy, geht das nicht ein bisschen weit? Die Kinder sitzen da hinten im Auto“, gab Fye zu bedenken.

„Erstens: Es ist dunkel und die sehen von da hinten aus eh nichts. Hinter der Decke sowieso nicht. Zweitens: Sie schlafen“, antwortete der plötzliche Hobby-Nudist ungerührt.

„Chii auch?“

„Hn.“

Na gut, aber… So richtig wohl war Fye dabei trotzdem nicht. Auch wenn seine Beine es ihm mehr als gedankt hätten. Dass die Kinder JETZT schliefen, hieß ja nicht, dass es DURCHGEHEND so blieb, bis ihre Sachen halbwegs getrocknet waren.

„Was denn?“, fragte sexy Kuro spöttisch. Fye betrachtete ihn verstohlen von der Seite. So ohne Hose… Das war definitiv kein schlechter Anblick. „Warst du vorhin nicht noch so scharf drauf, mir deine Männlichkeit zu beweisen?“

Die roten Augen seines Freundes funkelten vor Spott.

Oho, da wurde jemand übermütig! Ein Grinsen zuckte über Fyes Mund.

Herausforderung angenommen.
 

Finish~


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ursprünglich war geplant, das Kapitel an der Stelle enden zu lassen, wo Fye ins Gästezimmer zurückflüchtet und die unterdrückten Gefühle aus ihm herausbrechen. Nach einigem Überlegen habe ich mich dann aber dazu entschieden, den Anfang vom folgenden Kapitel noch mit hinzuzufügen. So passt es inhaltlich besser zum Prolog und geht nicht so in der Haupthandlung unter. Und auch der Titel des Kapitels bekommt noch eine neue Dimension hinzu. Nicht nur Kurogane musste sich nun schließlich seiner Vergangenheit stellen, sondern auch Fye. Und wie es weitergehen wird, das erfahrt ihr dann in zwei Monaten. :)
Frohe Weihnachten und einen guten Rutsch ins neue Jahr!

Nachtrag: Wer Langeweile hat und die Zeit bis zum nächsten Upload (voraussichtlich im Februar irgendwann) überbrücken will, dem kann ich "Supernova" von maykei nur empfehlen. Ist vielleicht nichts für Leser, die klare Handlungsstränge und viele eindeutige Antworten bevorzugen, aber wer gern rätselt und sich von vagen Andeutungen und Fragen angestachelt fühlt und auch zufrieden ist, wenn er nach langem Nachdenken immer noch zu keinem richtigen Ergebnis kommt, für den ist "Supernova" genau richtig. Aber Achtung: ist laaaaaaaaang. Aber dafür schon abgeschlossen~
http://animexx.onlinewelten.com/fanfiction/autor/222722/170830/#p=fanfic_daten_holder Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Und, was denkt ihr? Seht ihr dem Ende auch ein wenig wehleidig entgegen? Der Epilog ist zwar noch nicht geschrieben, aber wenn das Semester erst mal zu Ende ist, bin ich zuversichtlich, dass ich den pünktlich zum Uploadtermin auch hochladen kann. Einerseits ist es ein sehr befreiendes und schönes Gefühl, dass diese Geschichte jetzt ihren Abschluss findet, aber es ist auch ein wenig beklemmend, sie "gehen zu lassen". Durch diese Fanfic bin ich hier bei Animexx auch mit vielen Gleichgesinnten in Kontakt gekommen, habe viele tolle Unterhaltungen geführt, ihr habt mir neue Ideen gegeben und mich wieder richtig träumen und fangirlen lassen. Vor allem in dieser Hinsicht sehe ich dem Ende dieser FF ein wenig traurig entgegen. Aber man ist ja nicht aus der Welt. :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Alle weiteren Gedanken bleiben fortan der Fantasie des Lesers überlassen. ;)
Ich hoffe, das Ende ist der Geschichte einigermaßen gerecht geworden. Es war gar nicht so schwer zu entscheiden, was hier noch alles thematisiert werden sollte und was nicht. Und auch die Grenze zum Kitschigen nicht zu überschreiten. Deshalb bin ich wirklich gespannt, was ihr davon haltet.

Und zum Abschluss habe ich mal noch eine Frage an euch: Was sind eure Lieblings-Fanfics zu TRC? Deutsch oder Englisch, beides ist okay. Es wäre doch schön, wenn man mal die besten Sachen, die überall im Netz kursieren, sammeln könnte. Dafür habe ich auf meinem Steckbrief unter "TRC-Leseempfehlungen" einen extra Eintrag angelegt. Mit "Der Weg zum Glück" hat das natürlich nichts zu tun, deshalb wäre es schön, wenn ihr mir eure Lieblinge vielleicht per ENS oder ins Gästebuch schreiben könnt. Ich bin schon total gespannt, was dabei alles zusammenkommt! Vielleicht ist für euch auch so einiges Neues dabei. :)

Und ansonsten: Man sieht sich irgendwann beim nächsten Projekt!
Bis dahin
eure Lady_Ocean Komplett anzeigen

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Von: abgemeldet
2017-01-22T22:45:09+00:00 22.01.2017 23:45
Ne Zuckerbombe zum Frühstück ist sicher auch nicht ideal, aber zumindest isst sie so was und muss nicht hungern. o_o Was für ein fieser Vati. Das arme Kind kann einem nur leid tun.

Jetzt soll sie sich auch noch selbst ihre Brotbüchse machen? Wie fies. >.<

Oh Giott das arme Kind wurde noch nie von Kurogane hochgehoben? >_< Wie hat er das denn gemacht, als sie noch ein Baby war? Sie liegen lassen, bis jemand kam, um ihr die Windeln zu wechseln? Nope, er sollte definitiv kein Kind haben.

Aber naja, mit den cornflakes gibt er sich ja zumindest mal ein bisschen Mühe. :D Fortschritte!

Awww, er wuschelt ihr durch die Haare... na langsam wird es doch.

„Ach komm, Herzchen. Dein Paps kann nicht hier bleiben, er passt doch gar nicht zu den Möbeln.“
Hahaha lol. Ich dachte er muss einen Tag der Woche da bleiben? Dann müssen sie ja die Möbel alle wechseln. XD

Was schreit Kuro denn nur so rum? XD Ahh...aber Fye ist voll knuffig. Ein geborener Kindergärtner.
Von: abgemeldet
2017-01-22T22:33:53+00:00 22.01.2017 23:33
Oh mein Gott, das arme Kind. XD ich meine, es ist wirklich fies, wie Kurogane von seiner Ex mit nem Kind sitzen gelassen wird, aber die Kleine tut einem echt leid. ^^°
Mach dem Kind was Anständiges zu essen!

„„’ne Bohne“, war die einsilbige Antwort,“ Zählen kann er auch nicht. XD Das sind 3 Silben, du Ei!. Und nochmal ordentlich Chili und so dran hauen, damit das arme Ding auch ja Feuer spuckt.

„Wenn du nicht essen willst, musst du eben hungern“ - erinnert mich an meinen Onkel, der hat immer gesagt, ich zitiere: „Es wird jeessen was ofn Düsch gommt!“ Ja, er hat jeessen gesagt. Aber war eher ein blöder Scherz, er wusste, wie es richtig heißt. ^^°
Tomoyo tut einem echt leid, ich hoffe, es kommt bald jemand, der sich anständig um sie kümmert. XD

Das einzig positive (ihr zu sagen, dass man keine Süßigkeiten von Fremden annimmt) hebt er sich für später auf. XD Aber er denkt es schon mal und will es später sagen? Ziemliche Doppelmoral, nur damit sie in diesem Moment nicht weint. Ich glaube, Kurogane ist der letzte Mensch auf der Welt, der ein Kind haben sollte. Aber ich bin mal gespannt wie/ob sich das im Verlauf ändern wird. XD

Huch, das is aber ein seltsamer Kindergarten. XD Mit seltsamen Bedingungen. Stell dir mal vor, das würde hier einer machen. (Sie müssen einen Tag pro Woche im Kindergarten verbringen...dass sie arbeiten müssen und sie ihr Kind in der Zeit die sie hier verbringen auch zu Hause betreuen könnten, ist uns total egal!)
Aber hey, es gibt nen Kindergartenplatz für den er nicht mal warten muss, wie es scheint. ^^
Oh, die Gründe von Yuuko sind natürlich gut. :3 Er sollte wirklich lernen, mit Tomoyo besser umzugehen. Ist eher ein Wunder, dass das Jugendamt den noch nicht auf den Kieker hat.
Von:  Zaizen
2016-12-12T13:39:45+00:00 12.12.2016 14:39
Es ist schon über ein Jahr her, seitdem diese FF ihr Ende fand, doch bis jetzt hatte ich keine Zeit gefunden sie noch einmal von Anfang bis Ende zu lesen und in gewisser Weise auch auf meine eigene Entwicklung zurückblicken. Wie du bereits treffend im Vorwort des Epilogs erwähnt hast, ist seit dem Beginn dieser FF eine ganze Zeit vergangen und Autor, sowie auch die Leser haben seitdem viele Phasen und Stufen ihrer Entwicklung hinter sich gebracht.
Ich für meinen Teil musste mich wieder an die langen ENS-Verläufe erinnern, die zwischen uns entflammt sind und alle ihren Ursprung in dieser Geschichte haben. Daher hat diese wunderschöne KuroFye FF für mich auch einen ganz emotionalen Wert über die Jahre hinweg erhalten, dessen Abschluss jetzt ein wohlig warmes Gefühl hinterlässt. Ich hoffe, du und Klayr haben ebenfalls viel in ihrem Leben erreicht. (:
Und jetzt noch zwei Worte zur FF selber: Es ist selten, das derartig lange FFs nicht in die Banalität abdriften und sich nur noch um immer schlimmere Katastrophen drehen oder von Liebesdramen durchzogen werden. Was ich oftmals bei vielen anderen Geschichten vermisse ist diese langsame aber stetige Charakterentwicklung und dieses langsame in-einander-Verlieben. All das macht diese Geschichte so unglaublich fesselnd und emotional, sodass ich sie kaum an die Seite legen konnte. Dafür wollte ich euch nochmal besonders danken. (:

Danke, für diese wunderschöne FF und dass ihr siebeneinhalb Jahre daran gearbeitet habt und sie vollenden konntet.
Von:  swiss-chocolate
2016-11-01T23:15:53+00:00 02.11.2016 00:15
Lang lang ist's her...
Da macht schaut man aus Nostalgie seinen alten Animexx Account mal an und stellt fest, dass einer der Favoriten abgeschlossen ist!
Man hab ich mich gefreut und gleich die ganze Fic nochmal durchgelesen xD
Auch wenn ich jetzt nicht mehr in dem Fandom bin, schon eine ganze Weile nicht mehr, weiss ich noch wie ich mich gefreut habe so eine originelle Fanfic zu finden. Jedes Kapitel hat mir Freude (und Zuckerüberschuss dank Tomoyo) bereitet und jetzt wo ich sehe, dass sie abgeschlossen ist: ein grosses Dankeschön! Für die schönen Stunden, für die Hingabe und dass sie zu Ende gebracht worden ist (was definitiv nicht selbstverständlich ist).
Es war mir eine Ehre als Leserin dabei zu sein!
Von: abgemeldet
2015-09-10T19:47:11+00:00 10.09.2015 21:47
Kaum hab ich kein Internet kommt der Epilog raus; war ja klar xD

Er ist sehr schön geworden. Ich finde, ihr habt die Balance zwischen den vorigen Ereignissen und dem Jetzt wunderbar getroffen! Die Vergangenheit ist immer noch präsent, aber sie dominiert nicht alles. Und ihr seid nicht in die "Zuckerfalle" getappt, wo plötzlich alles rosa und flauschig ist.
Ich war anfangs ein wenig von Kurogane irritiert, weil er einerseits so überfürsorglich war und andererseits Fye so gnadenlos aufgezogen hat. Aber so im Nachhinein passt es schon ins Bild. Und irgendwann werden sie über den "Mama"-Kommentar wohl reden.

Zum Schluss bleibt mir nur zu sagen: Vielen, vielen Dank für diese fantastische Geschichte!
Ich werde sie sie sicher noch öfter lesen.

Viele liebe Grüße,
Puffie~
Von:  ryuuka
2015-08-03T21:38:12+00:00 03.08.2015 23:38
So, jetzt ist es also fertig -.-
Ich habe die FF zwar nicht von Anfang an begleitet, hab aber die letzten Kapitel fieberhaft verfolgt. Es ist meiner bescheidenden Meinung nach ein mehr als nur gelungenes Ende für eine brillante FF. Ich habe jeden Teil davon genossen. Ich fand es auch schön, dass Fai die Sache mit den Geschlechterrollen noch einmal aufgegriffen hat. Das lustige ist, dass ein paar Szenen ähnlich geschrieben waren, wie in einer meiner Hobbygeschichten xD Gibt von mir auf jeden Fall ein großes Plus! Mein weiß natürlich jetzt nicht was aus Ashura geworden ist, doch wenn man den schönen Ausflug betrachtet, den die Familie hat, kommt das einem irgendwie unwichtig vor. Ich habe diese FF sehr gerne gelesen und werde sie wohl in Zukunft auch noch häufiger lesen. Vielen Dank für diese tolle Geschichte!

GLG ryuuka
Von:  CptJH
2015-08-03T17:58:59+00:00 03.08.2015 19:58
Also, ich hab die letzten Kapitel nicht kommentiert - bin nicht dazu gekommen.
Aber sie waren wie immer fantastisch!
Und ja...ich bin immer noch dabei!
Von: abgemeldet
2015-07-15T16:26:23+00:00 15.07.2015 18:26
Aaach ich liebe diese FF einfach furchtbar!
Das ist schon ungefähr das fünfte Mal das ich gelesen habe x3
Immer wieder wundervoll!
Von:  KuroMikan
2015-07-05T22:11:35+00:00 06.07.2015 00:11
Hallö :)
normaleerweise les ich eigendlich auf fanfiktion ..de aber wie der zufall will XD
ein sehr gelungenes "ende" :)
ich find das pairing in dieser zusammensetzung einfach klasse :D *.*
und du schreibst einfach total spannend! ^^
jetz freu ich mich noch auf den epilog und dann is finished -.- schade
hab mich auf jenden fall total in diese story verliebt <3 ging so schnell rum *schnief*
okay man liest sich :)

lg Mikan
Von:  Dankness-is-all
2015-07-03T14:50:00+00:00 03.07.2015 16:50
SÜÜÜÜÜÜÜÜÜÜÜÜßßßßßßßßß!!!!! Das Kapitel war einfach Klasse und ja, ich finde es sehr traurig, dass es jetzt schon vorbei ist, aber dann freue ich mich halt auf deine nächste Geschichte. Ich finde es richtig super, dass Tomoyo wieder bei Kurogane ist, das war ja auch nicht auszuhalten!!!!! Aber naja,
ich freue mich schon auf den Epilog.
Also,
LG, All


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