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Von Pflicht und Ehre

von

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Lavandula

Vielen Dank an dieser Stelle denjenigen, die mir mit ihrem Kommentar und ihrer Unterstützung Mut und Motivation zu diesem neuen Kapitel gegeben haben: Deepdream und illustrious.
 

3. Lavandula
 

Herausfordernd strich mir der Wind durchs Fell – eine Herausforderung, schneller als er zu laufen, ihn zu überholen und in unserem stillen Wettkampf zu besiegen.

Doch noch war nicht er mein Gegner – seine Einladung zum Kampf würde ich noch ein wenig länger nicht annehmen können. Bevor ich mich an ein solches Duell heranwagen konnte, musste ich erst gegen etwas anderes kämpfen.

Der Morgen zog herauf, strich den wolkenfreien Himmel über mir in blassen, rötlichen Farben. Ich konnte fühlen, wie er sich näherte, und meine Haltung wurde starr, gespannt. Meine Pfoten zuckten – meine Sinne explodierten in einer Schärfe, die die Enden meiner Nervenbahnen versengten. Da kam er... Ich spürte ihn. Er näherte sich mit großer Geschwindigkeit, und doch würde ich ihn besiegen.

Ich konnte ihn fühlen – leichte, immer stärker anschwellende Vibrationen des Bodens, welche von meinen sensiblen Pfoten aufgefangen wurden. Mein Puls schwoll an, jagte heißes Blut durch meinen Körper, stimmte mich auf den Kampf ein. In meinen Ohren dröhnte der Lärm, den er verursachte, mein Nackenfell stellte sich prickelnd auf, als ich ihn von hinten herannahen spürte. Gleich würde er die Startlinie passieren, die ich festgelegt hatte.

Mein Ziel hatte ich klar vor Augen – ich war bereit. Heute würde ich es schaffen.

Fünf Sekunden noch – ich duckte mich, zum Sprung bereit.

Drei Sekunden noch – unwillkürlich fuhr ich die Krallen aus, um mehr Griff für meinen Sprint auf der Asphaltstrecke und auf dem Schotter zu haben.

Eine Sekunde noch.

Die Jagd begann.

In dem Moment, in dem der Zug donnernd über die Schienen direkt neben mir rollte, sprintete auch ich los. Die drei Pfoten, die ich noch benutzen konnte, setzte ich zur vollen Kraft ein – meine unbrauchbare Pfote nutze ich nur sporadisch, um mein Gleichgewicht in unserem hitzigen Duell beizubehalten. Heiß und schmerzhaft brannten die empfindlichen Unterseiten meiner Pfoten, als ihre Oberfläche von groben Steinen und Schotter entlang der Bahnschienen aufgeraut und aufgerissen wurden, und dennoch gab ich nicht auf. Fünfundzwanzig Meter – nur fünfundzwanzig Meter mit ihm mithalten musste ich. Das war mein heutiges Ziel.

Fünfundzwanzig Meter neben dem lauten, rasend schnellen Ungetüm.

Unglaublich laut dröhnte er in meinen Ohren, und bereits nach wenigen Metern sah ich meine Felle auf dem Fluss davon schwimmen. Wagon um Wagon zog schnaufend, keuchend und ratternd an mir vorbei – trotz all meiner Bemühungen.

Obwohl ich nicht glaubte, dass es möglich sei, versuchte ich mich noch mehr ins Zeug zu legen, warf meine Pfoten so schnell und kraftvoll es mir möglich war nach vorne. Mein Brustkorb schmerzte und drohte, mit jedem weiteren Satz, jedem weiteren keuchenden Atemzug zu bersten.

Die Koppelung des letzten Wagons tauchte neben meinem Kopf auf, und ich wusste, ich musste mich beeilen. Wenn ich schon nicht mit ihm mithalten konnte, so wollte ich mein Ziel zumindest so weit erreichen, dass ich die Distanz bewältigte, bevor der Zug vollständig an mir vorübergezogen war.

Noch fünf Meter, drei Meter, und schon tauchte das letzte Fenster des Abteils über mir auf.

Den letzten Meter sprang ich, in dem verzweifelten Versuch, es doch noch vor dem Zug über die Zielmarkierung, bestehend aus einem Andreaskreuz zu Beginn des Industrie- und Gewerbegebietes, zu schaffen.

Mein kleiner Körper reckte und streckte sich im Flug, der Gegenwind schlug mir ins Gesicht und versuchte mich abzubremsen – aber als ich mit zu viel Schwung und Wucht aufkam, beides ohne die Unterstützung meiner zweiten Vorderpfote nicht abfangen konnte und mich im Schotter und auf den Steinen überschlug, war ich glücklich.

Meine Beute, mein Opponent in unserem allmorgendlichen Duell, zog über seine im Morgenlicht gleißenden Schienen auf und davon, weit, weit weg.

Ich war glücklich – denn heute hatte ich mein Ziel erreicht. Heute hatte ich ihn besiegt, meinen metallenen Gegenspieler. Zwar sehr knapp, da ich nur kurz vor seiner letzten Koppelungsstelle auf Höhe des Andreaskreuzes die Ziellinie überquerte, aber immerhin.

Hitze staute sich unter meinem dichten Fell auf, trotz der Kühle des herbstlichen Morgens. Katzen haben kein so umfassendes, körpereigenes Kühlungssystem wie Menschen. Menschen sondern zum Schutz vor Überhitzung am ganzen Körper Wasser, mit darin gelösten Salzen aus, damit dieses beim Verdunsten die sogenannte Verdunstungskühle bringt – die gleiche Kühle, die einen nach einer warmen Dusche frieren lässt.

Katzen hingegen schwitzen nur an wenigen Stellen des Körpers, und haben nur wenig Ausgleich der Hitze entgegenzusetzen – weshalb ich mit offenem Maul hechelnd einfach auf dem steinigen Untergrund liegen blieb. Da Katzen an ihren Pfoten und zwischen den Zehen schwitzen können, empfand auch ich nun eine angenehme Kühle an meinen zerschundenen Pfoten.

Ja, ich hatte es geschafft. Mein Trainingsziel hatte ich erreicht.

Jeden Morgen trainierte ich nun so – als Katze. Jeden Morgen versuchte ich, den 8 Uhr Zug zu überholen. Als die Dämmerung noch nicht so spät hereinbrach, war der 6.30 Uhr Zug mein Gegner – was sich besser mit meiner Arbeit vertragen hatte.

Obwohl sie mich nicht darum gebeten hatte, hatte ich bei Ukyo zu arbeiten angefangen. Anfangs kam ich mir noch sehr unbeholfen vor, aber mittlerweile glaubte ich, ihr doch eine gewisse Hilfe zu sein, und bildete mir ein, mit meiner Unterstützung dafür zu sorgen, dass sie nicht mehr ganz so abgearbeitet und erschöpft war. Noch konnte ich nicht viel tun – ich hatte stets mit beiden Händen gekocht, gearbeitet und geputzt. Es war sehr mühsam und umständlich, plötzlich nur noch eine Hand benutzen zu können und zu lernen, nur mit dieser einen Hand auszukommen.

Aber ich übte mich darin.

Mein Trainingslauf am Morgen war ursprünglich auch als eine Art Bewegungstraining für meine Hand beziehungsweise Pfote gedacht – aber alle Hoffnungen auf eine Genesung und ein Wiedererlangen meiner früheren Bewegungsfertigkeiten musste ich schnell verwerfen. Egal, wie schnell ich lief, egal wie sehr ich mich anstrengte – ich konnte sie allerhöchstens als unbewegliche Stütze, wie eine Holzkrücke benutzen, um mein Gleichgewicht für kurze Zeit während dem Lauf zu stabilisieren. Ich spürte weder das Brennen der aufgerauten Haut noch das leicht schmerzhafte Pochen des Blutes in den stark durchbluteten Arealen meiner Beine, wie ich es in meinen anderen Gliedern und Pfoten empfand. Obwohl ich auch an dieser Pfote schwitzen musste, spürte ich dort keine Kühle – obwohl auch dort der Wind nun nach dem wilden Rennen liebkosend durch mein weiches Fell strich, konnte ich an diesem Bein ab dem Handgelenk, welches im Körperbau einer Katze noch etwas anders gelagert ist, als bei einem Menschen, nicht mehr die kühlen Finger aus Luft spüren, die mir wohltuend über meinen restlichen Körper fuhren.

Gleich meiner Bemühungen, egal, was ich tat – meine Hand, beziehungsweise Pfote bis hin zum Katzen-Handgelenk, war nichts weiter als ein nutzloser Anhang, ein Stück totes Fleisch. Dass ich überhaupt noch eine linke Hand hatte, wusste ich nur, weil ich ihr Gewicht noch an meinen Unterarmsehnen, -muskeln und -knochen spürte.

Warum also versuchte ich es jeden Morgen aufs Neue? Warum machte ich mich selbst zum Narren? Warum versuchte ich so etwas Unsinniges, wie mit einem Zug mithalten zu wollen?

Es ging mir nicht um den Zug an sich, so größenwahnsinnig und dumm war ich nicht, mich jeden morgen zu verausgaben, nur, damit ich sagen konnte, ich könnte so schnell wie ein Zug laufen. Himmel noch mal – ich konnte meine spärlichen Erfolge nur deshalb verbuchen, weil die Schienen das metallene Ungetüm durch ein belebtes und bevölkertes Gebiet führten, und der Zug somit seine Geschwindigkeit auf einen Minimalbetrag reduzieren und drosseln musste.

Nein, darum ging es mir nicht.

Das war meine Art des Trainings. Ich brauchte eine Art Sparring- Partner. Jemand, mit dem ich um die Wette eifern, an dem ich mich messen konnte. An und für sich trainierte ich vor meinem Unfall nicht häufig. Ich wusste, dass ich stark war – ich wusste, dass mich in ganz Nerima kein weibliches Wesen in der Kategorie martial arts besiegen konnte, meine Urgroßmutter ausgenommen. Das war alles, worum es mir ging.

Die stärkste Frau zu sein, sodass er gezwungen war, mich zu wählen. Wenn er starke Nachkommen wollte, so musste er die beste Kämpferin als Gefährtin auswählen. Die beste Kämpferin war ich, direkt nach meiner Urgroßmutter.

Und Urgroßmutter würde er wohl kaum zur Gattin nehmen.

Als ich noch jung war, war ich auch stets von dem Trieb beseelt, die Beste zu sein – dort jedoch aus Prestigegründen. Da ich die Nachfahrin der großen Cologne war, musste ich mich ihrer würdig erweisen. Ich musste beweisen, dass ich im Gegensatz zu meiner Mutter wert war, mit ihr assoziiert zu werden.

Also musste ich meinen Altersgenossinnen in punkto Kampffertigkeiten und Geschick stets Meilen voraus sein – ich musste selbst mit den erfahrenen von uns mithalten können.

Wie besessen kämpfte und trainierte ich, nur, um stärker, schneller und geschickter als alle anderen zu sein. Ich trainierte nicht auf die konventionelle Art.

Ich stellte mich nicht einfach hin und hieb auf ein Stück lebloses Holz oder dergleichen ein.

Das war mir zu eintönig, langweilig und, ehrlich gesagt, zu stupide.

Von klein auf wusste ich, was ich wollte – ich wollte nicht trainieren, ich wollte mich im Kampf beweisen und lernen.

Als damaligen Sparring-Partner kam mir damals nur Urgroßmutter in den Sinn. Sie war bei weitem eine der Stärksten in unserem Dorf, sie gehörte zu den großen Drei. Ich glaubte, dass nur sie es wert sei, mein Mentor zu sein.

Außerdem würde sie meine Niederlagen und Schwächen nicht an die anderen weitergeben, sodass diese nicht über mich lachen und lästern konnten. Wenn ich dann Trainingskämpfe mit Gleichaltrigen abhalten sollte, war ich ihnen durch meine Kämpfe mit Urgroßmutter immer ein bisschen voraus. Das spornte mich an. Zu wissen, dass ich etwas wert sein konnte, wenn ich mir Mühe gab, zu sehen, wie andere mein „Talent“ bewunderten, was in Wirklichkeit nichts weiter als stundenlanges, knochenhartes Training, also Extraunterricht meiner Urgroßmutter war.

Man mag es Betrug oder Vortäuschung falscher Tatsachen nennen – ich hingegen nenne es einen Ausgleich. Ausgleich dafür, dass sie sauberes Blut hatten – ein unfairer Vorteil mir gegenüber, mir, mit meinem dreckigen Blut.

Ausgleich dafür, dass sie es mich Tag für Tag wissen ließen, wie sehr sie mich und meine Mutter verachteten und glaubten, mich nach den Fehlern meiner Mutter beurteilen zu können.

Irgendwie musste ich doch versuchen, in ihnen den Glauben zu wecken, dass ich irgendetwas aber vor allem wert war, die Urenkelin der großen Cologne genannt zu werden.

Da ich so gut wie Urgroßmutter werden wollte, kämpfte ich mit ihr. Zu ihr sah ich auf, sie verehrte ich. Eines Tages wollte ich auch so gut und anerkannt wie sie sein. Dann würde man vergessen, dass mein Blut unrein war.

Warum lief ich nun also mit einem Zug um die Wette? Warum tat ich so etwas Törichtes?

Diesmal wollte ich nicht so stark wie mein Gegner werden.

Diesmal ging es mir einfach nur darum, wieder in Form zu kommen. Nach meiner langen Bettruhe im Krankenhaus war ich vollkommen verweichlicht – meine Muskeln waren schwach, meine Sinne abgestumpft.

Irgendwann konnte ich es einfach nicht mehr ertragen, meinen Körper so schwach im Spiegel zu sehen. Gegen die Narben konnte ich nichts machen – aber gegen diese widerwärtige Schwäche schon.

Was war also die Lösung? Training! Doch gegen wen sollte ich kämpfen? Meine Urgroßmutter war fort – mal ganz davon abgesehen, dass ich ihr ohnehin nicht unter die Augen treten konnte, solange ich noch derartig schwach und entehrt war.

Gegen einen Mann kämpfen?! Nie!

Die einzigen würdigen Trainingspartner beschränkten sich auf drei. In ganz Nerima gab es nur drei Frauen, die halbwegs kämpfen konnten. Von Ukyo wusste ich, dass sie eine fähige Kämpferin war – obwohl ich mich nicht daran entsinnen kann, jemals einen ihrer Kämpfe gesehen zu haben. Da er sie jedoch als Verlobte einst akzeptiert hatte, musste sie relativ stark sein.

Da gab es noch dieses Rosenmädchen, deren Namen ich mir nicht behalten konnte – ich wusste nur, dass er, der Name, eine Mischung aus dem Namen einer bekannten Fototechnikfirma, deren Produkte immer orangegelb verpackt sind, und einem Niesen war.

Selbst wenn ich sterben müsste – mit dieser Person würde ich mich nie einlassen. Sie erschien mir stets ein bisschen verrückt – nicht nur war sie extrem aufdringlich, sondern hatte auch ein ganz abscheuliches, irres Lachen.

Als letztes wäre mir nur noch Akane in den Sinn gekommen – obwohl sie eigentlich keine würdige Trainingspartnerin war. Im besten Falle war sie ein brutales, grobschlächtiges, dummes Mädchen, dessen spannendes Hobby es war, Steine zu zertrümmern.

Für meine Zwecke also nicht nur wegen der quälenden Erinnerung unqualifiziert.

Zumindest wollte ich das glauben.

Letztendlich hätte ich mich nie für eine von ihnen entscheiden können – wegen meinem Stolz. Es hätte das letzte bisschen, was ich noch von meinem Stolz zusammenkratzen konnte, gekostet, eine von ihnen um Hilfe bei meinem Training zu bitten. Und wahrscheinlich hätte es mich umgebracht, vor ihnen die Schwäche zu zeigen, die mich machtlos machte, oder ihre Reaktionen auf eben diese Schwäche zu sehen.

Die Lösung fand ich, als ich eines morgens spazieren ging. Ich genoss meine morgendlichen Spaziergänge, denn sie halfen mir, meine Gedanken ein wenig zu ordnen, bevor Ukyo ihren Laden öffnete und der Trubel losging. Während eines solchen Spaziergangs war es, dass ein Zug unter der Brücke hindurchfuhr, auf der ich stehen geblieben war, um die Aussicht auf die ersten Spuren, die der anbrechende Spätsommer auf Nerima hinterließ, zu genießen.

In eben diesem Moment, in welchem ich seine Schnelligkeit und mechanische Ausdauer bewunderte, kam mir die entscheidende Idee zu meinem Training.

Doch sollte ich als Mensch nebenherlaufen? Das hätte doch ein wenig merkwürdig ausgesehen.

Natürlich bestreite ich nicht, dass ich als Katze weniger lächerlich wirkte, wie ich Morgen für Morgen auf den Zug wartete, um ein kleines Rennen gegen ihn zu laufen – aber so würden keine Gerüchte über die ohnehin schon berüchtigte Shampoo in Umlauf kommen, dass sie komplett den Verstand verloren habe.

Eine etwas durchgedrehte Katze wird im Gegensatz zu einem als verrückt eingestuften Menschen allgemein eher als niedlich als gefährlich empfunden.

Warum als Mensch trainieren, wenn ich dies auch geheim und inkognito als Katze tun konnte?

Und das konnte ich! Die Muskeln, die ich als Katze aufbaute und die Stärke sowie Geschicklichkeit, übertrug sich auch auf meinen menschlichen Körper – sowie dies umgekehrt ebenfalls der Fall war.

Das hatte ich schon sehr früh entdeckt, und zwar an dem Tag, an dem ich mich das erste Mal in eine Katze verwandelte.

Da ich in der Gegend aufgewachsen war, kannte ich natürlich die dunklen Geheimnisse des Sagen umwobenen Trainingsgeländes der verfluchten Quellen. Natürlich wusste ich, dass man Gefahr lief, verwandelt zu werden, stürzte man in eine Quelle.

Früher glaubte ich zwar nicht an diese böse Magie, aber als ich sie am eigenen Leib erfuhr, wusste ich, dass sie doch existierte. Leugnen war zwecklos. Ich war eine Katze. Mit vier Pfoten, Fell und allem was dazu gehört.

Es hatte zwar ein wenig gedauert, bis ich den Grund dafür herausgefunden hatte, warum ich plötzlich nicht mehr auf zwei Beinen laufen konnte, und warum alles auf einmal so vollkommen anders war, aber als ich endlich realisierte, dass ich in dem Körper einer Katze steckte, nun... Es wäre töricht gewesen, alles als abergläubischen Unfug abzutun, wenn ich nicht einmal mehr Reden, sondern nur noch Miauen, Schnurren und Fauchen konnte.

Nun – auch wenn ich früher nicht an die verfluchten Quellen und ihre Magie glaubte – ich hatte gehört, dass man sich verwandelt, wenn man in eine von ihnen fällt.

So gesehen war das also nicht Neues in dem Sinne für mich gewesen.

Wie aber sollte ich mich zurückverwandeln? Darüber hatten sich die Gerüchte großzügig ausgeschwiegen.

Großmutter und ich trainierten damals zusammen, aber sie ließ sich Zeit damit, mich zurückzuverwandeln, und mir die Verwandlung nachvollziehbar zu erklären. Das war ihre Lektion „Lerne die Leistungen eines Tieres zu schätzen und deine einzuschätzen“.

Oh ja, die Lektion hatte ich gut gelernt. Am Ende des Tages war ich vollkommen fertig.

Nie hätte ich mir vorgestellt, dass es so anstrengend sein könnte, eine Katze zu sein.

Im Vergleich zu einer Katze waren meine Sprungfertigkeiten vollkommen unterentwickelt, und ich verstand, was meine Urgroßmutter mir sagen wollte.

Dadurch, dass ich in dem Körper einer Katze einen ganzen Tag verbringen musste, ehe Urgroßmutter mich mit heißem Wasser übergoss, lernte ich sehr viel über Katzen – und über ihre beeindruckenden Fertigkeiten.

Dieser Katzenkörper besaß lediglich meine menschlichen Fähigkeiten – die, auf den Katzenkörper übertragen, im Vergleich zu anderen Katzen absolut mangelhaft waren. Ich lernte die Leistungen von Katzen schätzen – und konnte meine mit ihnen vergleichen und erkennen, dass ich noch sehr viel zu lernen hatte.

Als ich am nächsten Tag als Mensch aufwachte, plagte mich ein solcher Muskelkater, dass ich kaum aufstehen konnte. Erst da begriff ich völlig – würde man mich mit den Anforderungen konfrontieren, denen eine Katze ständig gegenüber stand, so würde ich kläglich versagen.

Und noch eines zeigte dieser Tag: Das Training und die Art, wie ich meinen Katzenkörper beanspruchte, wirkte sich auch direkt auf meinen menschlichen Körper aus.

Somit machte es durchaus Sinn, als Katze gegen den Zug anzutreten. Ein ungestörtes Training, ohne meine Schwäche zu entblößen und meinen Stolz zu verletzen, war also doch durchaus möglich.

Langsam beruhigte sich mein Atem – und trotzdem blieb ich noch ein wenig auf den relativ unbequemen Steinen liegen. Vor mir befanden sich die Schienen, die helles Sonnenlicht reflektierten und mir in mein Katzengesicht warfen, sodass ich ruhig meine Augen schloss.

Die Sonne wärmte mich nun angenehm, nachdem die Hitze der sportlichen Aktivität nachgelassen hatte. Ich fühlte mich zufrieden und wohl – ja, heute hatte ich den Kampf gewonnen – wenn auch sehr knapp. Damit hatte ich die Bestätigung, dass ich mich weiterentwickelt hatte. In den Anfangstagen meines Trainings war ich sehr viel schwächer gewesen.

Allerdings war ich wohl nicht ganz so allein und unbeachtet, wie ich glaubte.

„Na, kleine Katze – hast du es diesmal geschafft, ja?“

Ich schreckte auf und sah einen jungen Mann neben mir. Misstrauisch musterte ich ihn, rührte mich jedoch nicht.

Er machte eine Bewegung auf mich zu und ich sprang hastig auf meine Pfoten. Was wollte er?

„Schh. Ganz ruhig, ich tue dir nichts!“ Seine Stimme klang auch nicht sonderlich bedrohlich, aber man konnte ja nie wissen.

Er machte noch einen Schritt auf mich zu, ich wich einen weiteren zurück.

„Sieh mich mal ganz genau an, kleine Katze. Meinst du wirklich, ich könnte so einem schönen Tier wie dir etwas antun?“

Der Kerl war doch nicht ganz dicht. Redete der immer so mit Katzen?! Dann hatte er ordentlich einen an der Waffel.

Ich wich nicht weiter zurück, als er die Distanz zwischen uns schloss und sich langsam zu mir herunter beugte.

Was hatte er gesagt? Ich sei schön? Das konnte er nicht ernst meinen.

Vorsichtig strich er mir über den Kopf und murmelte irgendwelche Sachen, die für mich keinerlei Sinn ergaben. Obwohl ich empört darüber war, dass er mich für eine einfache Straßenkatze hielt und ich mich für gewöhnlich nicht von jedem x-beliebigen Penner streicheln ließ – hatte der überhaupt ne Ahnung, wie schwer es war, mein Fell wieder zu richten, nachdem er es verwuschelte? – lief ich nicht fort. Etwas an ihm faszinierte mich.

Er war einfach lieb zu mir – ohne Grund, ohne dass ich etwas anderes für ihn tun musste, als still zu halten. Still halten fiel mir ja nicht schwer – er hatte sehr talentierte, warme Hände, die fast schon zärtlich über mein Fell strichen und mir gegen meinen Willen ein Schnurren entlockten.

Ein freundlicher, netter Japaner, der sich lediglich freute, dass es mich gab – auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt eine Katze mit niedlichem, kleinen Näschen und großen Augen darstellte.

In meinem bisherigen Aufenthalt in Japan war mir ein solcher noch nie untergekommen.

Ukyo war zwar auch nett zu mir – aber nur, weil sie mich brauchte. Sie wollte nicht allein sein.

Das verstand ich, und ich nahm es ihr auch nicht übel – im Gegenteil. Ich wollte ja auch nicht alleine sein und brauchte Hilfe.

Aber dieser junge Mann war ohne Grund nett zu mir.

„Kleine Katze, was hast du nur mit deinem Pfötchen gemacht? Ich habe einen Freund, weißt du, der ist Tierarzt. Der könnte sich deinen Fuß mal angucken...“

Bei dem Wort Tierarzt kam mein grübelndes Selbst wieder in die Realität zurück. Tierarzt? Spritze? Nein Danke!

Schneller, als es jeder Zug je sein könnte, huschte ich auf eine nahe gelegene Mauer und musterte ihn böse von oben.

Er lachte. Warum lachte er?

Ich knurrte.

„Na gut, dann kein Tierarzt. Viel Glück für morgen, kleine Katze – morgen schnappst du dir den Zug ganz bestimmt!“ Woher wusste er...?

Damit ging er. Und ich konnte mich nur noch wundern.

Irgendwie mochte ich ihn. Er war weder besonders gutaussehend, noch wirklich attraktiv. Dichtes, kastanienbraunes Haar, eine Brille und lachende Augen – das war das einzige, was ich bewusst an seinem Aussehen bemerkt hatte. Er konnte gut streicheln und hatte eine warme Stimme.

Und da dachte ich, es gäbe keine netten Japaner!

Irgendwie wärmte mich der Gedanke von innen, dass es in diesem kühlen, steifen Land der Förmlichkeit – in manchen Fällen auch der Verrücktheit und des Wahnsinns, siehe Kodak, oder Hatschi, oder was weiß ich – auch ganz normale Menschen mit ein bisschen Herz, wenigstens für Katzen, gab. So machte ich mich unbeschwerten Gemüts auf zu meiner Arbeitsstelle, zu Ukyos Laden. Eilig huschte ich über Mauern und Dächer, um den Weg abzukürzen.

Meine Arbeitgeberin war nicht streng mit mir, was meine Arbeitszeiten anging. Im Grunde genommen verlangte sie nicht einmal von mir, dass ich überhaupt etwas arbeitete.

Aber ich wollte pünktlich sein – ich wollte ihr zeigen, dass sie mir in diesem Punkt meiner Zuverlässigkeit Vertrauen entgegenbringen und meinen Arbeitswillen anerkennen konnte.

In ihrem typischen Edelmut war sie davon überzeugt, dass ich ein Gast in ihrem Hause war, und Gäste sollten ihrer Ansicht nach nicht arbeiten. Die Ansicht teilte ich nicht. Ich war nicht ihr Gast, sondern ihre Verbündete. Eine Alliierte im Kampf gegen Erinnerungen und verbotene Wünsche.

Als ich ankam, zog Ukyo gerade die Rollos vor der Ladentür und dem großen Fenster hoch, von welchem aus man als Gast auf die Straße und die Passanten sehen konnte. So elegant es meinem Körper mit drei Pfoten möglich war, sprang ich auf das Dach ihres kleinen Hauses und tapste über die Ziegel hin zu der Stelle, welche sich genau über Ukyos offen stehendem Schlafzimmerfenster befand.

Mittlerweile hatte ich Routine darin, punktgenau auf dem Fenstersims des offenen Fensters zu landen, und so erreichte ich sicher erst das Fenstersims, dann die Fensterbank und schließlich den Boden des Schlafzimmers.

Es benötigte nicht viel Zeit, mich zurückzuverwandeln und für meinen Arbeitstag bereit zu machen, sodass ich pünktlich mit dem ersten Kunden, der die Schwelle des Ladens übertrat, meinen Dienst anfangen konnte.

Meine Chefin hatte mir noch nie Anweisungen gegeben – ich tat einfach das, was nötig war, die Arbeit, die gerade anfiel. Da ich bereits früher in dem Restaurant meiner Urgroßmutter gearbeitet hatte, war mein Blick nun darin geschult zu sehen, was nötig war.

Was mich früher langweilte, und auch, zugegebenermaßen, in meinem Stolz kränkte, das genoss ich nun: Anderen Leuten das Essen servieren.

Die Zeit, in der ich bei Ucchan’s arbeitete, war in einem Punkt sehr lehrreich – endlich begriff ich die Lektion vollends, die Urgroßmutter mir einst hatte beibringen wollen. Der Grund, warum sie wollte, dass wir ein Restaurant und nicht ein sonstiges Geschäft hier in Japan führten. Nirgendwo sonst lernte man so viel über Menschen; ihre Gestik, Mimik und ihre allgemeine Interaktion. Es machte Spaß, ihnen einfach nur zuzusehen. Dutzende Menschen strömten von Stunde zu Stunde an die Tische und an den Tresen in Ukyos Laden und erwarteten, dass wir schnellstmöglichst ihren Hunger stillten, auf dass sie schnell weitereilen und ihr Leben führen konnten. Alles musste schnell gehen, alles in einem farbenfrohen, aber unpersönlichen und kühlen Wind.

Ich hatte gelernt, meinen Mund zu halten und nur noch zu lächeln. Das schienen die Leute zu wollen – ein Hauch von Freundlichkeit, eine Spur von persönlicher Nähe.... aber nicht mehr. Sobald sie an meiner Aussprache und meinen sprachlichen Schwächen merkten, dass ich keine gebürtige Japanerin war, begegneten viele mir, wenn nicht gerade unhöflich, dann doch sehr distanziert. Was war so schlimm daran? Was war so schlimm daran, dass ich nicht die Worte in meinem Mund so biegen und brechen konnte, wie sie es vermochten?

Wenn Fremde die Gegend um mein Dorf besuchten, fand ich persönlich ihren Akzent recht sympathisch. Was hatten Japaner gegen alles Fremde, alles Neue? Die Welt gehörte nun mal nicht nur ihnen! Es gab auch noch andere Menschen, andere Sprachen, andere Kulturen, die verglichen mit ihrer eigenen nicht minderwertig waren.

Anstatt mit Offenheit begegnete man dem spannend Neuen mit pikierter Reserviertheit. Es gibt doch so viel Schönes auf der Welt! Auch in meinem Land! Auch meine Heimat, meine Kultur, meine Bräuche konnten schön sein – aber sie wollten das alles gar nicht wissen.

Für Japaner sind Ausländer keine Bereicherung ihres Horizonts – anstatt sich zu freuen, eine Chance zu haben, Fremdes kennen zu lernen und jemand anderem die eigene Kultur nahe zu bringen, wurden wir nur als Fremdkörper, als eine Art Schmarotzer angesehen.

Warum?

Früher, vor meinem Unfall, lächelten mich des öfteren Leute wegen meinem Aussehen an – hörten sie mich sprechen, wurde ihr Verhalten schon gleich sehr viel kühler.

Auch im Ucchans war es nicht unbedingt anders – obwohl sich in Ukyos kleinem Restaurant niemand der warmen, persönlichen Atmosphäre, der Gemütlichkeit von Ukyo und ihrem Laden entziehen konnte.

Ukyos Kunden waren nicht ganz so schlimm – wenn sie sich erst einmal an mich gewöhnt hatten. Meine Sprache hatte einige zuerst abgeschreckt – und so sprach ich nicht mehr viel, lächelte und behalf mir eher mit Gesten und „richtig“ japanischen Sätzen, die ich heimlich übte.

Meine Sprache war eine Sache – eine andere waren mein Gesicht meine Narben.

Selbst der freundlichste Mensch würde sich wahrscheinlich bei meinem Anblick etwas verunsichert fühlen und, ja, starren. An das ewige Starren und Mustern hatte ich mich gewöhnt – auch daran, dass die Leute sich still liebend gerne ausmalten, was mir wohl passiert sein mochte.

Vielleicht ein Unfall beim Kochen? Vielleicht war ich ja aber auch schon immer eine Missgeburt?

Lächeln, so tun, als bemerke man nichts, immer freundlich bleiben – irgendwann würden sie sich an mich gewöhnen. Das war mein immerfort währendes Mantra. Eines Tages würde ich perfektes Japanisch sprechen, eines Tages würden die Menschen nicht mehr so starren und mir das Gefühl zu geben, ein Außerirdischer zu sein.

Ich wusste selbst gut genug, dass ich nicht „dazu gehörte“. Wie konnte ich? Ich konnte ihre Sprache nicht richtig sprechen. Meine Haarfarbe war ein relativ ungewohnter Anblick für ihre Augen – ganz zu schweigen von meinen Verletzungen.

Möglicherweise sah ich aus wie ein Außerirdischer, und war hier, in dieser kühlen Welt nicht wirklich zu Hause, aber in mir schlug immer noch ein menschliches Herz – so zerrissen und stümperhaft geflickt es auch sein mochte, auch wenn es nur noch von meinen verzweifelten Händen zusammengehalten wurde – ein menschliches Herz.

Wie gesagt – Ukyo und das gemütliche Ambiente dämpfte viel dessen, was ich als nicht einmal mehr hübsch aussehende Chinesin zu befürchten hatte.

Das beschützte mich jedoch nicht vor den misstrauischen Blicken, die mir nicht gönnen wollten, dass ich mich mit „ihrer Ucchan“ assoziierte. Ich war nicht die einzige, die Ukyos freundliches, warmes Wesen schätzte – ihre Kunden kamen aus zwei Gründen in Strömen:

Einerseits, weil sie Ukyo sehr mochten. Die junge, unabhängige, stets freundliche Ukyo, eine ausgezeichnete Köchin.

Andererseits, weil ihr Restaurant so urig und, ja, japanisch war. Sie servierte typisch japanisches Essen, ihre Einrichtung war typisch japanisch – Ukyo selbst war in ihren Augen offensichtlich das Bild einer echten Japanerin. Fleißig, wohl erzogen, hübsch und höflich.

Wie passte da eine Chinesin rein?

In einem Chinarestaurant ist es durchaus nicht unüblich, meinesgleichen zu sehen. Dort sind wir auch gern gesehen – Japaner akzeptieren gaijin nur, wenn sie kochen können.

Aber dann auch nur in dem geeigneten Reservat, in meinem Falle, einem Chinarestaurant.

Nun platzte ich, eine Chinesin, in ihre japanische Idylle hinein. Hier, in Ucchans Laden, war die Welt für sie wohl immer noch in Ordnung gewesen – ohne heimtückische Chinesen und Ausländer, die nichts anderes im Sinn hatten, als zu schmarotzen, als Arbeitsplätze wegnehmen zu wollen.

Doch das alles war mir egal. Ich redete mir ein, dass Ukyo mich brauchte – ich hatte eine Mission. Ich musste dafür sorgen, dass sie nicht mehr so schrecklich müde aussah.

Diesen Japanern würde ich es zeigen! Auch sie würden mich irgendwann akzeptieren. Dafür würde ich sorgen.

Also hielt ich meinen Mund. Und lächelte. Und schwieg. Und lächelte.

Bedeutete Akzeptanz in diesem Land, seine Kultur, sein Land, sich selbst zu verraten?

Das wollte ich nicht. Ich war Xianpu, eine Amazone. Eine gefallene, vielleicht – aber ich war immer noch von hoher Abstammung. Ich hatte auch eine Kultur, ich hatte auch eine interessante Geschichte zu erzählen!

Das würde ich nie vergessen, schwor ich mir.

Mittlerweile erntete ich auch hier und da ein sporadisches, unsicheres Lächeln von den Kunden. Mein Fleiß schien sie zu beeindrucken. Ukyo war mit Kochen beschäftigt, also bediente ich, wusch das Geschirr, fegte vor dem Geschäft, hielt das Restaurant sauber, erkundigte mich mit wenigen, eingeübten Worten, ob noch irgendwelche Wünsche zu erfüllen seien, schnitt Gemüse, so gut es mit einer Hand ging, lächelte und schwieg.

Ja, sie schienen sich so langsam an mich zu gewöhnen – eine Chinesin, die nicht kochte, aber dafür fleißig war.

Und Fleiß ist neben Ehre und Geld unter anderem das Wichtigste für einen Japaner.

An diesem Tage sollte ich eine Überraschung erleben – Belohnung für meinen Fleiß, in Form von einem älteren Mann mit Falten um die Augen und zuviel Kleingeld.

Er war einer von Ukyos Stammgästen – jeden Nachmittag kam er in Ukyos Laden geschlendert, wenn gerade nicht so viel Betrieb war, das heißt wenn die übliche, für die Mittagszeit anberaumte Zeit verstrichen war.

Fein getrimmter Bart, ernste, aber freundliche Augen – im Alter ausdünnendes, dunkles Haar, von silbrigweißen Strähnen durchwoben. Unter dem Arm: Eine anerkannte, seriöse Zeitung über Politik und Wirtschaft. Er vermied es, sich an den Tresen zu setzen – er bevorzugte es, an dem großen Fenster im Sonnenlicht an einem kleinen, runden Tisch zu sitzen. Immer der gleiche Tisch, immer die gleiche Prozedur: Die Tür ging auf, die kleinen Glöckchen über ihr klangen leise, melodisch. Er trat ein, nickte Ukyo und mir zu, lächelte flüchtig und ging hinüber zu seinem Platz. Dort legte er seinen dunklen Hut, passend zu seinem ordentlichen Anzug ab und breitete seine Zeitung aus.

Nun kam mein Part. Nun lag es an mir, zu ihm hinüber zu gehen, mich leicht zu verbeugen, zu fragen, ob es das Übliche für den betreffenden Tag sei. Montags Okonomiyaki mit Pilzen und Crème frêche, also eher etwas leichtes. Dienstags Okonomiyaki mit Tintenfisch und als Beilage einen kleinen Salatteller. Für jeden Tag gab es eine gewisse Routine – beendete er seine Speise, dann war er meist beim Feuilleton angekommen, und es wurde Zeit für mich, seinen Kaffee zu servieren: Schwarz, kein Zucker, keine Milch.

So geschah es jeden Tag – er kam, er aß, er ging. Er redete nicht gern. Bevor er ging hinterließ er auf seinem Tisch den korrekt abgezählten Geldbetrag, auf den Sen genau, faltete seine Zeitung ordentlich zusammen, setzte seinen Hut auf und lächelte uns knapp ein letztes Mal zu, bevor die Glöckchen erneut klingelten.

An diesem Tag jedoch sollte mich eine Überraschung erwarten – als ich hinüber zu seinem verwaisten Tisch ging, um kurz dessen Oberfläche abzuwischen und das Geld einzusammeln, stutzte ich. Da stimmte etwas nicht – Ukyo hatte die Preise nicht angehoben, und dennoch lag dort eine 50 Yen Münze zu viel. Konnte er sich verzählt haben?

Nein – sicherlich nicht. Er kannte die Preise genau und zahlte immer völlig korrekt. Nicht mehr, nicht weniger. Also Trinkgeld. Das war mir auch schon früher in Urgroßmutters Restaurant begegnet.

So gedachte ich auch, mit meiner üblichen Routine in diesem Fall vorzugehen, erlebte jedoch auch hier eine Überraschung. Als ich noch bei Urgroßmutter gearbeitet hatte, kam es durchaus schon mal vor, dass man mir etwas Trinkgeld zuschob. Alles Geld hatte ich immer treu meiner Urgroßmutter gegeben – so war ich es gewöhnt, so dachte ich, geschehe es immer mit Trinkgeld.

Ukyo jedoch wollte davon nichts wissen. Sie freute sich darüber, dass man mir Trinkgeld gegeben hatte – nahm es allerdings nicht an. Mir persönlich unverständlich. Sie sagte, damit habe der Mann mir allein für meine Dienste danken und mich belohnen wollen. Das Geld gehöre also mir.

Was aber sollte ich damit anstellen? Mein Lohn bei Ukyo war Essen und Unterkunft – dafür brauchte ich also kein Geld.

Ukyo lächelte mich lediglich an und meinte, ich würde schon eine Verwendungsmöglichkeit finden. Damit war für sie die Diskussion beendet, auch wenn ich mir irgendwie schäbig vorkam – immerhin hatte sie, nicht ich das Essen gekocht.

Ab diesem Tag sollte noch viele Male die Rechnung nicht stimmen – und ich begann, mich über diese nette Geste aufrichtig zu freuen. Nicht wegen des Geldes, denn ich gab es nicht aus und hortete es. Sondern wegen der Geste.

Diese silbrig glitzernden 50 Yen aber hielt ich Tag für Tag bei mir. Durch das Loch in der Mitte der Münze zog ich einen reißfesten Faden und band mir meine neue Kette um den Hals, sodass ich diese eine Münze, mein erstes Trinkgeld, nie verlieren würde.

Am Abend dieses Tages, nachdem das Geschäft geschlossen und die Rollladen heruntergelassen waren, saßen Ukyo und ich noch ein wenig zusammen, wie es für uns nach einem solchen Arbeitstag üblich war. Vor uns stand jeweils eine Tasse warmer Tee und wir redeten über den Tag, über Alltägliches – wenn wir überhaupt redeten.

Zumeist saßen wir einfach relativ still beisammen. Ukyo zählte das Geld und überprüfte jeden Tag gewissenhaft das Verhältnis von Einnahmen und Ausgaben, während ich mir die Zeit anderweitig vertrieb und ihre Gesellschaft genoss.

Ich mochte es, neben ihr zu sitzen. Sie strahlte eine unglaubliche Ruhe aus, und so konnte auch ich zur Ruhe finden. Der hektische Tag hielt mich davon ab, zu viel an Dinge und Personen zu denken, an die ich einfach nicht denken wollte. Am Abend jedoch musste ich zur Ruhe finden, um nach dem stressigen Arbeitstag abschalten und mich entspannen zu können. Ukyo beschützte mich vor schmerzhaften Erinnerungen. Wanderten meine Gedanken gefährlich nah an Abgründe, die ich noch nicht breit war, zu erforschen, so rettete sie mich stets davor, weiter über die Dinge nachzugrübeln, die hätten sein sollen, aber nicht waren.

So sehr sie sich auch auf ihre momentane Aufgabe konzentrierte – sie war immer aufmerksam. Es war nicht fair von mir, sie so egoistisch auszunutzen, denn nichts anderes war es: ich nutzte sie aus. Ich nutzte ihre Wirkung und Ausstrahlung, ihre beruhigende Persönlichkeit aus. Ihre Gutmütigkeit, und den wohlwollenden Schutz, den sie mir großzügig gestattete.

Ja, sie musste so etwas wie mein Schutzengel sein. Im Krankenhaus hatte sie mich so oft besucht, dass ich wieder halbwegs zu mir zurückfand und die blutigen Fetzen aufsammeln konnte, die einst mein Herz waren, bevor sich die Geier Verzweiflung und Dunkelheit darüber hermachen konnten. Dann hatte sie mich bei sich aufgenommen, und nun fühlte ich mich fast so, als könnte auch ich irgendwie dazu gehören, als gäbe es auch irgendwo einen Platz für mich in dieser Welt.

Ukyo duldete mich, brauchte mich vielleicht sogar – ihre Kunden waren mittlerweile auch nicht mehr so kühl und distanziert. Hier hatte ich eine Aufgabe – vielleicht konnte ich hier einen Platz für mich finden, eine Art Nische für verkrüppelte Chinesinnen. Und vielleicht... vielleicht machte es jemanden ja irgendwann sogar glücklich, dass ich da war.

Ein Gefühl der Dankbarkeit empfing mein ganzes Sein und wärmte mich von Innen – Dankbarkeit der Person gewidmet, die mir gegenüber saß, dafür, dass sie mir die Chance bot, eben diese Nische zu finden. Ich musterte sie und fühlte auf einmal, dass Japan vielleicht doch nicht so schlecht war. Die meisten Menschen hier waren ausländerfeindlich, aber es gab auch solche wie Ukyo, eine Perle der Menschlichkeit in einer Geröllwüste aus Feindseligkeit.

Es war nur traurig, dass niemand diesen Menschen schätzen konnte oder wollte. Sie hatte so ein gutes Herz, und ihr Lächeln lockte, neben ihrem hervorragenden Essen, jeden Tag Massen von Kunden herein. Es konnte selbst das kaputteste Herz Wärme spüren lassen – selbst meines.

Paradox schien es, dass sie keinen Freund hatte. Natürlich wusste ich, warum dies der Fall war – selbst nach der langen Zeit, die ins Land gegangen war, nachdem er sich zu diesem Machoweib bekannt hatte, war auch sie noch nicht bereit, wieder zu lieben. Oder vielleicht liebte sie ihn ja immer noch, wer wusste das schon. Ich sah es daran, wie ihre Augen, wenn nicht so viel Betrieb im Laden war, weit in die Ferne blickten und wehmütig, sehnsüchtig nach etwas suchten. Freundlich und höflich lehnte sie stets alle Angebote von jungen Männern ab, auszugehen. Traurig und einsam wisperte sie des nachts immer noch seinen Namen, wenn sie glaubte, ich schliefe schon.

Doch jeder, der sie nicht kannte, wunderte sich, warum sie immer noch keinen Freund hatte. Immerhin war sie ja sehr hübsch – selbst jetzt, wo sie so leger vor mir saß, war sie immer noch schön. So schön, dass ich an seinem Verstand zweifeln musste, warum er dieses schwache, verglichen mit Ukyo unscheinbare Unkraut erwählt hatte, wenn er hier eine starke, faszinierende Rose haben könnte.

Wie ihr langes, weiches Haar in sanften Wellen über ihre Schultern und ihren Rücken floss und ihr ebenmäßiges, symmetrisches Gesicht umspielte, umschmeichelte, wie ihre dunklen, schön geformten Augen konzentriert auf die Unterlagen und Papiere blickten, die vor ihr auf dem niedrigen Tisch ausgebreitet lagen... Das alles in Reinheit, Ästhetik und Vollkommenheit schien in dieser Kombination kaum übertrefflich zu sein. Selbst die Lesebrille, die ihr auf der Stupsnase saß, war kein Makel, sondern eher noch Ergänzung zu einem traumhaft schönen Anblick. Auch wenn ihr Körper unter weiter, bequemer Hauskleidung versteckt schien, konnte diese Kleidung nicht die schönen Rundungen und Formen verbergen, die einen Mann sicherlich hinter ihr herhecheln ließen – wenn sie es ihm erlaubte.

Ein wundervoller, wunderschöner Mensch – alles das, was ich nicht war. Aber Neid empfand ich nicht – ich freute mich für sie. Wenn ein Mensch auf der Welt Gottes Gaben in solcher Fülle und Qualität verdiente, dann war sie es – nur die schönste aller Seelen verdiente solch ein körperliches Gefäß.

Und nur der Beste aller Männer verdiente es, von ihr auserkoren zu werden. Er war es sicherlich nicht, der Beste aller Männer, da er offensichtlich dumm und blind war, wenn er diesen Engel in Menschengestalt nicht so wahrnehmen konnte, wie dieser Engel es verdiente.

In dem Moment, in welchem sie meinen intensiven Blick auf sich ruhen spürte und aufblickte, wusste ich, dass der Mann, den sie einmal lieben würde und der diese Liebe erkennen würde, der glücklichste Mann auf der ganzen Welt sein würde.

Fragend hob sie eine Augenbraue, und ich errötete, da mir mein unhöfliches Starren peinlich war – aber dann musste ich lächeln. Ein ehrliches Lächeln, nicht jenes, das ich den Kunden schenkte. Ich fühlte, wie sich mein immer noch zerrissenes, schmerzendes Herz öffnete und Wärme in meinen Körper strömen ließ – ich liebte diesen Menschen vor mir. Hatte ich all meine früheren Schwestern verloren, hatte ich an diesem Tag endlich realisiert, dass ich eine neue gefunden hatte.

„Danke, Ukyo“ – mehr sagte ich nicht, aber ich glaube, sie verstand, was ich meinte. Danke für all das, was du mir bietest – einen Platz für mich in dieser Welt, und eine neue Schwester.

Sie errötete ein wenig, rückte sich die Brille auf der Nase zurecht und verrückte die Unterlagen so vor ihr, dass Blatt auf Blatt akkurat so aufeinander lag, dass keine Kanten oder Ecken überstanden sondern sauber Ecke auf Ecke, Kante auf Kante lag.

Ohne eine Antwort abzuwarten ging ich hinüber in die Küche und kam mit einem Apfel, einem kleinen Messer mit gekrümmter Schneide und einem Teller zurück.

Das war auch so eine Tradition. Irgendwann stand einer von uns auf, griff zum Obstteller und schnitt sich sowie dem gegenüber eine Portion Obst zurecht. An diesem Tag sollte es ein Apfel sein.

Stillschweigend arbeiteten wir konzentriert weiter – Ukyo widmete sich den Finanzen, ich mich dem Schälen des runden Objektes. Dies stellte sich als schwieriger heraus, als man denken mochte, da ich meine linke Hand kaum nutzen konnte. Ich musste mit meiner rechten Hand die Finger meiner linken fest um den Apfel schließen, so weit sie sich bewegen ließen. Schnitt meine Rechte die Schale spiralenförmig weg, so musste meine linke den Apfel währenddessen drehen – was wegen ihrer Lähmung nicht gut möglich war. Das Drehen des Apfel gelang mir nur, wenn ich den Arm geschickt in einer schnellen Bewegung erst hob und durch eine leichte Seitwärtsbewegung für einen kurzen Moment die Innenseite meiner linken Hand gegen den Apfel stoßen ließ, sodass dieser einen leichten Seitendrall bekam.

Ich muss wohl kaum erwähnen, dass es mich eine halbe Ewigkeit gekostet hatte, diese Technik zu entwickeln. Ganz davon zu schweigen, dass ich weit davon entfernt war, sie zu perfektionieren.

Ukyos Stimme riss mich ein wenig aus meiner Konzentration, als sie erklang.

„Wow... Du bist ziemlich gut!“

Zweifelnd sah ich sie an. Ich und gut? Innerhalb von 5 Minuten hatte ich es gerade einmal geschafft, das obere Drittel des Apfels zu häuten. Sie griff nach dem langen, spiralenartigen Rest, der auf den Teller gefallen war und betrachtete ihn für einen kurzen Moment, bevor sie erneut sprach.

„Irgendwo habe ich einmal gehört, dass wenn man es schafft, den Apfel in einem Stück zu schälen, das heißt, dass das Schalenband nicht abreißt, dann darf man diese Schale über die Schulter werfen und sich etwas wünschen.“

Erstaunt blickte ich auf den Apfel in meiner linken Hand hinunter, Ukyo lachte ein wenig.

„Das habe ich zumindest mal irgendwo gehört...“

Damit war für sie das Thema beendet – aber während ich den Apfel schälte und schnitt, dachte ich noch ein wenig darüber nach. Es war fast unmöglich, den Apfel so zu schälen, dass das Schalenband nicht zerriss – noch unmöglicher wäre es für jemanden mit meiner Behinderung.

Aber war es nicht auch für eine Katze unmöglich, einen Zug zu schlagen?

Ein kämpferisches Lächeln schlich sich auf mein Gesicht – ich würde trainieren. So lange, bis ich gut genug war, den Apfel so zu schälen, dass die Schale nicht abriss, bevor ich den Apfel vollständig gepellt hätte.

Wenn mir das gelang, dann bräuchte ich die Reste nicht über meine Schulter zu werfen und später auf dem Boden suchen zu gehen – dann hätte sich bereits ein kleiner Wunsch von mir erfüllt.

Als ich an diesem Abend die frisch gewaschene und aufgefaltete Wäsche in Ukyos Schrank legte, fühlte ich mich so energiegeladen und motiviert wie selten in diesen Tagen. Fieberhaft plante ich bereits neue Trainingsmethoden, steckte mir unendlich viele Ziele – als mir etwas aus Ukyos Schrank entgegen und auf den Boden fiel.

Als ich mich bückte, um dieses Etwas aufzuheben und mir näher anzusehen, lächelte ich. Wie passend... das Etwas war ein kleines, quadratisches Textilsäckchen, gefüllt mit getrocknetem Lavendel. Meinem Herz wuchsen zittrige Flügel, als ich die Augen schloss und den wohlriechenden Duft genoss, der die Motten aus Ukyos Schrank fernhalten sollte.

Lavendel... Ich sah es als Zeichen an, das mir neuen Mut machte. Lavandula stand für die Überzeugung, die selbst gesteckten Ziele zu erreichen.

Ja... auch ich würde mein Ziel erreichen! Ich würde dafür kämpfen, selbst wenn der Kampf eine Ewigkeit lang dauerte!



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von: abgemeldet
2009-03-14T11:25:25+00:00 14.03.2009 12:25
Hey!
Ich habe gestern und heute deine Geschichte gelesen und finde, dass du einen sehr anspruchsvollen, und deshalb sehr schönen Schreibstil hast. Ich mag es, dass du aus Shampoos Sicht schreibst, und diesen dramatischen touch, aber wenn es mir manchmal etwas ZU dramatisch vorkommt. Aber das macht nichts. Ich finds super. Und Ukyo ist mir wirklich richtig sympatisch geworden. Am besten finde ich die Länge deiner Kapitel. Ich finde es super, dass man sich reinlesen kann und dann trotzdem noch Zeit hat zu genießen, bevor das Kapitel zu ende ist. Weißt du was ich meine? :)
Schriebst du denn demnächst weiter? Wenn ich mich nämlich recht erinnere, dann liegt das letzte Update ein halbes Jahr zurück :S
Ich freu mich auf deine Antwort,
LG
Von: abgemeldet
2008-05-28T00:27:35+00:00 28.05.2008 02:27
Hallo Kiavalou!

Du kennst mich wahrscheinlich gar nicht mehr, aber ich wahr hier (oder auf ranma.de) mal ein "aktiveres" Mitglied zu der Zeit, als du noch an "Die Liebe der Kirschblüte" gesessen hast. Ich wahr damals ganz scharf auf deine Geschichten, aber das ist mittlerweile ja knapp 5 Jahre her.
Nun gut, was bezwecke ich mit diesem Kommi? Gute Frage! Da du nun schon seit knapp 6 Monaten hier nichts mehr veröffentlicht hast, ist die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass du jemals diesen Kommentar lesen wirst. Trotzdem würde es mich irgendwie freuen, mal wieder was von dir zu hören, wie's so steht beim Geschichten schreibe, usw. Vielleicht hast du ja jemals deine Minderwertigkeitskomplexe aufgeben können.
Naja, ich fand deine Geschichten immer toll, und ich denke, ich werde mir demnächst (wenn ich nicht mehr so im Klausurenstress bin) alle Geschichten nochmal durchlesen.
Vielen Dank fürs Hochladen!
MaryJane
Von:  Deepdream
2007-11-07T23:57:26+00:00 08.11.2007 00:57
Nun habe ich allerlei Überlegungen angestellt, unzählige Entwürfe angefertigt und doch befiel mich Unzufriedenheit. Aus diesem Grund muss ich dir nun gestehen - als der Sünder, der ich zweifelsohne bin -, dass ich diesen Kommentar nun lediglich in diesen kleinen, weißen Kasten setzte. Jenen Kasten, der einem offen steht, besucht man die Animexx.de Seite, entdeckt eine gute Geschichte und entschließt sich kurzerhand eine Bewertung zurückzulassen.
Es ist nun allerdings nicht so, als hätte ich mir keine Gedanken zu diesem Kapitel gemacht. Die habe ich durchaus, keine Sorge also. Nur ist es so, dass mich diese Gedanken viel zu weit von der eigentlichen Geschichte entfernt hätten. Und da dieser Kommentar im Grunde der Geschichte und damit diesem Kapitel gewidmet ist, zentrierte ich meine Aufmerksamkeit alleinig auf dieses Beispiel deiner Kreativität.

Wie ich es dir schon tausendmal gesagt habe - und es stets wieder tun werde -, war ich von dieser Idee und gerade deiner Umsetzung sehr positiv eingenommen. Ich denke, ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass Xian-Pu nicht gerade zu meinen Favoriten zählt. Nun aber hast du es geschafft mir die kleine Amazone außerordentlich sympathisch zu machen. Daran hat sich auch in diesem Kapitel nichts geändert.
Ihre Auseinandersetzung mit ihrer Behinderung und ihrem Stolz war sehr gut dargestellt. Die Verweigerung jeder Hilfe in Sachen Training und die zugrundeliegende Begründung war menschlich und verständlich geschildert. Jedem ist ihr Stolz bekannt. Xian-Pus Stolz eine Kämpferin, eine Amazone und Ranmas Verlobte zu sein. Zwei Dinge waren ihr von einem Tag zum nächsten genommen worden. Angefangen bei ihrem Verlobten, gefolgt von ihrem Lebensweg und... Und? Und da fing sie an neue Kraft zu schöpfen. Sie realisierte, dass sie trotz allem noch immer eine Amazone war. Deswegen beschritt sie abermals den Weg einer Kämpferin.
Aus Stolz widerstand sie Ukyo oder eine der anderen weiblichen Kämpfer zu fragen und wählte einen weitaus fordernderen Kontrahenten. Den Zug.
Nun muss ich gestehen, dass ich anfangs habe grinsen müssen. Eine kleine Katze, die neben einem Zug herläuft? Eine kleine Katze, die noch dazu eine stolze Amazone war? Bald jedoch begriff ich in den Bahnen dieses stolzen Mädchens zu denken. Sie geht immerhin nur ihrer Lebensphilosophie nach - auch angesichts der größten Herausforderungen standhaft zu bleiben. Weswegen sie auch die größte Herausforderung im Wettrennen mit einem Zug gewählt hat.
Ebenfalls genieße ich die kleinen Einstreuungen von Xian-Pus Vergangenheit und Erfahrungen. So etwa die Reflektion über ihre kläglichen Anfänge als Katze oder ihr Wunsch die Beste in ihrer Altersgruppe zu werden und somit dem Erbe ihrer Urgroßmutter würdig zu sein. Ein Erbe, das schwer auf ihr lastete und von ihr forderte alles zu geben. Was sie auch jetzt kontinuierlich tut - daher ist der Zug eine wunderschöne Metapher.
Ein weiterer Aspekt, der mir sehr positiv auffiel, war die Schilderung der Situation im Ucchan's. Es ist interessant zu sehen, welches Leben eine Ausländerin tatsächlich im Japan der Neuzeit zu erwarten hat. Als Gaijin wird sie ignoriert, wegen ihrer Narben bemitleidet und wegen ihrem Fleiß widerwillig toleriert. Daher erfreute ich mich daran, dass sie letztendlich dennoch Anerkennung fand. Wenngleich es auch nicht viel wert ist, so hast du diesem 50 Yen Stück dennoch einen Wert verliehen. Somit wurde jenes unbedeutende Metall nämlich zu einem Symbol für Xian-Pus Adaption an ihr neues Leben. Hätte sie einstmals nicht viel von dem Trinkgeld gehalten und es ohnehin ihrer Großmutter überbracht, so nimmt es für Xian-Pu nun einen hohen Stellenwert ein. Man könnte also sagen, dass sie die kleinen Dinge im Leben zu schätzen gelernt hat. Eine sehr gelungene und schön inszenierte Charakterentwicklung - Kompliment.
Ein letzter Punkt noch - dann lasse ich dir Ruh' und Frieden - betrifft den Apfel. Es ist faszinierend wie du eine solche Bagatelle wie das Schälen eines Apfels zu einem fesselnden Thema umwandeln kannst. Einerseits ist eine wunderschöne, schlichte Unterhaltung zwischen Ukyo und Xian-Pu gewesen, andererseits erhielt auch der Apfel Symbolcharakter. Denn an ihm wird der Amazone ein weiteres Hindernis entgegen gebracht, allerdings eines an dem sie sich messen und wachsen kann. Der Apfel stellt eine weitere Stufe dar. Eine Stufe wohin? Nun, dass weißt wohl nur du, doch ich bin gespannt auf die Antwort. Eine Antwort, der ich wahrscheinlich erst im letzten Kapitel begegnen werde - so wie ich dich kenne.

Also verbleibe ich in ehrlicher Vorfreude auf das nächste Kapitel und befasse mich gedanklich mit einigen Fragen...

Wann wird Xian-Pu wieder mit Ranma und Konsorten konfrontiert?
Wann werden Cologne und Mu-Tsu zurückkehren?
Wird Xian-Pu den Apfel in einem Zug zu Schälen lernen?
Wird irgendwann der Tag ihrer Rache kommen?

Ich hoffe, du beantwortest mir diese Fragen irgendwann.

Bis dahin,

dein Deepdream.


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