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Von Pflicht und Ehre

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Ysop

Von Pflicht und Ehre
 

1. Ysop
 

In meine Alpträume mich retten, in Abgründe stürzen und den schrecklichsten Schatten mich opfern, das wollte ich – denn nichts mehr konnte schlimmer sein als die Realität.

Oder war es eher so, als ob der bedrohlichste aller Nachtmahre selbst zur Realität geworden war?

Nein, nein. Aus einem solchen Traum wäre ich gewiss nicht mehr aufgewacht.

Denn ist es nicht so, dass im Traum selbst das scheinbar Unmögliche wahr wird? Das Unmögliche, dass ich in eben jenem Augenblicke fühlte, als ich glaubte, mein Herz höre auf zu schlagen.

Ich weiß nicht, was es war, dass mich taub, blind, stumm zurückweichen ließ.

War es die Zurückweisung?

Der Schock?

Die bodenlose Enttäuschung? Nein. Ich glaube, am ehesten war es noch der Schock. Die Enttäuschung kam erst sehr viel später – erst, als mir klar wurde, was diese Zurückweisung bedeutete, was ich verloren hatte. Und dass ich keine Zukunft mehr hatte.

Dabei hatte der Tag so wundervoll angefangen!

Er hatte mich am Vortag mit ernster Mine eingeladen und mich auf eine Verabredung gebeten. Er! Mich! Auf eine Verabredung gebeten!

Das schmeckte herrlicher als saftige, reife Erdbeeren im Sommer, frischer als das erste Schneegestöber in einer Menge lachender Gesichter. Wie aufgeregt ich war! Wie verzückt von dem Gedanken, dass er sich mir endlich zuwenden wollte!

Und wie einfältig, beschränkt und naiv. Schritt um Schritt sollte ich es büßen.

Was tat ich also in meiner dümmlichen Glückseligkeit? Ich machte mich hübsch zurecht, schlüpfte in mein schönstes Sommerkleid und machte mich auf den Weg zur Eisdiele, in der wir uns treffen wollten. Die Sonne strahlte vom lachend blauen Himmel herab und erwärmte das Gemüt der Leute – nichts warnte mich vor dem, was mir widerfahren sollte. Die Natur blühte auf, ihre Blüten reckten sich gegen Himmel und öffneten ihre farbenfrohe Pracht der ganzen Welt, auf dass sie süßen Nektar trank und Schönheit atmete. Überall ein Lächeln, ein Glitzern, überall Leben in den verschiedensten Formen und Düften.

Und ich mittendrin!

Dem Schicksal wollte ich dafür danken, dass es mich auf seinen wirren Wegen an diesen Ort verschlagen hatte - ohne zu wissen, dass ich es nur wenige Zeit später noch verfluchen würde.

Ich sah mich selbst als schöne Blume, die in sich das pure Leben vibrieren spürte und sich endlich, endlich nach all den langen Wintern der Einsamkeit, des Wartens, des Verlangens, entfalten durfte. Wie jung und schön ich mich fand! Pulsierend mit Energie, übermütig, toll vor Glück, bereit, Dämonen und Götter zugleich herauszufordern, machte ich mich auf den Weg zu unserem Treffpunkt, einer nahen Eisdiele.

Ich glaubte, unbesiegbar zu sein.

Ich glaubte, nichts könne mich zerstören.

Wie falsch ich lag.

Sein Lächeln war dasselbige des Vortages – eingefroren, aufgesetzt. Doch an diesem Tage erkannte ich in seinen Augen auch diese Unsicherheit – eben jene Schwäche, welche ich an ihm hassen lernen sollte.

Zuerst wollte er mir nicht die Wahrheit sagen. Zu feige, mein Herz direkt in Stücke zu reißen, ließ er mich einfach nur plappern. Wie war ich glücklich, dass er mich endlich auserkor, mich endlich erhörte. Hätte ich nicht fragen müssen, warum die dunkle Mine an so einem hellen Tag, warum diese Unsicherheit, die doch keine verliebte Nervosität war, warum er nicht glücklich war, mich zu unserer Verabredung erscheinen zu sehen. Warum zweifelte ich nicht?

Ich glaubte, er hätte sich endlich zu mir bekannt.

Ich glaubte, er wolle mich endlich mit seiner Liebe zu einer Göttin krönen.

Mein Erdbeereis mit extra viel Sahne schmeckte zuerst so köstlich und süß – und dann so bitter, als die Worte zwischen seinen Lippen hervorstolperten und wie Asche auf mich hernieder regneten.

Wahrscheinlich konnte er die Wahrheit nicht länger zurückhalten. Er unterbrach mich einfach mitten in der Schilderung irgendeiner belanglosen Anekdote, die ich nur deshalb erzählte, da ich in seiner Stille das Chaos der Laute bedeuten, ihn aus seiner erstarrten Zurückhaltung herausreißen wollte... und da ich mir so langsam unsicher wurde. Warum nur hatte er bisher nichts gesagt?

Aus dem einfachen Grunde, da er sich allen Mut, alle Bedeutung für diese wenigen Worte aufgehoben hatte. Die Worte, die mich wie Lanzen durchbohrten und mich auftaumeln ließen.

Ich flehte ihn tonlos, atemlos an, diese Worte noch einmal zu wiederholen, und meine Hände krallten sich um die Tischkante unseres kleinen Freiluftplatzes während ich mich ein wenig zu ihm vorgebeugt hatte. Im Grunde genommen hatte ich ihn schon beim ersten Male verstanden. Mag es nun Masochismus oder mein stiller, hoffnungsvoller Wunsch, mich verhört zu haben, gewesen sein, der diese pathetischen Worte aus mir herauspresste.

Wie sehr ich mich heute für meine Schwäche hasse! Aber in eben jenem Moment war mir, als ob mein Brustkorb fest eingeschnürt in ein Korsett aus Angst und boshafter Hoffnung wäre. Ich rang nach Atem, und versuchte seine Lippenbewegungen, als er sich wiederholte, so umzudeuten, dass sie nicht zu seinen Worten passten.

Es gelang mir nicht. So sehr ich mich auch bemühte, es wollte mir nicht gelingen. Sie blieben dieselben – zerstörerisch in ihrer Bedeutung, grausam in der Entschlossenheit, die sie hervorbrachte.

Jedes einzelne von ihnen traf mich, tief irgendwo dort, wo ich in jenem Moment mein Herz vermutete – sicher sein konnte ich mir nicht, da es sich anfühlte, als ob es aufgehört hätte zu schlagen. Dort, wo dieser beißende Schmerz sich durch mein Fleisch wühlend wütend an die Oberfläche meines Bewusstseins riss, mich zerriss, dort vermutete ich mein Herz. Einen Kadaver giftiger Fäulnis, dessen Seuche aus eisiger Verzweiflung meinen Verstand benebelte.

Ich bemerkte gar nicht, dass sich meine Hände von den Tischkanten gelöst hatten. Auch bemerkte ich nicht, dass ich immer weiter zurückwich.

Hinter dem dichten Schleier brennender Tränen war die Welt um mich herum verblichen – Geräusche, Farben, Gerüche. Meine Sinne waren überlastet. Sie waren damit beschäftigt, den Sinn seiner Worte zu erfassen, deren Wucht mich mit jeder Silbe einen Schritt weiter zurück drängte.

Einen Schritt weiter zurück, in mich selbst...

Erbärmlich? Krank? Ich? In Frieden lassen? Was mochte das bedeuten? Alles in mir wehrte sich, die Bedeutung seiner schnell hervorgespienen Sätze zu erschließen.

Einen Schritt weiter... und noch einen, der mich vor den hupenden Kleintransporter bringen sollte.
 


 

Da war etwas. Ein rhythmisches Geräusch, nein, ein Ton. Aber kein Ton einer menschlichen Stimme. So rhythmisch... Ich verlor mich darin, seine Frequenz zu zählen. Zu kraftlos, um meine Augen zu öffnen, sank ich schon bald wieder in die warmen, einladenden Arme der Bewusstlosigkeit.
 

Als ich erneut erwachte, begrüßte mich eine Welt aus Schmerzen. Wieder hörte ich diesen rhythmischen Ton, der mich sehr irritierte. Was war nur geschehen? Wo war ich bloß?

Ich versuchte, meine Augen zu öffnen, aber bald schon merkte ich, dass dieses Unterfangen noch mehr Schmerzen bedeutete.

Warum nur durchlitt ich diese Höllenqualen? Und warum war meine Wahrnehmung so getrübt? Mein Verstand so langsam? Durch den Nebel, der meine Sinne umwaberte und alles dämpfte, hörte ich das Klacken von Absätzen auf einem Boden, der nicht Holz noch Stein war. Hatte ich Watte in den Ohren? Ich wollte mich aufrichten, stöhnte aber bei dem Versuch laut auf vor Anstrengung und Pein.

Die Laute, die mein Mund formulierte, klangen unmodelliert und auch ein wenig lallend – so, als ob ich der Person in meiner Nähe einen Klumpen Ton hinwarf, in der sicheren Erwartung, sie wüsste, dass es sich bei diesem Klumpen noch feuchten Tons um einen Krug mit griechischem Olivenzweigrelief handelte.

Diese Person sagte etwas zu mir, aber ich verstand nicht, was sie mir mitteilen wollte. Es musste eine Frau sein, soviel schloss ich aus der hohen Tonlage, die beruhigend klang – so, wie man auch zu einem kleinen Kind spricht, dass hingefallen ist, als es die neuen Inlineskater ausprobieren wollte, die Oma und Opa ihm zum Geburtstag geschenkt haben, und sich die Knie aufgeschürft hat. Ich versuchte mich noch einmal aufzurichten, da ich so langsam wütend wurde. Was sollte das?! Was machte ich dort? Warum schmerzten meine Glieder so? Warum konnte ich nicht mehr richtig sprechen, war mein Verstand so erschreckend langsam, und wie leergefegt, bar jedes klaren Gedankens?

Mit den Schmerzen verblassten auch der rhythmische Ton und die Stimme der Frau. Alles versank in einem schwarzen Meer aus traumlosem Schlaf.
 

„Verband wechseln... So ein hübsches Mädchen!“

„... für immer entstellt sein...die Narben!“

Stimmen?

„... mehr Schmerzmittel, Herr Doktor?...“

„...aufwachen... Verband wechseln...“

Wo bin ich?

„... ihr Augenlicht?“

„...herausfinden...“

Was?! Ich kann mich nicht bewegen... Alle meine Glieder scheinen ermattet, gefesselt in Hilflosigkeit bin ich durch ihre Unfähigkeit... Warum kann ich meinen Arm nicht heben? Warum kann ich meine Augen nicht öffnen?

Und warum nagt dort Schmerz, am Rande meines Bewusstseins, der auf mich lauert?

Da ist jemand... Und dieser jemand berührt meinen Kopf und... Was macht sie da?!!

Es muss eine Frau sein... Ein Mann trägt kein solches Parfüm... Wo bin ich?!

Was soll das alles?

Warum kann ich mich nicht erinnern?

Doch halt! Da ist etwas. Ein Becher mit Eiskreme? Mir ist klar, dass ich mich schnellstmöglich erinnern muss, jedoch scheint es auch andere Prioritäten zu geben. Der Versuch, mich zu erinnern, ist mit einem sehr unangenehmen Gefühl verbunden.

Da ich bereits mit immer heftiger werdenden Schmerzwellen zu kämpfen habe, setze ich mich ersteinmal mit der Frage auseinander, was die Frau da macht. Sie löst etwas von meinem Kopf – ein Band? Moment, da hatte doch eine der Stimmen von einem Verband gesprochen...

Warum trug ich einen Verband um meinen Kopf?

Wenn ich mich darauf konzentrierte, wurde zwar der Schmerz ebenfalls mehr präsent, jedoch konnte ich die Textur des Mullstoffes auf meiner Haut und den Druck um meinen Kopf und... auf meinen Augen? Spüren.

Meine Augen? Warum war der Verband auch über meine Augen gelegt?

Angst erfasste mich. Was war mit mir? Was war nur geschehen? War ich im Krankenhaus? Natürlich, das musste ich sein. Verband, ein Doktor, Schmerzmittel... Das alles ergab einen Sinn.

Warum war ich im Krankenhaus?

Und vor allem: was war mit mir? War etwas... mit meinen Augen?

Ich versuchte die Panik niederzukämpfen – doch dann formierte sie sich zu Eis in meinem Magen. Was war wenn ich... wenn nicht nur meine Augen, sondern... wenn mein Körper...

Die letzte Lage des Verbandes wurde gelöst. Anhand der unterschiedlichen Lichtverhältnisse konnte ich erkennen, dass noch etwas auf meinem rechten Auge lag.

„So, jetzt nur noch die Kompresse... Junges Fräulein, sind Sie wach?“

Mein Versuch, ein Nicken meines Kopfes zu vollführen, war kläglich.

„Können Sie vielleicht versuchen, einmal ihr linkes, und danach ihr rechtes Auge zu öffnen?“

Ich versuchte es – aber mein Körper wollte mir nicht recht gehorchen. Schließlich gelang es mir, mein linkes Auge einen Spalt breit zu öffnen, bevor ich es schnell wieder schloss – geblendet von dem hellen Tageslicht.

Mein rechtes Auge zeigte keine Reaktion – dass diese Region meines Gesichtes noch zu meinem Körper gehörte, registrierte ich lediglich durch den beißenden Schmerz, der von dort über meine Nervenbahnen zu meinem bereits sehr beanspruchten Schmerzzentrum jagte.

Es schien unmöglich für mich, festzustellen, von wo überall die Wellen der Pein stammten – mein gesamter Körper schien entflammt zu sein in einer alles verzehrenden Flamme.

„Hmm... Wir müssen wohl warten, bis die Schwellung zurückgegangen ist, um näheres zu sehen. Junges Fräulein, erinnern Sie sich an das, was passiert ist?“

Die Stimme der Frau – ich schätze, dass es eine Krankenschwester war – klang weit entfernt. Doch selbst, wenn ich sprechen hätte können, hätte ich wohl kaum mehr als ein Kopfschütteln zustande gebracht. So furchtbar müde...
 

Tag ging in Nacht über, Nacht in Tag und immer fort in dem gleichen, repetitiven Spiel. Wie viel Zeit verstrich, weiß ich nicht. Dass sie mir zwischen meinen klammen Fingern wie Sand zerrieselte, das war mir nur deshalb bewusst, weil sich Wandel vollzog. Wandel vollzieht sich nur mit Zeit... Die Menschen um mich herum wurden unfreundlich, auch wenn sie nie die höfliche Distanz verloren. Denn so sind die Japaner nun mal.

Mir wurden meine Mahlzeiten geliefert, die Verbände gewechselt... und irgendwann konnte ich sogar versuchen, mein rechtes Auge zu öffnen. Die Erleichterung, die mein Herz hätte beflügeln müssen, als ich die Welt um mich herum erkannte, brandete nur kurz an und versank daraufhin wieder in dem dumpfen Sumpf aus Nichts, aus Gefühlsleere, Einsamkeit und Monotonie.

Warum mich nicht die Erleichterung in Ekstase versetzte? Vielleicht lag es daran, dass die Welt, die mich stets aufs Neue begrüßte, öffnete ich meine Augen, in ihrer widerlichen Sterilität, unfreundlichen Kälte und omnipräsenten Fremde abstieß.

Wahrscheinlicher ist aber, dass es für mich von keiner Relevanz mehr war, zu sehen. All diese Bemühungen der Ärzte, mich zusammenzuflicken, nahm ich einfach hin. Sie wollten mich retten, also taten sie es.

Es war nicht so, als ob mir etwas an diesem Leben lag.

In der Nacht, in meinen Träumen blitzten immer wieder Erinnerungsfetzen auf, die mich hochschrecken ließen – und so langsam gelang es wohl meinem Verstand nicht mehr, den quälenden Splitter, welcher in meiner Seele steckte, zu vergessen, zu verdrängen. Eine eiternde Wunde, die mich nicht mehr schlafen ließ.

Der weiße, hupende Kleintransporter, die quietschenden Bremsen... eine Explosion aus Schmerz, Schreie... sein erschrockenes, fassungsloses Gesicht, als er untätig dastand und mich nur anstarrte... Schwärze, Leere.

Mein Leben – warum bemühte man sich so um mich? Die Ärzte, die Krankenschwestern, obwohl ich ihre Ablehnung förmlich spüren konnte. Weil es ihre Pflicht war.

Mir war klar, dass ich ihnen eigentlich hätte dankbar sein müssen – immerhin hatten sie mir wohl das Leben gerettet. Aber ich konnte keine Dankbarkeit empfinden. Tag für Tag vegetierte ich einfach nur vor mich hin. Versuchte ich, einen Sinn in dem zu finden, was in Scherben vor mir lag und einfach keinen Sinn mehr hatte. Meine Existenz – wozu das alles noch?

Was soll man tun, wenn man weit, sehr weit gelaufen ist – mit frohem Herzen und Vorfreude, endlich bald das ersehnte Ziel zu erreichen – und wenn es in Sichtweite ist, mit gierigen Händen fortgerissen wird, sich in giftigem Nebel und erstickender Asche auflöst? Man steht auf dem schmalen, unebenen Pfad, der zum Gipfel des Berges führt – und nur noch ein Schritt fehlt bis zur Spitze – doch dann bricht eben jene weg. Was tut man dann? Viel zu weit ist man schon gekommen, um noch umzukehren.

War es fair, zu springen?

Ich war der Ansicht, dass es das einzig richtige war. Und doch blieb ich untätig. Schaute diesen Menschen zu, die mir Essen brachten, mich mit reservierter Höflichkeit behandelten und meinen Körper pflegten. Stetig ging es meinem Körper besser – man verrichtete gute Arbeit an mir.

Jedoch blieb all dies ohne Belang für mich. Selbst die Enttäuschung, dass ich selbst von denen, die ich eigentlich als meine Familie erachtete, keinen Besuch empfing, kümmerte mich nach einer Weile nicht mehr. Wie auch? Wie sollte ein Schnitt schmerzen, den man einem abgetrennten Arm zufügt? Schmerzt es eine Leiche, wenn man ihren Körper entstellt?

Es war mir zuwider, über das Geschehene nachzudenken – es war mir zuwider, überhaupt etwas zu denken. Warum auch? Es würde zu sehr weh tun, mehr noch als all die Verletzungen, die nun langsam wieder heilten.
 

All die Zeit besuchte mich niemand – bis zu jenem Tag, an dem sie hereinschneite.

Ich wusste nicht, was ich von ihrem Besuch halten sollte. Wir hatten uns früher nie sonderlich gut verstanden – beide wollten wir das selbe, beide konnten wir es nicht haben. Von daher verwunderte es mich, dass ausgerechnet sie an meinem Krankenbett auftauchte. Schadenfreude traute ich ihr nicht zu. Auch sie hatte das einzige verloren, was sie je wollte. Außerdem war sie ein zu guter Mensch dafür. Wir mochten einst Rivalinnen gewesen sein, hielten aber keine persönliche Abneigung gegen die andere – zumindest erging es mir so, ich weiß nicht, wie sie es empfand. Bislang hatte ich sie immer zu ignorieren versucht, da ich glaubte, sie stellte keine wirkliche Konkurrenz für mich dar.

Ukyo war einfach ein zu lieber Kerl – oder Mädchen, wie man’s nimmt. Ich hatte immer belächelt, dass sie sich einst immer wie ein Junge gekleidet hatte und nie ihre feminine Seite vollends akzeptierte. Doch auch dies war nur ein vager Schemen der Vergangenheit. Warum jedoch besuchte sie mich jetzt?

Das erste Mal seit, Wochen? Monaten? Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist..., fühlte ich eine Regung in mir. Neugier? Nein, das war es nicht – um Neugier zu empfinden, war ich innerlich noch zu leblos, zu teilnahmslos an der Wirklichkeit. Es war mildes Interesse – was führte sie zu mir?

Sie trat zögerlich näher; ruhig, gefasst, und doch mit einem Hauch der Melancholie. Ich hielt ihr zugute, dass sie in ihren Augen kein Mitleid zeigte – warum auch? Sie selbst hatte die gleichen Schmerzen zu ertragen wie ich. Wir waren Schwestern in der Qual – auch wenn ich bislang das Glück gehabt hatte, eine Weile des Vergessens, des Verdrängens und der Übertünchung meines inneren durch das physische Leid erfahren zu dürfen, sodass ich nun nur noch eine bittere Leere in mir spürte.

„Hallo Shampoo.“ Ihre Stimme war leise – ich musterte sie kurz, flüchtig, und blickte dann wieder aus dem Fenster. Ich sah keinen Grund zur Höflichkeit – auch wenn wir keine Rivalinnen mehr waren: Freundinnen waren wir noch lange nicht. Außerdem hatte ich gesehen, wie sich ihre Augen kurz geweitet hatten, als sie mein Gesicht sah. Man musste ihr lassen, dass sie sich gut unter Kontrolle hatte – aber perfekt war sie noch lange nicht, und ich sah mich nicht bereit, ihr jetzt schon dafür zu Verzeihen.

Immerhin wusste ich, wie ich aussah.

„Was du wollen?“ Meine Stimme klang ebenso leblos, wie ich mich fühlte. Von meinem Bett aus konnte ich sehen, wie der Wind sachte mit den Blättern des Kirschbaumes spielte, der seine Äste zu meinem Fenster hinreckte.

Sie antwortete mir ebenfalls nicht, zumindest nicht direkt, sondern zog sich einen Stuhl an mein Bett. Ich sah sie nicht an, spürte aber, wie ihre Augen mein Gesicht nach irgendwelchen Regungen abtastete und beobachtete. Mir ist nicht klar, was sie dort suchte – Trauer? Verzweiflung? Tränen vielleicht? Auch weiß ich nicht, ob sie das fand, was sie suchte. Das einzige, was ich fühlte, war Leere und diese Spur milden Interesses.

„Wie geht es dir?“ Zwar fand ich die Frage an sich nicht witzig, hätte aber beinahe humorlos gelacht, wüsste ich noch, wie man Laute des Lachens produziert. Wie sollte es mir schon gehen? Ich lag im Krankenhaus, mein Körper, mein Leben und meine Zukunft in Trümmern. Wie glaubte sie, mochte es mir wohl gehen?

Aber ich wollte nicht ungerecht sein. Immerhin war sie die einzige meines „Bekanntenkreises“, die mich als wert erachtete, besucht zu werden – auch wenn ich nicht glaubte, dass sie diesen Besuch freiwillig leistete. Für eine freiwillige Wohltätigkeit musste sie sich zu unangenehm fühlen, wenn man ihre versteifte Haltung deuten durfte. Außerdem war Ukyo nicht der Typ dafür. Sie selbst war wie ich eine Kämpferin – und wusste, wie Kämpfer durch ihren Stolz mitleidsgetriebene Wohltätigkeitsbesuche aufnehmen würden.

Vielsagend sah ich sie an und versuchte einigermaßen höflich zu klingen. Lange schon hatte ich nicht mehr viel gesprochen, außer beispielsweise den Ärzten geantwortet oder dergleichen. Meine Stimme klang kratzig, unbenutzt.

„Wie es soll mir gehen mit gebrochen Bein, paar Bänderriss, Prellung, Quetschung, entstelltes Gesicht und verkrüppeltes Arm? Aber sie sagen, ich Glück gehabt haben.“

Ukyo zögerte. Offensichtlich wollte sie noch etwas sagen, war sich jedoch nicht sicher, ob sie dies tatsächlich tun sollte. Ebenso offensichtlich hatte sie beschlossen, den direkten Weg zu wählen und einfach blatant zu sein.

„Eigentlich wollte ich wissen, wie es dir psychisch geht.“ Ach wirklich? Und eigentlich wollte ich darauf nicht antworten. Was ging es sie an?

„Diese Ärzte sein verdammtes Rassistenpack, wenn merken, dass du nicht Japanerin sein. Nicht unhöflich sein, wenn merken, aber kalt wie Hundeschnauze werden. Aber ein Nachtschwester nett sein. Mir manchmal Kekse bringen.“ Sie sah, dass ich ihrer eigentlichen Frage betont auswich, schließlich war Ukyo nicht dumm. Soweit ich wusste, war sie sogar recht intelligent. Zumindest intelligent genug, um zu erkennen, dass ich jetzt nicht darüber sprechen wollte, sprechen konnte. Noch wollte ich mich der Qual nicht stellen – und doch spürte ich bei der bloßen Erinnerung, wie sich die immer noch glühenden Bande frisch geschmiedeten Eisens, die sich mir an jenem Tag um mein Herz gelegt hatten, verengten und das bisschen Leben, dass noch in ihnen gefangen war, zu erdrücken versuchten. Nicht dran denken, Shampoo. Nicht dran denken... Auch wenn du kein Morgen siehst, irgendwann muss auch die einsamste Nacht zuende gehen.

„Du magst also Kekse, ja?“ Nun wich mein Blick nicht mehr von dem ihren. Ich suchte nach einer Falle, nach Heimtücke – doch ich fand nichts. Warum fragte sie, ob ich Kekse mochte? Das ging sie nichts an! Das interessierte doch niemanden. Sollte sie doch wie alle anderen auch endgültig aus meinem Leben verschwinden, mich alleine lassen, mich zurücklassen in meiner Rüstung aus bitterem Selbstmitleid.

Trotzdem nickte ich misstrauisch – wer weiß, vielleicht suchte sie einfach nur verzweifelt nach einem Thema.

„Welche magst du am liebsten?“ Fragend hob ich eine Augenbraue. Die linke. Hätte ich versucht, meine rechte Gesichtshälfte ab dem Mund aufwärts zu verziehen, so hätte ich mir auch gleichzeitig ein wenig Benzin darauf kippen und jenes entzünden können – die siedende Algesie wäre die gleiche gewesen.

Ukyo war ein seltsamer Mensch. Aber wenn es sie glücklich machte, würde ich ihr eben antworten. Vielleicht würde sie dann verschwinden. Vielleicht handelte sie ja doch nur nach einem ungeahnten Samariterdrang und wollte ein gutes Werk tun. Jeden Tag ein gutes Werk. Vielleicht war das ja ihr gutes Werk für diesen Tag.

Vielleicht.

„Schokoladenkekse.“ Sie lächelte freundlich, wenn auch melancholisch und verschwand nicht. Nun verstärkte sich, ohne, dass ich es wollte, mein bislang mildes Interesse. Warum besuchte mich meine einstige Rivalin, wenn nicht einmal mehr meine Familie etwas mit mir zu tun haben wollte? Was wollte sie wirklich?

„Weswegen du sein hier? Bestimmt nicht sein wegen Fürsorge.“ Forschend sah ich sie an. Ich erwartete gar nicht, dass sie es leugnete, dass sie ein anderes Motiv als denn Fürsorge hatte. Für ihre Ehrlichkeit war ich ihr dankbar; ich wusste, dass ich Heuchelei in diesem Moment nicht vertragen hätte, da ich ganz genau wusste, dass sie nicht meinetwillen hier war.

Wegen was, oder wem, dann? Wir schuldeten einander nichts. Alle Rechnungen waren beglichen und wir uns fremd.

Sie holte tief Luft und sah mich einen Moment lang gequält an. Ja, selbst Ukyo konnte nicht all ihre Emotionen maskieren.

„Ranma schickt mich.“

Mein Magen krampfte sich zusammen, als diese eisige, stechende Kälte sich wieder in mir ausbreitete. Ich war noch nicht bereit, diesen Namen zu hören. Ich war noch nicht bereit, mich zu erinnern.

In diesem Moment wollte ich Ukyo hassen – dafür, dass sie seinen Namen aussprach. Aber die Kälte betäubte mich. Ich lächelte, obwohl ich keine Emotion empfand, welche ihren Ausdruck in einem Lächeln hätte finden können, denn ich empfand nichts.

„Er sich machen nicht etwa Sorgen?“ Unmerklich verzog das Mädchen mit den langen, braunen Haaren ihr Gesicht, als sie meine Frage hörte. Die Worte hatte ich in meinem mir jetzt eigenen, neutralen Ton ausgesprochen, bar jeglichen Gefühls, und doch war die Ironie in ihnen so deutlich, dass sie mein Gegenüber wohl etwas mehr quälten. Das jedoch war mir egal. Sie war hier, offensichtlich als eine Art Bote. Hatte sich dazu degradieren lassen, wie ein kleiner Hund seinem Herren zu gehorchen, auch wenn dieser Herr ihn tritt.

Wieder spürte ich etwas in mir – etwas seit langem Fremdes. Verachtung. Ja, ich glaube in diesem Moment verachtete ich Ukyo, obwohl ich an ihrem gequälten Gesichtsausdruck erkennen konnte, wie sehr sie sich selbst in diesem Moment verabscheute. Auch wenn sie es hasste, diesen Botengang zu machen, so hatte sie sich doch von ihm benutzen lassen.

War ich ein Masochist dafür, dass ich mich beinahe schon darauf freute, seine Botschaft zu hören? Worte von ihm, der mich umbrachte, Worte von ihm, der mein Leben zerstörte, Worte vor ihm, der sich noch nicht einmal traute, jetzt vor mir zu stehen und mir das, was er zu sagen hatte, in mein entstelltes, hässliches Gesicht zu flüstern.

Worte von ihm, den ich liebte.

„Sein er zu feige, persönlich zu mir zu kommen?“ Ukyo schloss kurz die Augen und holte tief Luft, bevor sie noch einmal zu sprechen ansetzte, um mir seine Nachricht zu übermitteln, aber eben diese Geste war mir Antwort genug.

Meine Gefühle schienen zurückzukommen. Erst Interesse, dann Verachtung und nun... Wut.

„Er sagte, es täte ihm Leid was passiert ist-“, ich schnaubte, ließ sie jedoch fortfahren, „aber dass ihn keine Schuld treffe und du ihm keine Vorwürfe machen sollst. Er hätte sogar den Krankenwagen für dich gerufen. Allerdings solltest du dich von ihm und... ihr fernhalten, und sie in Ruhe lassen, wenn du aus dem Krankenhaus rauskämst. Er hätte dir lediglich die Wahrheit gesagt, und nicht ahnen können, dass du so „überreagieren“ würdest.“

Sie schwieg. Ich ebenfalls. Hätte ich meinen Mund geöffnet, so hätte ich sicherlich Ukyo angeschrieen, und das wollte ich nicht – schließlich war nicht sie es, die diese Worte an mich gerichtet hatte, auch wenn sie sich von ihm benutzen und herumkommandieren ließ. Außerdem konnte ich sehen, wie sehr sie selbst diese Worte schmerzten, da sie nicht nur an mich gerichtet waren – sie wusste, dass, auch wenn er mich als Adressatin auserkoren hatte, so hatte auch sie sich an ihren Inhalt zu halten. Nicht nur ich war ein Störfaktor.

Doch wie gerne wäre ich in eben jenem Augenblick unfair gewesen, hätte meiner Wut, meiner Enttäuschung und meiner Trauer Luft gemacht!

Ukyo stand auf und ging zur Tür. Ihre Aufgabe war erledigt. Sie hatte sich noch nicht einmal ihre leichte Sommerjacke ausgezogen. Nun verschwand sie tatsächlich.

Eines jedoch wollte ich noch wissen, bevor sie ging und mich nun endlich, endlich, wie alle anderen auch, für immer alleine lassen würde.

„Du wissen was sein mit meiner Familie?“

Ukyo zögerte. Ihr Rücken war mir zugewandt, sodass ich ihre Mimik nicht deuten konnte. Sie senkte ein wenig den Kopf und sprach dann in einer leisen, traurigen Stimme. Offensichtlich bedauerte sie es, mir solche Dinge sagen zu müssen.

„Als du nicht heimgekommen bist, fragte deine Urgroßmutter bei den Tendos, wo du seiest, da sie wusste, dass du mit Ranma... an dem Tag deines Unfalls eine Verabredung hattest. Ranma... traute sich nicht recht zu sagen, was passiert ist, und schwindelte ein wenig. Er sagte ihr, du seiest zu einer Trainingsreise nach China aufgebrochen, nachdem Akane dich in einem Kampf besiegt hätte, da du die Schmach nicht ertragen hättest. Cologne ist dir nachgereist. Mousse hütet euer Restaurant, weiß allerdings auch nicht, dass du hier bist. Soll ich es ihm...?“

„Nein.“ Das war alles, was ich in diesem Moment noch hervorbringen konnte. Ukyo nickte leicht und verließ mich dann. Meine Gedanken waren jedoch nicht bei ihr.

Wie konnte er nur? Wie konnte er es wagen? Zwar hatte er mich nicht direkt vor den Wagen gestoßen – aber seine Worte.

Seine Worte und seine ungeschickten Beschwichtigungsversuche. Ich weiß, dass ich mich nicht in diese Abgründe begeben sollte, da man leicht droht, sich in ihnen zu verlieren...

Doch meine neue, masochistische Ader ließ mich dieses innerliche, quälend langsame Absterben genießen. In vollen Zügen, exzessiv – denn nichts anderes war mir noch geblieben als mein Leid.

Nichts anderes mehr empfand ich. Nach all den Wochen der Taubheit spürte ich nun endlich wieder etwas – die Lähmung war von mir gefallen, und ich begrüßte die Qualen als Zeichen dafür, dass ich immer noch lebte. Es zeriss mich und hielt mich bei Bewusstsein, knapp über der alles verschlingenden Oberfläche der Verzweiflung, flößte es mir giftige Dämpfe ein, die mich nicht direkt, sondern verzögert sterben ließen.

Tränen liefen mir heiß über die Wangen, und endlich spürte ich, das meine Gesichtsmuskulatur nach all den Wochen der absoluten Regungs- und Ausdruckslosigkeit doch noch funktionierte, indem sie sich zu einem verzerrten Lächeln verzog.

Schritt um Schritt... Ich erinnere mich... das Erdbeereis, mit extra viel süßer, cremiger Sahne... mein absolutes Glück... seine fliehenden Augen, die meinen auswichen... Schritt um Schritt... die Erkenntnis, der Schock, der mich erstickende Schmerz... mein schneller Atem, seine immer eindringlicheren Versuche, mich zu beruhigen, mir zu sagen, ich solle nichts Dummes tun und sie in Frieden lassen... er wird eindringlicher, ich weiche zurück... Schritt um Schritt der Straße näher... alles ertrinkt in einem grauen Nebel aus Farblosigkeit, es sind Tränen, die mich blenden! Ich erinnere mich!, chaotische Bewegungen, war ich denn nicht vollkommen allein in eben jenem Moment?, das Trommelfell zerfetzende Stille, warum, warum hörte ich nicht mehr mein Herz schlagen?... Schritt um Schritt. Er streckt die Hand nach mir aus, sagt noch viele Dinge, die ich nicht mehr hören will... Und da ist er, nein sie. Der Bordstein und die Bordsteinkante. Ich verliere das Gleichgewicht, als mein Fuß, je mehr ich zurückweiche, auf die Kante auftritt. Ich verliere das Gleichgewicht, als ich vor ihm fliehen will. Ich spüre den Fall... und in diesem Moment stürmt alles auf mich ein. Der laut hupende Transporter, der noch auszuweichen versucht, die quietschenden Bremsen, der stechende Geruch nach verbranntem Gummi, die Schreie der Leute, wie sie zu mir eilen, mir zu helfen versuchen...

Nur er steht einfach nur da. Er ist blass. Aber er rührt sich nicht. Kommt nicht zu mir, um mir zu helfen.

Ich schmecke Blut, kann mich nicht mehr bewegen... Überall Schmerz...

Er steht einfach nur da und sieht mich an.

Vor meinen Augen wird alles schwarz... und das letzte, was ich sehe, ist, wie er feige davonläuft.

Dieser gottverdammte Bastard hat mein Leben zerstört! Ich wimmere, ich heule und versuche, mich so gut es mit meinen verletzten, wehen Gliedmaßen geht, einzurollen. Die Kanüle in meiner rechten Hand drückt unangenehm, als ich mich zu hastig bewege und Zug darauf kommt, meine andere Hand fühlt sich fremd an meinem Körper an, steif, kalt und unbeweglich. Unter dem Gips meines rechten Beines empfinde ich nur noch ein dumpf schmerzendes Pochen... und doch werde ich endlich meiner Lage bewusst.

Hier liege ich, verstümmelt, verkrüppelt und entstellt, nur wegen ihm. Mein ganzes Leben lang wollte ich nichts mehr, als eine richtige Amazone sein und meinen Stamm stolz zu machen. Und was habe ich getan? Wie ein dummer, treudoofer Hund bin ich diesem Feigling hinterhergerannt, habe ihm so viel Zeit und Zuneigung geopfert in der törichten Annahme, er könne mich lieben. War ich denn nicht schön genug? Nicht stark genug? Nicht klug genug?

Glaubte er, ich wäre nicht in der Lage, gute Nachkommen zu zeugen? Glaubte er, ich sei keine gute Mutter, und schwache Kinde würden aus unserer Verbindung resultieren? Glaubte er, ich würde ihn zwingen, mit mir in mein Dorf zurückzukehren, so, wie es der Brauch verlangte?

Nein! Ich bin nicht schwach! Und für ihn hätte ich alles aufgegeben. Habe ich mich denn nicht schon für ihn aufgegeben? Ihm habe ich das Wichtigste in meinem bisherigen Leben geschenkt, meinenStolz, und er hat mich achtlos liegen lassen. Schritt einfach gleichgültig über mich hinweg, als ich, glücklich, vor seinen Füßen kauern zu dürfen, wehrlos in meiner Naivität vor ihm lag.

Warum? Bin ich denn nicht schön genug? Selbst wenn ich es war – jetzt bin ich es nicht mehr.

Bin ich denn nicht stark genug? Selbst wenn ich es war – nie wieder würde ich stark genug sein, um eine gute Mutter sein zu können.

Was hatte ich nur getan, um so etwas zu verdienen? Ich hatte ihm doch wirklich alles gegeben, was ich besaß – mein Herz, meinen Stolz und meine Ehre.

Und all das hatte er restlos vernichtet!

Mein Herz, als er mich zurückließ, meinen Stolz, als er mich eine Belästigung und Schlimmeres nannte und meine Ehre... indem er meiner Großmutter in seiner eigenen Feigheit nicht die Wahrheit sagen konnte, sondern mich demütigte, verleumdete und entehrte. Indem er sagte, diese kleine, schwache Hure hätte mich, mich besiegt. Ich würde es ihm beweisen!

Mein Blick fiel auf die merkwürdige Gerätschaft, welche mir die Krankengymnastin in meinem Zimmer gelassen hatte, damit ich einige Übungen mit meiner unbeweglichen Hand ausführen könne. Man hatte mir keine Hoffnungen gemacht. Nie wieder würde ich diese Hand vollständig benutzen können. Man gab mir optimistisch die Chance, ich könne maximal 15% ihrer ursprünglichen Funktion wiedererlangen.

Etwas anderes als das Leid empfand ich – und es sollte zur Triebfeder meines Ehrgeizes werden. Hass loderte in mir auf, und ich ließ mich von ihm verzehren. Denn was hatte ich noch? Nichts. Doch ich wusste, was ich wiedererlangen wollte. Mein Herz war auf immer unwiederbringlich dahin – aber meine Ehre konnte ich vielleicht wiederherstellen.

Denn auch wenn man mir alles nahm – ich war immer noch eine Amazone.

Und doch weinte ich bitterlich. War es wegen meiner Trauer um eine Liebe, die ich mir immer erwünscht hatte und die mir stets verwehrt geblieben war? War es wegen meinem Selbstmitleid – dass trotz vollkommener Selbstaufgabe und Hingebung mein einziger Wunsch auf dieser Welt verwehrt worden war? Ehrliche, aufrichtige Zuneigung?

War es, weil ich Ranma immer noch liebte? Oder war es verletzter Stolz?

Es war mir gleich. Nur noch dieses eine Mal wollte ich mir erlauben, zu weinen. Denn an diesem Tage sollte Shampoo, das kleine, verliebte naive Mädchen sterben und aus ihrer Asche eine aus ihren Knochen neu geschmiedete Amazone auferstehen – mit ihrem durch gefühlinduzierter Schwäche vergifteten Blut geweiht.

Auch wenn ich ihn liebte, und diese Zurückweisung, diese Einsamkeit in meinen Träumen mich innerlich zeriss, so würde dies nun ein abruptes, grausames Ende finden. So gnadenlos wie die Einsicht, dass alle je gehegte Hoffnung nur törichte Träumerei gewesen waren und er mich wahrscheinlich nie geliebt hätte. Natürlich nagte nachts der Zweifel an mir, all die Male, nach denen ich ihn umwarb, mich an ihn schmiegte, nur um fortgestoßen zu werden. Nie jedoch wollte ich den Glauben aufgeben, dass er mich eines Tages vielleicht doch würde lieben können.

Ein Fehler. Ein Fehler, welchen ich nie wieder begehen würde.

Nachdem ich die offenen Rechnungen beglichen hätte, wäre er für mich gestorben, beschloss ich.
 

Ich erwartete keinen weiteren Besuch – und deshalb war ich umso erstaunter, als ich Ukyo einige Tage später noch einmal durch die Tür zu meinem Zimmer treten sah – obwohl es nicht mein Zimmer war. Die Zeit und Gewohnheit hatten in mir fast das Gefühl des Zuhauseseins geweckt. Zimmer 405. Doch nicht mehr lange würde es dauern, bis ich endlich die Station 9 verlassen können würde. Meine Brüche heilten gut, an meiner linken Hand ließ sich nicht mehr retten, als es mit intensiver Krankengymnastik möglich wäre und die Wunden, welche mir das meiste Leid zufügten, die konnte ohnehin keiner heilen.

Meine Überraschung ließ ich mir nicht anmerken – wahrscheinlich musste sie noch einen Botengang erledigen. Vielleicht ist Ranma ja aufgefallen, dass er die Entschuldigung vergessen hatte, mitzusenden.

Die Entschuldigung dafür, dass er mein Leben zerstört hatte – oder es zuließ, dass ich es mir zerstörte.

Die Entschuldigung dafür, dass er es zuließ, dass ich mich in ihn verliebte oder vernarrte, je nachdem, wie man es sah.

Die Entschuldigung dafür, dass er mich durch eine Hölle der Qualen wandern ließ.

Die Entschuldigung dafür, dass er glücklich sein konnte, wenn ich in meinem Inneren weinte und schrie.

Die Entschuldigung dafür, dass ich ihn zu sehr liebte, um ihn hassen zu können.

Die Tränen drohten wieder, mich zu verraten, und so konzentrierte ich mich auf Ukyo. Ich wollte doch stark sein! Ich musste stark sein!

Sie lächelte schüchtern und trug Blumen bei sich, Ysop, und... ich runzelte die Stirn. Eine Packung Kekse. Beim näheren Hinsehen stellte es sich heraus, dass es Schokoladenkekse waren.

Unweigerlich musste ich an unser letztes Aufeinandertreffen denken und fühlte mich in einer Woge des Erstaunens sprachlos.

Eine Begrüßung war hinfällig. Ukyo zog sich einen Stuhl heran, setzte sich und lächelte unsicher. Schüchtern.

Ich musterte sie und wartete darauf, dass sie sich, ihr Verhalten und ihren Besuch erklärte. Stillschweigend legte ich den kleinen Gymnastikball zur Seite, mit welchem ich seit einer geraumen Weile versuchte, ein wenig Leben in meine unbewegliche Hand zu bekommen. Ich hatte es noch nicht einmal geschafft die Fingerspitzen so zu beugen, dass sie die abgerundeten Noppen des igelartigen Gummiballes berührten.

Seltsam – aber ich empfand Neugier. Warum auch nicht? Auch wenn ich es nicht gern zugeben mochte: Wenn man tagtäglich immer nur die selben Leute sah, so freute man sich doch gewissermaßen über jede noch so geringe Abwechslung. Und sei sie auch nur da, um mir noch weiteren Schaden zuzufügen.

Vorerst jedoch beschloss ich, abzuwarten – und nach kurzer Zeit wurde ich belohnt.

„Hier... ich habe dir Kekse mitgebracht. Schokoladenkekse. Und Blumen...“ Meine Augen huschten von ihrem Gesicht kurz zu den Keksen, die vielversprechend lecker aussahen, hin zu dem kleinen Strauß Blumen. Unwillkürlich legte ich meine Stirn ein wenig in Falten, was Ukyo ein wenig zu verwundern schien.

„Ähm... Ich wusste nicht, welche Blumen du magst... Aber ich dachte mir, dass man das ja bei Krankenbesuchen normalerweise so macht. Du weißt schon... Ein bisschen Leben ins kahle Zimmer bringen.“

Meine Augen kehrten wieder zu Ukyos Gesicht zurück. Sie lächelte schwach, unsicher. Wie schon beim letzten Mal hielt sie sich tapfer – aber ihr Körper konnte mich nicht belügen. Sie sah sehr müde aus, und ihre Augen waren noch immer leicht von Tränen gerötet.

Ich verstand sie. Ich verstand sie nur zu gut.

„Sein das die Blumen, die du an das Grab deiner Liebe für ihn bringen?“ Ihr Lächeln verflog wie eine Prise Sand im Wind, und einen Moment lang sah sie mich mit einem blanken Gesichtsausdruck an, während in ihren Augen Unsicherheit, Trauer, leichte Wut, vor allem aber Enttäuschung rangen, bis schließlich Resignation ihr Augen abstumpfte. Ihre Lippen verzogen sich erneut zu einem Lächeln. Tapfer.

„Wie meinst du das? Findest du sie nicht schön?“ Still deutete ich auf die hellblauen Scheinähren und antwortete ihr dann.

„Das sein Ysop. Schöne Pflanze, aber bedeuten Gram.“ Ich zögerte. Ukyo schwieg. „Mir gefallen gut, danke!“

Daraufhin lächelte sie. Zwar immer noch gequält, aber freundlich. Ich entschied mich dafür, noch ein wenig zu warten und ihre Anwesenheit, die mich von meinen tristen Gedanken ablenkte, zu genießen. Sie würde mir noch früh genug den Grund ihres Kommens unterbreiten. Schuldete ich Ranma denn noch Geld?

„Die Krankenschwestern hier Blumenvasen haben...“ Sie nickte, lächelte und verschwand aus der Zimmertür, nur, um kurze Zeit später mit einer Vase zurückzukehren. Während sie selbstvergessen die Blumen arrangierte, besah ich mir verwundert die Kekspackung ein wenig genauer.

„Woher du wissen das sein mein Lieblingsfirmakeks?“

Sie hielt einen Moment lang fast schon erschrocken in ihren Bewegungen inne, so, als habe sie meine Anwesenheit bereits vergessen. So, als ob ihre Gedanken weit, weit weggedriftet wären.

Ich wusste zu wem. Mir war klar, zu wem ihre Gedanken gewandert waren – wie ein getretener, geprügelter Hund, der trotzdem immer wieder zu seinem Herren mit dem Stock zurückfindet. Und sie konnte mir dankbar sein, dass ich sie in die Realität zurückbrachte. In dieser schillernden Traumwelt, indem unsere Wünsche wahr werden und selbst eine verlorene Liebe noch eine Chance hat, war es gefährlich – man verlor sich viel zu leicht in ihr und fand nie wieder heraus. Im letzten Moment hatte man mich damals herausgerissen – grausam, schmerzhaft. Nie würde ich diese Momente vergessen, denn jedes Mal, wenn ich in den Spiegel sah, erinnerten mich die hässlichen Narben, die mich entstellten, an all das Leid, das mich auch jetzt noch quälte.

Ukyo errötete ein wenig und verbeugte sich leicht, entschuldigend, so, als habe ich sie dabei ertappt, wie sie sich unerlaubt einen Apfel vom Obstbaum des Nachbarn pflückte.

„Du hast mir doch von dieser Nachtschwester erzählt... Ich habe mich ein wenig nach ihr erkundet und sie gefragt, welche Sorte du am liebsten magst. Es gibt ja so viele Arten von Schokoladenkeksen. Mit knackigen Schokostückchen, mit etwas weicheren, Vollmilchschokolade, weiße Schokolade, Bitterschokolade...“ Daraufhin schwieg ich. Was gab es da zu sagen? Eigentlich kannte ich die junge Frau vor mir ja nicht – und ich wusste auch nicht, warum sie mich an diesem Tage besuchte. Es war nicht so, als ob wir Freundinnen waren. Vielmehr waren wir gefangen in ein und demselben Leid – nur dass sie noch schön war, dass sie nicht ihren Clan und all das, was ihr einmal wichtig war, verraten hatte, dass sie sich ihre Ehre gegen denjenigen wiedererkämpfen müssen würde, den sie am meisten liebte.

„Woher weißt du denn über diese Blumen Bescheid? Ich fand sie einfach nur schön...“ Ihr Gesichtsausdruck war entrückt, ihr Ton und ihr Lächeln melancholisch. Sie war einsam. Sonst würde sie nicht so nach jedem Strohhalm, nach jeder Gesprächsmöglichkeit suchen.

Sie konnte die Stille nicht ertragen.

So langsam begriff ich. Ranma hatte ihr wohl keine weiteren, taktlosen Neuigkeiten mit auf den Weg gegeben. Sie war einfach nur einsam und glaubte, ich könne sie verstehen. Glaubte, ich sei selbst einsam und würde mich nicht von ihr belästigt fühlen, wäre dankbar für ihre Gesellschaft.

Normalerweise hätte mich dieser Egoismus geärgert, wäre ich furchtbar wütend gewesen aufgrund der Tatsache, dass man mich schamlos ausnutzte, und glaubte, dass ich auf ihre Unterhaltung angewiesen sei. Wahrscheinlich hatte sie einfach niemand anderen gefunden.

Jedoch konnte ich ihr gegenüber keine wirkliche Abneigung empfinden. Ja, ich verachtete sie ein wenig – aber es war ja nicht so, als ob ich sie nicht verstehen könnte. Einsamkeit, Verzweiflung... Angst, alleine sein zu müssen und niemanden zu haben, der einen von diesen schrecklichen Gedanken und dem Verlust ablenken konnte.

„In meinem Dorf... sich einiges Schwester mit Pflanzen beschäftigen. Heilpflanzen, Giftpflanzen... alles mögliche. Mir beigebracht haben, dass Blumen eigenes Sprache sprechen. Ysop sein nicht nur Heilpflanze und zum Würzen gut. Ysop schmecken wie Gram bitter, also Ysop stehen für Gram und wie sagen? Ahja. Kummer.“

Sie lächelte, angestrengt um Freundlichkeit bemüht – in der Hoffnung selbst welche zu ernten. Warum sie ausgerechnet nun zu mir kam, um nicht einsam sein zu müssen, das kann ich nur vermuten. Wahrscheinlich glaubte sie tatsächlich, ich würde sie verstehen. Immerhin hatten wir ein und demselben Mann geliebt und standen nun vor den Scherben unserer Herzen, die er achtlos zertrümmert und zurückgelassen hatte. Vielleicht war ich die einzige, die nicht nachfragte, wenn sich ihre Augen mit Tränen zu füllen begannen, so, wie in eben jenem Moment, in welchem sie vor mir stand. Fehl am Platze, und doch so bemüht, einen Platz für sich zu finden.

Vielleicht vertraute sie mir, ihrer ehemaligen Feindin mehr, als ihren eigentlichen Freunden.

Hatte sie Freunde? Erstaunt wurde ich mir dessen bewusst, dass ich keine Antwort auf diese Frage geben konnte. Praktisch wusste ich nichts weiter über sie, als dass sie meine Konkurrentin um Liebe und Kundschaft war.

Über sie persönlich war mir kaum etwas bekannt, obwohl ich sie nun schon so lange kannte. War sie ein eher sozialer Mensch, hatte sie Freunde?

Für einen Moment lang glaubte ich, ein erneutes Aufflackern von Schmerz in ihren Augen zu sehen. Wie dem auch sei – sie war ein sehr verletzlicher und verletzter Mensch.
 

Die ganze Woche lang über hatte ich nichts von meiner einzigen Besucherin gehört, und ich glaubte, sie habe mich vergessen oder wollte mich einfach nicht mehr sehen. Der Gedanke, dass ich sie vermissen könnte, war unerträglich und inakzeptabel – und doch wäre es eine Lüge gewesen, hätte ich behauptet, keine Enttäuschung empfunden zu haben bei der Vorstellung, auch sie habe mich verlassen.

Dann allerdings, am Samstag, öffnete sich meine Zimmertür, und das Gesicht, welches mich begrüßte, war nicht das alte, mürrische Gesicht der Pflegerin, welche für gewöhnlich um diese Uhrzeit Schicht hatte, sondern Ukyos etwas müdes, dafür aber freundliches Gesicht.

Heute trug sie ihre Haare offen und begrüßte mich ehrlich erfreut, mich zu sehen.

Ich verriet meine eigene Freude durch ein strahlendes, möglicherweise etwas beängstigendes Lächeln. Irgendwo habe ich gehört, dass Japaner es als Drohung auffassen, wenn das Lächeln zu viel strahlt und man zu viel Zähne zeigt – auch wenn sie noch so gut gepflegt sind.

Meine unausgesprochene Frage, warum sie mich nicht schon vorher besucht hatte, beantwortete sie von sich aus.

„Es tut mir Leid, dass ich nicht früher kommen konnte – aber jetzt, wo deine Urgroßmutter nicht mehr ihre köstlichen Nudelsuppen verkaufen kann, läuft mein Laden geradezu über mit hungrigen Kunden.“ Stimmt – sie musste arbeiten. Ich hatte völlig vergessen, dass es da noch ein Leben außerhalb dieser kalten, weißen Wände und der kalten, blassen Gesichter gab. War das Erleichterung? Erleichterung darüber, dass wenigstens ein Mensch mich nicht vergessen hatte?

Wieder musste ich lächeln und ihr natürlich stolz berichten, wer für die Zubereitung der Suppengerichte zuständig war.

„Ich machen immer Nudelsuppe – das sein mein Spezialität!“ Ukyo lächelte und grinste mit einem Mal schelmisch.

„Soso, muss ich dich dann abwerben?“ Ich lachte leise – zum ersten mal seit langer Zeit. Dieser Laut hörte sich befremdlich für mich an, aber ich fühlte mich ein wenig befreit. Auch sie lachte – obwohl das nun wirklich keine außergewöhnlich lustige Bemerkung gewesen war.

Es war so seltsam. Wie ein Sonnenstrahl, der durch die dunklen, bedrohlichen Sturmwolken über einem schwarzen Meer bricht. Dieses Meer zeigt keine Regung; alles Leben ist unter einer dicken Eisdecke der Gleichgültigkeit erstarrt. Nur dieser schmale Streif aus Licht. Wie schön er doch war! Schmal, ungreifbar - jedoch stieß er wie ein mächtiges Schwert gewaltig durch die Massen aus lebloser, eingefrorener Einsamkeit, durch das schwarze Eis.

Irgendwo darunter trieb mein Körper, driftete weiter in die Tiefe. Unter mir, nichts als Kälte und Leere.

Und doch... wärmte dieser kleine, himmlische Ritter meine Augenlider.

Um sich nun die Zeit zu vertreiben, die Stille des leeren Herzens zu verdrängen oder sogar aus reinem Interesse, fragte sie mich mit jedem Besuch immer mehr Fragen. Über meine Schwestern, über mein Dorf, wie es denn so gewesen sein mochte, als Amazone aufzuwachsen. Je mehr ich erzählte, desto mehr Neugier schien in ihr zu erwachen, und schon bald unterhielten wir uns angeregt, diskutierten darüber, ob es denn tatsächlich pädagogisch sinnvoll sei, Kinder schon in so jungem Alter zu trainieren, wie in meinem Fall - in welchem das Training mit 4 Jahren begann.

Zu meiner eigenen Überraschung war ich sehr an ihrer Meinung interessiert. Schon lange hatte ich mich nicht mehr mit einem Menschen wahrhaftig unterhalten – vielmehr hatte ich oft nur oberflächlich Informationen, mal ein Lächeln, mal ein hohles, bedeutungsloses Lachen der Höflichkeit ausgetauscht.

Nun jedoch fand ich mich hier vor, in einem kalten, sterilen Raum, in welchem unsere Argumente hin und herflogen, sodass es mir vorkam, als dass nicht 2 Menschen debattierten, sondern 10. Allerdings war es keine irritierende, nervenaufreibende Debatte – es war ein interessanter Meinungsaustausch. Wie ich herausfand, stammte die junge Frau vor mir aus gänzlich anderen, und doch so gleichen Verhältnissen.

Zwar vollkommen anders erzogen, spielte Kampfsport auch in ihrem Falle in jungen Jahren eine große Rolle. Ihre Begeisterung dafür war mit ihrer Verehrung ihres starken, selbstsicheren Vaters, dem Mangel an einer dieser typischen, lieben, japanischen Mütter und dem Rachedurst an ihrem getürmten Verlobten, pardon, Exverlobten gewachsen.

Sie interessierte sich ebenso für meine Welt, wie ich ein Interesse für ihre Kultur entwickelte – auch wenn ich das nicht zu glauben gedacht hatte, da mir die japanische Kultur oft als verklemmt und viel zu bieder erschienen ist. Wenn man als wilde, freie Amazone aufgewachsen ist, ist es schwer, für eine solche Gesellschaft wie die japanische Verständnis aufzubringen.

Mit der Zeit jedoch glaubte ich zu begreifen, dass die Gesetze, an die ich seit meiner Geburt gebunden war, ähnlich den unausgesprochenen, dafür aber scheinbar überlebenswichtigen Gesetzen der Japaner waren. Verschieden und immer noch teils unsinnig für mich, ja – aber nicht mehr gar so sehr zuwider.

Schneller, als ich es vermutet hätte, war die Besuchszeit um, und Ukyo wurde von einem höflichen Krankenpfleger gebeten, zu gehen. Sie verschwand jedes Mal mit einem verlorenen, traurigen Lächeln. Den Abend würde sie alleine verbringen müssen. Allein gelassen in ihrer Erinnerung, in der verlorenen Hoffnung.

Mir war unbegreiflich, wie die Zeit bei jedem ihrer Besuche so schnell verfliegen konnte – und nicht ein Mal hatte ich während dieser ganzen Zeit wirklich an Ranma denken müssen. Natürlich waren da noch diese sensiblen Themen, in die sich unsere Gespräche zeitweilig entwickelt hatten – Themen, die uns beide in irgendeiner Form an ihn erinnerten. Wie hätte sich so etwas aber vermeiden lassen können? Ich denke, ich spreche auch für Ukyo, wenn ich sage, dass sich unser bisheriges Leben in großen Teilen, möglicherweise sogar hauptsächlich um ihn gedreht hatten. Wie könnte der Mond einem Kometen, der ihn streift, Geschichten aus seinem Leben erzählen, ohne ein einziges Mal die Erde zu erwähnen?

Es machte mich wütend, dass ich so abhängig von ihm gewesen war – und wenn ich ehrlich zu mir war, in diesen Momenten auch noch war. Abhängig von ihm, der mich so herzlos behandelt hatte, mein Leben zerstört und mir alles, was mir einst wichtig war, genommen hatte – von ihm, den ich hassen wollte, aber immer noch liebte.

Von ihm, von dem ich immer noch träumen wollte, bevor ich mich dem Schlaf hingab. Träumen von einer gemeinsamen Zukunft, in der er die Arme einladend öffnete und mich ganz fest umschloss, mich nie wieder loslassen wollte. In einer Zukunft, in welcher nichts anderes für ihn existierte außer mir – in einer Zukunft, in der er mit leicht geröteten Wangen zu schüchtern war, um dem fast unerträglichen Verlangen nachzugehen, mich zu küssen.

Eine Zukunft, die nie real werden würde. Diese Einsicht war schmerzlich, quälend. Ich wollte nicht ohne ihn sein. Ich wollte keine Zukunft ohne ihn, da ein Leben ohne ihn keinen Sinn für mich bereit hielt – das wusste selbst meine in ihrer Ehre gekränkte, gedemütigte und Rache dürstende Amazonenseele.

Dass ich stark war und niemanden brauchte, wollte ich mir einreden. Und obschon in demselben Augenblick, in welchem mir diese Gedanken von Stärke und Unabhängigkeit kraftlos durch den trägen, immer noch gelähmten Verstand trieben, so wusste ich, dass ich mich selbst täuschte.

Meine Augen irrten oft zu den Straßenlaternen, welche in der Dämmerung flackernd ansprangen und kaltes, weißes Licht streuten, und jedes Mal wurde mir klar, dass ich auch diese Nacht einsam und verlassen verbringen würde.

Ich wollte nicht alleine sein.
 

Noch heute denke ich oft an diese Momente zurück. Diese Momente, in denen ich im Krankenhaus lag.

Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, hätte Ukyo nicht Ranma diesen einen Gefallen, einen Gefallen der Freundschaft – dies, sagte Ukyo mir später, habe er besonders betonen wollen, so, als ob sie schwer von Begriff sei – noch getan.

Am Anfang war da nichts gewesen – nichts als Leere mit ihrer Monotonie der stillen Grausamkeit, der erbarmungsflehenden Einsamkeit. Sehr gut erinnere ich mich. Tagelang habe ich regungslos dagelegen und einfach nur den Regen aus meinem Fenster beobachtet; mir vorgestellt, hinter diesen verschwommenen Farbklecksen verberge sich eine Welt, die mir freundlicher gesinnt war. Ein stetes, immer fortwährendes Tropfen. Ich fühlte mich diesem Wasser verbunden, frisch, klar – so weit weg von all diesen menschlichen Dingen, denn oft weinte ich im Schlaf, oft wachte ich schweißgebadet auf und oft fühlte ich mich in einem Strom innerer Unruhe hin- und hergerissen zwischen dem einfachen Wunsch des Sterbens, der Aufgabe, und den Gelüsten des Hasses, und ja, auch der Liebe.

Ich konnte ihn nicht vergessen, wenn Ukyo nicht bei mir war, um meine Gedanken zu zerstreuen. Nichts wünschte ich mir sehnlicher, als ihn endlich vergessen zu können. Das Glück vergessen zu können, dass ich empfand, als ich ihn umarmte, als ich noch in meiner kleinen, schönen Traumwelt leben konnte. Nichts anderes als eine Traumwelt war es gewesen – ein von meiner Verzweiflung konstruiertes und konzipiertes Traumschloss und Gefängnis zugleich aus törichter, naiver Hoffnung. In meiner Sehnsucht nach Anerkennung, nach Zuneigung, hatte ich mir eingebildet, ich habe Chancen – habe mir eingeredet, er könne mich lieben lernen, wenn ich nur hartnäckig genug wäre.

Um seine Liebe zu gewinnen kochte ich für ihn, wollte ihn verführen und demütigte mich dabei, versuchte, ihn zu verhexen und ging schließlich sogar so weit, ihn zu erpressen.

In all diesen Momenten hatte es sich richtig angefühlt; obwohl ich mir wahrscheinlich alle Chancen, seine Liebe zu gewinnen – wenn ich denn je welche hatte – mit meinen Intrigen, mit meinen Bedrängungen zerstört hatte. Es hatte sich richtig angefühlt – aus dem einfachen Grunde, weil ich glaubte, dies sei die einzige Möglichkeit, ihn für mich zu gewinnen.

War ich denn nicht schön genug für ihn? War ich nicht stark genug? Glaubte er, ich könne keine guten Erben produzieren? Wusste er denn nicht, dass er verpflichtet war, mich zu lieben? Wusste er nicht, was ich alles ihm zuliebe aufgab und freiwillig von meinem Herzen fortriss, nur für ihn?

Heute weiß ich, dass es nicht fair war, ihm Vorwürfe dafür zu machen, dass er sich nicht für mich, sondern für sie entschieden hatte. Schönheit machte ihm wohl nicht so viel aus – auch, wenn er mich nicht als schön erachtete: er hätte schönere Mädchen als sie haben können. Heute weiß ich, dass es ihm gar nicht um Erben, um Stärke oder irgendwelche Verpflichtungen ging. Der Irrationalität der Gefühle ist jeder Mensch ausweglos unterworfen.

Seine Entscheidung zu akzeptieren, fiel mir sehr schwer – schwerer jedoch war zu glauben, dass ich mich die ganze Zeit tatsächlich getäuscht und in meinen Träumen gelebt hatte.

In ihm hatte ich mich getäuscht.

Er war nicht der strahlende, starke, mutige und edle Kämpfer, dem sich eine Amazone ohne schlechtes Gewissen ihrer Tradition gegenüber hingeben konnte. Und erst recht nicht konnte er mich lieben.

Ein normaler Mensch, und nicht mehr, das war er. Ein überheblicher kleiner, in sich zutiefst verunsicherter und ja, auch feiger, Junge.

Ich kann nicht sagen, ob ich mit ihm glücklich geworden wäre. Vielleicht. Ich weiß nur, dass ich es jetzt bin. Wahrscheinlich ist es... in einer gewissen Weise sogar richtig gewesen, dass ich vor ihm zurückgewichen bin, das Gleichgewicht in diesem dummen Moment verlor und vor den Kleinlaster stürzte. Ich hatte Glück gehabt – ich hätte tot sein können.

Und auch wenn ich es mir später zeitweise gewünscht hatte, tot zu sein, der Verantwortung für mein Handeln entfliehen zu können, so hatte ich doch Glück gehabt. Zwar war es ein langer, beschwerlicher Weg, den ich gehen musste, um wahres Glück zu finden, und doch... ich bin dankbar.

Ich bin nicht mehr so schön. Ich bin entstellt.

Und doch bin ich froh, zu leben – ich habe das entdeckt, was für mich wirklich wichtig ist.

Der Weg war beschwerlich, und oft begleiteten mich die Weggefährten Verzweiflung, Trauer und Angst.

Und doch bin ich ihn gegangen – auch manchmal gekrochen, wenn es erforderlich war.

Campanula

Dieses Kapitel sei demjenigen gewidmet, der mein Leben lebenswert macht und mich durch seinen aufmunternden Kommentar überhaupt dazu ermutigt hat, diese Geschichte fortzuführen.
 


 

Campanula
 


 

Natürlich sah ich die Blicke des Taxifahrers durch den Rückspiegel. Da er uns am Krankenhaus abgeholt hatte, hatte er eine Erklärung für meine äußere Erscheinung.

Und doch wollte ich weder, dass er mich mit dieser mitleidlosen Neugier ansah, noch dass Ukyo mich so ansah, wie sie es tat. Sie wollte nicht, dass ich seine Reaktion sah. Wütend war sie, dass er mich so schamlos musterte – er und all die anderen Menschen, die uns auf unserem Weg zum Taxistand aus dem Krankenhaus heraus begegneten und mich einfach anstarrten. Und doch sagte sie kein Wort. Das ist die berühmte Höflichkeit der Japaner, ihr Taktgefühl selbst in der größten Taktlosigkeit. Sie sind so taktvoll, andere nicht auf ihre Taktlosigkeit hinzuweisen.

Ich hatte nicht erwartet, dass sich jemand für mich einsetzte, dass jemand all diesen Leuten ins Gesicht schrie, sie sollten doch gefälligst ihrer eigenen Wege gehen und uns mit ihrem aufdringlichen Starren, ihrem verhaltenen Schweigen unbehelligt lassen.

Aber es wäre schön gewesen.

Das erste Mal seit einigen Monaten sah ich wieder die Straßen von Nerima; aufgrund der späten Stunde verlassen. Nur das bleiche Licht der Straßenlaternen okkupierte die dunkle Welt um uns herum.

Während der Fahrt wurde kaum ein Wort gesprochen. Ukyo hielt sich in ihrer Wut zurück und erteilte dem Fahrer gelegentlich knappe Richtungsanweisungen, wenn er danach verlangte, wohingegen ich versuchte, mich und mein Gesicht hinter Haarsträhnen zu verbergen, welche sich aus meinem losen Pferdeschwanz gelöst hatten und über meine Schulter gefallen waren. Jeder war in seine eigenen Gedanken versunken – der Fahrer, wie er abwechselnd auf die Straße blickte oder mich musterte und sich dabei ausmalte, was mir wohl passiert sein mochte. Mir ist aufgefallen, dass es den Menschen besonders viel Spaß macht, sich das Leid anderer Menschen vorzustellen. Schicksale und vor allem Leidensgeschichten waren für sie köstlicher als jeder gute Roman.

Ukyo, die starr aus dem Fenster blickte und es äußerst bedacht vermied, mich anzusehen.

Meine Wenigkeit, wie ich mit gesenktem Kopf einfach nur still da saß und mich wunderte, wo all meine Gedanken mit einem Male waren. Da war nichts als Leere.

Der Wagen hatte angehalten. Wie durch einen Schleier aus Bedeutungslosigkeit sah ich, wie Ukyo den Fahrer bezahlte. Er blieb sitzen, während Ukyo und ich ausstiegen und uns um mein Gepäck kümmerten. Viel konnte ich Ukyo nicht helfen – mit nur einem funktionsfähigen Arm war ich unfähig. Glücklicherweise besaß ich nicht viele Habseligkeiten.

Das bisschen, was ich besaß, ließ sich in einer mittelgroßen Sporttasche zusammenfassen.

Kaum hatten wir den Kofferraumdeckel geschlossen, so fuhr das Taxi bereits schon an und war bald darauf verschwunden. So viel zur berühmten japanischen Höflichkeit.

Er hatte uns noch nicht einmal geholfen, meine Sachen herauszutragen.

Einen Moment lang genossen Ukyo und ich die friedliche Stille, die eintrat, nachdem die Motorengeräusche verhallt waren. Irgendwo in der Ferne kläffte ein Hund, aber auch er in seiner Wut konnte diesen kurzen Augenblick des Friedens nicht stören.

Wir standen im hellen Licht der Straßenlaterne vor Ukyos Laden, und meine Begleiterin führte mich zum Hintereingang des kleinen Hauses, wo sie mir Einlass gewährte. Kurz ließ ich meine Augen noch einmal über die kleinen Gärten der Nachbarschaft schweifen und fing damit einen Augenblick harmonischer, vorstädtischer Nachtruhe ein, bevor ich dem jungen, braunhaarigen Mädchen in ihr trautes Heim folgte.

Sie war schon erstaunlich.

In einem so jungen Alter hatte sie sich schon ein eigenes Heim aufgebaut. Sie war vollkommen selbstständig und unabhängig. War an nichts und niemanden gebunden.

Das bewunderte ich. Ich musste zugeben, dass sie mir mit ihrer schöpferischen Kraft und ihrer Willensstärke, sich ein eigenes Leben aufbauen zu wollen, imponierte. Wo ich stets den mir vorgeschriebenen Schicksalspfaden entlang gewandert war, war sie aus jedem Zwang ausgebrochen. Als ich mein Training begann, um der Tradition zu folgen und meinem Dorf Ehre zu bereiten, da hatte irgendwo in Japan ein junges Mädchen entgegen der Tradition, entgegen ihrer Bestimmung fleißig das Backen dieser Okonomiyaki geübt. Wie ein Junge hatte sie gekämpft – obwohl sie sich doch eigentlich auf ein stilles und braves Hausfrauendasein vorbereiten sollte.

„Magst du etwas essen?“

Ich nickte. Mir war nicht nach Reden zumute.

Auch sie schien nicht an einem Gespräch interessiert. Wortlos arbeitete sie an unserem Nachtmahl.

Wie geschickt sie war! Aber sie sah sehr müde aus.

Mich befiel ein unsägliches Gefühl der Dankbarkeit. Sie hatte sich um mich gekümmert und um mich bemüht – die ganze Zeit, als ich alleine und trostlos in meinem Krankenbett gelegen hatte. Das war mehr, als ich von meiner ehemaligen Rivalin hätte erwarten dürfen. Die einzigen, von denen ich glaubte, sie würden sich je so um mich kümmern, hatten mich im Stich gelassen. Ob nun absichtlich, oder fehlgeleitet, in die Irre geführt. Meine Sicht verschwamm für einen kurzen Moment, und ich konnte nur das Geräusch leicht zischelnder Zutaten hören, als sich wieder einmal dieses bereits gewohnte Gefühl der Schwermütigkeit in mir breit zu machen drohte.

Angestrengt versuchte ich durch den heißen Schleier aus Tränen Ukyos Gesicht zu erkennen. Sie hatte mir in all dieser Zeit geholfen, wenn mich die Einsamkeit und Trauer zu überwältigen schien. Und ja – auch jetzt half sie mir. Durch ihre bloße Anwesenheit – dadurch, dass sie für mich da war. Dass sie all das für mich auf sich genommen hatte und aufnahm.

Nicht nur hatte sie mich stets besucht – manchmal selbst nach einem harten Arbeitstag, wenn sie Zeit fand. Nun hatte sie mir sogar angeboten... nach meiner Entlassung ein wenig bei ihr zu wohnen, bis ich eine eigene Bleibe gefunden hätte. Nachdem meine Großmutter verschwunden war, um mich irgendwo in China zu suchen, hatte auch Mu-Tsu nichts mehr in Nerima gehalten. In ihrem Wunsch, mich zu finden, hatten sie mich also alleine gelassen. Alleine – und doch hatte ich eine Freundin gefunden.

Eine treue Freundin, die sich selbst jetzt, nach meiner Entlassung, nach einem so langen und harten Arbeitstag um mich, ihre einstige Erzfeindin, kümmerte und mir ein Abendessen zubereitete.

Großen Dank empfand ich für sie. Sicherlich waren ihre Motive nicht bloße Selbstlosigkeit und Nächstenliebe – sie wollte nicht alleine sein. Eigentlich war es wohl nichts weiter als der egoistische Wunsch, nicht einsam zu sein, und vielleicht eine Prise Mitleid, die sie bewogen hatten, mich aufzunehmen.

Und doch... All das akzeptierte ich. Zwischen uns herrschten ehrliche Verhältnisse. Sie mochte mich und schenkte mir Zeit aus den selben Gründen, aus denen ich mich ihr zuwand und widmete. In unserer Verlassenheit brauchten wir einander.

Uns beiden hatte man tiefe Wunden in den Rücken geschlagen, in Höhe unserer Herzen. Nun brauchten wir beide jemanden, der uns diese Wunden versorgte.

Selbst jetzt half ihr Anblick, um mich von dieser Trauer, die mich wieder anfallen wollte, zu erlösen, für einen kurzen Moment zu befreien. Sie half mir, wieder klar zu sehen.

Was für ein schönes Gesicht! Ein Gesicht, dass zu dem Charakter dieses Menschen passte. Ein gutes, ehrliches Gesicht. Für ihre Stärke bewunderte ich sie, für ihre Freundlichkeit dankte ich ihr.

Ihr Gesicht zeigte äußerste Konzentration, als sie mit geübter Präzision und Perfektion ihre Spatula benutzte, um unser Essen zuzubereiten. Über ihrer Nasenwurzel zeichneten sich leicht kleine, senkrechte Falten ab, und eine ihrer Augenbrauen war ein wenig nach oben gezogen. Mein Blick folgte einem einsamen Schweißtropfen, der, von der Hitze der Herdplatten herausgefordert, über ihre linke Wange zu ihrem Mund perlte, und mich auf ein weiteres, kleines Detail aufmerksam machte.

Es ist interessant – jeder Mensch zeigt andere kleine Besonderheiten, gibt er sich ausschließlich einer bestimmten Regung hin.

Ukyos Eigenart war es, in Zuständen der Konzentration oder auch Nervosität leicht an ihrer Unterlippe zu nagen.

Ich musste unwillkürlich leicht lächeln.

Ein guter Mensch. Ein schöner Mensch. Der einzige Mensch, dem ich momentan trauen konnte und wollte. Ich würde ihr meinen Dank schon zeigen!

Während wir aßen, schwiegen wir. Sie wusste, dass ich ihre Gutmütigkeit und Freundlichkeit nicht für selbstverständlich nahm, sondern als ehrenvolles Geschenk betrachtete, dem ich gedachte, mich würdig zu erweisen. Nein, ich hatte nicht vor, sie auszunutzen! Ich würde ihr und aller Welt zeigen, dass ich nicht nutzlos war!

Ich hingegen wusste nur allzu gut ihr ermattetes Gesicht zu deuten. Sie war sehr, sehr müde.

Nachdem sie ihren Laden geschlossen hatte, war sie direkt zu mir gekommen, damit ich am Tag meiner Entlassung nicht zu lange alleine im Wartesaal saß und traurig all die Menschen beobachten musste, die krank waren und von liebenden Angehörigen besucht wurden.

Ukyo schien zu glauben, dass mir ein solcher Anblick etwas ausmachte. Dem war aber nicht so. Natürlich fühlte ich mich einsam. Natürlich war mir nur allzu klar bewusst, dass mich selbst meine Familie verlassen hatte.

Nachdenklich kaute ich auf einem Bissen delikatem Okonomiyaki.

Ja, ich vermisste sie. Urgroßmutter – ja selbst die dumme Ente. Urgroßmutter, die mich stets verstand, ohne dass ich auch nur ein Wort sagen brauchte – Urgroßmutter, die mir auch mit klugem Rat bei meinen Plänen und Intrigen half.

Urgroßmutter, die mich nach dem Tod meiner Mutter das Kämpfen lehrte.

Das Entchen... Wie sehr hatte er sich immer bemüht, mir zu gefallen! Dieser dumme, kleine Junge. Er konnte einfach nicht akzeptieren, dass Ranma allein mein Herz gehörte und immer gehören würde. Keine Mühe und Anstrengung hatte er gescheut, um mich davon zu überzeugen, dass er ein würdiger Ehemann für mich wäre. Und ja – sicherlich hätte er mich auch in einem Kampf besiegen und mich somit zwingen können, ihn zu heiraten. Schließlich war er beileibe kein Schwächling – seine einzige Schwäche war seine starke Sehbehinderung und... natürlich seine Gefühle für mich.

Diese ließen es nicht zu, dass er mich, die er aufrichtig liebte, zu irgendetwas zwang. Er hätte mich besiegen können – aber er wollte nicht gegen mich kämpfen. Nichts mehr wünschte er sich, als dass ich ebensolche Gefühle für ihn entwickeln könnte, wie er sie für mich hortete.

Nichts hätte ihn mehr entzückt, hätten wir eine ehrliche, liebende Beziehung entwickelt.

Bis zu einem gewissen Grad war dies verlockend gewesen... Auch wenn ich ihn immer sehr grob behandelt hatte, so hegte ich doch Gefühle für ihn. Gewiss brüderliche – aber dennoch warme und bisweilen sogar zärtliche Gefühle. Nie wollte ich so hässlich zu ihm sein und ihm wehtun – aber ich konnte ihm auch keine Hoffnungen machen.

So verzweifelt, wie er war, hätte ihn ein liebes Wort direkt dazu verleitet, zu glauben, eine engere Beziehung hätte Chancen.

Wie gut ich ihn verstehen konnte! Mir selbst ging es doch mit Ranma nicht anders. Als ich sah, dass dieses ungezogene, freche und unausstehliche rothaarige Mädchen eigentlich ein gutaussehender junger Mann war, war ich über alle Maße erfreut. Nie hätte ich gedacht, einen so stattlichen Mann kennen zu lernen.

In meiner Schwärmerei himmelte ich ihn an, hob ihn auf den Olymp und vergaß dabei, dass er auch nur ein Mensch war. Ein Mensch voller Fehler.

Ein Mensch, der mich nicht vor den grausamen Hoffnungen beschützt hatte, vor denen ich Mu-Tsu immer hatte bewahren wollen.

Da Ranma zu feige war, je ein klares Wort bezüglich unserer Beziehung oder was ich dafür hielt zu sprechen, hatte ich stets noch Hoffnungen und Träume. Immer versuchte ich mir einzureden, er sei entweder zu männlich für Gefühle, oder zu schüchtern, um sich einzugestehen, dass er mich liebt – oder einfach nur zu verängstigt im Angesichte der teils recht ungerechten Brutalität Akanes.

Mu-Tsu war eindeutig der bessere Mann von beiden. Das wusste ich jetzt. Er hatte mich immer geliebt – schon seit wir ganz klein waren. Immer wollte er mir nahe sein, und es dauerte lange, bis ich die Hintergründe für diesen Wunsch entdeckte. Treusorgend, ehrlich und lieb – was konnte sich ein Mädchen mehr wünschen?

Und doch hatte ich ihm Ranma vorgezogen. Feige, unsensibel und taktlos.

Nun konnte ich mir ruhig trostlos eingestehen, wie falsch ich damals lag. Damals, vor diesem Tag in sonnigem Glanz und mit köstlichem Erdbeereis. Doch all das ist Vergangenheit – Mu-Tsu wird nicht mehr zurückkehren, und meine Fehler werde ich nie wieder gut machen können.

Er würde mir nicht einmal mehr eine Chance geben, zu versuchen, mich in ihn zu verlieben. Denn so wie ich mich in eine Idealvorstellung von Ranma verliebt hatte, so ging es der kleinen Ente auch in meinem Fall. Was er an mir liebte, das hatte ich an in Ranma lieben wollen: Stärke, Unabhängigkeit, Mut, Freiheit, Stolz, Ehre.

Nichts dergleichen besaß ich noch, wenn ich es denn jemals besessen hatte. Sollte Mu-Tsu jemals wiederkehren, so könnte er mich nicht einmal mehr an meinem Aussehen wiedererkennen. Nicht einmal äußerlich war ich mehr die Shampoo, die er einst einmal kannte. Meine Schönheit verloren – innerlich wie äußerlich vernarbt, entstellt.

Langsam stieß ich durch die Oberfläche meiner Gedanken und schnappte nach dem Atem der Realität, indem ich mich aufmerksam in Ukyos Laden umsah und verzweifelt nach einem Thema suchte, dass uns beide davon abhielt, zu lange über diese Dinge nachzudenken. Eine Wette hätte ich abschließen können, worüber Ukyo jetzt gerade in diesem Moment nachdachte, in welchem ihre Augenlider gesenkt waren und ihre Augen stumpf schimmerten und auf ihr Essen fixiert waren, so sicher war ich mir, dass ihre Gedanken in ähnlichen Bahnen kreisten, wie meine.

Das zu wissen war nun wahrhaftig nicht schwer.

„Ich gerne hier im Laden helfen und für dich arbeiten. Darf ich?“ Einen Augenblick lang sah sie mich verwirrt an, so, als habe sie mich nicht verstanden. Dann kam sie wieder zu Sinnen und antwortete mir ein wenig zerstreut, abwesend. Ich wusste, dass es ein langer Tag für sie gewesen sein musste – umso entschlossener war ich, ihr zu helfen.

„Du brauchst mir nicht zu helfen, Shampoo. Ich bin glücklich, wenn du wieder gesund wirst.“

„Ich dir helfen und damit Pasta, oder wie Japaner sagen. Du seien überlastet. Shampoo können helfen! Ich natürlich nicht weiß, wie man Okonomiyaki machen, aber Rezept von Nudelsuppe noch in mein Kopf ist!“ Ein müdes Lächeln, warme Augen. Ich fasse das als Ja auf und erhebe keine Einwände, als sie mir den Vorschlag unterbreitet, nun zu Bett zu gehen. Immerhin sei der morgige Tag ein Werktag, und sie müsse dann gut ausgeruht sein.

Freundlicherweise trägt sie mir meine Tasche hoch, in den ersten Stock, wo sich ihr Schlafzimmer, ein Bad und eine kleine Abstellkammer befinden. Sie zeigt mir alles, macht sich schnell im Bad nachtfertig und legt sich dann bereits schlafen. Somit lässt sie mir Zeit, mich in aller Ruhe im Bad für die Nacht vorzubereiten und um ein wenig allein zu sein. Ich hatte einiges zu verarbeiten.

Nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, sank ich mit dem Rücken an eben jene Tür gelehnt zu Boden. Im Vergleich zu den Tagen und Wochen, ja, sogar bereits Monaten im Krankenhaus, die durch ihre Monotonie zu einem endlos langen, uniformen Tag verschmolzen waren, erschien mir dieser Tag besonders ereignisreich. Meine Entlassung war auf den Tag verlegt worden, an welchem ich ohne größere Schwierigkeiten ohne Krücken gehen konnte. Da mein Beinbruch relativ kompliziert war, dauerte die Heilung und das erneute Erlernen des Gehens nach wochenlanger, strikter Bettruhe für einen so ungeduldigen Menschen wie mich besonders lange. Wenn es tatsächlich eines gibt, dass mir diese Zeit im Krankenhaus mit auf meinen Weg gegeben hat, dann war es Geduld.

Schon lange war es her, dass ich andere Farben als das Weiß der Wände und Kittel gesehen hatte. Im Vergleich zu dieser farblichen Eintönigkeit war Ukyos Zuhause fast schon eine Sinnesüberlastung.

Bezüglich ihrer Einrichtung hatte sie Geschmack bewiesen – auch die Farbkombinationen gefielen mir, sowie die Beleuchtung. Einfach, nicht zu teuer, aber dadurch umso ruhiger, wärmer und bodenständiger. Ich mochte es, wie Ukyos Einrichtung ihre Persönlichkeit mit ihrer Ruhe, Wärme und Bodenständigkeit widerspiegelte. Mir war aufgefallen, dass vor allem diese Charakterzüge Ukyo ausmachten. Sie war jemand, mit dem man sich leicht anfreunden und gut zurechtkommen konnte – großzügig, liebenswürdig und freundlich.

Früher hatte ich mir keine Mühe gegeben, all diese Dinge in ihr zu sehen – warum sollte man sich mit einer Rivalin erst anfreunden, wenn eine von beiden später ohnehin den Kürzeren ziehen muss und das die Freundschaft letzten Endes doch zerstören würde?

Dass nicht Ukyo, sondern Akane meine größte Gefahr sein sollte, hätte ich früher nie für möglich gehalten. Ukyo war stärker und sah besser aus als Akane. Außerdem behandelte sie Ranma auch nicht so brutal. Natürlich hatte Akane auch ihre Vorteile – ihr Vater würde Ranma bei seiner Heirat mit ihr sein Dojo vererben. Ein Heim - was doch sehr reizvoll für jemanden sein musste, der seit seinem 6. Lebensjahr schon kein rechtes Zuhause mehr gehabt hatte.

Und nun mussten Ukyo und ich uns eingestehen, dass wir ihm nicht das bieten konnten, was er sich von einer Frau erwartete. Vielleicht waren wir nicht schön genug. Nicht vermögend genug. Nicht...

Wir waren einfach nicht genug, wir genügten seinen Ansprüchen nicht. Also entschied er sich für die, die ihm wohl am meisten bot. So einfach war das. Man entscheidet sich ja auch auf dem Hühnermarkt nicht für das krank aussehende Tier, dem man bereits auf den ersten Blick ansieht, dass es nicht viele Eier legen wird und auch zum Schlachten zu mager ist.

Aufmerksam musterte ich die Kacheln. Von den Lampen über dem Spiegel mit ihrem gelben Licht beworfen spiegelten sie matt meine Gestalt auf ihrer cremeweißen Oberfläche.

Meine Gestalt... Ich war neugierig, ob ich es ertragen würde, mich wieder im Spiegel zu erblicken. Bislang hatte ich es immer gemieden, mein Antlitz und meinen Körper zu betrachten.

So stand ich nun auf und wendete mich langsam meinem Spiegelbild zu. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte. Hatte ich allen Ernstes geglaubt, dass die Narben verschwinden, wenn man nur nicht hinsieht? Aber nein. Da waren sie, in all ihrer Glorie, und zogen sich quer durch mein Gesicht. Besonders die rechte Hemisphäre war betroffen.

Wütend zogen sich die hässlichen, dunklen Risse über mein rechtes Auge, über meine Wangen, über die Schläfe bis hin zu meinem Ohr. Es war, wie wenn ein Kind erzürnt mit einem Wachsmalstift über ein Blatt Papier Striche zieht – von variierender Länge, sich ohne Muster kreuzend. Mein rechtes Auge... Kein Wunder, dass man um mein Augenlicht bangte. Die Haut war dort so zerrissen, dass sie beim Heilen und Zusammenwachsen meine Augenform veränderte, sodass es aussah, als hätte ich jenes Auge stets zu einem wütenden Schlitz zusammengezogen. Auch zog sich dort eine Narbe vertikal von meiner Stirn über die Augenbrauenregion bis über meine rechte Wange, wo sie auf Höhe der Nasenspitze endete.

Achja... Das kam, als mein Gesicht in die Frontscheibe geschmettert wurde. Da ich mich noch gerade halb über die Motorhaube abrollen konnte, hatte es nur die rechte Gesichtshälfte erwischt. Trotzdem sah mein Gesicht nun schrecklich aus. Widerwärtig. Unansehnlich.

Ja... Jetzt würde mich nicht einmal mehr Mu-Tsu wollen. Selbst der geduldige, liebevolle, verständnisvolle Mu-Tsu, der die Wunden vielleicht nicht auf Anhieb sehen würde, würde sie mit seinen sensiblen Fingerspitzen auf jeden Fall spüren, wenn er zärtlich mein Gesicht streicheln oder liebkosen würde.

Nun würde mich niemand mehr lieben können. Mein einziger Vorteil gegenüber anderen Mädchen war stets meine Schönheit gewesen. Charakterlich hatte ich nicht sonderlich viel zu bieten – das wusste ich.

Ein Zittern hatte meinen Körper erfasst. Mein Gesicht war nur der Anfang. Fahrig versuchte ich mir, die Kleider vom Leib zu streifen, um den restlichen Schaden zu begutachten – was mir allerdings nicht so recht wegen meiner bewegungsunfähigen Hand gelingen wollte.

Ich war ein Krüppel! Ein Krüppel! Endlich riss ich mir fast meine Kleidung vom Leib. Mein Körper bebte, als ich all die Dinge wahrnahm, die mich auf ewig als zurückgewiesen, als unwürdig und ausgestoßen markieren würden. Wer könnte eine Frau mit einem solchen Körper noch lieben?

Selbst meine Urgroßmutter würde kein Verständnis mehr für mich aufbringen. Sie glaubte ja immer noch, Akane, ausgerechnet Akane hätte mich besiegt. Ich fragte mich, wo sie und das Entchen wohl gerade waren.

War Mu-Tsu nicht nach Urgroßmutter aufgebrochen? Was, wenn er sich nicht zurecht fand? Er konnte doch nur so schlecht sehen... und war doch vollkommen hilflos! Urgroßmutter... Stammesschwestern... Es tut mir Leid. Ich habe versagt.

Lange, hässliche Risse, überall auf meiner Haut; meine verkrüppelte Hand, mein verstümmeltes Gesicht... Wieso nur? Wieso? Warum haben mich diese dummen, japanischen Ärzte nicht einfach sterben lassen? Immerhin war ich weder versichert, noch hätte ich die langen Behandlungen je aus eigener Tasche finanzieren können.

Aber ich wusste bereits die Antwort. Es war ihre Pflicht.

Mittlerweile wusste ich ja, dass Japaner ihre Pflicht sehr ernst nehmen. Diesen Ärzten war ihre Pflicht, ein Leben zu retten, wichtiger als die Tatsache, dass ich sie nie entlohnen könnte, oder dass ich eine Ausländerin war. Jaja, die pflichtbewussten Japaner. Nur Ranma, der war nicht pflichtbewusst.

Es war seine Pflicht gewesen, und ist es theoretisch immer noch, mich zu heiraten. Allerdings waren das ja nur Gesetze der Amazonen – und ein Japaner fühlte sich nur an seine eigenen Gesetze und die seiner Väter gebunden.

Das jedoch realisierte ich leider etwas zu spät. Ungefähr ab dem Zeitpunkt, ab dem meine Schmerzmittel abgesetzt wurden und ich wieder einigermaßen klar denken konnte.

Gedankenverloren strich ich über die Hautunebenheiten, dort, wo Narben die einst makellose Haut entweihten. Meine kühlen Fingerspitzen fuhren über die erhitzte Haut meines Oberkörpers, bis hin zu meinem Bauch, folgten einer langen Narbe, welche in leichter Diagonale von meiner linken Schulter zu meinem linken Hüftknochen führte und im Schamhaar verschwand. Glitten meine Fingerspitzen von der leichten Erhöhung der Narbe ab, so konnte ich ihre Kühle spüren – berührten sie jedoch das tote Narbengewebe, so fühlte ich nichts. Ich musste ein ordentliches Blutbad abgegeben haben. Immerhin war ja mein halber Körper aufgeschlitzt. Tief genug, um Spuren zu hinterlassen, aber noch nicht tief genug, um mich zu töten, um der ganzen Misere ein Ende zu setzen. Natürlich – ich sollte dankbar sein, dass diese Ärzte sich so für mich eingesetzt und mir das Leben gerettet haben. Allerdings fiel mir das in eben jenem Moment besonders schwer.

Langsam entledigte ich mich meiner restlichen Wäsche und legte sie ordentlich zusammen. Das war alles alte Kleidung, welche die nette Nachtschwester, die mir ab und an Kekse brachte mir freundlicherweise gab, da meine Familie mir keine Kleidung zum Wechseln gebracht hatte.

Ich wusste noch nicht mal den Namen der liebenswürdigen Pflegerin.
 

Ich fühlte die Kälte unter meinen nackten Fußsohlen, als ich leise zu der Dusche in dem kleinen Badezimmer hinüber ging. Dieses Bad war nicht typisch japanisch mit der typischen, ausladenden Badewanne. Dafür wäre überhaupt kein Platz gewesen!

Bescheiden, ohne negative Konnotation. Überaus beachtlich, dass ein junges Mädchen wie Ukyo sich eine solche Existenz überhaupt hat aufbauen können! Da brauchte es kein Furo – eine einfache Dusche genügte und sparte nicht nur Platz sondern auch Geld.

Die Duschzelle war klein, aber sauber und gut gepflegt. Die metallenen Hähne warfen Lichtreflexionen ungefiltert und blitzend rein zurück. Für einen Moment war ich fasziniert von ihrem Glanz, bis ich sie bediente und angenehm warmes Wasser über meinen Körper zu fließen begann. Was für eine Wohltat! Nach Wochen endlich ohne die Aufsicht der Pflegerinnen duschen zu können!

Tief atmete ich durch, schloss meine Augen und genoss das Gefühl der fließenden Wärme, wie sie über meinen Rücken strich und meine verspannte Muskulatur ein wenig löste. Entspann dich, Shampoo. Lasse alle Anspannung, allen Stress mit dem Wasser hinfort fließen, lasse es dich und deinen Geist reinigen.

Darüber im Klaren, dass ich gerade Ukyos Wasserrechnung belastete, wollte ich schnell fortfahren und beginnen, mich einzuseifen, als ich innehielt. Das war nicht mein, sondern Ukyos Seife. Es war schon großzügig genug, dass sie mich hier überhaupt residieren ließ.

Ich würde mir meine Seife verdienen! Heute noch würde ich mich nur mit reinem Wasser waschen, am nächsten Tage jedoch würde ich mir meine Pflegemittel verdienen!

Bevor ich jedoch das Wasser abstellte, zögerte ich wieder.

Lange war es her, dass ich als Katze umhergestreift war. Im Krankenhaus hatte niemand etwas von meinem Fluch bemerkt, da sie mich immer mit warmen Wasser wuschen und ich mich später, als ich wieder einigermaßen stehen und mich selber duschen konnte, auch nur des warmen Wassers bediente. Neugierig war ich, wie es sich wohl anfühlte, nach all diesen Wochen und Monaten wieder auf vier Pfoten umherzutapsen und dieses weiche Fell zu haben.

Kurzerhand drehte ich den Hahn ab, stieg aus der Dusche und sah mich nach Handtüchern um.

Ich spürte bereits die Verdunstungskühle auf meiner Haut, die sich, von einem Zittern meiner Muskeln verfolgt über meinen ganzen Körper schlich, als ich in einem kleinen Schränkchen einige Handtücher fand. Eilig trocknete ich mich ab und ging hinüber zu dem Waschbecken.

Der Spiegel war beschlagen, so hob ich eine Hand um den Dunst wegzuwischen, vollendete meine Handlung jedoch nicht. Bedacht wischte ich auf dem Spiegelglas eine kleine Fläche frei, sodass ich nur die Hälfte meines Gesichtes klar sehen, die nicht schrie ich sei eine, eine Missgeburt. Das Mädchen, was mir dort von Dunst beschleiert entgegensah, das war ich jedoch auch nicht. So sah ich vielleicht einmal aus... Aber selbst mein gesundes Auge verriet mich als eine Fremde.

Wer war ich nun?

War ich dieses Mädchen, dem lange, nasse Strähnen dunklen Haares ins Gesicht hingen, dessen Haut noch immer feucht schimmerte und dem erhitztes Blut in die Wangen gestiegen war? War ich diese Unbekannte?

Ärgerlich wandte ich meine Augen ab und hing das Handtuch zum Trocknen auf, bevor ich resolut den Abfluss des Waschbeckens mit dem dazugehörigen Stopfen verschloss und ein wenig kaltes Wasser in das Becken laufen ließ. Ein bisschen würde bereits genügen.

Warum war ich bloß so gefühlsduselig? Wen kümmerte es, wer ich war? Wen kümmerte es, dass ich lebte?

Die Ärzte hatten ein sauberes Gewissen und Ukyo würde nicht mehr alleine sein. Meine Dankbarkeit für ihre Hilfe würde sich in meiner guten Arbeit ausdrücken.

Das war alles, was zählte.

Entschlossen tauchte ich meine Hand in das kalte Wasser und spürte endlich wieder das vertraute Gefühl meiner Verwandlung. Mein Körper schrumpfte, meine Haare wurden kürzer und von ihrem Ansatz breitete sich Fell rasant schnell über meinen Körper aus, sodass ich bereits beim nächsten Augenaufschlag eine Katze war.

Endlich empfand ich wieder diese Explosion meiner Sinne – auch wenn meine Sicht nun schlechter war, so waren meine Ohren und meine Nase umso besser. Ich liebte dieses Gefühl – ich fühlte mich so lebendig in diesem Moment!

Im Gegensatz zu meinen ebenfalls verfluchten Kollegen hatte ich irgendwie Gefallen an meiner Fluchform gefunden. Der einzige Nachteil, der stets bestanden hatte, war, dass Ranma mich so nur noch weniger in seine Nähe lassen wollte, als er es mir als Mensch erlaubte.

Könnten Katzen schnauben oder bitter lachen, so hätte ich es in diesem Augenblick getan. Er würde mich nun wahrscheinlich eher als Katze als denn als Mensch in seine Nähe lassen.

Nun zu meinen Kleidern – ich musste sie zusammenlegen, damit ich sie besser transportieren konnte. Die ersten Schritte zu dem Ort, an dem ich sie als Mensch platziert hatte, waren allerdings ungewohnt schwer. Im ersten Moment wunderte ich mich noch, im zweiten bereits resignierte ich. Hatte ich allen Ernstes geglaubt, als Katze hätte ich nicht die gleichen Verletzungen wie denn als Mensch? Folglich konnte ich meine linke Pfote kaum belasten, ohne dass sie selbst unter meinem minimalen Gewicht wegknickte. Sie fühlte sich ebenso tot an, wie meine menschliche Hand.

Mühevoll humpelte ich zu meinen Kleidern und scharrte sie zusammen, versuchte sie so zu bündeln, dass ich sie ordentlich aus dem Zimmer in meinem Maul tragen könnte. Davor hatte ich jedoch noch ein anderes Hindernis zu überwinden: Die Tür.

Für eine relativ kluge und akrobatische Katze sind Türen keine ernstzunehmende Hürde. Da ich als Mensch bereits die Funktion einer Türklinke kannte, war das Know-how kein Problem – jedoch hatten mich die wochenlange Bettruhe physisch trotz Krankengymnastik und anstrengendem Muskelwiederaufbau geschwächt zurückgelassen, und ich fürchtete, mit meiner kranken Pfote stärker als bislang angenommen gehandicapt zu sein.

Sollte das mich aber aufhalten? Nein! Mit aller Kraft stieß ich mich ab und angelte erfolgreich nach der Türklinke. Geschafft! Der Rest war ein Kinder-, respektive Katzenspiel. Einfach den geöffneten Türspalt weiter aufdrücken und die Kleidung hinter mir herzerren. Der letzte Akt war das Badezimmerlicht; diese Herausforderung befand ich aber nach meinem Erfolg beim Öffnen der Tür als verschwindend gering, und so löschte ich beinahe zufriedenen Herzens alle Lichter.

Wieder einmal konnte ich die Vorzüge in der Physiognomie einer Katze genießen und bewundern – ich konnte mich auch ohne Licht hervorragend orientieren. Zwar sah ich keine Farben mehr, dafür aber gestochen scharfe Hell-Dunkel-Kontraste. Deutlich konnte ich Ukyos Duft riechen und ihren langsamen Atem hören, der mir verriet, dass sie bereits erschöpft eingeschlafen war.

Das gedämpfte Mondlicht fiel sanft durch das geschlossene Fenster, und ich konnte voller Erstaunen den ersten Schnee des angebrochenen Jahres träge und in dicken Flocken am Glas vorbeitreiben sehen. Eine unglaubliche Ruhe befiel mich und wärmte mich von innen. Erst in diesem Moment bemerkte ich, wie sehr mich meine Entlassung und die kurze Reise vom Krankenhaus bis hin zu Ukyos kleiner Wohnstätte tatsächlich physisch sowie psychisch beansprucht hatte. Es war mein erster Ausflug in die Außenwelt mit all ihren starrenden, glotzenden, mitleidlosen Gesichtern gewesen – ungefiltert, ohne die Gewohnheit an solche Anblicke wie den meinen des Pflegepersonals, sah ich die Reaktion der Menschen, und hatte mich mehr denn je als Krüppel, als eine Art Monster gefühlt. Mittlerweile saß ich auf dem Fenstersims und spähte hinaus in die Landschaft, die wie ein Kuchen mit strahlend weißem, feinem Puderzucker bestäubt wurde. Ich stellte mir vor, da oben, hinter den Wolken, die sich hin und wieder vor den runden, wunderschönen Mond schoben, säße tatsächlich jemand, der Zucker über uns alle streut.

Was für ein schöner Gedanke! Man müsste einfach nur hinaus laufen und die Zunge herausstrecken! Schon könnte man dieses süße, kühle Puder schmecken. Meine Fantasie zeigte mir zwei kleine Kinder, die lachend und kichernd durch diese Berge aus Puderzucker in dicken Daunenjäckchen tollten, und ich hörte das Lachen desjenigen, der Zucker über sie streute. Dieses Lachen ähnelte dem meiner Urgroßmutter. Wie sehr ich sie vermisste!

Und ja... jetzt, wo mein träumendes Auge genauer hinblickte, konnte ich auch die Kinder genauer sehen. Beide trugen einen Schopf langer Haare, jedoch variierten die Farben. Ein Mädchen mit einer Haarfärbung, die ihre Haare eher blau als schwarz wirken ließen und... ein kleiner, etwas rundlicher Junge mit schwarzen Haaren und dicken Brillengläsern, die ihm ständig drohten, von der Stupsnase zu rutschen.

Da war wieder dieses Brennen in meiner Kehle, und das Gefühl, als wäre sie zugeschnürt. Ich kannte diese Symptome. Aber noch wollte ich mir keine Ruhe gönnen. Zwar quälte mich diese Vorstellung, aber sie war doch alles, was ich noch von Mu-Tsu und Urgroßmutter hatte.

Eine schöne Kindheitserinnerung... Damals war alles noch in Ordnung. Damals gab es so etwas wie Pubertät, Schwärmerei oder Liebeskummer noch nicht. Damals waren wir nichts weiter als kleine, dumme Kinder, die miteinander im Schnee herumtollen konnten. Urgroßmutter hatte uns immer zugesehen und uns heißen Tee gemacht, damit wir uns nach dem Spielen im Schnee in ihrer warmen Stube auch von Innen her wärmen könnten, wie sie immer sagte.

Ich wollte nicht mehr an all das denken. Die Erinnerungen quälten mich mit ihrer Schönheit. Wo war all der Glanz geblieben? Der Glanz des funkelnden Lachens? Der feine Duft des Zuckerschnees?

Mein Katzenselbst blinzelte, und schon waren die Kinder wieder eine Schneeverwehung und das Lachen zwischen den Sternen verklungen. Wenn es jemanden gab, der die Menschen mit Zucker berieselte, dann musste es jemand mit dem rauen Lachen meiner Urgroßmutter sein.

Urgroßmutter... Mu-Tsu... Wo seid ihr nur? Ich weiß nicht, ob ich es ertragen kann, das Neko-Hanten wieder zu sehen, mit seinen nun düsteren, starrenden Fenstern, aus denen die Leere gierig nach Leben hungert. Mir war von Anfang an klar, dass der Hitzkopf Mu-Tsu nicht lange warten würde.

Und doch... hatte ich gehofft. Und wurde wieder enttäuscht. Eigentlich sollte ich solche Enttäuschungen gewöhnt sein. Eigentlich sollten sie mich weder überraschen noch weiter kümmern.

Aber es tat weh. In mir war da diese leise Hoffnung, dass er auf mich warten würde. Ein letzter Rest Zuhause...

Selbstverständlich war ich daran selber schuld. Ich war es, die Ukyo darum gebeten hatte, ihm nicht von meinem Krankenhausaufenthalt zu berichten. Wie hätte ich erwarten können, dass ausgerechnet Mu-Tsu, der sich stets solche Sorgen um mich gemacht hatte, den ganzen Tag alleine, seinen Ängsten um mich hilflos ausgeliefert, im stillen und leeren Geschäft ausharren würde?

Einerseits hatte mich meine Scham zu dieser Bitte getrieben. In meiner Verzweiflung hatte ich nicht gewusst, wie ich meiner Familie je wieder so verkrüppelt, wertlos und entehrt unter die Augen treten könnte.

Andererseits... hatte ich irgendwie begonnen zu hoffen, dass zumindest Mu-Tsu mich besuchen käme. Ich dachte, dass wenn er mich wirklich liebte, er nicht glauben würde, dass ausgerechnet Akane mich im Kampf hätte besiegen können. Akane, mich besiegen! Lachhaft!

Wenn er wirklich der Held gewesen wäre, der er immer für mich sein wollte, dann hätte er Ranmas Lügengewirr durchschaut – er hätte ihn so lange verprügelt, bis er die Wahrheit erfahren hätte.

Wäre er wirklich mein Märchenprinz gewesen, hätte er mich dann besucht und mich gerächt. Mit all seiner Wut und Kraft hätte er Ranma besiegt und ich wäre endlich frei von meiner Verpflichtung Ranma gegenüber – wenn auch nicht von meiner Liebe für ihn.

Hatte er, Mu-Tsu, sich das nicht immer gewünscht? Eine Chance, mir zu beweisen, dass er in allem besser war als Ranma? Charakterlich, körperlich?

Das wäre seine Gelegenheit gewesen, endlich einmal mein Held zu sein. Vielleicht hätte ich dann ja irgendwann nach ein paar Jahren der Ehe Gefühle der Liebe auch für ihn entwickeln können?

Doch er hatte diese Möglichkeit nicht genutzt. Er hatte Ranma all diesen Unsinn abgekauft. Mu-Tsu, der mich angeblich liebte... hatte wirklich geglaubt, ich sei ein solch schmachvoller Schwächling.

Das tat weh. Das tat sogar sehr weh. So sehr, dass ich für einen kurzen Moment mit den Tränen kämpfen musste. Wie konnte er nur...

Urgroßmutter hatte Ranma natürlich geglaubt. Warum sollte sie auch nicht? Wahrscheinlich war sie nicht so blind wie ich gewesen und hatte die zarten Annäherungen von Ranma und Akane bereits bemerkt. Natürlich. Sie hatte eine unglaubliche Beobachtungsgabe.

Außerdem... warum hätte sie annehmen müssen, ich sei noch in Nerima? Sicherlich nahm sie nicht an, dass Akane mich besiegt hätte – jedoch... Wie hätte sie glauben können, ich sei noch in diesem gottverdammten Nest von Vorort, wenn sie meine geistige Anwesenheit nicht mehr spüren konnte?

Denn zu dem Zeitpunkt, an dem Ranma ihr die Nachricht von meiner angeblichen Niederlage überbracht haben musste, hatte man mich ausreichend mit Schmerzmitteln sediert, sodass ich geistig nicht mehr anwesend war.

So ging sie mit Sicherheit davon aus, ich sei tatsächlich aus irgendwelchen Gründen diesem elenden Land entflohen.

Urgroßmutter, Mu-Tsu... ich fühle mich so alleine. Warum kann ich ihn nicht vergessen? Warum nicht?

Nie hatte mir ein Mensch so weh getan. Nie hatte ich einen Menschen mehr geliebt.

Was konnte man an ihm nicht lieben? Wie geschmeidig seine Bewegungen im Kampf waren, wie elegant und kraftvoll, schnell und unbesiegbar. Noch nie zuvor hatte ich einen solchen Kämpfer gesehen. Mu-Tsu war der einzige Mann, der je in meinem Dorf hatte leben dürfen. Unsere Stammesälteste hatte ihn als Baby verlassen aufgefunden, und so sah sie es als Zeichen unserer großen Göttin Iljuna-Iljan dafür, dass sich unser Stamm um ihn kümmern sollte.

Ihn, Mu-Tsu kannte ich – aber Ranma und sein Kampfstil waren mir fremd. So neu und so überwältigend.

Diese Stärke, dieser ungebrochene Kampfeswille und Stolz imponierten mir. Ich fühlte mich von ihm angezogen – er war der Mann, bisher der einzige, der mich je besiegt hatte.

Von diesem Augenblick an, in welchem ich realisierte, dass Ranma nicht ein Mädchen, sondern ein Mann war, wusste ich, dass nie ein anderer mehr mein Herz erobern könnte. Vielleicht könnte ein anderer mich besiegen – und vielleicht könnte ich ihn auch schätzen lernen.

Doch diese Momente, in denen er wie ein Falke herabstieß und mich mit einem so präzisen, wohlbemessenen Schlag außer Gefecht setzte, besiegelten mein Schicksal und versiegelten zugleich mein Herz. Er hatte nur so viel Kraft aufgewendet, wie nötig war, um sich zu verteidigen und mich auszuschalten. Das war wahre Kontrolle, wahre Körperbeherrschung.

Der perfekte Mann – ein Mann, der sich nie besiegen lassen wollte, und der bis zum Umfallen trainierte, um seine Ziele zu erreichen. Nur von einem solchen Mann konnte sich eine Amazone besiegen lassen, nur einem solchen Mann konnte eine Amazone sich unterwerfen, ihre Weiblichkeit zeigen und den heiligen Pakt der Heirat eingehen.

Verlegen und beschämt bei dem Gedanken schloss ich meine Augen und drückte meine Nase gegen das kalte Glas. Eine Katze kann nicht erröten, jedoch fühlt es sich ebenso an, als würde einem die Hitze in den Kopf steigen.

Den heiligen Pakt der Heirat... Ich erinnerte mich noch gut an das letzte Mal, als ich bei einer Stammesheirat zugegen war, dem Bündnis zweier Kämpfer.

Dieser spezielle Amazonenritus kann nur während dem Monat der Mondblüte vollzogen werden – meist der einzige Monat im Leben einer Amazone, in der sie eine selbst für Japaner halbwegs weibliche Rolle übernimmt.

Ich spürte die Kälte des Fensters auf meiner Nase, und selbst mein Atem, der teilweise das Glas beschlug, jedoch auch teilweise auf mein Katzengesicht reflektiert wurde, fühlte sich kühl gegen mein Fell an. Oh, du süße Vergangenheit, ich erinnerte mich...

Dort, wo ich geboren bin, wo meine Heimat liegt, entspringen viele Quellen, nicht nur die berühmten Quellen von Jusenkyo. Einige sind auf Karten der Unwürdigen, der Nichtamazonen, verzeichnet. Diese Quelle jedoch, an welcher wir uns am ersten Vollmondtag des Monats der Mondblüte versammeln, ist nirgendwo außer in unseren Herzen verborgen.

Ein Monat in unserer Zeitrechnung wird anders berechnet als in Japan. Er beginnt in einer Vollmondnacht und endet erst in der darauffolgenden Vollmondnacht.

Der Bräutigam muss sich zuvor erst der letzten Prüfung aussetzen. Ohne sein Wissen wird er leicht vergiftet – falls er die Fieberschübe und das Gift ohne Hilfe von außen überlebt, so hat ihn die Göttin auserwählt, eine ihrer Priesterinnen für einen Mondzyklus lang zu besitzen.

Noch während er bewusstlos ist, wird er dorthin gebracht, wo sich der Quell eiskalten Wassers in eine enge, abgeschottete Schlucht und sich dann in einen Teich ergießt, der Unterirdisch abfließt.

Diese kreisförmige Vertiefung im Fels nennen wir die Grotte der Reinigung. Dort wird die Zeremonie abgehalten – inmitten unglaublicher Pflanzenvielfalt und Blumenpracht. Nie habe ich schönere Pflanzen gesehen, als dort – sie schienen, wie der ganze Ort, magisch zu sein.

Die Stammesälteste leitet das Ritual, während wir Stammesangehörigen auf verschieden hohen Felsplateaus warten und beobachten.

Das Brautpaar steht im eiskalten Wasser der Reinigung und die Braut ist über und über mit Blumen geschmückt. Lange dauert die Vermählung nicht, ist sie denn nichts weiter als ein Schwur.

Dann ziehen wir Amazonen uns zurück in unser Dorf, bis auf das Brautpaar. Einen vollen Mondzyklus lang muss sich die Braut dem Willen ihres Gemahls beugen – einen Monat lang hat ihr Gemahl Zeit, ein Kind zu zeugen. Hat der Mond wieder seine volle Größe erreicht, so trennen sich meist wieder die Wege des Brautpaares, bis zur Geburt. Ist das Kind männlichen Geschlechts, so gehören Amazone und Säugling dem Mann, und er darf sie fort führen in seine Heimat.

Ist das Kind jedoch weiblichen Geschlechts, so hat unsere Mutter, Iljuna-Iljan, sich eine neue Dienerin gesucht, und es steht der Mutter zu, ihren Gemahl zu töten und zum Stamm mit ihrem Kind zurückzukehren, oder ihr Kind einer Amazone zu übergeben und mit ihrem Ehemann fortzugehen. Sollte sie dann jedoch zurückkehren, so besagt unser Gesetz, muss sie ihrer Göttin geopfert werden, um in ihrem Tode ihre Gnade und Vergebung zu empfangen.

Meine Augen öffneten sich und sahen in ihre eigene Reflexion.

Ranma... Für ihn hätte ich sogar meinen Stamm, meine Heimat, meine Familie und meine Welt verraten, nur, um Seite an Seite mit ihm kämpfen und stärker werden zu können. Mir ist klar, dass er nie mein Opfer als ein solches anerkannt hätte.

Jedoch... Wie gerne wäre ich an der Stelle dieser Braut gewesen. Wie gerne hätte ich, im silbernen Mondlicht gebadet, ihm gegenüber gestanden und tief in seine Augen geblickt. Wie gerne hätte ich in ihnen die Liebe und Zärtlichkeit gespiegelt gesehen, welche ich für ihn empfand.

Wie oft hatte ich mir nachts, einsam, in meinem Bett vorgestellt, ich könne die duftenden Blumen auf meiner Haut spüren. Ihre kühlen Blätter, ihre zarten, seidigen Blüten. Mein Haar würde schwer sein vor Blumenschmuck und ich würde vor Erwartung bebend seine Hand halten. Wie wundervoll der Teich funkeln und glitzern würde, wie viele glänzende Sterne am Himmel nur für uns leuchten würden.

Wie stolz meine Schwestern auf mich sein würden und auf die starke, unbesiegbare Tochter, die wir meinem Stamm schenken würden.

Ja, ich hatte mir alles bis ins kleinste Detail ausgemalt. Sein liebevolles Lächeln, die Schönheit, die uns umfangen würde und vor allem die Gewissheit, dass er mich liebte, dass er mich wollte.

Ein Traum, der wie eine Seifenblase an einer gnadenlosen Nadel zerplatzt ist.

Ich meinte fast, in eben jenem Moment Seife auf meiner Zunge zu schmecken, doch war das natürlich Unsinn. Ranma hatte nie solche Gefühle wie Liebe oder gar Freundschaft für mich empfunden. Für ihn war ich nichts weiter als eine Nervensäge, eine Landplage, eine Belästigung.

Das hatte er mir an jenem Tag im Sommer klar gemacht. Und natürlich, dass ich seinem Glück mit Akane nicht weiter im Weg stehen sondern sie in Frieden lassen, sie nicht noch einmal behelligen solle. Warum nur? War ich denn ein so schlechter Mensch, dass ich so ein furchtbares Leben führen musste?

Wozu lebte ich denn überhaupt noch? Meine Bestimmung war es, eine große Amazone und Kriegerin zu werden – was mir nun auf ewig verwehrt werden würde. Nun konnte ich noch nicht einmal mehr meinem Stamm eine neue Kämpferin schenken, da der einzige Mann, Japans, würdig genug eine Amazone zu heiraten, lieber ein untalentiertes, naives Gör wollte. Die Ehre, mit einer Amazone verkehren zu dürfen, hatte er in den Dreck getreten.

Und mich mit dazu. Wäre mein Herz nicht immer noch voll zärtlicher Sehnsucht nach ihm, so würde ich sicherlich nicht eher schlafen können, bis ich seinen Kopf meinen Schwestern mit blutigem Stumpf präsentieren könnte.

Schlafen, ja... Das sollte ich nun tun. Schlafen, und alles vergessen – Urgroßmutter, Mu-Tsu... Ranma.

Wie friedlich die Welt da draußen hinter dem Fenster aussah, aller Lärm, alle Geräusche von kühlem Schnee erstickt. Engelsfedern, die schmelzen, wenn ein Sterblicher sie berührt.

Mit einem tiefen Gefühl der Trauer wandte ich mich von dieser verzauberten Welt ab – zu schmerzhaft waren die schönen Erinnerungen, die sie weckte. Weshalb oder um wen trauerte ich?

Um nichts und niemanden bestimmten. Wahrscheinlich um mein Herz. Ich hatte es verschenkt und mein Geschenk wurde verlegt, verloren. Wo war es nun, mein Herz? Da war nur noch dieser dunkle Sog, der mich immer tiefer in mich selbst hinein zog und langsam einen eisigen Hauch über meine Seele säte und Eisblumen erntete. Wie Glas fühlte ich mich... Durchsichtig, unsichtbar und unbedeutend.

Vergessen und schlafen... Das sollte ich. Leise sprang ich vom Fenstersims herab und knickte ein, als ich auf meinen Vorderpfoten zuerst auf dem Boden aufkam. Meine kranke Pfote konnte mein Gewicht nicht halten, und so musste ich mich erst mühsam wieder aufrappeln, bevor ich auf weichen Katzenpfoten zu Ukyo hinken konnte.

Das Mondlicht zeichnete ihre nun schmächtig wirkenden Umrisse unter dem dünnen Laken deutlich ab. So hilflos und fragil...

Ich stutzte, bevor sich mein Katzengesicht zu einer Art traurigen Lächeln verzog, sofern das für Katzen möglich war. Auf dem Kopfkissen, welches sie neben dem ihren auf ihrem Futon arrangiert hatte, lag eine Blume. Ihre blaue Blütenfarbe und charakteristische Blütenform ließ keinen Zweifel daran, welcher Art sie angehörte. Es war Campanula, einfache Glockenblume. Unsere Herzen schlagen im gleichen Takt.

Ja. Das sah ich.

Auf ihrem von der Unschuld des Schlafs beseelten Gesicht zeichneten sich glitzernde Spuren von Tränen ab, die sich den Weg über die weich geschwungenen Wangen der Schlafenden gebahnt hatten. Ranma...

Was hast du uns nur angetan! Sieh dir nur an, was du aus diesem früher einmal so lebenslustigen Mensch gemacht hast!

Was hatte er aus ihr, was hatte er aus mir gemacht? Nie hätte ich gedacht, dass Liebe so grausam und fruchtbar sein oder ihr Preis so hoch sein könnte. Sie hatte uns zerstört, Ukyo und mich!

Nicht nur mich. Auch sie fror, in sich selbst eingekehrt, sie fror und hungerte nach seiner Zärtlichkeit, nach seinen Berührungen, nach seinem warmen Atem auf ihrer Haut.

Wenn es etwas geben mochte, was starke und stolze Kriegerinnen in die Knie zwingen konnte, dann war es diese scheußliche Liebe.

Wie schön und lieblich sie das Herz betörte und es stahl, wenn man nicht genau auf es Acht gab! Wie tückisch sie den Verstand betäubte und die Vorsicht in den Wind schrieb.

Nein, Ukyo sollte nicht mehr weinen. Sie sollte zumindest versuchen, Ranma zu vergessen, sollte das erreichen, woran ich ständig scheiterte. Lachen sollte sie! Ihr Leben, ihre Schönheit und ihre Kraft genießen!

Dieses Mädchen vor mir hatte wenigstens noch eine Chance, ihr Glück zu finden. Im Gegensatz zu mir war sie nicht an diesen einen Mann nicht nur durch ihr Herz, sondern auch durch ihr Gesetz gebunden, sondern hatte auch noch ihr ansprechendes Äußeres.

Selbst wenn ich ihn aus meinem Kopf und Verstand, aus meiner Erinnerung und aus meinem Leben streichen oder mein Pflichtgefühl eliminieren könnte– nie hätte ich mit meinem Aussehen die Möglichkeit gehabt, einen Mann kennen zu lernen, der auch bereit gewesen wäre, mich zu lieben. Denn... wer könnte so ein hässliches Wesen lieben? Noch dazu eine Chinesin.

Ukyo jedoch hatte alle Chancen. Sobald sie ihre Trauer überwunden hatte, würde ich sie dazu ermutigen, sich nach einem neuen Heiratskandidaten umzuschauen. Sie hatte alles, was sich ein Mann wünschen konnte: Intelligenz, Schönheit, konnte ebenso gut den Haushalt führen wie Kochen, besaß ein mildes Temperament und war eher von Sanftmut geprägt. Außerdem duftete sie gut – das konnte ich mit meiner sehr guten Katzennase gut ausmachen.

Weitere Tränen perlten über ihre milchig weiße Haut und ihr Schlaf wurde unruhig – ich wusste, wovon sie träumte. Um sie zu beruhigen, rollte ich mich unter der Decke neben ihr ein, drückte mich an ihren warmen Körper und schnurrte. Wie mir schon öfters aufgefallen war, beruhigt das Schnurren einer Katze Menschen außerordentlich, und diese These konnte auch in jenem Moment durch ein weiteres Erfolgserlebnis untermauert werden. Bald schon entspannten sich ihre zu Fäusten zusammengeballten Hände und ihre aufgewühlten Bewegungen verliefen sich in einer tiefen, regelmäßigen Atmung und Stille.

Ich hatte einen Entschluss gefasst. Ukyo hatte sich mir gegenüber als wahre Freundin und Schwester bewiesen. Sie hatte mir geholfen, als niemand etwas von mir wissen wollte und als niemand an mich glaubte.

Danach hatte sie mir ihr Heim angeboten und wollte das wenige, was sie besaß, mit mir teilen. Diese Freundlichkeit würde ich nie vergessen, und meinen Dank würde ich ihr so lange zeigen, bis sie endlich ihr Glück gefunden hatte und mich nicht mehr brauchte.

Was ich dann tun würde – vielleicht nach China gehen und mich wieder meinen Schwestern anschließen oder in Askese leben und meine Göttin um Vergebung in täglichem Gebet bitten – ich wusste es nicht. Was ich wusste, war, dass ich so viel Ukyo schuldig war. Ob sie mir nun aus egoistischen Motiven, bloßer Einsamkeit oder Langeweile geholfen hatte oder nicht, spielte keine Rolle. Ich würde mich für ihre gute Tat, für ihre Hilfe und Unterstützung revanchieren.

Aber warum konnte ich ihn nicht vergessen? Verdiente ich nicht auch ein wenig Frieden? Meine Träume würden wohl noch lange von ihm heimgesucht werden.

Lavandula

Vielen Dank an dieser Stelle denjenigen, die mir mit ihrem Kommentar und ihrer Unterstützung Mut und Motivation zu diesem neuen Kapitel gegeben haben: Deepdream und illustrious.
 

3. Lavandula
 

Herausfordernd strich mir der Wind durchs Fell – eine Herausforderung, schneller als er zu laufen, ihn zu überholen und in unserem stillen Wettkampf zu besiegen.

Doch noch war nicht er mein Gegner – seine Einladung zum Kampf würde ich noch ein wenig länger nicht annehmen können. Bevor ich mich an ein solches Duell heranwagen konnte, musste ich erst gegen etwas anderes kämpfen.

Der Morgen zog herauf, strich den wolkenfreien Himmel über mir in blassen, rötlichen Farben. Ich konnte fühlen, wie er sich näherte, und meine Haltung wurde starr, gespannt. Meine Pfoten zuckten – meine Sinne explodierten in einer Schärfe, die die Enden meiner Nervenbahnen versengten. Da kam er... Ich spürte ihn. Er näherte sich mit großer Geschwindigkeit, und doch würde ich ihn besiegen.

Ich konnte ihn fühlen – leichte, immer stärker anschwellende Vibrationen des Bodens, welche von meinen sensiblen Pfoten aufgefangen wurden. Mein Puls schwoll an, jagte heißes Blut durch meinen Körper, stimmte mich auf den Kampf ein. In meinen Ohren dröhnte der Lärm, den er verursachte, mein Nackenfell stellte sich prickelnd auf, als ich ihn von hinten herannahen spürte. Gleich würde er die Startlinie passieren, die ich festgelegt hatte.

Mein Ziel hatte ich klar vor Augen – ich war bereit. Heute würde ich es schaffen.

Fünf Sekunden noch – ich duckte mich, zum Sprung bereit.

Drei Sekunden noch – unwillkürlich fuhr ich die Krallen aus, um mehr Griff für meinen Sprint auf der Asphaltstrecke und auf dem Schotter zu haben.

Eine Sekunde noch.

Die Jagd begann.

In dem Moment, in dem der Zug donnernd über die Schienen direkt neben mir rollte, sprintete auch ich los. Die drei Pfoten, die ich noch benutzen konnte, setzte ich zur vollen Kraft ein – meine unbrauchbare Pfote nutze ich nur sporadisch, um mein Gleichgewicht in unserem hitzigen Duell beizubehalten. Heiß und schmerzhaft brannten die empfindlichen Unterseiten meiner Pfoten, als ihre Oberfläche von groben Steinen und Schotter entlang der Bahnschienen aufgeraut und aufgerissen wurden, und dennoch gab ich nicht auf. Fünfundzwanzig Meter – nur fünfundzwanzig Meter mit ihm mithalten musste ich. Das war mein heutiges Ziel.

Fünfundzwanzig Meter neben dem lauten, rasend schnellen Ungetüm.

Unglaublich laut dröhnte er in meinen Ohren, und bereits nach wenigen Metern sah ich meine Felle auf dem Fluss davon schwimmen. Wagon um Wagon zog schnaufend, keuchend und ratternd an mir vorbei – trotz all meiner Bemühungen.

Obwohl ich nicht glaubte, dass es möglich sei, versuchte ich mich noch mehr ins Zeug zu legen, warf meine Pfoten so schnell und kraftvoll es mir möglich war nach vorne. Mein Brustkorb schmerzte und drohte, mit jedem weiteren Satz, jedem weiteren keuchenden Atemzug zu bersten.

Die Koppelung des letzten Wagons tauchte neben meinem Kopf auf, und ich wusste, ich musste mich beeilen. Wenn ich schon nicht mit ihm mithalten konnte, so wollte ich mein Ziel zumindest so weit erreichen, dass ich die Distanz bewältigte, bevor der Zug vollständig an mir vorübergezogen war.

Noch fünf Meter, drei Meter, und schon tauchte das letzte Fenster des Abteils über mir auf.

Den letzten Meter sprang ich, in dem verzweifelten Versuch, es doch noch vor dem Zug über die Zielmarkierung, bestehend aus einem Andreaskreuz zu Beginn des Industrie- und Gewerbegebietes, zu schaffen.

Mein kleiner Körper reckte und streckte sich im Flug, der Gegenwind schlug mir ins Gesicht und versuchte mich abzubremsen – aber als ich mit zu viel Schwung und Wucht aufkam, beides ohne die Unterstützung meiner zweiten Vorderpfote nicht abfangen konnte und mich im Schotter und auf den Steinen überschlug, war ich glücklich.

Meine Beute, mein Opponent in unserem allmorgendlichen Duell, zog über seine im Morgenlicht gleißenden Schienen auf und davon, weit, weit weg.

Ich war glücklich – denn heute hatte ich mein Ziel erreicht. Heute hatte ich ihn besiegt, meinen metallenen Gegenspieler. Zwar sehr knapp, da ich nur kurz vor seiner letzten Koppelungsstelle auf Höhe des Andreaskreuzes die Ziellinie überquerte, aber immerhin.

Hitze staute sich unter meinem dichten Fell auf, trotz der Kühle des herbstlichen Morgens. Katzen haben kein so umfassendes, körpereigenes Kühlungssystem wie Menschen. Menschen sondern zum Schutz vor Überhitzung am ganzen Körper Wasser, mit darin gelösten Salzen aus, damit dieses beim Verdunsten die sogenannte Verdunstungskühle bringt – die gleiche Kühle, die einen nach einer warmen Dusche frieren lässt.

Katzen hingegen schwitzen nur an wenigen Stellen des Körpers, und haben nur wenig Ausgleich der Hitze entgegenzusetzen – weshalb ich mit offenem Maul hechelnd einfach auf dem steinigen Untergrund liegen blieb. Da Katzen an ihren Pfoten und zwischen den Zehen schwitzen können, empfand auch ich nun eine angenehme Kühle an meinen zerschundenen Pfoten.

Ja, ich hatte es geschafft. Mein Trainingsziel hatte ich erreicht.

Jeden Morgen trainierte ich nun so – als Katze. Jeden Morgen versuchte ich, den 8 Uhr Zug zu überholen. Als die Dämmerung noch nicht so spät hereinbrach, war der 6.30 Uhr Zug mein Gegner – was sich besser mit meiner Arbeit vertragen hatte.

Obwohl sie mich nicht darum gebeten hatte, hatte ich bei Ukyo zu arbeiten angefangen. Anfangs kam ich mir noch sehr unbeholfen vor, aber mittlerweile glaubte ich, ihr doch eine gewisse Hilfe zu sein, und bildete mir ein, mit meiner Unterstützung dafür zu sorgen, dass sie nicht mehr ganz so abgearbeitet und erschöpft war. Noch konnte ich nicht viel tun – ich hatte stets mit beiden Händen gekocht, gearbeitet und geputzt. Es war sehr mühsam und umständlich, plötzlich nur noch eine Hand benutzen zu können und zu lernen, nur mit dieser einen Hand auszukommen.

Aber ich übte mich darin.

Mein Trainingslauf am Morgen war ursprünglich auch als eine Art Bewegungstraining für meine Hand beziehungsweise Pfote gedacht – aber alle Hoffnungen auf eine Genesung und ein Wiedererlangen meiner früheren Bewegungsfertigkeiten musste ich schnell verwerfen. Egal, wie schnell ich lief, egal wie sehr ich mich anstrengte – ich konnte sie allerhöchstens als unbewegliche Stütze, wie eine Holzkrücke benutzen, um mein Gleichgewicht für kurze Zeit während dem Lauf zu stabilisieren. Ich spürte weder das Brennen der aufgerauten Haut noch das leicht schmerzhafte Pochen des Blutes in den stark durchbluteten Arealen meiner Beine, wie ich es in meinen anderen Gliedern und Pfoten empfand. Obwohl ich auch an dieser Pfote schwitzen musste, spürte ich dort keine Kühle – obwohl auch dort der Wind nun nach dem wilden Rennen liebkosend durch mein weiches Fell strich, konnte ich an diesem Bein ab dem Handgelenk, welches im Körperbau einer Katze noch etwas anders gelagert ist, als bei einem Menschen, nicht mehr die kühlen Finger aus Luft spüren, die mir wohltuend über meinen restlichen Körper fuhren.

Gleich meiner Bemühungen, egal, was ich tat – meine Hand, beziehungsweise Pfote bis hin zum Katzen-Handgelenk, war nichts weiter als ein nutzloser Anhang, ein Stück totes Fleisch. Dass ich überhaupt noch eine linke Hand hatte, wusste ich nur, weil ich ihr Gewicht noch an meinen Unterarmsehnen, -muskeln und -knochen spürte.

Warum also versuchte ich es jeden Morgen aufs Neue? Warum machte ich mich selbst zum Narren? Warum versuchte ich so etwas Unsinniges, wie mit einem Zug mithalten zu wollen?

Es ging mir nicht um den Zug an sich, so größenwahnsinnig und dumm war ich nicht, mich jeden morgen zu verausgaben, nur, damit ich sagen konnte, ich könnte so schnell wie ein Zug laufen. Himmel noch mal – ich konnte meine spärlichen Erfolge nur deshalb verbuchen, weil die Schienen das metallene Ungetüm durch ein belebtes und bevölkertes Gebiet führten, und der Zug somit seine Geschwindigkeit auf einen Minimalbetrag reduzieren und drosseln musste.

Nein, darum ging es mir nicht.

Das war meine Art des Trainings. Ich brauchte eine Art Sparring- Partner. Jemand, mit dem ich um die Wette eifern, an dem ich mich messen konnte. An und für sich trainierte ich vor meinem Unfall nicht häufig. Ich wusste, dass ich stark war – ich wusste, dass mich in ganz Nerima kein weibliches Wesen in der Kategorie martial arts besiegen konnte, meine Urgroßmutter ausgenommen. Das war alles, worum es mir ging.

Die stärkste Frau zu sein, sodass er gezwungen war, mich zu wählen. Wenn er starke Nachkommen wollte, so musste er die beste Kämpferin als Gefährtin auswählen. Die beste Kämpferin war ich, direkt nach meiner Urgroßmutter.

Und Urgroßmutter würde er wohl kaum zur Gattin nehmen.

Als ich noch jung war, war ich auch stets von dem Trieb beseelt, die Beste zu sein – dort jedoch aus Prestigegründen. Da ich die Nachfahrin der großen Cologne war, musste ich mich ihrer würdig erweisen. Ich musste beweisen, dass ich im Gegensatz zu meiner Mutter wert war, mit ihr assoziiert zu werden.

Also musste ich meinen Altersgenossinnen in punkto Kampffertigkeiten und Geschick stets Meilen voraus sein – ich musste selbst mit den erfahrenen von uns mithalten können.

Wie besessen kämpfte und trainierte ich, nur, um stärker, schneller und geschickter als alle anderen zu sein. Ich trainierte nicht auf die konventionelle Art.

Ich stellte mich nicht einfach hin und hieb auf ein Stück lebloses Holz oder dergleichen ein.

Das war mir zu eintönig, langweilig und, ehrlich gesagt, zu stupide.

Von klein auf wusste ich, was ich wollte – ich wollte nicht trainieren, ich wollte mich im Kampf beweisen und lernen.

Als damaligen Sparring-Partner kam mir damals nur Urgroßmutter in den Sinn. Sie war bei weitem eine der Stärksten in unserem Dorf, sie gehörte zu den großen Drei. Ich glaubte, dass nur sie es wert sei, mein Mentor zu sein.

Außerdem würde sie meine Niederlagen und Schwächen nicht an die anderen weitergeben, sodass diese nicht über mich lachen und lästern konnten. Wenn ich dann Trainingskämpfe mit Gleichaltrigen abhalten sollte, war ich ihnen durch meine Kämpfe mit Urgroßmutter immer ein bisschen voraus. Das spornte mich an. Zu wissen, dass ich etwas wert sein konnte, wenn ich mir Mühe gab, zu sehen, wie andere mein „Talent“ bewunderten, was in Wirklichkeit nichts weiter als stundenlanges, knochenhartes Training, also Extraunterricht meiner Urgroßmutter war.

Man mag es Betrug oder Vortäuschung falscher Tatsachen nennen – ich hingegen nenne es einen Ausgleich. Ausgleich dafür, dass sie sauberes Blut hatten – ein unfairer Vorteil mir gegenüber, mir, mit meinem dreckigen Blut.

Ausgleich dafür, dass sie es mich Tag für Tag wissen ließen, wie sehr sie mich und meine Mutter verachteten und glaubten, mich nach den Fehlern meiner Mutter beurteilen zu können.

Irgendwie musste ich doch versuchen, in ihnen den Glauben zu wecken, dass ich irgendetwas aber vor allem wert war, die Urenkelin der großen Cologne genannt zu werden.

Da ich so gut wie Urgroßmutter werden wollte, kämpfte ich mit ihr. Zu ihr sah ich auf, sie verehrte ich. Eines Tages wollte ich auch so gut und anerkannt wie sie sein. Dann würde man vergessen, dass mein Blut unrein war.

Warum lief ich nun also mit einem Zug um die Wette? Warum tat ich so etwas Törichtes?

Diesmal wollte ich nicht so stark wie mein Gegner werden.

Diesmal ging es mir einfach nur darum, wieder in Form zu kommen. Nach meiner langen Bettruhe im Krankenhaus war ich vollkommen verweichlicht – meine Muskeln waren schwach, meine Sinne abgestumpft.

Irgendwann konnte ich es einfach nicht mehr ertragen, meinen Körper so schwach im Spiegel zu sehen. Gegen die Narben konnte ich nichts machen – aber gegen diese widerwärtige Schwäche schon.

Was war also die Lösung? Training! Doch gegen wen sollte ich kämpfen? Meine Urgroßmutter war fort – mal ganz davon abgesehen, dass ich ihr ohnehin nicht unter die Augen treten konnte, solange ich noch derartig schwach und entehrt war.

Gegen einen Mann kämpfen?! Nie!

Die einzigen würdigen Trainingspartner beschränkten sich auf drei. In ganz Nerima gab es nur drei Frauen, die halbwegs kämpfen konnten. Von Ukyo wusste ich, dass sie eine fähige Kämpferin war – obwohl ich mich nicht daran entsinnen kann, jemals einen ihrer Kämpfe gesehen zu haben. Da er sie jedoch als Verlobte einst akzeptiert hatte, musste sie relativ stark sein.

Da gab es noch dieses Rosenmädchen, deren Namen ich mir nicht behalten konnte – ich wusste nur, dass er, der Name, eine Mischung aus dem Namen einer bekannten Fototechnikfirma, deren Produkte immer orangegelb verpackt sind, und einem Niesen war.

Selbst wenn ich sterben müsste – mit dieser Person würde ich mich nie einlassen. Sie erschien mir stets ein bisschen verrückt – nicht nur war sie extrem aufdringlich, sondern hatte auch ein ganz abscheuliches, irres Lachen.

Als letztes wäre mir nur noch Akane in den Sinn gekommen – obwohl sie eigentlich keine würdige Trainingspartnerin war. Im besten Falle war sie ein brutales, grobschlächtiges, dummes Mädchen, dessen spannendes Hobby es war, Steine zu zertrümmern.

Für meine Zwecke also nicht nur wegen der quälenden Erinnerung unqualifiziert.

Zumindest wollte ich das glauben.

Letztendlich hätte ich mich nie für eine von ihnen entscheiden können – wegen meinem Stolz. Es hätte das letzte bisschen, was ich noch von meinem Stolz zusammenkratzen konnte, gekostet, eine von ihnen um Hilfe bei meinem Training zu bitten. Und wahrscheinlich hätte es mich umgebracht, vor ihnen die Schwäche zu zeigen, die mich machtlos machte, oder ihre Reaktionen auf eben diese Schwäche zu sehen.

Die Lösung fand ich, als ich eines morgens spazieren ging. Ich genoss meine morgendlichen Spaziergänge, denn sie halfen mir, meine Gedanken ein wenig zu ordnen, bevor Ukyo ihren Laden öffnete und der Trubel losging. Während eines solchen Spaziergangs war es, dass ein Zug unter der Brücke hindurchfuhr, auf der ich stehen geblieben war, um die Aussicht auf die ersten Spuren, die der anbrechende Spätsommer auf Nerima hinterließ, zu genießen.

In eben diesem Moment, in welchem ich seine Schnelligkeit und mechanische Ausdauer bewunderte, kam mir die entscheidende Idee zu meinem Training.

Doch sollte ich als Mensch nebenherlaufen? Das hätte doch ein wenig merkwürdig ausgesehen.

Natürlich bestreite ich nicht, dass ich als Katze weniger lächerlich wirkte, wie ich Morgen für Morgen auf den Zug wartete, um ein kleines Rennen gegen ihn zu laufen – aber so würden keine Gerüchte über die ohnehin schon berüchtigte Shampoo in Umlauf kommen, dass sie komplett den Verstand verloren habe.

Eine etwas durchgedrehte Katze wird im Gegensatz zu einem als verrückt eingestuften Menschen allgemein eher als niedlich als gefährlich empfunden.

Warum als Mensch trainieren, wenn ich dies auch geheim und inkognito als Katze tun konnte?

Und das konnte ich! Die Muskeln, die ich als Katze aufbaute und die Stärke sowie Geschicklichkeit, übertrug sich auch auf meinen menschlichen Körper – sowie dies umgekehrt ebenfalls der Fall war.

Das hatte ich schon sehr früh entdeckt, und zwar an dem Tag, an dem ich mich das erste Mal in eine Katze verwandelte.

Da ich in der Gegend aufgewachsen war, kannte ich natürlich die dunklen Geheimnisse des Sagen umwobenen Trainingsgeländes der verfluchten Quellen. Natürlich wusste ich, dass man Gefahr lief, verwandelt zu werden, stürzte man in eine Quelle.

Früher glaubte ich zwar nicht an diese böse Magie, aber als ich sie am eigenen Leib erfuhr, wusste ich, dass sie doch existierte. Leugnen war zwecklos. Ich war eine Katze. Mit vier Pfoten, Fell und allem was dazu gehört.

Es hatte zwar ein wenig gedauert, bis ich den Grund dafür herausgefunden hatte, warum ich plötzlich nicht mehr auf zwei Beinen laufen konnte, und warum alles auf einmal so vollkommen anders war, aber als ich endlich realisierte, dass ich in dem Körper einer Katze steckte, nun... Es wäre töricht gewesen, alles als abergläubischen Unfug abzutun, wenn ich nicht einmal mehr Reden, sondern nur noch Miauen, Schnurren und Fauchen konnte.

Nun – auch wenn ich früher nicht an die verfluchten Quellen und ihre Magie glaubte – ich hatte gehört, dass man sich verwandelt, wenn man in eine von ihnen fällt.

So gesehen war das also nicht Neues in dem Sinne für mich gewesen.

Wie aber sollte ich mich zurückverwandeln? Darüber hatten sich die Gerüchte großzügig ausgeschwiegen.

Großmutter und ich trainierten damals zusammen, aber sie ließ sich Zeit damit, mich zurückzuverwandeln, und mir die Verwandlung nachvollziehbar zu erklären. Das war ihre Lektion „Lerne die Leistungen eines Tieres zu schätzen und deine einzuschätzen“.

Oh ja, die Lektion hatte ich gut gelernt. Am Ende des Tages war ich vollkommen fertig.

Nie hätte ich mir vorgestellt, dass es so anstrengend sein könnte, eine Katze zu sein.

Im Vergleich zu einer Katze waren meine Sprungfertigkeiten vollkommen unterentwickelt, und ich verstand, was meine Urgroßmutter mir sagen wollte.

Dadurch, dass ich in dem Körper einer Katze einen ganzen Tag verbringen musste, ehe Urgroßmutter mich mit heißem Wasser übergoss, lernte ich sehr viel über Katzen – und über ihre beeindruckenden Fertigkeiten.

Dieser Katzenkörper besaß lediglich meine menschlichen Fähigkeiten – die, auf den Katzenkörper übertragen, im Vergleich zu anderen Katzen absolut mangelhaft waren. Ich lernte die Leistungen von Katzen schätzen – und konnte meine mit ihnen vergleichen und erkennen, dass ich noch sehr viel zu lernen hatte.

Als ich am nächsten Tag als Mensch aufwachte, plagte mich ein solcher Muskelkater, dass ich kaum aufstehen konnte. Erst da begriff ich völlig – würde man mich mit den Anforderungen konfrontieren, denen eine Katze ständig gegenüber stand, so würde ich kläglich versagen.

Und noch eines zeigte dieser Tag: Das Training und die Art, wie ich meinen Katzenkörper beanspruchte, wirkte sich auch direkt auf meinen menschlichen Körper aus.

Somit machte es durchaus Sinn, als Katze gegen den Zug anzutreten. Ein ungestörtes Training, ohne meine Schwäche zu entblößen und meinen Stolz zu verletzen, war also doch durchaus möglich.

Langsam beruhigte sich mein Atem – und trotzdem blieb ich noch ein wenig auf den relativ unbequemen Steinen liegen. Vor mir befanden sich die Schienen, die helles Sonnenlicht reflektierten und mir in mein Katzengesicht warfen, sodass ich ruhig meine Augen schloss.

Die Sonne wärmte mich nun angenehm, nachdem die Hitze der sportlichen Aktivität nachgelassen hatte. Ich fühlte mich zufrieden und wohl – ja, heute hatte ich den Kampf gewonnen – wenn auch sehr knapp. Damit hatte ich die Bestätigung, dass ich mich weiterentwickelt hatte. In den Anfangstagen meines Trainings war ich sehr viel schwächer gewesen.

Allerdings war ich wohl nicht ganz so allein und unbeachtet, wie ich glaubte.

„Na, kleine Katze – hast du es diesmal geschafft, ja?“

Ich schreckte auf und sah einen jungen Mann neben mir. Misstrauisch musterte ich ihn, rührte mich jedoch nicht.

Er machte eine Bewegung auf mich zu und ich sprang hastig auf meine Pfoten. Was wollte er?

„Schh. Ganz ruhig, ich tue dir nichts!“ Seine Stimme klang auch nicht sonderlich bedrohlich, aber man konnte ja nie wissen.

Er machte noch einen Schritt auf mich zu, ich wich einen weiteren zurück.

„Sieh mich mal ganz genau an, kleine Katze. Meinst du wirklich, ich könnte so einem schönen Tier wie dir etwas antun?“

Der Kerl war doch nicht ganz dicht. Redete der immer so mit Katzen?! Dann hatte er ordentlich einen an der Waffel.

Ich wich nicht weiter zurück, als er die Distanz zwischen uns schloss und sich langsam zu mir herunter beugte.

Was hatte er gesagt? Ich sei schön? Das konnte er nicht ernst meinen.

Vorsichtig strich er mir über den Kopf und murmelte irgendwelche Sachen, die für mich keinerlei Sinn ergaben. Obwohl ich empört darüber war, dass er mich für eine einfache Straßenkatze hielt und ich mich für gewöhnlich nicht von jedem x-beliebigen Penner streicheln ließ – hatte der überhaupt ne Ahnung, wie schwer es war, mein Fell wieder zu richten, nachdem er es verwuschelte? – lief ich nicht fort. Etwas an ihm faszinierte mich.

Er war einfach lieb zu mir – ohne Grund, ohne dass ich etwas anderes für ihn tun musste, als still zu halten. Still halten fiel mir ja nicht schwer – er hatte sehr talentierte, warme Hände, die fast schon zärtlich über mein Fell strichen und mir gegen meinen Willen ein Schnurren entlockten.

Ein freundlicher, netter Japaner, der sich lediglich freute, dass es mich gab – auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt eine Katze mit niedlichem, kleinen Näschen und großen Augen darstellte.

In meinem bisherigen Aufenthalt in Japan war mir ein solcher noch nie untergekommen.

Ukyo war zwar auch nett zu mir – aber nur, weil sie mich brauchte. Sie wollte nicht allein sein.

Das verstand ich, und ich nahm es ihr auch nicht übel – im Gegenteil. Ich wollte ja auch nicht alleine sein und brauchte Hilfe.

Aber dieser junge Mann war ohne Grund nett zu mir.

„Kleine Katze, was hast du nur mit deinem Pfötchen gemacht? Ich habe einen Freund, weißt du, der ist Tierarzt. Der könnte sich deinen Fuß mal angucken...“

Bei dem Wort Tierarzt kam mein grübelndes Selbst wieder in die Realität zurück. Tierarzt? Spritze? Nein Danke!

Schneller, als es jeder Zug je sein könnte, huschte ich auf eine nahe gelegene Mauer und musterte ihn böse von oben.

Er lachte. Warum lachte er?

Ich knurrte.

„Na gut, dann kein Tierarzt. Viel Glück für morgen, kleine Katze – morgen schnappst du dir den Zug ganz bestimmt!“ Woher wusste er...?

Damit ging er. Und ich konnte mich nur noch wundern.

Irgendwie mochte ich ihn. Er war weder besonders gutaussehend, noch wirklich attraktiv. Dichtes, kastanienbraunes Haar, eine Brille und lachende Augen – das war das einzige, was ich bewusst an seinem Aussehen bemerkt hatte. Er konnte gut streicheln und hatte eine warme Stimme.

Und da dachte ich, es gäbe keine netten Japaner!

Irgendwie wärmte mich der Gedanke von innen, dass es in diesem kühlen, steifen Land der Förmlichkeit – in manchen Fällen auch der Verrücktheit und des Wahnsinns, siehe Kodak, oder Hatschi, oder was weiß ich – auch ganz normale Menschen mit ein bisschen Herz, wenigstens für Katzen, gab. So machte ich mich unbeschwerten Gemüts auf zu meiner Arbeitsstelle, zu Ukyos Laden. Eilig huschte ich über Mauern und Dächer, um den Weg abzukürzen.

Meine Arbeitgeberin war nicht streng mit mir, was meine Arbeitszeiten anging. Im Grunde genommen verlangte sie nicht einmal von mir, dass ich überhaupt etwas arbeitete.

Aber ich wollte pünktlich sein – ich wollte ihr zeigen, dass sie mir in diesem Punkt meiner Zuverlässigkeit Vertrauen entgegenbringen und meinen Arbeitswillen anerkennen konnte.

In ihrem typischen Edelmut war sie davon überzeugt, dass ich ein Gast in ihrem Hause war, und Gäste sollten ihrer Ansicht nach nicht arbeiten. Die Ansicht teilte ich nicht. Ich war nicht ihr Gast, sondern ihre Verbündete. Eine Alliierte im Kampf gegen Erinnerungen und verbotene Wünsche.

Als ich ankam, zog Ukyo gerade die Rollos vor der Ladentür und dem großen Fenster hoch, von welchem aus man als Gast auf die Straße und die Passanten sehen konnte. So elegant es meinem Körper mit drei Pfoten möglich war, sprang ich auf das Dach ihres kleinen Hauses und tapste über die Ziegel hin zu der Stelle, welche sich genau über Ukyos offen stehendem Schlafzimmerfenster befand.

Mittlerweile hatte ich Routine darin, punktgenau auf dem Fenstersims des offenen Fensters zu landen, und so erreichte ich sicher erst das Fenstersims, dann die Fensterbank und schließlich den Boden des Schlafzimmers.

Es benötigte nicht viel Zeit, mich zurückzuverwandeln und für meinen Arbeitstag bereit zu machen, sodass ich pünktlich mit dem ersten Kunden, der die Schwelle des Ladens übertrat, meinen Dienst anfangen konnte.

Meine Chefin hatte mir noch nie Anweisungen gegeben – ich tat einfach das, was nötig war, die Arbeit, die gerade anfiel. Da ich bereits früher in dem Restaurant meiner Urgroßmutter gearbeitet hatte, war mein Blick nun darin geschult zu sehen, was nötig war.

Was mich früher langweilte, und auch, zugegebenermaßen, in meinem Stolz kränkte, das genoss ich nun: Anderen Leuten das Essen servieren.

Die Zeit, in der ich bei Ucchan’s arbeitete, war in einem Punkt sehr lehrreich – endlich begriff ich die Lektion vollends, die Urgroßmutter mir einst hatte beibringen wollen. Der Grund, warum sie wollte, dass wir ein Restaurant und nicht ein sonstiges Geschäft hier in Japan führten. Nirgendwo sonst lernte man so viel über Menschen; ihre Gestik, Mimik und ihre allgemeine Interaktion. Es machte Spaß, ihnen einfach nur zuzusehen. Dutzende Menschen strömten von Stunde zu Stunde an die Tische und an den Tresen in Ukyos Laden und erwarteten, dass wir schnellstmöglichst ihren Hunger stillten, auf dass sie schnell weitereilen und ihr Leben führen konnten. Alles musste schnell gehen, alles in einem farbenfrohen, aber unpersönlichen und kühlen Wind.

Ich hatte gelernt, meinen Mund zu halten und nur noch zu lächeln. Das schienen die Leute zu wollen – ein Hauch von Freundlichkeit, eine Spur von persönlicher Nähe.... aber nicht mehr. Sobald sie an meiner Aussprache und meinen sprachlichen Schwächen merkten, dass ich keine gebürtige Japanerin war, begegneten viele mir, wenn nicht gerade unhöflich, dann doch sehr distanziert. Was war so schlimm daran? Was war so schlimm daran, dass ich nicht die Worte in meinem Mund so biegen und brechen konnte, wie sie es vermochten?

Wenn Fremde die Gegend um mein Dorf besuchten, fand ich persönlich ihren Akzent recht sympathisch. Was hatten Japaner gegen alles Fremde, alles Neue? Die Welt gehörte nun mal nicht nur ihnen! Es gab auch noch andere Menschen, andere Sprachen, andere Kulturen, die verglichen mit ihrer eigenen nicht minderwertig waren.

Anstatt mit Offenheit begegnete man dem spannend Neuen mit pikierter Reserviertheit. Es gibt doch so viel Schönes auf der Welt! Auch in meinem Land! Auch meine Heimat, meine Kultur, meine Bräuche konnten schön sein – aber sie wollten das alles gar nicht wissen.

Für Japaner sind Ausländer keine Bereicherung ihres Horizonts – anstatt sich zu freuen, eine Chance zu haben, Fremdes kennen zu lernen und jemand anderem die eigene Kultur nahe zu bringen, wurden wir nur als Fremdkörper, als eine Art Schmarotzer angesehen.

Warum?

Früher, vor meinem Unfall, lächelten mich des öfteren Leute wegen meinem Aussehen an – hörten sie mich sprechen, wurde ihr Verhalten schon gleich sehr viel kühler.

Auch im Ucchans war es nicht unbedingt anders – obwohl sich in Ukyos kleinem Restaurant niemand der warmen, persönlichen Atmosphäre, der Gemütlichkeit von Ukyo und ihrem Laden entziehen konnte.

Ukyos Kunden waren nicht ganz so schlimm – wenn sie sich erst einmal an mich gewöhnt hatten. Meine Sprache hatte einige zuerst abgeschreckt – und so sprach ich nicht mehr viel, lächelte und behalf mir eher mit Gesten und „richtig“ japanischen Sätzen, die ich heimlich übte.

Meine Sprache war eine Sache – eine andere waren mein Gesicht meine Narben.

Selbst der freundlichste Mensch würde sich wahrscheinlich bei meinem Anblick etwas verunsichert fühlen und, ja, starren. An das ewige Starren und Mustern hatte ich mich gewöhnt – auch daran, dass die Leute sich still liebend gerne ausmalten, was mir wohl passiert sein mochte.

Vielleicht ein Unfall beim Kochen? Vielleicht war ich ja aber auch schon immer eine Missgeburt?

Lächeln, so tun, als bemerke man nichts, immer freundlich bleiben – irgendwann würden sie sich an mich gewöhnen. Das war mein immerfort währendes Mantra. Eines Tages würde ich perfektes Japanisch sprechen, eines Tages würden die Menschen nicht mehr so starren und mir das Gefühl zu geben, ein Außerirdischer zu sein.

Ich wusste selbst gut genug, dass ich nicht „dazu gehörte“. Wie konnte ich? Ich konnte ihre Sprache nicht richtig sprechen. Meine Haarfarbe war ein relativ ungewohnter Anblick für ihre Augen – ganz zu schweigen von meinen Verletzungen.

Möglicherweise sah ich aus wie ein Außerirdischer, und war hier, in dieser kühlen Welt nicht wirklich zu Hause, aber in mir schlug immer noch ein menschliches Herz – so zerrissen und stümperhaft geflickt es auch sein mochte, auch wenn es nur noch von meinen verzweifelten Händen zusammengehalten wurde – ein menschliches Herz.

Wie gesagt – Ukyo und das gemütliche Ambiente dämpfte viel dessen, was ich als nicht einmal mehr hübsch aussehende Chinesin zu befürchten hatte.

Das beschützte mich jedoch nicht vor den misstrauischen Blicken, die mir nicht gönnen wollten, dass ich mich mit „ihrer Ucchan“ assoziierte. Ich war nicht die einzige, die Ukyos freundliches, warmes Wesen schätzte – ihre Kunden kamen aus zwei Gründen in Strömen:

Einerseits, weil sie Ukyo sehr mochten. Die junge, unabhängige, stets freundliche Ukyo, eine ausgezeichnete Köchin.

Andererseits, weil ihr Restaurant so urig und, ja, japanisch war. Sie servierte typisch japanisches Essen, ihre Einrichtung war typisch japanisch – Ukyo selbst war in ihren Augen offensichtlich das Bild einer echten Japanerin. Fleißig, wohl erzogen, hübsch und höflich.

Wie passte da eine Chinesin rein?

In einem Chinarestaurant ist es durchaus nicht unüblich, meinesgleichen zu sehen. Dort sind wir auch gern gesehen – Japaner akzeptieren gaijin nur, wenn sie kochen können.

Aber dann auch nur in dem geeigneten Reservat, in meinem Falle, einem Chinarestaurant.

Nun platzte ich, eine Chinesin, in ihre japanische Idylle hinein. Hier, in Ucchans Laden, war die Welt für sie wohl immer noch in Ordnung gewesen – ohne heimtückische Chinesen und Ausländer, die nichts anderes im Sinn hatten, als zu schmarotzen, als Arbeitsplätze wegnehmen zu wollen.

Doch das alles war mir egal. Ich redete mir ein, dass Ukyo mich brauchte – ich hatte eine Mission. Ich musste dafür sorgen, dass sie nicht mehr so schrecklich müde aussah.

Diesen Japanern würde ich es zeigen! Auch sie würden mich irgendwann akzeptieren. Dafür würde ich sorgen.

Also hielt ich meinen Mund. Und lächelte. Und schwieg. Und lächelte.

Bedeutete Akzeptanz in diesem Land, seine Kultur, sein Land, sich selbst zu verraten?

Das wollte ich nicht. Ich war Xianpu, eine Amazone. Eine gefallene, vielleicht – aber ich war immer noch von hoher Abstammung. Ich hatte auch eine Kultur, ich hatte auch eine interessante Geschichte zu erzählen!

Das würde ich nie vergessen, schwor ich mir.

Mittlerweile erntete ich auch hier und da ein sporadisches, unsicheres Lächeln von den Kunden. Mein Fleiß schien sie zu beeindrucken. Ukyo war mit Kochen beschäftigt, also bediente ich, wusch das Geschirr, fegte vor dem Geschäft, hielt das Restaurant sauber, erkundigte mich mit wenigen, eingeübten Worten, ob noch irgendwelche Wünsche zu erfüllen seien, schnitt Gemüse, so gut es mit einer Hand ging, lächelte und schwieg.

Ja, sie schienen sich so langsam an mich zu gewöhnen – eine Chinesin, die nicht kochte, aber dafür fleißig war.

Und Fleiß ist neben Ehre und Geld unter anderem das Wichtigste für einen Japaner.

An diesem Tage sollte ich eine Überraschung erleben – Belohnung für meinen Fleiß, in Form von einem älteren Mann mit Falten um die Augen und zuviel Kleingeld.

Er war einer von Ukyos Stammgästen – jeden Nachmittag kam er in Ukyos Laden geschlendert, wenn gerade nicht so viel Betrieb war, das heißt wenn die übliche, für die Mittagszeit anberaumte Zeit verstrichen war.

Fein getrimmter Bart, ernste, aber freundliche Augen – im Alter ausdünnendes, dunkles Haar, von silbrigweißen Strähnen durchwoben. Unter dem Arm: Eine anerkannte, seriöse Zeitung über Politik und Wirtschaft. Er vermied es, sich an den Tresen zu setzen – er bevorzugte es, an dem großen Fenster im Sonnenlicht an einem kleinen, runden Tisch zu sitzen. Immer der gleiche Tisch, immer die gleiche Prozedur: Die Tür ging auf, die kleinen Glöckchen über ihr klangen leise, melodisch. Er trat ein, nickte Ukyo und mir zu, lächelte flüchtig und ging hinüber zu seinem Platz. Dort legte er seinen dunklen Hut, passend zu seinem ordentlichen Anzug ab und breitete seine Zeitung aus.

Nun kam mein Part. Nun lag es an mir, zu ihm hinüber zu gehen, mich leicht zu verbeugen, zu fragen, ob es das Übliche für den betreffenden Tag sei. Montags Okonomiyaki mit Pilzen und Crème frêche, also eher etwas leichtes. Dienstags Okonomiyaki mit Tintenfisch und als Beilage einen kleinen Salatteller. Für jeden Tag gab es eine gewisse Routine – beendete er seine Speise, dann war er meist beim Feuilleton angekommen, und es wurde Zeit für mich, seinen Kaffee zu servieren: Schwarz, kein Zucker, keine Milch.

So geschah es jeden Tag – er kam, er aß, er ging. Er redete nicht gern. Bevor er ging hinterließ er auf seinem Tisch den korrekt abgezählten Geldbetrag, auf den Sen genau, faltete seine Zeitung ordentlich zusammen, setzte seinen Hut auf und lächelte uns knapp ein letztes Mal zu, bevor die Glöckchen erneut klingelten.

An diesem Tag jedoch sollte mich eine Überraschung erwarten – als ich hinüber zu seinem verwaisten Tisch ging, um kurz dessen Oberfläche abzuwischen und das Geld einzusammeln, stutzte ich. Da stimmte etwas nicht – Ukyo hatte die Preise nicht angehoben, und dennoch lag dort eine 50 Yen Münze zu viel. Konnte er sich verzählt haben?

Nein – sicherlich nicht. Er kannte die Preise genau und zahlte immer völlig korrekt. Nicht mehr, nicht weniger. Also Trinkgeld. Das war mir auch schon früher in Urgroßmutters Restaurant begegnet.

So gedachte ich auch, mit meiner üblichen Routine in diesem Fall vorzugehen, erlebte jedoch auch hier eine Überraschung. Als ich noch bei Urgroßmutter gearbeitet hatte, kam es durchaus schon mal vor, dass man mir etwas Trinkgeld zuschob. Alles Geld hatte ich immer treu meiner Urgroßmutter gegeben – so war ich es gewöhnt, so dachte ich, geschehe es immer mit Trinkgeld.

Ukyo jedoch wollte davon nichts wissen. Sie freute sich darüber, dass man mir Trinkgeld gegeben hatte – nahm es allerdings nicht an. Mir persönlich unverständlich. Sie sagte, damit habe der Mann mir allein für meine Dienste danken und mich belohnen wollen. Das Geld gehöre also mir.

Was aber sollte ich damit anstellen? Mein Lohn bei Ukyo war Essen und Unterkunft – dafür brauchte ich also kein Geld.

Ukyo lächelte mich lediglich an und meinte, ich würde schon eine Verwendungsmöglichkeit finden. Damit war für sie die Diskussion beendet, auch wenn ich mir irgendwie schäbig vorkam – immerhin hatte sie, nicht ich das Essen gekocht.

Ab diesem Tag sollte noch viele Male die Rechnung nicht stimmen – und ich begann, mich über diese nette Geste aufrichtig zu freuen. Nicht wegen des Geldes, denn ich gab es nicht aus und hortete es. Sondern wegen der Geste.

Diese silbrig glitzernden 50 Yen aber hielt ich Tag für Tag bei mir. Durch das Loch in der Mitte der Münze zog ich einen reißfesten Faden und band mir meine neue Kette um den Hals, sodass ich diese eine Münze, mein erstes Trinkgeld, nie verlieren würde.

Am Abend dieses Tages, nachdem das Geschäft geschlossen und die Rollladen heruntergelassen waren, saßen Ukyo und ich noch ein wenig zusammen, wie es für uns nach einem solchen Arbeitstag üblich war. Vor uns stand jeweils eine Tasse warmer Tee und wir redeten über den Tag, über Alltägliches – wenn wir überhaupt redeten.

Zumeist saßen wir einfach relativ still beisammen. Ukyo zählte das Geld und überprüfte jeden Tag gewissenhaft das Verhältnis von Einnahmen und Ausgaben, während ich mir die Zeit anderweitig vertrieb und ihre Gesellschaft genoss.

Ich mochte es, neben ihr zu sitzen. Sie strahlte eine unglaubliche Ruhe aus, und so konnte auch ich zur Ruhe finden. Der hektische Tag hielt mich davon ab, zu viel an Dinge und Personen zu denken, an die ich einfach nicht denken wollte. Am Abend jedoch musste ich zur Ruhe finden, um nach dem stressigen Arbeitstag abschalten und mich entspannen zu können. Ukyo beschützte mich vor schmerzhaften Erinnerungen. Wanderten meine Gedanken gefährlich nah an Abgründe, die ich noch nicht breit war, zu erforschen, so rettete sie mich stets davor, weiter über die Dinge nachzugrübeln, die hätten sein sollen, aber nicht waren.

So sehr sie sich auch auf ihre momentane Aufgabe konzentrierte – sie war immer aufmerksam. Es war nicht fair von mir, sie so egoistisch auszunutzen, denn nichts anderes war es: ich nutzte sie aus. Ich nutzte ihre Wirkung und Ausstrahlung, ihre beruhigende Persönlichkeit aus. Ihre Gutmütigkeit, und den wohlwollenden Schutz, den sie mir großzügig gestattete.

Ja, sie musste so etwas wie mein Schutzengel sein. Im Krankenhaus hatte sie mich so oft besucht, dass ich wieder halbwegs zu mir zurückfand und die blutigen Fetzen aufsammeln konnte, die einst mein Herz waren, bevor sich die Geier Verzweiflung und Dunkelheit darüber hermachen konnten. Dann hatte sie mich bei sich aufgenommen, und nun fühlte ich mich fast so, als könnte auch ich irgendwie dazu gehören, als gäbe es auch irgendwo einen Platz für mich in dieser Welt.

Ukyo duldete mich, brauchte mich vielleicht sogar – ihre Kunden waren mittlerweile auch nicht mehr so kühl und distanziert. Hier hatte ich eine Aufgabe – vielleicht konnte ich hier einen Platz für mich finden, eine Art Nische für verkrüppelte Chinesinnen. Und vielleicht... vielleicht machte es jemanden ja irgendwann sogar glücklich, dass ich da war.

Ein Gefühl der Dankbarkeit empfing mein ganzes Sein und wärmte mich von Innen – Dankbarkeit der Person gewidmet, die mir gegenüber saß, dafür, dass sie mir die Chance bot, eben diese Nische zu finden. Ich musterte sie und fühlte auf einmal, dass Japan vielleicht doch nicht so schlecht war. Die meisten Menschen hier waren ausländerfeindlich, aber es gab auch solche wie Ukyo, eine Perle der Menschlichkeit in einer Geröllwüste aus Feindseligkeit.

Es war nur traurig, dass niemand diesen Menschen schätzen konnte oder wollte. Sie hatte so ein gutes Herz, und ihr Lächeln lockte, neben ihrem hervorragenden Essen, jeden Tag Massen von Kunden herein. Es konnte selbst das kaputteste Herz Wärme spüren lassen – selbst meines.

Paradox schien es, dass sie keinen Freund hatte. Natürlich wusste ich, warum dies der Fall war – selbst nach der langen Zeit, die ins Land gegangen war, nachdem er sich zu diesem Machoweib bekannt hatte, war auch sie noch nicht bereit, wieder zu lieben. Oder vielleicht liebte sie ihn ja immer noch, wer wusste das schon. Ich sah es daran, wie ihre Augen, wenn nicht so viel Betrieb im Laden war, weit in die Ferne blickten und wehmütig, sehnsüchtig nach etwas suchten. Freundlich und höflich lehnte sie stets alle Angebote von jungen Männern ab, auszugehen. Traurig und einsam wisperte sie des nachts immer noch seinen Namen, wenn sie glaubte, ich schliefe schon.

Doch jeder, der sie nicht kannte, wunderte sich, warum sie immer noch keinen Freund hatte. Immerhin war sie ja sehr hübsch – selbst jetzt, wo sie so leger vor mir saß, war sie immer noch schön. So schön, dass ich an seinem Verstand zweifeln musste, warum er dieses schwache, verglichen mit Ukyo unscheinbare Unkraut erwählt hatte, wenn er hier eine starke, faszinierende Rose haben könnte.

Wie ihr langes, weiches Haar in sanften Wellen über ihre Schultern und ihren Rücken floss und ihr ebenmäßiges, symmetrisches Gesicht umspielte, umschmeichelte, wie ihre dunklen, schön geformten Augen konzentriert auf die Unterlagen und Papiere blickten, die vor ihr auf dem niedrigen Tisch ausgebreitet lagen... Das alles in Reinheit, Ästhetik und Vollkommenheit schien in dieser Kombination kaum übertrefflich zu sein. Selbst die Lesebrille, die ihr auf der Stupsnase saß, war kein Makel, sondern eher noch Ergänzung zu einem traumhaft schönen Anblick. Auch wenn ihr Körper unter weiter, bequemer Hauskleidung versteckt schien, konnte diese Kleidung nicht die schönen Rundungen und Formen verbergen, die einen Mann sicherlich hinter ihr herhecheln ließen – wenn sie es ihm erlaubte.

Ein wundervoller, wunderschöner Mensch – alles das, was ich nicht war. Aber Neid empfand ich nicht – ich freute mich für sie. Wenn ein Mensch auf der Welt Gottes Gaben in solcher Fülle und Qualität verdiente, dann war sie es – nur die schönste aller Seelen verdiente solch ein körperliches Gefäß.

Und nur der Beste aller Männer verdiente es, von ihr auserkoren zu werden. Er war es sicherlich nicht, der Beste aller Männer, da er offensichtlich dumm und blind war, wenn er diesen Engel in Menschengestalt nicht so wahrnehmen konnte, wie dieser Engel es verdiente.

In dem Moment, in welchem sie meinen intensiven Blick auf sich ruhen spürte und aufblickte, wusste ich, dass der Mann, den sie einmal lieben würde und der diese Liebe erkennen würde, der glücklichste Mann auf der ganzen Welt sein würde.

Fragend hob sie eine Augenbraue, und ich errötete, da mir mein unhöfliches Starren peinlich war – aber dann musste ich lächeln. Ein ehrliches Lächeln, nicht jenes, das ich den Kunden schenkte. Ich fühlte, wie sich mein immer noch zerrissenes, schmerzendes Herz öffnete und Wärme in meinen Körper strömen ließ – ich liebte diesen Menschen vor mir. Hatte ich all meine früheren Schwestern verloren, hatte ich an diesem Tag endlich realisiert, dass ich eine neue gefunden hatte.

„Danke, Ukyo“ – mehr sagte ich nicht, aber ich glaube, sie verstand, was ich meinte. Danke für all das, was du mir bietest – einen Platz für mich in dieser Welt, und eine neue Schwester.

Sie errötete ein wenig, rückte sich die Brille auf der Nase zurecht und verrückte die Unterlagen so vor ihr, dass Blatt auf Blatt akkurat so aufeinander lag, dass keine Kanten oder Ecken überstanden sondern sauber Ecke auf Ecke, Kante auf Kante lag.

Ohne eine Antwort abzuwarten ging ich hinüber in die Küche und kam mit einem Apfel, einem kleinen Messer mit gekrümmter Schneide und einem Teller zurück.

Das war auch so eine Tradition. Irgendwann stand einer von uns auf, griff zum Obstteller und schnitt sich sowie dem gegenüber eine Portion Obst zurecht. An diesem Tag sollte es ein Apfel sein.

Stillschweigend arbeiteten wir konzentriert weiter – Ukyo widmete sich den Finanzen, ich mich dem Schälen des runden Objektes. Dies stellte sich als schwieriger heraus, als man denken mochte, da ich meine linke Hand kaum nutzen konnte. Ich musste mit meiner rechten Hand die Finger meiner linken fest um den Apfel schließen, so weit sie sich bewegen ließen. Schnitt meine Rechte die Schale spiralenförmig weg, so musste meine linke den Apfel währenddessen drehen – was wegen ihrer Lähmung nicht gut möglich war. Das Drehen des Apfel gelang mir nur, wenn ich den Arm geschickt in einer schnellen Bewegung erst hob und durch eine leichte Seitwärtsbewegung für einen kurzen Moment die Innenseite meiner linken Hand gegen den Apfel stoßen ließ, sodass dieser einen leichten Seitendrall bekam.

Ich muss wohl kaum erwähnen, dass es mich eine halbe Ewigkeit gekostet hatte, diese Technik zu entwickeln. Ganz davon zu schweigen, dass ich weit davon entfernt war, sie zu perfektionieren.

Ukyos Stimme riss mich ein wenig aus meiner Konzentration, als sie erklang.

„Wow... Du bist ziemlich gut!“

Zweifelnd sah ich sie an. Ich und gut? Innerhalb von 5 Minuten hatte ich es gerade einmal geschafft, das obere Drittel des Apfels zu häuten. Sie griff nach dem langen, spiralenartigen Rest, der auf den Teller gefallen war und betrachtete ihn für einen kurzen Moment, bevor sie erneut sprach.

„Irgendwo habe ich einmal gehört, dass wenn man es schafft, den Apfel in einem Stück zu schälen, das heißt, dass das Schalenband nicht abreißt, dann darf man diese Schale über die Schulter werfen und sich etwas wünschen.“

Erstaunt blickte ich auf den Apfel in meiner linken Hand hinunter, Ukyo lachte ein wenig.

„Das habe ich zumindest mal irgendwo gehört...“

Damit war für sie das Thema beendet – aber während ich den Apfel schälte und schnitt, dachte ich noch ein wenig darüber nach. Es war fast unmöglich, den Apfel so zu schälen, dass das Schalenband nicht zerriss – noch unmöglicher wäre es für jemanden mit meiner Behinderung.

Aber war es nicht auch für eine Katze unmöglich, einen Zug zu schlagen?

Ein kämpferisches Lächeln schlich sich auf mein Gesicht – ich würde trainieren. So lange, bis ich gut genug war, den Apfel so zu schälen, dass die Schale nicht abriss, bevor ich den Apfel vollständig gepellt hätte.

Wenn mir das gelang, dann bräuchte ich die Reste nicht über meine Schulter zu werfen und später auf dem Boden suchen zu gehen – dann hätte sich bereits ein kleiner Wunsch von mir erfüllt.

Als ich an diesem Abend die frisch gewaschene und aufgefaltete Wäsche in Ukyos Schrank legte, fühlte ich mich so energiegeladen und motiviert wie selten in diesen Tagen. Fieberhaft plante ich bereits neue Trainingsmethoden, steckte mir unendlich viele Ziele – als mir etwas aus Ukyos Schrank entgegen und auf den Boden fiel.

Als ich mich bückte, um dieses Etwas aufzuheben und mir näher anzusehen, lächelte ich. Wie passend... das Etwas war ein kleines, quadratisches Textilsäckchen, gefüllt mit getrocknetem Lavendel. Meinem Herz wuchsen zittrige Flügel, als ich die Augen schloss und den wohlriechenden Duft genoss, der die Motten aus Ukyos Schrank fernhalten sollte.

Lavendel... Ich sah es als Zeichen an, das mir neuen Mut machte. Lavandula stand für die Überzeugung, die selbst gesteckten Ziele zu erreichen.

Ja... auch ich würde mein Ziel erreichen! Ich würde dafür kämpfen, selbst wenn der Kampf eine Ewigkeit lang dauerte!



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Kommentare zu dieser Fanfic (6)

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Von: abgemeldet
2009-03-14T11:25:25+00:00 14.03.2009 12:25
Hey!
Ich habe gestern und heute deine Geschichte gelesen und finde, dass du einen sehr anspruchsvollen, und deshalb sehr schönen Schreibstil hast. Ich mag es, dass du aus Shampoos Sicht schreibst, und diesen dramatischen touch, aber wenn es mir manchmal etwas ZU dramatisch vorkommt. Aber das macht nichts. Ich finds super. Und Ukyo ist mir wirklich richtig sympatisch geworden. Am besten finde ich die Länge deiner Kapitel. Ich finde es super, dass man sich reinlesen kann und dann trotzdem noch Zeit hat zu genießen, bevor das Kapitel zu ende ist. Weißt du was ich meine? :)
Schriebst du denn demnächst weiter? Wenn ich mich nämlich recht erinnere, dann liegt das letzte Update ein halbes Jahr zurück :S
Ich freu mich auf deine Antwort,
LG
Von: abgemeldet
2008-05-28T00:27:35+00:00 28.05.2008 02:27
Hallo Kiavalou!

Du kennst mich wahrscheinlich gar nicht mehr, aber ich wahr hier (oder auf ranma.de) mal ein "aktiveres" Mitglied zu der Zeit, als du noch an "Die Liebe der Kirschblüte" gesessen hast. Ich wahr damals ganz scharf auf deine Geschichten, aber das ist mittlerweile ja knapp 5 Jahre her.
Nun gut, was bezwecke ich mit diesem Kommi? Gute Frage! Da du nun schon seit knapp 6 Monaten hier nichts mehr veröffentlicht hast, ist die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass du jemals diesen Kommentar lesen wirst. Trotzdem würde es mich irgendwie freuen, mal wieder was von dir zu hören, wie's so steht beim Geschichten schreibe, usw. Vielleicht hast du ja jemals deine Minderwertigkeitskomplexe aufgeben können.
Naja, ich fand deine Geschichten immer toll, und ich denke, ich werde mir demnächst (wenn ich nicht mehr so im Klausurenstress bin) alle Geschichten nochmal durchlesen.
Vielen Dank fürs Hochladen!
MaryJane
Von:  Toshi
2007-12-11T20:26:34+00:00 11.12.2007 21:26
''Oh Gott.. nein.'' Das war mein erster Gedanke, nachdem ich das hier alles durchgelesen hatte.
Zuerst sah ich die Seitenzahl des Kapitels und war erstmal erschrocken. Ich wollte garnich erst anfangen zu lesen. Hab's dann aber doch getan und alle sechs Seiten hielten mich in einem Bann. Ich musste weiterlesen.
Erst dachte ich, Du sprichst von bzw. im Namen von Akane, und ich wurde leicht wütend, dass Du sie und Ranma sozusagen.. ''auseinander'' bringen 'wolltest'. Bis mir später klarwurde, dass Shampoo das hier alles sagt (bzw. denkt). Dann musste ich ernsthaft darüber nachdenken, über die Beziehung zwischen ihr und Ranma. Wenn man wirklich länger drüber nachdenkt und sich alles vor Augen führt, könnte Shampoo das hier alles wirklich sagen und denken. Nicht zuletzt, weil Du ihren niedlichen Akzent beibehalten hast. Sie gibt alles für ihn, um ihn für sich zu gewinnen, doch er weiß das garnicht zu schätzen.
Ich sehe Shampoo jetzt in einem ganz anderen Licht. Vorher hatte ich sie gehasst, weil sie sich immer an Ranma ranschmiss und die wenigen romantischen Momente zwischen Akane und ihn unterbrach. Wenn man alles von Shampoos Standpunkt aus betrachtet, ist Ranma ein verdammt Feiges Ar***loch. Anders kann man das garnicht ausdrücken. Und Shampoo tut mir jetzt unheimlich leid. Sie hat ihre Liebe, ihren Stolz und alles, was ihr wichtig war, verloren. Nur wegen Ranma. An der Stelle, wo Du das ausführlich beschrieben hast, musste ich ernsthaft weinen. Normalerweise weine ich nicht bei Texten. Normalerweise berühren sie mich nie so.
Ich mag Deinen Schreibstil wirklich, auch, wenn man manche Sätze öfter lesen muss, um sie zu verstehen. Man muss völlig auf den Text konzentriert sein, um ihn zu verstehen. Aber das sind sie wirklich wert.

Deine Geschichte von Shampoo hat mich ein wenig an mich erinnert, hat mich richtig berührt, deine Sätze bzw. Shampoos passen wie die Faust auf's Auge bei mir.. aber das ist jetzt irrelevant.

Es war auch mal toll nicht immer diese monotonen Liebesgeschichten zwischen Akane und Ranma lesen zu müssen. Das kommt nach einer Weile langweilig und sieht aus, wie eine Fortsetzung, die es nie geben würde, sich aber (fast) jeder wünscht. Sowas tut einem ab und an auch mal gut.

Im Großen und Ganzen würde ich jedem empfehlen diese sechs Seiten duchzulesen, auch, wenn sie erst ein wenig abschreckend wirken.
Man merkt, wie tiefgründig die einzelnen Sätze eigentlich sind und wie viel Gefühl dahinter steckt. Möglicherweise ist manches sogar auf eigener Erfahrung aufgebaut, aber das will ich garnich fragen, das geht mich nichts an. Ich könnte niemals sowas schreiben, dafür fehlt mir einfach die Geduld, die richtigen Worte für so viele Gefühle und Gedanken zu finden. Ein ganz großes Lob! Ich weiß nicht, wie lange Du an diesem sechs-Seiten-Text gesessen bist, aber es war sicher viel Arbeit.
Und mein Kommentar ist viel länger geworden als geplant. .____.
Von:  Deepdream
2007-11-07T23:57:26+00:00 08.11.2007 00:57
Nun habe ich allerlei Überlegungen angestellt, unzählige Entwürfe angefertigt und doch befiel mich Unzufriedenheit. Aus diesem Grund muss ich dir nun gestehen - als der Sünder, der ich zweifelsohne bin -, dass ich diesen Kommentar nun lediglich in diesen kleinen, weißen Kasten setzte. Jenen Kasten, der einem offen steht, besucht man die Animexx.de Seite, entdeckt eine gute Geschichte und entschließt sich kurzerhand eine Bewertung zurückzulassen.
Es ist nun allerdings nicht so, als hätte ich mir keine Gedanken zu diesem Kapitel gemacht. Die habe ich durchaus, keine Sorge also. Nur ist es so, dass mich diese Gedanken viel zu weit von der eigentlichen Geschichte entfernt hätten. Und da dieser Kommentar im Grunde der Geschichte und damit diesem Kapitel gewidmet ist, zentrierte ich meine Aufmerksamkeit alleinig auf dieses Beispiel deiner Kreativität.

Wie ich es dir schon tausendmal gesagt habe - und es stets wieder tun werde -, war ich von dieser Idee und gerade deiner Umsetzung sehr positiv eingenommen. Ich denke, ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass Xian-Pu nicht gerade zu meinen Favoriten zählt. Nun aber hast du es geschafft mir die kleine Amazone außerordentlich sympathisch zu machen. Daran hat sich auch in diesem Kapitel nichts geändert.
Ihre Auseinandersetzung mit ihrer Behinderung und ihrem Stolz war sehr gut dargestellt. Die Verweigerung jeder Hilfe in Sachen Training und die zugrundeliegende Begründung war menschlich und verständlich geschildert. Jedem ist ihr Stolz bekannt. Xian-Pus Stolz eine Kämpferin, eine Amazone und Ranmas Verlobte zu sein. Zwei Dinge waren ihr von einem Tag zum nächsten genommen worden. Angefangen bei ihrem Verlobten, gefolgt von ihrem Lebensweg und... Und? Und da fing sie an neue Kraft zu schöpfen. Sie realisierte, dass sie trotz allem noch immer eine Amazone war. Deswegen beschritt sie abermals den Weg einer Kämpferin.
Aus Stolz widerstand sie Ukyo oder eine der anderen weiblichen Kämpfer zu fragen und wählte einen weitaus fordernderen Kontrahenten. Den Zug.
Nun muss ich gestehen, dass ich anfangs habe grinsen müssen. Eine kleine Katze, die neben einem Zug herläuft? Eine kleine Katze, die noch dazu eine stolze Amazone war? Bald jedoch begriff ich in den Bahnen dieses stolzen Mädchens zu denken. Sie geht immerhin nur ihrer Lebensphilosophie nach - auch angesichts der größten Herausforderungen standhaft zu bleiben. Weswegen sie auch die größte Herausforderung im Wettrennen mit einem Zug gewählt hat.
Ebenfalls genieße ich die kleinen Einstreuungen von Xian-Pus Vergangenheit und Erfahrungen. So etwa die Reflektion über ihre kläglichen Anfänge als Katze oder ihr Wunsch die Beste in ihrer Altersgruppe zu werden und somit dem Erbe ihrer Urgroßmutter würdig zu sein. Ein Erbe, das schwer auf ihr lastete und von ihr forderte alles zu geben. Was sie auch jetzt kontinuierlich tut - daher ist der Zug eine wunderschöne Metapher.
Ein weiterer Aspekt, der mir sehr positiv auffiel, war die Schilderung der Situation im Ucchan's. Es ist interessant zu sehen, welches Leben eine Ausländerin tatsächlich im Japan der Neuzeit zu erwarten hat. Als Gaijin wird sie ignoriert, wegen ihrer Narben bemitleidet und wegen ihrem Fleiß widerwillig toleriert. Daher erfreute ich mich daran, dass sie letztendlich dennoch Anerkennung fand. Wenngleich es auch nicht viel wert ist, so hast du diesem 50 Yen Stück dennoch einen Wert verliehen. Somit wurde jenes unbedeutende Metall nämlich zu einem Symbol für Xian-Pus Adaption an ihr neues Leben. Hätte sie einstmals nicht viel von dem Trinkgeld gehalten und es ohnehin ihrer Großmutter überbracht, so nimmt es für Xian-Pu nun einen hohen Stellenwert ein. Man könnte also sagen, dass sie die kleinen Dinge im Leben zu schätzen gelernt hat. Eine sehr gelungene und schön inszenierte Charakterentwicklung - Kompliment.
Ein letzter Punkt noch - dann lasse ich dir Ruh' und Frieden - betrifft den Apfel. Es ist faszinierend wie du eine solche Bagatelle wie das Schälen eines Apfels zu einem fesselnden Thema umwandeln kannst. Einerseits ist eine wunderschöne, schlichte Unterhaltung zwischen Ukyo und Xian-Pu gewesen, andererseits erhielt auch der Apfel Symbolcharakter. Denn an ihm wird der Amazone ein weiteres Hindernis entgegen gebracht, allerdings eines an dem sie sich messen und wachsen kann. Der Apfel stellt eine weitere Stufe dar. Eine Stufe wohin? Nun, dass weißt wohl nur du, doch ich bin gespannt auf die Antwort. Eine Antwort, der ich wahrscheinlich erst im letzten Kapitel begegnen werde - so wie ich dich kenne.

Also verbleibe ich in ehrlicher Vorfreude auf das nächste Kapitel und befasse mich gedanklich mit einigen Fragen...

Wann wird Xian-Pu wieder mit Ranma und Konsorten konfrontiert?
Wann werden Cologne und Mu-Tsu zurückkehren?
Wird Xian-Pu den Apfel in einem Zug zu Schälen lernen?
Wird irgendwann der Tag ihrer Rache kommen?

Ich hoffe, du beantwortest mir diese Fragen irgendwann.

Bis dahin,

dein Deepdream.
Von: abgemeldet
2007-08-30T19:54:34+00:00 30.08.2007 21:54
tag auch. bin zwar noch ziemlich neu hier und geb eigentlich so gut wie nie ein kommi ab, aber verdammt deine geschichte ist brilliant. es ist so intensiv geschrieben das man am liebsten ranma für die art und weise wie er shampoo behandelt in den hintern treten will. was mich aber am meisten geschockt hat war, das wenn man seinen charakter wirklich als vorlage nimmt und sie mit einigen situationen aus den manga ergänzt, ranma durchaus zu so einem verhalten fähig ist (zumindest meiner meinung nach). auch hast du das innenleben von shampoo toll rüber gebracht. sie wurde ein ganzes leben lang auf ihre rolle als amazone vorbereitet, ihr charakter und praktisch ihre ganze existens hängen von diesen regeln und verhaltensgrundsätzen ab. sie jetzt mit einer solchen situation zu konfrontieren erfordert gerade hier auf animexx eine portion mut, wo viele geschichten auf dem ständig gleichen heile welt-shema bassieren. keine ahnung ob du was auf mein kommi gibst aber ich hoffe du schreibst diese geschichte weiter, sie ist es wert erzählt zu werden.

greetz illustrious
Von:  Deepdream
2007-08-17T20:21:11+00:00 17.08.2007 22:21
Ersteinmal vorab eine Entschuldigung - als wir telefonierten war ich noch bei meinem Onkel. Allerdings nur mehr für fünf Minuten wie mir durchweg klar war. Und nun rate dreimal, was ich in der Zeit davor - die nicht wirklich lange war - tat?
Exakt, ich las deine Geschicht, denn die Neugierde darauf hatte mich zerfressen. Und nein, hierbei handelt es sich nicht um eine Übertreibung, sondern reinste Wahrheit.
Vorab jedoch muss ich dir einfach ein Lob ausprechen, ehe ich es vergessen sollte, was an sich ein Frevel wäre.
Die Metaphern. Der helle Wahnsinn. Ich bin noch nie so schönen Metaphern begegnet. Jetzt ohne Witz, ich war geschockt. Nein, nicht, weil ich dir das nicht zugetraut hätte. Aber du musst verstehen. Es ist eine Sache, etwas zu erahnen. In diesem Falle deinen Sinn für derartige Bilder. Eine gänzlich andere Sache war es nun solche zu lesen.
Verzeih mir bitte diesen doch recht umgangssprachlichen Ausdruck, doch waren die Metaphern der reinste Hammer.
Und nicht nur die Metaphern leisteten großartige Arbeit darin eine unglaublich intensive Atmospähre herbeizuzaubern. Es war einfach irre, aber wenn du schriebst, konnte ich wirklich Shampoo hören. Ihre Gefühle waren so lebensnah beschrieben, dass ich das Gefühl hatte, meine Hand ausstrecken und ihr tröstend über das Haar streicheln zu können.
Okay, okay. Das Prinzip des Unfalls ist häufig gefallen, doch selten wurde es so intensiv, so bewegend in Szene gesetzt. Wie du meinen Worten und Sätzen sicherlich anmerkst, fehlt mir der rechte Kontext. Aber ich hoffe, du durchsiehst mein schreckliches Wirrwarr und entnimmst dir daraus meine hohe Meinung über dein Werk.
Darf ich unverschämt werden? Ich bin es einfach mal. Leg' vorübergehend alles auf Eis und schreib das nächste Kapitel. Bitte fass' das jetzt nicht falsch auf. Deine anderen Geschichten sind noch immer traumhaft und berühren und faszinieren wie interessieren mich - aber nach diesem Kapitel haben sie etwas von ihrem Glanz verloren. Ich hoffe, du kannst das positive in meinen Worten herauslesen. Denn was ich dir so umständlich zu vermitteln versuche, ist der schlichte Fakt, das du mit diesem Werk über dich hinausgewachsen bist. Um es in deinem Fachjargon zu formulieren: Du bist soeben vom Ultra- auf das Megalevel digitiert. Gratuliere Tamer!
Aber um den Ernst beizubehalten, wende ich mich wieder dem Kapitel zu.
Viele Autoren hätten den Fehler begonnen, bestimmte Charaktere von vornherein auszuklammern, - was an und für sich nicht schlimm ist - es aber dabei bewenden lassen. Keine Erklärung, keine winzige Info über deren Verbleib. Der Leser wundert sich und seine Stirn kriegt Falten.
Nicht so in deinem Fall. Bei kaum einem Charakter würde die Lüge einer Trainingsreise so perfekt erscheinen und zugleich perfide wirken. Natürlich eilte Cologne auf der Stelle ihrer Urenkelin hinterher - aus welchen Gefühlen oder Beweggründen auch immer. Das einzige, was mich etwas überraschte, war, dass sich Mousse tatsächlich an den Herd und in die Küche binden ließ. Ist es nicht für gewöhnlich er, der so hirnlos und passioniert seiner Shampoo hinterherjagt? Wie also haben sie ihn festgenagelt? Drogen? Das Einflössen eines Verantwortungssinnes?
Sicherlich wirst du im Verlauf der Geschichte noch seine Seite der Geschichte ein wenig erhellen und darauf freue ich mich bereits jetzt.
Obwohl es wirklich traurig ist, das man Shampoo so bösartig mit Nichtbeachtung straft. Sie wird für Ranmas ständige Rückgratlosigkeit verletzt und verkrüppelt und dieser selbstgefällige kleine Schweineschwanz - ein englischer Seitenhieb! - machte sich ein hübsches Leben mit seinem Flittchen. Gewiss klingt das nun anmaßend und gemein, nachdem man seine oder Akanes Seite der Dinge noch nicht beleuchtet hat, aber! genau diese Gefühle sollen im Leser geweckt werden. Der Leser soll sich nicht fragen wie Ranma oder Akane sich fühlen oder welche Motive Ukyo wirklich hat - der Leser soll Shampoo nur zustimmen und sie anfeuern. Denn das ist es was diese Geschichte anpeilt: Eine Fixierung des Lesers auf einen Charakter.
Und bei Gott, dass kriegst du brilliant hin.
Verdammt, allem Anschein nach ist meine verbleibende Zeit aufgebraucht. Die letzten Reste des Kommentars sind getippt. Es ist 21:14 Uhr und Animexx nervt mich mit Fehlermeldungen. Doch diese Review wird erscheinen! und wehe wenn nicht!!

Also bis morgen mein kleiner Schatz,

dein Deepi.


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