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Der Weg zum Glück

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Unglaublich, aber wahr: Wir kehren mit dem Upload (vorerst) zum ursprünglichen Plan zurück und es gibt jetzt wieder alle zwei Monate ein neues Kapitel. In den letzten Ferien kam es zu dem seltenen Phänomen, dass ich gleichzeitig Zeit und Schreiblust hatte, und so sind neben diesem Kapitel gleich noch zwei neue entstanden. :) Fehlen also nur noch die letzten zwei Kapitel und der Epilog. Ich will keine Versprechungen geben, dass die auch in absehbarer Zeit fertig sind, denn jetzt ist erst mal wieder das übliche Semester-Pensum angesagt (man bemerkt es als Student kaum, doch als Lehrer hat man für die Unterrichtsvorbereitung echt viel zu tun!), aber ich hoffe ein bisschen auf entspannte Weihnachtsferien.
Aber erst einmal wird es alle zwei Monate wieder einen Upload geben, solange es möglich ist. Und damit viel Spaß beim Lesen! Komplett anzeigen

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Unerwartete Begegnung

Disclaimer: Die Charas gehören (bis auf wenige Ausnahmen) nicht uns, sondern Clamp. Wir wollen kein Geld damit verdienen, sondern nur unterhalten.
 

Erstschreiber des Kapitels: Lady_Ocean

Kapitel: 21/26
 

-~*~-
 

„Für die Welt bist du irgendjemand,

aber für irgendjemand bist du die Welt.“

(Erich Fried)
 

-~*~-
 

Unerwartete Begegnung
 

Es herrschte resigniertes Schweigen, als Fye und Kurogane am nächsten Morgen versuchten, einige Bissen Brot zum Frühstück herunterzubekommen. Geschlafen hatten sie wohl beide kaum, so dass sie letztendlich lange vor dem Sonnenaufgang schon wieder aufgestanden waren. Ihnen war auch klar, dass sie sich nicht verkriechen und einfach abwarten konnten, bis die Sintflut über sie hereinbrach. Aber gleichzeitig wussten sie auch, wie aussichtslos ihre Lage war.

Vor allem Fyes Lage. Chiis Verschwinden hing also tatsächlich mit seinem früheren Arbeitgeber zusammen. Die Gefahr hatte von Anfang an bestanden, aber er hatte insgeheim inständig gehofft, dass sie sich als unbegründet erweisen würde. Wie naiv er doch gewesen war.

Plötzlich wurde Fye aus seinen Gedanken geholt, als Kurogane seinen rechten Arm nach ihm ausstreckte um seine Hand über den Tisch hinweg auf seine zu legen. Hatte er schon wieder so miserabel ausgesehen, als er in seine Gedanken vertieft war? Kurogane konnte ihn inzwischen anscheinend lesen wie ein offenes Buch. Er machte sich Sorgen um ihn, das war mehr als deutlich, wenn er die feuerroten Augen seines Gegenübers betrachtete. Kurogane… Er wollte ihm keine Sorgen bereiten. Er wollte ihn nicht noch mehr belasten.

‚Ich bin in Ordnung’, dachte er, als er seine rechte Hand zusätzlich über ihre beiden Hände legte und Kuroganes etwas drückte. Etwas hatte sich seit der vergangenen Nacht zwischen ihnen verändert. Kurogane musste es auch spüren. Man merkte es an seinen Gesten und seinen Blicken. Nur wie er darüber dachte, das wusste Fye nicht. Verringerte er die Distanz zwischen ihnen nur, um ihn zu beruhigen, oder hatte es eine tiefere Bedeutung…? Nein, am besten nicht weiter drüber nachdenken. Er hatte den Schwarzhaarigen tief genug in seine Angelegenheiten hinabgezogen. Er würde ihn nur umso mehr verletzen.

„Es tut mir wirklich leid, dass ich dir so viel Ärger bereite“, hauchte er leise und wandte den Blick wieder ab.

„Du bereitest mir keinen Ärger. Und dir muss auch nichts leidtun“, erwiderte Kurogane.

Es war immer der gleiche Dialog. Seit gestern Nacht hatten sie kaum etwas anderes gesagt. Wenn es nach Kurogane ging, hätten sie längst die Polizei verständigt. Oder sogar den Geheimdienst! Kurogane konnte es nicht lassen, das Thema auf den Tisch zu bringen und hatte ihm heute Morgen erzählt, dass er durch seine Arbeit Kontakte dort hatte. Aber es war einfach zu unsicher. Ashura hatte selbst dort Agenten, die alles direkt an ihn weiterleiten würden, sobald sie einen Schritt in diese Richtung unternehmen würden. Das wusste er von früher. Deshalb schaffte es ja einfach niemand, ihm irgendwas nachzuweisen. So viele Morde in so vielen Jahren und nicht einen hatte man nachweisen können!

Nur…was er sonst tun konnte oder sollte, das wusste er beim besten Willen nicht. Und er hatte nur noch knapp drei Tage, um sich etwas einfallen zu lassen…
 

Es durchfuhr ihn wie ein elektrischer Schlag, als plötzlich die Türklingel erschallte. Hatte er ihn gefunden?! War Kurogane sein nächstes Ziel?! Dieser schien von Fyes Gedanken gar nichts zu ahnen, als er genervt seufzend zur Lautsprechanlage ging.

„Ja?“, hörte Fye die einsilbige Begrüßung vom Flur. „Moment, ich komme.“

Wenig später folgte das Klicken, als der Hörer zurück auf die Sprechanlage gesetzt wurde.

„Brief. Bin gleich wieder da!“, rief er Richtung Wohnzimmer und ging. Fye betete inständig, dass es keine Falle war. Sollte er zum Fenster gehen und nachsehen, ob dort tatsächlich ein Postauto stand? Aber was, wenn es keines war…?

Er spürte Wut auf seine eigene Feigheit. Falls das tatsächlich nicht die Post war, dann war Kurogane da unten in viel größerer Gefahr als er da oben. Ruckartig stand er auf, ging mit schnellen, steifen Schritten zum Fenster und zog den Vorhang einige Zentimeter weit zurück, so dass er gerade so mit einem Auge hindurchschielen konnte. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. Sein Blick glitt nach unten, zur Straße, und blieb an einem weißen Auto mit dem markanten roten Postzeichen hängen. Tatsächlich. Wirklich ein Postauto. Hoffentlich mit echtem Postboten.

Er ließ den Vorhang zurückgleiten und stolperte mit wackeligen Beinen zum Tisch zurück, ließ sich auf seinen Stuhl zurückfallen. Eine dreiviertel Minute später – er hatte abwechselnd die Tür und die Uhr an der Wand angestarrt – öffnete sich die Wohnungstür und Kurogane war wieder da. Vertieft in den Inhalt des Briefes, den er soeben entgegen genommen hatte. Was konnte das sein, dass er schon auf der Treppe angefangen hatte zu lesen?

„Was ist das für ein Brief?“

„Jugendamt“, antwortete Kurogane knapp, ohne den Blick von dem Schriftstück abzuwenden. Fye hielt für einen Moment den Atem an. Sollte er Kurogane jetzt lieber in Ruhe lassen oder konnte er fragen? Am Ende siegte seine Neugier.

„Was schreiben sie?“

Noch immer lesend, ging Kurogane an ihm vorbei ins Wohnzimmer und setzte sich auf einen Ledersessel. Fye folgte ihm angespannt.

„Tomoyo ist jetzt bei ihrer Mutter“, begann Kurogane schließlich.

„Und sie schlagen für Montagnachmittag einen Termin vor, um hier vorbeizukommen und sich meine Wohnverhältnisse anzusehen. Mein Fall wird wohl mit hoher Priorität behandelt. Dafür steht mir unter anderem diese ‚Begutachtung meiner Wohnsituation’ und ein Gespräch mit dem Jugendamt zu.“

Noch während er erklärte, blätterte Kurogane weiter und sah sich zwei weitere Seiten an, die dem Schreiben ebenfalls beilagen. Soweit Fye es überblicken konnte, enthielten sie eine Auflistung an Regeln, was eine „kindgerechte Erziehung“ bedeutete, welche Rechte und Möglichkeiten getrennt lebende Eltern bei der Erziehung der Kinder hatten und welche Möglichkeiten des Widerspruchs es gab und wie diese verliefen.

„Das…klingt doch gut!“, hauchte Fye. „Dann kann Tomo-chan bestimmt bald zurückkommen.“

Er war so erleichtert, dass Kurogane eine Chance bekam, um sein Töchterchen zu kämpfen. Und es war eine willkommene Ablenkung von seinen eigenen Problemen, von denen er nicht wusste, wie er sie anpacken sollte. Aber hier – hier gab es etwas Konkretes, was sie tun konnten!

Kurogane erwiderte den aufgeregten Blick des Blonden skeptisch.

„Dafür muss erst mal bewiesen werden, dass der Tod meines Untergebenen ein Unfall war.“

„Aber das WAR ein Unfall! Du würdest niemals jemanden ermorden und das wird mit Sicherheit auch nachgewiesen werden“, erwiderte Fye erschrocken. Zweifelte Kurogane etwa selbst an dem Hergang der Tat? Fye war zwar nicht selbst dabei gewesen, doch er kannte den Schwarzhaarigen inzwischen gut genug, um zu wissen, dass er niemals jemanden ermorden würde. Dafür war dieser nach außen hin so mürrische Brummbär in seinem Innern viel zu weich. Kurogane schenkte ihm ein halb dankbares, halb trauriges Lächeln. – Hatte er ihn je schon einmal so angelächelt? Aber besser, der Schwarzhaarige tat es in Zukunft nicht mehr. Das wohlige Kribbeln, das es in seinem Bauch ausgelöst hatte, war im Moment wirklich keine Hilfe.

„Selbst wenn es irgendwie möglich wäre, die Richter davon zu überzeugen, ist da immer noch diese Hexe von Mutter. Wer weiß, was sie der Kleinen bis dahin alles eingeimpft hat. Am Ende will sie mich nie wieder sehen.“

„Kurogane, denk doch so was nicht!“, rief der Blonde empört. „Tomoyo würde sich niemals einfach so von dir abwenden. Natürlich passiert es, dass Kinder sich von einem Elternteil entfernen, wenn die Eltern getrennt leben und das Kind dauerhaft nur bei einem Elternteil sein kann. Aber selbst so was dauert oft Jahre. Und in dem Fall kennen und lieben die Kinder zum Zeitpunkt der Trennung beide Eltern. Tomo-chan hatte immer nur dich. Du bist ihre Familie. Und darauf ist sie viel stolzer, als du es dir vorstellen kannst. Du solltest sie im Kindergarten mal erleben, wenn einer der anderen etwas Schlechtes über dich sagt. Wie vehement sie dich dann verteidigt. Wenn ihre Mutter irgendetwas planen sollte, um sie gegen dich aufzuwiegeln, wird sie bei Tomo-chan nur das Gegenteil erreichen.“

Was das Herz eines Kindes anging, da machte ihm so schnell keiner etwas vor. Da war Fye sich absolut sicher. Und Tomo-chan war ein absolutes Papa-Kind. Sie würde niemals freiwillig von seiner Seite weichen. Der Richter sollte sie mal in Aktion erleben!

„Hn.“ Kurogane lächelte schief. „Hoffen wir, dass du recht hast. Und dass ich am Montag einen besseren Eindruck beim Jugendamt hinterlassen kann als gestern.“

Damit nahm er sein Telefon und wählte die Nummer, die auf dem ersten Blatt des Briefes aufgedruckt war. Während der Schwarzhaarige den vom Jugendamt vorgeschlagenen Termin – Montag, um 14 Uhr – bestätigte, lehnte er sich zu ihm rüber, um einen genaueren Blick auf die Zettel in Kuroganes Hand werfen zu können. Wirklich helfen konnte er dem Schwarzhaarigen in dieser Sache wohl nicht, aber er konnte zumindest an seiner Seite bleiben, so lange es ihm möglich war.
 

Das Telefonat war erledigt, der Brief noch zwei-, dreimal gelesen, doch nun gab es wirklich nichts mehr, was sie im Augenblick tun konnten. Kurogane fing schon wieder an, ihn mit diesen eindringlich forschenden Augen anzublicken. Fye versuchte, dem so gut es ging auszuweichen, jetzt, wo er sich gerade mal ein bisschen besser fühlte, doch letztlich konnte Kurogane es natürlich nicht lassen, wieder mit dem leidigen Thema anzufangen.

„Und du bist sicher, dass wir nicht irgendwen um Hilfe bitten sollten, um deiner kleinen Untermieterin zu helfen?“

„Nein!“, lehnte Fye zum wiederholten Mal entschieden ab. „Er würde es herausfinden, egal, wie geheim wir das versuchen würden. Wer weiß, vielleicht hört er sogar dein Telefon ab und hat längst deine Wohnung verwanzt?“

Warum wollte dieser Dickschädel es nicht endlich einsehen? Ashura war ein Experte auf diesem Gebiet. Er selbst hatte auch nur einen kleinen Teil dessen gesehen, was der Chef von CyberCom im Geheimen für Machenschaften trieb, aber das war mehr als genug, um das schreckliche Ausmaß seiner Straftaten zu erahnen. Nur Kurogane wollte es einfach nicht begreifen! Vielleicht konnte er es auch nicht begreifen, solange er es nicht mit eigenen Augen gesehen hatte… Der Schwarzhaarige schüttelte nur wieder den Kopf.

„Die Wohnung ist definitiv nicht verwanzt. Ich kontrolliere das regelmäßig und habe auch sonst Maßnahmen ergriffen, dass ich sofort Bescheid wüsste, wenn sich hier jemand unbefugt Zutritt verschafft hätte. Meine Telefone sind genauso sicher. Die müssen sicher sein, sonst könnte ich meine Arbeit nicht machen. – Deshalb…“, lenkte der Schwarzhaarige das Thema schließlich in die ursprüngliche Richtung zurück. „Irgendetwas muss geschehen. Wir haben keinerlei Informationen über den Gesundheitszustand des Mädchens. Selbst wenn wir vom bestmöglichen Fall ausgehen, nämlich dass sie noch unversehrt ist, wird dies sicher nicht mehr lange so bleiben. Es wird ein Ultimatum geben.“

„Ich weiß…“

Da war sie wieder. Die Übelkeit. Die Verzweiflung. Sie raubte ihm schier den Verstand. Warum musste Kurogane ihn nur so quälen?

„Ich weiß…“, wiederholte er noch einmal. Warum war er nur so hilflos? Ein wenig beneidete er Kurogane um dessen Mut. Doch wenn Chii am Ende diesem Mut zum Opfer fallen sollte, dann könnte er sich das niemals verzeihen.

„Lass uns das doch besprechen, wenn dein Prozess durch ist. Dafür gibt es auch noch so viel zu tun!“, schlug er schließlich ausweichend vor. Kuroganes Gesichtsausdruck wechselte von angespannt in versteinert. Fye war klar, dass er damit nicht zufrieden sein würde, aber auch er selbst würde nicht von seiner Position abrücken. Zur Sicherheit begann er lieber damit, das kaum angerührte Frühstück wieder wegzuräumen, dann hatte er einen guten Grund, dem anderen zumindest für den Moment aus dem Weg zu gehen. Den Teller, den er gerade in der Hand hielt, hätte er um ein Haar fallen gelassen, als es schon wieder an der Tür klingelte. Fye wusste nicht, ob er jetzt dankbar oder verzweifelt sein sollte. Kurogane stapfte noch immer wutgeladen an ihm vorbei in den Flur und riss förmlich den Hörer von der Sprechanlage.

„Was?!“, blaffte er unfreundlich in die Sprechanlage.

Das verdutzte Gesicht, welches auf den unbeherrschten Ausruf folgte, ließ Fye ein wenig auflachen.

„Was wollen Sie denn hier?!“, hörte er den Schwarzhaarigen wenig später entnervt. Kurz darauf legte er den Hörer zurück – deutlich sanfter, als er ihn aufgenommen hatte, und betätigte den automatischen Türöffner. Fye überlegte, ob er fragen sollte, wer der plötzliche Besuch war, aber bei Kuroganes Verhalten hatte er bereits eine Vermutung. Als wenig später Yuuko Ichihara in der Tür stand, bestätigte sich diese.

„Was für ein herzlicher Empfang“, kommentierte sie ironisch, als sie den Flur betrat. „Hallo, Fye! Ich hoffe, der werte Hausherr bringt dir nicht genauso viel Gastfreundschaft entgegen.“

„Yuuko-san! Na das ist eine Überraschung. Und keine Sorge, ich werde bestens umsorgt“, erwiderte Fye mit einem Lächeln.

„Das freut mich zu hören. Dann scheint mein Klient unsere Abmachung ja einzuhalten.“

„Welche Abmachung?“, fragte Fye verwundert. Worüber hatten die beiden gesprochen? Ob es um Tomoyo ging?

„Ach, nur eine Kleinigkeit“, winkte die selbstbewusste Frau ab und wandte sich wieder Kurogane zu. „Aber Kurogane, ich muss dich trotzdem bitten, deine Aufgabe ernster zu nehmen. Schau dir nur mal an, wie der arme Fye aussieht! Ich will nicht wissen, was du die ganze Nacht mit ihm gemacht hast.“

„KLAPPE!!!“, bellte Kurogane mit hochrotem Kopf. Fye musste bei dieser Reaktion schmunzeln. Es erinnerte ihn sehr an das erste Mal, als der grummelige Daddy sein Töchterchen bei ihm im Kindergarten abgegeben hatte.

‚Also Kuro-rin.’ – ‚WAS???!!!’ – ‚Oder wie wäre es mit Kuro-pyon?’ – ‚DU HAST SIE DOCH NICHT MEHR ALLE!!!’

„Oh, habe ich da etwa ins Schwarze getroffen?“, holte Yuukos neckende Stimme ihn in die Gegenwart zurück.

„WENN SIE NUR HIER SIND, UM ZU STÖREN, KÖNNEN SIE GLEICH WIEDER GEHEN!!!“

Ja, das war sein Kuro-muff und sein unglaubliches Temperament, das er vom ersten Moment an lieb gewonnen hatte. Und…irrte er sich, oder war er sogar noch eine Spur roter geworden? Seine Ohren schienen förmlich zu glühen. Wie süß.

„So sehr ich es auch mag, dich ein wenig zu necken, aber das ist tatsächlich nicht der einzige Grund, weshalb ich hier bin“, lenkte Yuuko schließlich ein. „Ich habe Neuigkeiten. Und da ich eh grad in der Nähe war und ein Gespräch im Moment sicher angebracht ist, dachte ich, für einen Kaffee und ein paar Plätzchen würde ich das sogar bei einem Hausbesuch bei meinem Klienten erledigen.“

„Plätzchen gibt’s nicht“, antwortete Kurogane noch immer barsch, wenn auch deutlich beherrschter als zuvor. Von welchen ‚Neuigkeiten’ Yuuko wohl sprach? Kuro-puu war sicher auch neugierig. Heute schien der Tag der Neuigkeiten zu sein.

„Ein Kaffee als Anzahlung würde auch erst einmal reichen, solange die Plätzchen dann später kommen“, lenkte die Geschäftsfrau ein. Kurogane antwortete nicht, ging aber in die Küche. Höchstwahrscheinlich, um den bestellten Kaffee vorzubereiten. Yuuko ließ sich währenddessen im Wohnzimmer nieder.

„Was machen die Kinder?“, wandte sie sich an Fye.

„Alles bestens! Die kleinen Racker sind wirklich voller Energie“, begann er. Dann zögerte er einen Moment. Ob Yuuko schon über die aktuelle Lage informiert war? Sie schien nicht erstaunt darüber, dass Tomoyo nicht da war. „Zu schade, dass Tomo-chan uns vorerst wohl nicht mehr besuchen kann…“

„Deswegen dachte ich, ich komme gleich persönlich vorbei.“

Also tatsächlich. Bewundernswert und auch ein wenig erschreckend, wie gut Yuuko immer informiert war.

„Was sind denn das für Neuigkeiten?“, mischte Kurogane sich in das Gespräch ein, während er mit einem Tablett und drei Tassen zurück ins Wohnzimmer kam. Yuuko gab er den bestellten Kaffee, ihm eine heiße Schokolade. Für sich selbst hatte Kurogane ebenfalls einen Kaffee gemacht.

Nachdem der Schwarzhaarige sich gesetzt hatte, übergab Yuuko ihm wortlos einen Brief aus ihrer Tasche und beobachtete Kuroganes Reaktion. Als dieser den Umschlag genauer betrachtete, weiteten sich seine Augen. Fye warf ebenfalls einen Blick darauf. Der Absender war das Amtsgericht. Noch bevor Kurogane den Umschlag jedoch öffnete, wandte er sich wieder an Yuuko und stellte sie zur Rede: „Warum bekommen Sie so ein wichtiges Dokument ausgehändigt und nicht ich direkt? Haben Sie mich deswegen vorhin ‚mein Klient’ genannt?“

Yuuko schmunzelte. „Du hast eine sehr gute Auffassungsgabe.“

„Heißt das, ich hab Sie jetzt, ohne es zu wissen, als meine rechtliche Verteidigung für den Fall angeheuert?“, brachte Kurogane die Sache auf den Punkt.

„Wenn du es eh längst weißt, warum fragst du dann noch?“

Zufrieden lehnte Yuuko sich zurück und trank von ihrem Kaffee. „Der ist gut.“

Fye wusste zwar nicht, was die beiden in den letzten Tagen in Yuukos Sekretariat alles besprochen hatten, aber dass sie sich bereit erklärte, ihn in dem Prozess um Tomoyo zu unterstützen, ließ ihm einen Stein vom Herzen fallen. Er wusste nicht, wie sie das anstellte, doch wenn Yuuko Ichihara sich etwas vornahm, dann klappte das auch.

„Wirklich? Du würdest Kurogane vertreten? Das ist ja großartig! Wie sollen wir dir nur danken, Yuuko?“ Fye schien außer sich vor Freude bei dieser Offenbarung.

„Ich brauche keinen Dank“, erwiderte sie unerwartet sanft. „Schließlich arbeite ich gegen Bezahlung. Ich lasse keine Schulden offen, wenn ich einen Handel eingehe.“

„Wann hat Kurogane dich engagiert?“

„Das ist eine Sache zwischen mir und meinem Geschäftspartner. Tut mir leid, Fye, aber dazu kann ich dir nicht genauer Auskunft geben“, wehrte die Geschäftsfrau die Frage ab.

Kurogane hatte inzwischen den Brief geöffnet und das Schreiben herausgezogen. Mit zusammengezogenen Augenbrauen fixierte er Yuukos Gesicht.

„Wie ist das möglich?“

Er ließ den Brief auf seinen Schoß sinken, so dass Fye den Inhalt ebenfalls sehen konnte. Eines stach ihm sofort ins Auge: Das Datum.

Dienstagnachmittag, am 31. Oktober, 15 Uhr.

Der Gerichtstermin stand fest. Aber schon am kommenden Dienstag? So schnell bekam man niemals einen Termin beim Gericht! Selbst wenn der Fall seit drei Wochen intensiv bearbeitet wurde und eine Terminfestlegung von Anfang an ausstand. Aber eine so plötzliche Benachrichtigung konnte nicht mit rechten Dingen zugehen.

„Laut dem Schreiben ist der Termin schon am nächsten Dienstag. Das ist in drei Tagen. Wie kann das sein?“ Kurogane musste diese Information noch viel mehr verwirren als ihn selbst.

„Ah, da hast du wirklich Glück gehabt. Es hat also doch geklappt“, antwortete Yuuko halb geistesabwesend, während sie ihm den Brief aus der Hand nahm und kurz überflog. Dann reichte sie ihn an Kurogane zurück und erklärte weiter: „Für kommenden Dienstag ist gerade ein Zeitfenster frei geworden, weil eine andere Verhandlung verschoben werden musste. Alle beteiligten Parteien sind sich einig, dass dein Fall so schnell wie möglich geklärt werden muss. Die Befragungen sind sowieso längst ausgeschlossen und sämtliche Spuren ausgewertet. Wir haben daher gemeinsam ein Gesuch um bevorzugte Behandlung dieses Falls eingereicht. Ob es aber tatsächlich klappen würde, den Termin am Dienstag zu bekommen, hätte ich nicht voraussagen können.“

Yuuko sprach heute erstaunlich offen. Fye war das gar nicht von ihr gewohnt. Kurogane anscheinend genauso wenig, denn er musterte sie eingehend, schwieg aber. Ganz offensichtlich wusste er nicht, was er tun sollte. Kurogane, der sonst jedes Problem allein löste, war plötzlich nicht nur auf die Hilfe anderer angewiesen, sondern regelrecht davon abhängig. Ohne Yuuko konnte er im Moment überhaupt nichts ausrichten. Noch dazu schien er ihr nach wie vor nicht ganz zu vertrauen. Aber Fye vertraute ihr. Sie hatte ihm praktisch das Leben gerettet, ohne genauer nachzufragen, ohne etwas Nennenswertes von ihm zu verlangen. ‚Ich suche momentan nach einem neuen Kindergärtner. Du scheinst mir dafür geeignet zu sein. Arbeite für mich, dann sind wir quitt.’ – Und das war alles gewesen. Sanft drückte Fye Kuroganes Hand, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen.

„Kurogane…ich bin sicher, dass alles gut gehen wird. Jetzt hast du endlich die Möglichkeit, sie zu überzeugen, dass du niemals jemanden ermorden würdest und dass du obendrein ein guter Vater für Tomo-chan bist. Und ich werde dich unterstützen, so gut ich kann. – Yuuko, kann ich mir die nächsten Tage bitte frei nehmen? Ich glaube, unter den derzeitigen Umständen kann ich mich einfach nicht richtig um die Kinder kümmern. Und ich habe in den nächsten Tagen auch noch etwas Wichtiges zu erledigen.“

„Gut, von mir aus. Ich informiere mich nachher, ob jemand als Vertretung für dich einspringen kann. Noch kann ich dir zwar nichts versprechen, aber ich denke, es sollte kein Problem geben.“

„Danke.“

Fye war deutlich erleichtert. Damit hatte sich zumindest ein kleines Problem, das ihn im Moment auch geplagt hatte, gelöst. Auch wenn es bitter war. Er liebte seine kleinen Knirpse und wollte sie nicht allein lassen. Doch im Moment war es einfach nicht anders möglich.

Der Themenwechsel war auch Kurogane aufgefallen und der Blick, mit dem er ihn nun wieder ansah, gefiel Fye gar nicht.

„Du könntest sowieso Unterstützung gebrauchen, bevor du dir am Ende noch zu viel aufbürdest“, meinte er wie beiläufig, sah ihm dabei jedoch so ernst in die Augen, dass kein Zweifel an der Intention dieses Kommentars aufkommen konnte. Hatte Kurogane denn den Verstand verloren?! Er konnte doch nicht vor Yuuko mit diesem Thema anfangen!

Fye war schockiert und verletzt zugleich. Verletzt, dass der andere sogar bereit war, über seinen Kopf hinweg, in seinem Beisein einfach seinen Kopf durchzusetzen, obwohl er genau wusste, dass sich alles in Fye dagegen wehrte. Er musste das Gespräch so schnell wie möglich in eine andere Richtung lenken! Mit einem unbeholfenen Lachen versuchte er seine Unsicherheit zu überspielen.

„Ach, mit meinem Kleinkram muss ich niemanden belästigen. Wir sollten uns viel mehr um die wichtigen Dinge im Leben kümmern. Zum Beispiel, dass in deinem Kühlschrank gähnende Leere herrscht, Kuro-wan. Wir sollten dringend einkaufen gehen. Oder würdest du vielleicht kurz mitkommen, Yuuko? Dann kann Kuro-chin in Ruhe seine Unterlagen weiter lesen und ihr könnt euch nachher noch genauer besprechen. Aber ich brauch wohl irgendwen, der mir beim Tragen hilft. Und Kuro-chi ist dir doch Plätzchen schuldig! So kannst du dir gleich welche aussuchen“, plapperte der Blonde drauflos und suchte derweil schon die Einkaufstüten zusammen.

„Von mir aus. Das klingt nach einem fairen Deal“, willigte die Angesprochene ein.

„Klar!“, bestätigte Fye euphorisch und war schon fast im selben Moment zur Tür raus.

In dem Moment, als die Tür ins Schloss fiel, fiel dem Blonden das Herz in die Hose. Na toll. Da hatte Kurogane ihm ja schön was eingebrockt. Jetzt musste er da durch. Nach draußen, noch dazu zusammen mit Yuuko Ichihara, deren Persönlichkeit und Tätigkeiten so verschleiert waren, dass sie in Insiderkreisen wahrscheinlich als Geheimtipp gehandelt wurde. Wenn Ashura zu diesen Kreisen ebenfalls Beziehungen hatte und er oder eine seiner Handlanger ihn jetzt zusammen mit ihr sehen sollten, dann bedeutete das das Ende für Chii. Und für ihn wohl auch. Und wenn er Yuuko nun ebenfalls in dieses Drama mit hineinzog, sie gefährdete? Gott, er wollte es sich gar nicht genauer vorstellen. Das würde Kurogane zurückkriegen, wenn sie wieder allein waren!

„Geht es dir gut, Fye?“, wurde er in halb beiläufigem Tonfall von der Seite angesprochen.

„Wie? Äh – klar! Natürlich! Ich geh grad nur noch mal im Kopf die Einkaufsliste durch. Wir brauchen irgendwas zum Mittagessen für die nächsten Tage…“, wich Fye aus und machte innerlich drei Kreuze, dass er so schnell noch die Kurve bekommen hatte.

„Schau doch einfach, was gerade im Angebot ist. Beim Ansehen kommen einem meist die besten Ideen“, schlug Yuuko vor.

„Da hast du recht“, stimmte Fye zu. „Was hättest du eigentlich gern, Yuuko-san?“

„Das werde ich mir auch vor Ort erst genauer überlegen“, antwortete sie mit einem Augenzwinkern.
 

Allmählich hatte Fye sich etwas beruhigt. Auf den Straßen waren praktisch nur Familien und Kinder unterwegs und im Supermarkt erwartete sie das gewohnt volle Gedrängel der Samstagseinkäufer. Hier würde wohl kaum jemand Platz haben, ihm hinterherzuspionieren. Er genoss das alltägliche Treiben um ihn herum.

Letzten Endes war der Blonde wirklich froh, dass er jemanden mitgenommen hatte zum Einkaufen. Mit schweren Einkaufstaschen in beiden Händen wirkte der Rückweg durch den Park viel länger als der Hinweg. Und sie hatten zugeschlagen. Von dem ganzen Gemüse und Fleisch konnten sie mehrere Tage lang essen. Yuuko hatte sich eine Packung Gebäck ausgesucht, die sie später zum Kaffee öffnen wollten.

Es wäre lustig gewesen, wenn sie die Plätzchen gemeinsam mit Tomoyo hätten essen können. Sie wäre Feuer und Flamme gewesen. Er hoffte inständig, dass am Dienstag alles gut ging für Kurogane…

„NII-CHAN!!!“, hörte Fye plötzlich eine vertraute Kinderstimme. Perplex drehte er sich zur Seite und hatte einen Augenblick später auch schon ein kleines dunkelhaariges Mädchen an seinen Beinen hängen.

„Tomo-chan?!“, fragte er ganz verblüfft. Er konnte es immer noch nicht glauben.

Wie in Trance ging er in die Hocke, stellte seine Einkaufsbeutel ab und schloss das kleine Mädchen in die Arme, das sich so fieberhaft an ihn klammerte, den Tränen nah.

„Nii-chan, ich hab dich sooooooo vermisst! Und Papa! Nimmst du mich jetzt wieder mit? Bitte, ich will zurück zu Papa!“, schluchzte die Kleine.

„Tomo-chan, was machst du denn hier?“, fragte Fye, noch ganz durch den Wind, erst einmal zurück.

„Tomoyo!“, hörte er eine dritte, äußerst besorgt klingende Stimme. Sie gehörte zu einer Frau, die, bereits ein wenig außer Atem, holprig auf die kleine Gruppe zugerannt kam. Fye brauchte gar nicht erst zu fragen, wer sie war. Ihr Gesicht ähnelte dem seines kleinen Schützlings verblüffend. Das war sie also. Tomoyos Mutter. Halb unbewusst festigte Fye den Griff seiner Arme um das kleine Mädchen noch ein wenig.

„Tomoyo…! Du kannst doch nicht…einfach so…wegrennen… Hab ich mich erschreckt“, keuchte sie. Fye ließ sie nicht aus den Augen. Sie wirkte älter als Kurogane. Und sie schien recht zerbrechlich. Irgendwie hatte er sie sich ein wenig anders vorgestellt.

„Entschuldigung“, wandte sich die Frau schließlich an Fye, nachdem sie einige tiefe Atemzüge genommen hatte. „Meine Tochter muss Sie sehr überrascht haben.“

„Das ist gar kein Problem. Ich freue mich, Tomo-chan wiederzusehen“, entgegnete Fye mit einem galanten Lächeln.

„Wer sind Sie denn?“, fragte die Frau, nun ihrerseits verwirrt.

„Nii-chan ist der Freund von Papa!“, platzte es stolz aus Tomoyo heraus, noch bevor Fye richtig Gelegenheit hatte, Luft zu holen.

Ein wenig erschrocken wollte er die Ausdrucksweise seines kleinen Schützlings berichtigen, als Yuuko hinter ihm gleich noch eins draufsetzte: „Ja, so könnte man es wohl nennen…“

Fye, von diesem Kommentar nun total überrumpelt, wusste erst einmal gar nicht, was er sagen sollte, und hielt sein Gesicht lieber auf Tomoyo gesenkt. War es so offensichtlich? Hoffentlich war er nicht knallrot.

„Wahrscheinlich ist es wirklich besser, dass Tomoyo nicht mehr bei ihrem Vater ist“, kommentierte die Frau ein wenig überrumpelt. Oder schockiert?

„Nun, er ist ein besserer Vater als so manche Mutter“, entgegnete Yuuko spitz.

Fye hörte, wie Tomoyos Mutter plötzlich die Luft einsog. Der Seitenhieb saß. Und Fye war Yuuko dankbar dafür. Diese Frau hatte überhaupt nicht das Recht, einfach so über Kurogane zu urteilen.

„Da haben Sie wohl recht…“, gab die Frau ein wenig kleinlaut zu. „Sind Sie auch eine Bekannte von Kurogane?“

„Ich leite den Kindergarten, auf den Tomoyo geht. Das ist übrigens ihr Erzieher, Fye de Flourite“, stellte Yuuko nun sie beide vor.

Fye blickte nun schließlich doch auf – hoffentlich war sein Gesicht in Ordnung – und reichte der Frau mit einem charmanten Lächeln auf den Lippen die Hand.

„Angenehm.“

„Oruha Sano. Freut mich sehr. Und vielen Dank, dass Sie sich so gut um meine Tochter gekümmert haben.“

„Ich hoffe, dass Tomo-chan unsere kleine Gruppe bald wieder bereichern wird“, entgegnete Fye mit leiser Hoffnung in der Stimme. Er spürte, wie sich der Griff der kleinen Arme an seinen Seiten ein Stück weiter verfestigte. Beruhigend strich er Tomoyo über den Rücken.

Die Augen von Frau Sano nahmen einen traurigen Zug an.

„Was denken Sie als Erzieher denn über Kuroganes Qualitäten als Vater?“

Die plötzliche Offenheit traf Fye unerwartet. Und obwohl er es nicht wollte, war er ihr ein wenig dankbar für diese Frage.“

„Kurogane ist ein sehr guter Vater. Und Tomo-chan liebt ihn, ist das nicht Beweis genug für seine Zuverlässigkeit?“

„Das stimmt wohl. Zu Hause spricht sie die ganze Zeit von ihm.“ Ein gequältes Lächeln huschte über Frau Sanos Gesicht. „Ich wünschte, ich könnte das einfach so glauben und Tomoyo beruhigt in seine Obhut zurückgeben. Aber wie soll ich jemandem einfach so Vertrauen schenken, auf dem ein solch schwerer Verdacht lastet?“

Ein besorgter Blick huschte zu Tomoyo.

„Warum machen Sie sich dann nicht selbst ein Bild von der Lage, wenn es Sie so sehr interessiert? Als Angehörige erhalten Sie ohne Probleme die Kontaktdaten von Herrn Sugawara, wenn Sie danach fragen“, kommentierte Yuuko trocken.

„… Sie haben recht“, räumte Frau Sano ein. „Ehrlich gesagt, das Jugendamt hat mir seine Telefonnummer bereits mitgeteilt. Aber ich befürchte, nach alldem, was vorgefallen ist, will er wohl gar nicht mit mir reden.“

„Diese Entscheidung sollten Sie ihm selbst überlassen und einfach für ihn fällen“, entgegnete Yuuko.

Frau Sano lächelte nun nur noch gequält. Was hätte sie auch groß erwidern können außer einem erneuten „Sie haben recht“? Wenn sie wollte, konnte Yuuko sehr genau den Nerv treffen, doch es war das erste Mal, dass Fye sie von dieser Seite erlebte.

Statt einer mündlichen Erwiderung nahm Frau Sano einen Notizblock und einen Stift aus ihrer Tasche, schrieb kurz etwas in den Block, riss die Seite heraus und hielt sie den beiden hin.

„Falls Kurogane tatsächlich bereit wäre, mit mir zu sprechen, könnten Sie ihm dann bitte meine Telefonnummer geben? Ich würde mich über einen Anruf freuen. Ich weiß, das klingt jetzt sicher wenig überzeugend, aber ich mache mir wirklich viele Gedanken um die derzeitige Situation und habe einfach große Sorgen darum, was das Beste für meine Tochter ist. Ich habe genauso viel Angst davor, sie einer Gefahr auszusetzen wie davor, Tomoyo und ihrem Vater Unrecht zu tun. Bitte glauben Sie mir das.“ Die Stimme von Tomoyos Mutter bekam mehr und mehr einen verzweifelten Unterton, während sie das erklärte. Fye ertappte sich dabei, wie er bereits Mitgefühl mit ihr zu entwickeln schien, rief sich dann aber zur Vernunft. Erst hatte sie Kurogane von einer Minute auf die andere sitzen lassen und nun nahm sie ihm seine Tochter weg. Als ob ihr das nicht eher hätte einfallen können, sich zumindest einmal zu melden und sich nach ihm oder ihrer gemeinsamen Tochter zu erkundigen.

... Auch wenn Fye insgeheim eigentlich froh war, dass sie sich all die Jahre nie gemeldet hatte. Und eigentlich wäre es ihm am liebsten gewesen, wenn sie für immer vom Erdboden verschluckt geblieben wäre.

Dieses nagende Gefühl herunterschluckend, griff er schließlich mit einem Nicken nach dem Zettel und überflog kurz die Notiz. Neben dem Namen standen dort noch eine Festnetznummer und der Name eines Hotels sowie eine Handynummer, allerdings einer ausländischen.

„Ich werde Kurogane Ihre Bitte ausrichten“, versprach der Blonde und hoffte dabei sowohl, dass Kurogane anrufen würde als auch, dass er es nicht tat. Sein Wunsch, Tomoyo helfen zu wollen, kollidierte gerade direkt mit der aufkeimenden Angst, Kurogane vielleicht an diese Frau verlieren zu können. Dabei hatte er doch eigentlich gar nichts mehr zu verlieren.

„Vielen Dank“, bedankte sich Frau Sano. Dann wandte sie sich wieder an ihre Tochter: „Na komm, Tomoyo. Dein Kindergärtner ist bestimmt sehr beschäftigt und muss nach Hause. Wir sollten ihn nicht so lange auf-“

„NEIN!!!“, fuhr die Kleine erschrocken dazwischen. „Ich will zurück zu meinen Papi! Bitte, Nii-chan, nimm mich wieder mit zu Papi!“, flehte sie Fye an.

Es tat ihm in der Seele weh, doch er wusste, er konnte sie jetzt nicht einfach mitnehmen, als wäre nichts gewesen. Am Ende legte ihm das vielleicht noch einer als Kindesentführung aus und Kurogane wäre damit auch nicht geholfen. So schwer es ihm auch fiel, lehnte er Tomoyos Bitte daher sanft ab: „Tut mir leid, Tomo-chan, aber das geht noch nicht.“

„Aber warum nicht? Ich bin auch wirklich immer lieb, ich versprech’ es!“, beharrte das Mädchen.

„Ich weiß, Tomo-chan. Du bist immer lieb. Und es ist auch nicht deine Schuld. Die Erwachsenen haben gerade ein Problem und es tut mir wirklich leid, dass du da mit reingezogen wurdest“, versuchte Fye, ihr das Problem möglichst einfach zu erklären.

„Aber ich kann doch auch einfach bei Papa bleiben, bis das Problem gelöst ist“, schlug Tomoyo vor.

Fye seufzte. Wenn es doch nur so einfach wäre…

Nun kam auch Yuuko hinzu und strich ihr einmal über das Haar.

„Das geht im Moment leider nicht, Kleines. Aber bald gibt es ein großes Gespräch und da wird entschieden, wie man das Problem lösen kann. Wahrscheinlich wird man dich dann auch einladen und dir ein paar Fragen stellen. Auf die musst du dann ganz ehrlich antworten. Und wenn alles gut geht, kannst du dann zurück zu deinem Vater“, erklärte Yuuko ihr.

Tomoyo blickte vorsichtig zu ihr auf.

„Wann ist denn das große Gespräch? Kommt Papa da auch?“

„Ja, dein Vater kommt auch. Und das Gespräch ist schon am Dienstag. Bis dahin ist es wichtig, dass du lieb bist und wartest. Dein Vater gibt sich auch ganz viel Mühe, lieb zu sein und bis Dienstag zu warten, damit er dich schnell wiedersehen kann.“

Tomoyo betrachtete die Frau mit den langen, schwarzen Haaren noch einen Moment forschend, dann sah sie zu ihrem Kindergärtner herüber und anschließend zu ihrer Mutter.

„Ich gebe mir auch ganz viel Mühe und bin auch ganz lieb. Und dann kann ich Papa wiedersehen, ja?“, fragte sie noch einmal nach.

„Genau“, bestätigte Yuuko ihr mit einem Lächeln.

Immer noch ein wenig widerwillig löste Tomoyo sich von Fye. Bevor sie ihn gänzlich gehen ließ, äußerte sie noch eine Bitte: „Bitte sag Papa, dass ich ihn ganz doll lieb habe und vermisse, ja?“

„Natürlich, Indianerehrenwort“, versprach Fye mit zum Schwur erhobener Hand. Er musste ein wenig schlucken. Tomoyo war wirklich überwältigend. Wenn irgendwer diesen Prozess zu Kuroganes Gunsten entscheiden konnte, dann war sie es, dachte Fye.

„Na komm, Schatz. Für uns ist es auch langsam Zeit fürs Mittagessen.“

Frau Sano streckte ihrer Tochter die Hand aus und wartete geduldig darauf, dass diese sie nach einigem Zögern schließlich ergriff.

„Es tut mir leid, dass ich Ihnen so viel Zeit gestohlen habe. Aber ich bin froh, dass ich Sie treffen und ein wenig über Kurogane erfahren konnte“, bedankte sie sich anschließend bei Fye und Yuuko.

„Ganz meinerseits. Es hat mich gefreut, dass ich Tomoyos Mutter nun auch einmal persönlich kennenlernen durfte“, erwiderte Fye.

„Vielen Dank für das interessante Gespräch“, antwortete Yuuko.

Damit verabschiedeten sich die zwei Parteien und gingen wieder ihres Weges.

Zwischen Fye und Yuuko herrschte eine Zeit lang nachdenkliches Schweigen. Es war Fye, der dieses schließlich brach: „Was hältst du von ihr?“

„Sie hat keinerlei Erfahrung, wie man sich als Mutter verhält und ist mit der derzeitigen Situation überfordert. Aber ein schlechter Mensch scheint sie nicht zu sein. Zumindest muss man sich wohl keine Sorgen machen, dass es Tomoyo momentan nicht gut geht. Von ihrer Sehnsucht nach ihrem Vater einmal abgesehen.“

Fye nickte leicht. Sein Eindruck war ähnlich gewesen. Aber es irritierte ihn. Warum war sie so lange von der Bildfläche verschwunden und hatte ihren Lebensgefährten und ihre gemeinsame Tochter einfach so im Stich gelassen, wenn ihr scheinbar doch etwas an den beiden lag? Der Gedanke versetzt Fye einen Stich im Herzen. Erst tauchte sie so plötzlich wieder auf und dann konnte er sie noch nicht einmal ohne schlechtes Gewissen verurteilen. Was, wenn Kurogane ihr all das, was sie ihm angetan hatte, am Ende verzieh? Wenn er sich vielleicht wieder in sie verliebte…?

Nein, er wollte lieber gar nicht weiter darüber nachdenken. Allerdings fiel ihm dabei noch etwas ein, worauf er Yuuko unbedingt ansprechen wollte: „Warum hast du das vorhin überhaupt gesagt? Ich meine…also…na ja, dass ich ‚Kuroganes Freund’ bin, diese Sache. Das kann man natürlich so oder so sehen und ich denke ja auch, dass wir inzwischen vielleicht schon irgendwie befreundet sind oder so, oder jedenfalls, dass wir nicht einfach bloß so was wie Geschäftspartner sind. Wir verstehen uns ja schon irgendwie anders als das mit den Eltern der anderen Kinder der Fall ist, aber…“

Fye unterbrach schließlich mit einem resignierten Seufzer und schüttelte den Kopf. So viel zu dem Versuch, vor Yuuko den Schein von Neutralität zu wahren. Und das verschmitzte Lächeln auf Yuukos Lippen machte die Sache nur noch schlimmer! Der Blonde spürte, wie er schon wieder anfing, rot zu werden. Da hatte Yuuko ja was angerichtet! Bevor von ihrer Seite her noch ein seltsamer Kommentar kommen konnte, sprach er aber dennoch schnell seinen Gedanken zu Ende: „Jedenfalls, sprich doch bitte nicht einfach so zweideutige Sachen aus, wenn überhaupt nicht klar ist, in welchem Verhältnis Kurogane und ich eigentlich zueinander stehen. Wer weiß, was Kurogane über die ganze Situation denkt. Vielleicht...bin ich ja doch nicht mehr als einfach Tomoyos Kindergärtner für ihn.“

„Findest du wirklich, dass das so unklar ist? Ist dir noch nicht aufgefallen, dass er dich ganz anders behandelt als andere Leute? Sofern er privat überhaut regelmäßigen Umgang mit anderen Menschen hat. Ich würde an deiner Stelle langsam mal in die Initiative gehen, bevor die wieder aufgetauchte Maid dir deinen Prinzen wegschnappt“, entgegnete Yuuko.

„Yuuko-san!“

Musste sie denn gleich so direkt sein? Fye beschloss, das Thema jetzt besser fallen zu lassen. Gegen Yuuko kam er einfach nicht an. Hoffentlich hörte sie nicht, wie heftig sein Herz klopfte. Und wie sollte er diese verdammte Röte aus seinem Gesicht kriegen, bis sie wieder bei Kurogane waren?

Am besten schob er es auf die schweren Einkaufstüten.
 

Auch wenn ihn die spontane Flucht zum Einkaufszentrum letztlich weniger belastet hatte als erwartet, fiel Fye doch ein Stein vom Herzen, als er endlich wieder in Kuroganes vertrauter Wohnung war. Dieser kam auch prompt aus dem Wohnzimmer, sah ihn fragend an und nahm ihnen schließlich wortlos die Einkaufstaschen ab und brachte sie in die Küche.

„Was habt ihr da alles angeschleppt?“, fragte er ein wenig überrascht.

„Es gab einfach soooooo viele tolle Sachen, dass ich mich gar nicht entscheiden konnte, was wir in den nächsten Tagen zum Mittag machen sollten. Was willst du essen, Kuro-pii? Chili? Oder Schnitzel? Oder vielleicht ein Curry? Fleisch war grad im Angebot und das Gemüse sah so unwiderstehlich gut aus!“, flötete Fye und half beim Aufräumen.

Kurogane sah ihn mit gerunzelter Stirn an. Dann wandte er sich an Yuuko.

„Hat er irgendwas geraucht?“

„Also Kuro-muff! Das war aber nicht sehr nett von dir!“, empörte der Blonde sich. So ein alter Spielverderber.

„Aber er hat schon recht, Fye. Seit wir im Park waren, bist du wirklich etwas durch den Wind“, pflichtete Yuuko Kurogane bei.

Erschrocken hefteten sich seine Augen an die geheimnisvolle Frau: „Ist etwas passiert?“

„Nichts ist passiert, keine Sorge“, versicherte Fye ihm sanft und berührte kurz die Schulter des Schwarzhaarigen. Kurogane hatte die Erklärung von Yuuko gerade völlig falsch interpretiert. Yuuko musste ebenfalls bemerkt haben, dass Kurogane an eine ganz andere Art von Begegnung gedacht hatte, denn sie zog bereits eine Augenbraue hoch und schien zu einer Frage anzusetzen. Bevor das Gespräch weiter in die falsche Richtung abdriften konnte, musste Fye dazwischen gehen.

„Wir haben im Park Tomo-chan und ihre Mutter getroffen.“

Situation gerettet. Nur Kurogane sah aus, als hätte er einen Schlag in die Magengrube kassiert. Fye wünschte sich, er hätte das Thema schonender ansprechen können.

„Und…“, sprach er weiter und kramte in seiner Jackentasche, aus der er schließlich ein klein zusammengefaltetes Papier zutage förderte, „sie sagt, du sollst sie anrufen, falls du sprechen willst.“

„Ich soll WAS?!“, platzte es aus Kurogane heraus. „Die hat Nerven! Lässt mich über Nacht sitzen, nimmt mir vier Jahre später mein Kind weg und lässt dann ausrichten, dass ich sie anrufen soll?! Was glaubt die eigentlich, wer sie ist? Miss Universum, oder was?“

„Ich glaube, sie will ehrlich wissen, wie du als Vater für Tomoyo bist. Im Park wirkte sie ziemlich hin- und hergerissen zwischen dem, was dir vorgeworfen wird und der Art, wie Tomoyo über dich erzählt“, versuchte Fye, ihn zu beschwichtigen. Aber warum verteidigte er sie überhaupt? Wenn Kurogane nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte, umso besser! Aber…

„Du willst doch sicher auch wissen, wie es Tomoyo jetzt geht, oder?“, fuhr der Blonde fort.

Daraufhin schwieg Kurogane. In den feuerroten Augen konnte man nur allzu gut sehen, wie Wut und Sehnsucht miteinander kämpften.

„Machen wir erst mal Essen. Sonst bekomm ich beim Telefonieren nicht einen einzigen konstruktiven Satz raus“, entschied Kurogane schließlich und wandte sich wieder dem Einkauf zu. Das war selten, dass Herr Mit-dem-Kopf-durch-die-Wand Kurogane etwas auf später verschob.
 

Letztlich war aus dem Essen auch nichts Richtiges geworden. Fye hatte nach wie vor keinen richtigen Hunger und Kurogane schien es im Grunde auch egal zu sein, was er nun aß oder ob überhaupt etwas. So gab es schließlich einen großen Salat und die Plätzchen, die Yuuko sich gewünscht hatte. Während ihrer leichten Mahlzeit sprachen Yuuko und Kurogane hauptsächlich über die bevorstehende Verhandlung. Yuuko erklärte ihm den allgemeinen Ablauf, erzählte über den Richter und die Geschworenen, soweit sie sie kannte, und ging die Namen der Personen durch, die als Zeugen für Kurogane infrage kamen.

Nachdem der Salat gegessen und die Vorbereitungen für den kommenden Dienstag getroffen waren, verabschiedete Yuuko sich und versprach, alles Nötige in die Wege zu leiten, um die besprochenen Personen bei der Verhandlung anhören zu können. Danach gab es für beide nichts weiter zu tun – außer sich endlich mit dem aufgeschobenen Telefonat zu beschäftigen. Kurogane nahm jedoch nicht das Telefon, sondern den Brief vom Amtsgericht wieder auf und begann noch einmal zu lesen. Dabei gab es nun wirklich nichts mehr in dem Schriftstück, was er nicht wusste. Yuuko hatte doch praktisch jede Zeile mit ihm durchgekaut! Wenn Fye genauer hinsah, dann las Kurogane auch eigentlich gar nicht. Er starrte einfach nur vor sich hin. Fye seufzte. So wurde das doch nichts.

„Jetzt ruf sie schon an, Kuro-muff. Deine Grübelei ist ja schlimmer als meine.“

Der Schwarzhaarige warf ihm einen skeptischen Blick zu, ließ aber dennoch den Brief sinken. Fye nahm das schnurlose Telefon aus seiner Ladeschale und hielt es dem anderen hin. Dieser zögerte noch immer.

„Welchen Eindruck hattest du von ihr?“, erkundigte sich der Schwarzhaarige.

Fye zögerte einen Moment. Am liebsten hätte er Kurogane jetzt das Blaue vom Himmel heruntererzählt, aber… er seufzte tief.

„Sie…“, begann er vorsichtig, „wirkte auf mich nicht unbedingt wie eine Rabenmutter. Und ich denke, sie interessiert sich wirklich dafür, wie du und Tomo-chan die letzten Jahre gelebt habt. – Ehrlich gesagt, hatte ich sie mir anders vorgestellt. Weniger…teilnahmsvoll.“

Kurogane hatte ihn die ganze Zeit direkt angesehen, doch Fye konnte diesen intensiven rubinroten Augen einfach nicht standhalten. Er wusste, Kurogane suchte Antworten darauf, wie seine frühere Freundin wirklich war, und es brach ihm das Herz, das so deutlich in seinem Gesicht lesen zu müssen. In einem verzweifelten Versuch, etwas mehr Abstand zwischen sie zu bringen, begann er, ziellos einige Schritte im Wohnzimmer auf und ab zu laufen.

„Jetzt ruf sie schon an“, ermahnte er Kurogane noch einmal, mit dem Rücken zu ihm gewandt.

Endlich gab der Schwarzhaarige sich einen Ruck, nahm das Telefon zur Hand und wählte eine der Nummern auf dem Notizzettel. Praktisch im selben Moment meldete sich eine kleine, misstrauische Stimme in Fyes Kopf: Was, wenn sie ihm jetzt irgendwelche Liebsäuseleien ins Ohr flüsterte? Wenn sie versuchte, ihn wieder rumzukriegen? – Nein, die Chance wollte er ihr nicht geben! Mit einigen wie beiläufig wirkenden Schritten war er wieder an Kuroganes Seite, stützte von hinten seine Ellbögen auf dessen Schultern ab und legte sein Kinn vorsichtig auf den schwarzen Schopf. Das war für Kurogane vielleicht ein wenig umständlich, aber Fye war es egal. Und so sehr schien es denn anderen auch nicht zu stören, denn er ließ in gewähren. Von hier aus konnte er sogar den Ton des Freizeichens am anderen Ende der Leitung hören. Er war zwar leise, aber deutlich. Wenige Augenblicke später endete das monotone Piepen und eine Frauenstimme meldete sich.

„…Sano, guten Abend?“

Fye hielt vor Schreck den Atem an.

„…Kurogane“, meldete der Schwarzhaarige sich knapp. Auch er hatte gezögert.

„…Danke für deinen Anruf…“, kam es zögerlich zurück.

„Wie geht es Tomoyo?“, war schließlich die erste Frage des Schwarzhaarigen.

„Es geht ihr gut. Sie schläft schon. Sie spricht viel von dir und fragt immer, wann sie wieder zu dir kann.“

„Sie hätte gar nicht erst gehen müssen. Als ob ich meine eigene Tochter schlecht behandeln würde!“, kommentierte Kurogane pampig. Fyes Kinn rutschte kurz weg, denn der Schwarzhaarige hatte sich bei seinem kurzen Ausbruch ruckartig bewegt, doch er schien sich gleich wieder zur Ruhe zu ermahnen, als er es bemerkt hatte.

„Es tut mir leid, dass ich mich einfach so eingemischt habe. Aber woher hätte ich denn wissen sollen, ob es ihr gut geht? -“

„Das hat dich vier Jahre nicht interessiert!“

Seine Schultern bebten.

„Es hat mich sehr wohl interessiert! Ich dachte nur…“, der kurze Gefühlsausbruch in der Frauenstimme ebbte abrupt wieder ab. Sie rang scheinbar um ihre Fassung, doch es interessierte Kurogane herzlich wenig.

„Keine Mutter, die sich um ihr Kind sorgt, lässt es im Babyalter so eiskalt zurück!“

„… Ich weiß…“, kam es flüsternd vom anderen Ende der Leitung. Kurogane schwieg.

„…Deshalb habe ich mich ja nie gemeldet und erkundigt, wie es euch geht. Ich weiß, ich habe eigentlich gar kein Recht dazu. Aber was hättest du denn getan, wenn du plötzlich erfahren hättest, dass dein Kind bei jemandem lebt, der eine Morduntersuchung am Hals hat?“

Kurogane schloss die Augen und atmete einmal tief ein. Das musste echt weh getan haben. Fye spürte Wut in sich aufkommen. Für die Bemerkung hätte er ihr am liebsten eine gescheuert.

„Es…es tut mir leid“, meldete Oruha sich nach einer Weile wieder zu Wort. „Aber bitte glaube mir, ich wollte keinesfalls Tomoyos oder dein Glück zerstören. Ich wusste nur nicht, was ich tun sollte…“

„Warum bist du überhaupt abgehauen, wenn es dir angeblich so leid tut und zumindest Tomoyo dir so viel bedeutet?“, wechselte Kurogane noch immer halb benommen das Thema.

„… Können…wir das vielleicht nicht am Telefon besprechen? Ich weiß, das ist viel verlangt, aber kann ich dich vielleicht mal besuchen?“

‚Was?!’ Fyes Augen weiteten sich entsetzt.

„Du hast Nerven! Und das hätte dir nicht einfallen können, bevor du das Jugendamt auf mich hetzt, was?“

„Kurogane, bitte… Ich will auch nicht lange stören. Ich möchte nur nicht am Telefon darüber reden. Und…ich würde auch gern sehen, wie Tomoyo bei dir lebt. Ich möchte mir selbst ein Bild von dir machen.“

Kurogane seufzte resigniert. „Von mir aus…“

Fye wurde leicht übel. Es war nicht so, dass er Kuroganes Entscheidung nicht verstehen konnte, aber es bereitete ihm dennoch Unbehagen, diese Frau in ‚seinem’ Haus zu haben.

„Bringst du Tomoyo mit?“

„Das möchte ich lieber nicht. Sie sollte nicht unbedingt daneben sitzen, wenn wir uns über damals unterhalten. Und ich glaube nicht, dass sie danach noch einmal mit mir zurück ins Hotel kommt.“

„Sie kann auch einfach hier bleiben.“

„Das ist nicht meine Entscheidung und auch nicht deine.“

„Okay, okay. – Dann morgen?“

„Ja, morgen passt mir gut. Wann soll ich denn da sein?“

„Egal. Ich bin eh den ganzen Tag zu Hause.“

„Dann…nach dem Mittagessen?“

„Von mir aus.“

„Du wohnst noch in derselben Wohnung wie früher, oder?“

„Hn.“

„Also…bis morgen dann. Und danke.“

„Denk nicht, dass ich dir verziehen habe, bloß weil du reden willst!“

„N-nein, das erwarte ich auch gar nicht. Ich bin dir nur dankbar, dass du mir zuhörst. Trotz allem, was ich getan habe…“

„Hn.“

„Dann…bis morgen, ja?“

„Hn. Bis dann.“

Damit beendete Kurogane das Gespräch. Es folgte ein ausgedehntes Schweigen. Der Schwarzhaarige sah nicht unbedingt erleichtert aus – was wiederum Fye ein wenig erleichterte. Yuukos Worte klangen ihm immer noch im Ohr: ‚…bevor die wieder aufgetauchte Maid dir deinen Prinzen wegschnappt.’ Er wollte nicht, dass Kurogane sich für jemand anderen interessierte. Selbst wenn es Tomoyos Mutter war. Selbst wenn er diesen ‚Prinzen’ wahrscheinlich genauso wenig haben konnte. Er hatte nicht mehr viel Zeit…

„Alles in Ordnung, Kuro-mii?“

Halb aus Sorge, halb, um vor seinen eigenen Gedanken zu fliehen, versuchte er, den anderen in ein Gespräch zu ziehen. Kurogane antwortete mit einem abgrundtiefen Seufzen.

„Ach, ich weiß auch nicht. Dass diese dumme Kuh gerade jetzt wieder aufgetaucht ist, macht alles nur unnötig kompliziert. Am liebsten würde ich sie einfach auf den Mond schießen und vergessen. Aber sie ist nun mal da und ich kann’s halt nicht ändern. Wenn sie wenigstens so ignorant wäre, wie ich es erwartet hätte, könnte ich sie wenigstens ruhigen Gewissens zur Schnecke machen, aber jetzt ist irgendwie alles ganz anders… Ich weiß nicht, was ich von der Situation halten soll. Wie ich mich verhalten soll.“

Fye hatte es befürchtet. Kurogane sah die Sache ähnlich wie er. Er hasste sie nicht gänzlich. Und er konnte nichts daran ändern. Aber eines konnte er tun: für ihn da sein, jetzt, wo er so unter dieser ganzen Situation litt. Ein bisschen von dem zurückgeben, was er all die Zeit über von Kurogane erhalten hatte.

„Shhh… Du machst deine Sache echt gut“, versicherte er ihm. Er richtete sich hinter Kurogane auf und nahm nun dessen Kopf sanft in seine Arme, zog ihn an seine Brust. Kuroganes Augen waren auf irgendeinen unsichtbaren Punkt in der Ferne gerichtet, sein Gesicht von Sorge gezeichnet. Nach und nach entspannten sich jedoch seine Gesichtszüge, seine Augen schlossen sich. Sanft strich Fye ihm durch das kräftige, kurze Haar. Er mochte Kuroganes Haare. Die Energie, die in ihnen steckte. So verharrten sie noch eine ganze Weile, ohne dass einer es wagte, die beruhigende Stille zu durchbrechen.
 

TBC...



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  ryuuka
2014-12-26T14:20:09+00:00 26.12.2014 15:20
oioioy das geht ja langsam richtig zur Sache^^ Warum nur habe ich das Gefühl dass einer der beiden, wahrscheinlich Kurogane, bald eine schwerwiegende Entscheidung treffen muss^^"
Von: abgemeldet
2014-10-18T15:05:50+00:00 18.10.2014 17:05
Auf Oruhas ausführliche Erklärung bin ich wirklich gespannt, bisher klingt sie nämlich nach sehr verquerer Logik. Was ich von ihr halten soll, weiß ich genauso wenig wie Fye und Kurogane.
Ein gemütliches Kaffeekränzchen wird die "Verabredung" aber denke ich mal nicht werden, dazu trifft zu viel Temperament aufeinander. Aber solange das Gespräch nicht mit einem lautstarken Rauswurf endet, wird man es zumindest mehr oder weniger als Erfolg verbuchen können - was den Inhalt angeht, werden wir sehen.
Yuuko war klasse! Sie kann ein echter Drachen sein (oder "Giftzahn"), aber der Seitenhieb kam haargenau richtig. Und auch wenn es ein Stück weit fies ist, mir gefallen ihre Sticheleien gegenüber Kurogane und Fye ausgesprochen gut X3
Was die Gerichtsverhandlung angeht, setze ich ganz fest auf Tomoyo! Denn erstens ist sie nicht auf den Kopf gefallen, zweitens hat sie schon öfter bewiesen, dass sie die Dinge klarer sieht als so mancher Erwachsene und drittens lässt sie sich nicht so schnell von ihrere Meinung abbringen.
Bleibt noch Fye mit seinem wahnwitzigen Vorhaben. Was das angeht, hoffe ich immer noch auf ein Wunder.

Bis zum nächsten Kapitel ^__^
Puffie~
Von:  kiala-chan
2014-10-18T14:25:01+00:00 18.10.2014 16:25
So ein langes Kapitel diesmal - schön! ^.^
Endlich der erste Auftritt von Tomoyos Mutter! Was hat diese Frau nur im Schilde? Warum hat sie das alles nur getan?
Fyes Eifersucht ihr gegenüber - so süß <333
ich hoffe auch, Kurogane verliebt sich nicht wieder in sie >.<
Oh, und süß, wie Yuko Fye immer neckt und wie er versucht, nicht rot zu werden xD
Und die Stelle, wo Kurogane Fye anlächelt, halb traurig, halb dankbar, gefällt mir sehr. Er würde definitiv nicht jeden so anlächeln. Und, hach~Fyes Umarmung am Ende das sind tiefere Gefühle, man merkt, wie stark die Bindung zwischen ihnen ist. *schwärm*
Was wird aus der armen Chii? Nur noch ein paar Tage Zeit, Gott, sie müssen jetzt schnell was machen.

Ich freu mich aufs nächste Kapi (kanns kaum erwarten) und wünsche dir viel Zeit und Kreativität zum Schreiben. Ich halte die Daumen und Zehen gedrückt xD




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