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Lilian Orphan

von

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Wieder einmal war es am regnen. Unzählige Pfützen bildeten sich auf dem begrünten Boden. Der Himmel war grau und bewölkt, so dass man die Sonne in keiner Weise sehen konnte. Mehrere Regentropfen fielen auf das undichte Dach des Kawashima-Waisenhauses, die dann auf die alten Holzbretter fielen, die sie „Boden“ nannten.
 

Von ihrem Bett aus starrte die 15-jährige Sayuri auf das Wasser, welches sich in ihrem Zimmer angesammelt hatte. Warum hatte man ihr das nur angetan, und sie in ein Waisenhaus geschickt? Warum wollte ihre Familie sie nicht behalten? Und wer war ihre Familie eigentlich? Sayuri wusste es nicht. Sie wurde im Alter von 2 Jahren in die Obhut von Hotaru Kawashima gegeben. Aber Sayuri hatte es satt, ihr ganzes Leben lang in dieser Bruchbude zu leben. Es ergab keinen Sinn für sie. Frau Kawashima war immer sehr nett gewesen, aber trotzdem wollte sie weg. Weit weg, wo sie einen neues Leben beginnen könnte. Deswegen beschloss sie an diesem Tag ihr Schicksal in ihre eigenen Hände zu nehmen und zu flüchten. Sie tapste zu der alten Kommode rüber und suchte ihren schäbigen Rucksack, den sie zu ihrem sechsten Geburtstag von Frau Kawashima geschenkt bekommen hatte. Die arme Frau betreute fünfzehn Kinder in ihrem Waisenhaus. Es war überaus gütig von ihr, dass sie sich die Mühe machte, ihren Schützlingen überhaupt etwas zu schenken. Sayuri liebte sie, wie eine Mutter, aber sie wollte endlich etwas aus sich machen. Sie hielt es für das einzig Richtige, das Haus zu verlassen, und in die Welt da draußen zu erforschen. Und sie dachte sich, dass auch Frau Kawashima dieser Meinung war.
 

Es war fast Mitternacht, als Sayuri sich mit ihrem Rucksack, in den sie alle ihre wenigen Besitztümer gepackt hatte, aus dem Staub machte. Zuvor hatte sie einen kleinen Abschiedsbrief an Frau Kawashima geschrieben, den sie heimlich in die Küche gelegt hatte:
 

Liebe Frau Kawashima,
 

bitte machen Sie sich keine Sorgen. Mir geht es gut. Ich bin abgehauen, um etwas aus meinem Leben zu machen. Vielen Dank für alles, was Sie jemals für mich getan haben. Ich werde Sie nie vergessen.
 

Sayuri
 

Sie sah sich noch einmal in ihrem kaputten Wandspiegel an. Sie erblickte ein kleines Mädchen mit kürzeren, braunen Haaren, großen, blauen Augen und einem rundlicheren Gesicht. An ihren beiden Wangen liefen Tränen in Richtung Kinn. Plötzlich hörte sie ein leises Knarren. Höchstwahrscheinlich war das nur wieder ein streunendes Tier. Sie atmete tief ein, begab sich zum Hinterausgang, und lief, ohne sich noch einmal umzudrehen, in die Freiheit.

Nach einer Weile war Sayuri am Untergrund angelangt. Sie rannte, so schnell ihre Beine es zuließen, aber trotzdem wurde ihr alter Pyjama vom andauernden Regen durchnässt. „Hoffentlich hol’ ich mir keine Erkältung“, dachte sie. Ihr Rucksack schwang auf ihrem Rücken hin und her. Zu ihrem Glück war er nicht sonderlich schwer, sodass sie relativ schnell laufen konnte. Nach einer Weile hatte sie keine Puste mehr und setzte sich an Gehwegrand. Sie hörte die Geräusche der U-Bahn, der Leute, die herumliefen, und der Ansagen, die aus den Lautsprechern dröhnten. Sie fing sich an zu wundern, warum um diese Uhrzeit noch jemand mit der U-Bahn fahren musste. „Hier kann ich nicht ewig bleiben“, dachte sie und ließ den Kopf sinken. Was hatte sie nur getan? Im Waisenhaus hatte sie Freunde, eine überaus fürsorgliche Betreuerin und ein mehr oder weniger festes Dach über dem Kopf. Aber jetzt hatte sie niemanden. Und sie wusste auch nicht, wo sie von nun an wohnen sollte. Sie hatte kein Geld, um sich eine Wohnung zu mieten, und sie wusste auch nicht, wie sie an Geld kommen sollte.
 

Es waren mehrere Stunden verstrichen, und der Untergrund war fast leer. Nur ein seltsam aussehender Mann stand ein paar Meter neben ihr und starrte Löcher in die Luft. Sayuri gähnte. Sie hatte lange nicht mehr geschlafen. Die Nacht war sie wach geblieben. Sie hatte eine Menge über ihr Vorhaben nachgedacht. Auf einmal drehte sich der Mann zu ihr um. „Nein, wen haben wir denn da?“, fragte er sie, und guckte sie dabei recht merkwürdig an. „Sa… Sayuri“, sagte sie, „Und wer sind Sie?“. Er lächelte. „Ich bin jemand, der dir helfen kann. Ich helfe gerne kleinen, unbeholfenen Mädchen“, sagte er leise. Sayuri war auf einmal ganz verwirrt. Wollte dieser Kerl ihr wirklich helfen? Er ging näher zu ihr hin. „Komm’ einfach mit, du wirst schon sehen“, flüsterte er in ihr Ohr. „Ich… Ich will nicht. Lassen Sie mich in Ruhe!“, schrie sie. Doch ohne jegliche Vorwarnung packte er sie am Arm und zerrte sie weg. „NEIN! BITTE NICHT!“, schrie sie weiter. Ihr ganzer Körper zitterte, und das einzige, was sie in dem Moment empfand, war pure Angst. Angst um ihr Leben. Sie kniff die Augen zusammen und betete in Gedanken. Plötzlich hörte sie ein lautes Geräusch. Es schien, als ob jemand mit voller Wucht auf den Boden geknallt wäre. Sie öffnete langsam die Augen. Der Mann, der sie gerade hatte verschleppen wollen, lag mit einer stark blutenden Nase auf dem Boden. Neben ihm stand ein weiterer Mann. Er schien älter, als ihr Entführer, sah aber durchaus gefährlicher aus. Wieder schloss sie ihre Augen und im nächsten Moment nahm ihr Retter sie an die Hand und rannte mit ihr in einen anderen Gang. Ihr Entführer stand leicht irritiert auf, hielt sich seine Nase und rannte in Richtung Oberwelt.
 

Wieder hatte Sayuri ihre Augen geschlossen. Eigentlich war sie nicht so ängstlich, aber in dem Moment, als sie der Mann entführen wollte, war sie in einen schockartigen Zustand geraten. „Du kannst jetzt wieder gucken“, hörte sie eine raue, kalte Stimme sagen. Sie machte die Augen wieder auf und sah sich um. Weit und breit war niemand zu sehen, außer ihrem Retter und ihr selbst. „Siehst du? Geht doch“, sagte er, „Hier bist du in Sicherheit.“ Langsam fühle Sayuri sich wieder besser. Sie musterte den Mann. Er war recht groß, nicht zu dünn und hatte schulterlange, helle, grau-blonde Haare. Er trug einen langen, schwarzen Ledermantel, ein altes, graues Hemd, über dem ein silberner Kreuzanhänger baumelte, eine lockere schwarze Jeans und schwarze Stiefel. Sie sah in sein Gesicht. Es hatte durch und durch männliche Züge. Seine helle Haut hatte einen leichten Gelbstich und einige leichte Falten. Dann bemerkte sie etwas, was ich merkwürdigerweise vorher noch nicht aufgefallen war. An der Stelle, wo sein linkes Auge hätte sein müssen, befand sich eine schwarze Augenklappe aus Leder. Sein anderes Auge war eisblau. Sein gesamtes Erscheinungsbild traf eher auf einen Schwerverbrecher, als auf einen Lebensretter zu. Sie schaute ruckartig verängstigt weg. „Was soll das?“, fragte er sie, „Ich habe dir gerade dein Leben gerettet, und du schaust einfach weg!“ „E… Entschuldigen Sie“, murmelte sie und wurde leicht rot im Gesicht. „Darf ich deinen Namen wissen?“, fragte er sie. „Ich heiße Sayuri“, sagte sie mit leiser Stimme. „Und wie lautet dein Nachname?“, fragte er sie weiter. „Ich weiß es nicht. Ich bin ein Waisenkind“, antwortete Sayuri, „Und wer sind Sie?“. „Masao Igarashi… . Und du kannst mich ruhig duzen“, sagte er in einem gelangweiltem Ton. „Na gut, wie Sie… äh, du meinst“, verbesserte sie sich. „Was macht ein Waisenkind eigentlich um diese Uhrzeit im Untergrund?“, wollte Masao wissen. „Ich habe das Waisenhaus heimlich verlassen. Ich war noch nie außerhalb dieses Hauses. Deswegen möchte ich endlich etwas aus meinem Leben machen“, sagte sie, als wäre es nicht besonders interessant. „Versteh’ ich nicht, warum du dein Leben im Waisenhaus aufgegeben hast, und nun hier in dieser verdorbenen Welt leben willst. Du hast doch gesehen, was passiert, wenn man kleine Mädchen unbeaufsichtigt alleine lässt!“, meinte er. „Es ist mein Wunsch, und du kannst mich nicht dazu zwingen, dass ich diesen Traum nicht lebe! Du hast mir gar nichts zu sagen!“, schrie sie ihn an. Kurz darauf hielt sie sich den Mund zu. Normalerweise war sie nicht so vorlaut gegenüber älteren Leuten. „Tut mir Leid“, nuschelte sie. „Hab’ mal ein wenig mehr Respekt vor anderen Menschen, Kleine“, sagte er kühl, „Sonst bring’ ich dich persönlich in ein anderes Waisenhaus.“ „NEIN!“, rief sie, „ICH WILL NICHT SCHON WIEDER EINGESPERRT WERDEN! BITTE!“ Masao schaute sie schief an. „Na gut, wie du meinst. Aber dafür beruhigst du dich jetzt erstmal etwas“, sagte er und schaute in ihr tief in ihre strahlenden, blauen Augen. Sie holte einmal tief Luft und entspannte sich ein wenig. „Na also“, sagte er, „Und jetzt kommst du mit.“ Sayuri schaute ihn fragend an. „Du wirst jetzt bei mir wohnen“, murmelte er. Sie starrte ihn fragend an. Darauf nahm er sie an die Hand und zog sie einfach mit sich. Aber diesmal hielt Sayuri die Augen offen. „Ich denke, ich kann ihm vertrauen“, dachte sie zufrieden und lächelte.
 

„Da sind wir“, sagte er. Sayuri sah etwas verwirrt aus. Er war vor einer Metalltür stehen geblieben, die sich irgendwo in einem der am meisten abgelegenen Ecken des Untergrundes befand. Rasch öffnete er die Tür und schleppte Sayuri mit sich hinein. Kurz darauf fanden sie sich in einem mittelgroßen Raum wieder, der mit wenig Mühe so eingerichtet war, dass man sich hier wie zu Hause fühlen konnte. „Und HIER wohnst du?“, fragte Sayuri. „Scheint so, als ob es der Prinzessin nicht gefallen würde“, sagte Masao höhnisch zu sich selbst. „Nein, es gefällt mir sogar sehr gut“, erwiderte sie. „Lass’ uns jetzt mal schlafen gehen“, meinte er. Sayuri nickte. Es war bestimmt ein krasses Gefühl, im Untergrund zu leben. Und jetzt würde sie hier nur mit Masao wohnen. Ihr Herz pochte unheimlich schnell. „Kommst du jetzt, oder was?“, fragte Masao, der schon vor der nächsten Tür stand. „Oh… natürlich! Sorry!“, rief sie und ging ihm nach. Er öffnete die Tür und führte Sayuri hinein. Im Raum standen ein altes Bett aus Metall, ein Spind und ein leicht verdrecktes Waschbecken. Fenster gab es in diesem Raum nicht. Auch im vorherigen Raum waren keine Fenster auffindbar. Was würden die auch bringen? Schließlich lebte Masao im Untergrund. Dafür hatte er Kerzen angezündet, schwarze Kerzen, deren warmes Licht den ganzen Raum durchflutete, und ihn so gemütlicher machte. „So, du schläfst da!“, sagte er und zeigte mit seinem Finger auf das Bett. „Wow, er lässt MICH in SEINEM Bett schlafen“, dachte Sayuri. „Danke“, murmelte sie ihm zu und legte sich mit ihrem immer noch leicht nassen Pyjama in Masaos Bett, woraufhin sie sofort einschlief.

Von draußen dröhnten mehrere Stimmen, die Sayuri dazu zwangen, ihren Geist aus dem Schlaf zu zerren. Sie hatte einen ungewohnt ruhigen Schlaf. In den letzten Tagen im Waisenhaus war sie immer so gegen elf Uhr wach geworden. Sie öffnete ihre Augen nur leicht, sie war noch zu müde. Sie bemerkte ein warmes, weiches Licht. Masao musste schon aufgestanden sein, und die Kerzen angezündet haben. Gerade wollte sie sich erheben, als plötzlich ein grelles Licht auf sie hinab fuhr. Blitzartig zuckte sie zusammen und zog sich die Decke über ihren Kopf. Sie war total geschockt. „Was soll das?“, dachte sie panisch. Sie glaubte sich unter der Decke in Sicherheit, doch irgendwer zog auf einmal die Decke zurück und starrte auf sie hinab. Das Blut gefror ihr in den Adern. „Was ist los? Masao! Wo bist du?“, fuhr es ihr in Windeseile durch den Kopf. Sie musste jetzt stark sein, und ihrer Angst ins Auge blicken. „HA!“, schrie sie, als sie hochgeschnellt war. Aber als sie in das Antlitz ihres Gegenübers blickte, sah sie nur einen jungen Mann. Immer noch geschockt starrte sie ihn an. Er hatte kinnlange, rote Haare unter denen er ein schwarzes Stirnband trug, unheimlich hervorstechende, grüne Augen, und seine Haut wirkte äußerst zart. Er schien nicht viel größer, als sie selbst und kam sehr kindlich rüber. Er trug eine schwarze Lederjacke, darunter ein altes, rotes T-Shirt und eine zerrissene, hellblaue Jeans. An seinem Hals machte ein Stachelhalsband auf sich aufmerksam und in seiner rechten Hand hielt er eine kleine Taschenlampe. „Das war es also, was mich so verschreckt hat“, überlegte Sayuri. Sie neigte ihren Kopf über den Bettrand, um ihn weiter zu begutachten, und entdeckte ein paar rot-schwarze Chucks, die sich an seine Füße schmiegten. Sie zog ihren Kopf wieder zurück, starrte den jungen Mann aber weiter an. Dieser fing wieder an, sie mit seiner Taschenlampe anzuleuchten. Schnell verschränkte sie ihre Arme vor ihrem Gesicht. „Also DU bist diese Sayuri? Freut mich“, sagte der junge Mann, der sich nun über das Bett beugte, „Ich bin Ryo Kawasaki, aber du kannst mich Ryo-chan nennen.“ Er schaltete die Taschenlampe aus und betrachtete sie genauer. „Du bist aber niedlich“, sagte er und grinste, „Wenn du ein Kerl wärst, würde ich sofort mit dir zusammen sein.“ Sayuri war verwundert. „WAS?“, fragte sie, in der Hoffnung, sie hätte sich verhört. „Nun ja, ich bin schwul“, meinte Ryo leicht verlegen. „Was heißt das?“, fragte Sayuri weiter. „Äh, das sagt man zu Männern, die andere Männer lieben. Hast du das nie in der Schule gelernt?“, wollte Ryo wissen. „Nein“, antwortete Sayuri traurig. Ich bin nie zur Schule gegangen. Ich wurde in ein Waisenhaus gebracht, als ich noch ganz klein war. Und meine Betreuerin hatte kein Geld, um die Schulsachen so bezahlen. Aber sie hat sich bemüht, uns allen das beizubringen, was sie wusste. Nur habe ich nie etwas davon gehört, dass Männer auch Männer lieben können“, sagte sie in nachdenklichem Ton. „Tja, das geht halt“, meinte er und blinzelte ihr zu, „Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Lass uns erstmal was essen gehen.“ Er schritt zur Tür und ging hinaus. Ohne auch nur eine weitere Frage zu stellen, folgte Sayuri ihm.
 

Zusammen trotteten sie zur Küche, wo sie schon insgeheim erwartet wurden. „Guten Morgen, Ryo“, sagte ein Mädchen, das gerade den Tisch deckte. „Du musst Sayuri sein. Freut mich. Ich bin Kaori. Kaori Kisaragi, aber Kaori reicht“, sagte sie freundlich und beugte sich zu ihr hinunter. Sie war größer als Ryo und sie selbst, aber kleiner, als Masao. Ihre extrem langen Haare waren rabenschwarz, ihre Augen stahlgrau. Sie trug ein schwarz-weißes Dienstmädchenkostüm mitsamt Schürze und Haube, weiße Kniestrümpfe und schwarze Stiefeletten. Ihre Haut war beinahe schneeweiß, ihre Lippen hatte sie sich lila geschminkt. Die Augen waren mit schwarzem Lidschatten betont. Sie wirkte, wie ein Vampir, machte aber einen sehr netten Eindruck. „Du bist süß, Sayuri“, meinte Kaori. „Heißt das, du stehst auf Frauen?“, wollte Sayuri wissen. Kaori fiel vor Lachen fast um. „Nein, du Dummerchen. Ich bin nicht lesbisch. Ich finde einfach nur, dass du niedlich aussiehst“, sagte sie, während sie sich bemühte, ernsthaft zu bleiben. „Sollen wir dir helfen, den Tisch zu decken?“, bot Sayuri an. „Wow, normalerweise lassen die beiden Kerle mich das immer alleine machen. DU BIST EINFACH KLASSE! ICH WILL DICH BEHALTEN! ICH LIEBE DICH!“, rief Kaori überglücklich und nahm Sayuri in ihre Arme. „Also bist du DOCH lesbisch, oder wie das heißt“, meinte Sayuri leicht verwirrt. „Haha, das darfst du nicht so ernst nehmen“, meinte Kaori und reichte ihr eine mit Toastbrot gefüllte Plastiktüte, „Stellst du das bitte auf den Tisch?“ “Natürlich“, strahlte Sayuri, nahm das Brot an, und legte es behutsam auf den Tisch. „Nette Menschen, mit denen Masao zusammenlebt. Aber warum hat er mir nichts gesagt?“, dachte sie.
 

Nach einer Weile hatten sie den Frühstückstisch fertig gedeckt. Sie ließen sich auf den herumstehenden, niedrigen Barhockern nieder und begannen zu essen. „Moment, wir haben Masao vergessen!“, sagte Ryo, „Ich geh’ ihn mal eben holen.“ Daraufhin sprang er voller Elan auf, und lief aus dem Zimmer. „Er ist etwas kindisch, aber eigentlich ein netter Kerl“, sagte Kaori zu Sayuri, die gerade einen Toast mit Marmelade verschlang. Sie antwortete nicht, aber nur, weil sie nicht mit vollem Mund reden wollte. Plötzlich flog die Tür auf, und ein stark genervt aussehender Masao und ein Ryo, der den Tränen nahe war, traten ein. „ER HAT MICH ANGESCHRIEEN! KAORI!“, jammerte Ryo. „Ich hab’ aber nichts gehört“, bemerkte Sayuri. „Natürlich nicht“, sagte Kaori, „Ryo übertreibt mal wieder. Wahrscheinlich hat Masao ihm nur gesagt, dass er leiser sein soll. Sonst nichts.“ Masao setzte sich hin, nahm sich eine Scheibe Toast und biss gelangweilt hinein. „Ah, guten Morgen, Masao“, strahlte Sayuri ihn an, doch Masao beachtete sie nicht. „Er hat schlechte Laune, weil Ryo ihn geweckt hat. Er hat im Wohnzimmer auf dem Sofa geschlafen“, flüsterte Kaori ihr ins Ohr. daraufhin fühlte Sayuri sich verantwortlich für seine miserable Laune. „Masao, ICH hätte doch im Wohnzimmer schlafen können!“, protestierte sie. Darauf blickte er zu ihr und sah sie mit seinem Auge an. Es schein fast so, als ob es sie durchbohren würde. „Du schläfst da, wo ich es sage“, erwiderte er. Sayuri drehte sich wieder zu Kaori, welche sie gerade mit größenwahnsinnigen Blicken musterte. „Warum guckst du so, Kaori-san?“, wollte sie wissen. „Mir ist gerade aufgefallen, dass du dringend neue Klamotten brauchst. Du kannst doch nicht immer in diesem alten, verdreckten Schlafanzug rumlaufen“, meinte Kaori, „Du brauchst irgendwas, was deine Ausstrahlung mehr hervorhebt.“ „Und was wäre das?“, fragte Sayuri. „Du wirst schon sehen. Wir beiden werden gleich mal ordentlich shoppen gehen. Ich bezahl dir auch alles“, entschied sie felsenfest. „A… aber das brauchst du nicht. Ich habe doch noch zwei Pullover und eine Jeans“, sagte Sayuri. „Keine Widerrede! Du und ich gehen jetzt shoppen, und das war’s. Ich kauf’ dir neue Klamotten, und wenn es mich mein ganzes gespartes Geld kostet!“, meinte Kaori. Sayuri brach in Tränen aus, woraufhin Kaori sie wieder in ihre Arme nahm. „Pah, Frauen, Und ICH darf hier nicht heulen!“, motzte Ryo. „DU bist ein MANN!“, erklärte Kaori. „ICH bin SCHWUL!“, erwiderte Ryo. „Aber das macht dich nicht automatisch zur FRAU!“, fuhr Kaori ihn an. „Könntet ihr bitte etwas leiser streiten? Mein Kopf platzt gleich!“, sagte Masao mit genervter Miene, „Mir reicht’s, ich geh’ zurück ins Wohnzimmer!“ Er stand auf, und ging aus der Küche, ohne die anderen eines Blickes zu würdigen. „Macho!“, rief Ryo ihm nach, „Ich geh jetzt in mein Zimmer!“ Beleidigt machte auch er sich aus dem Staub. „Tja, jetzt sind nur noch wir hier, aber nicht mehr lange. Geh’ dir was anderes anziehen, Sayuri, und komm’ dann wieder“, sagte Kaori. Sayuri ging zurück in Masaos Zimmer, holte einen Pulli und ihre Jeans aus ihrem Rucksack, zog sich rasch um, und kehrte in die Küche zurück. Kaori begutachtete sie. „DU HAST JA GAR KEINE SCHUHE AN!“, rief sie entsetzt, „Aber ich kann dir Stiefel leihen!“ „Das brauchst du nicht“, sagte Sayuri. „Und OB ich das muss!“, meinte Kaori. Sie gab Sayuri ein Paar schwarzer Stiefel, die diese in Windeseile anzog. „Dann kann’s ja losgehen“, sagte Kaori voller Vorfreude, öffnete die Tür, und sie und Sayuri verließen die Wohnung.

In dem dunklen Gang war niemand, außer den beiden Mädchen zu sehen. Unbemerkt schlichen sie sich in einen anderen Teil des Untergrundes, wo sich um diese Uhrzeit schon eine ganze Horde Menschen aufhielt. „Es ist doch echt nicht zu fassen, wie viele Leute hier rumlaufen, oder, Sayuri?“, bemerkte Kaori. Sayuri nickte teilnahmslos. Sie war unglaublich aufgeregt. Sie würde mit Kaori Klamotten einkaufen gehen, und sie würde endlich sehen, was außerhalb des Waisenhauses passiert. Es war ein erhebendes Gefühl. „Kommst du, Sayuri?“, rief Kaori ihr zu, die schon einige Schritte voran gegangen war. „Äh, ja, Moment!“, antwortete Sayuri und lief ihr nach.
 

Alle Leute im Untergrund starrten Kaori an. „Diese Spießer sind solche krassen Klamotten einfach nicht gewohnt. Ignorier’ die“, meinte sie und lächelte Sayuri an. Wieder nickte sie. Sie war zu aufgeregt, um etwas zu sagen. Wahrscheinlich hätte sie nur gestottert, deswegen hielt sie ihren Mund lieber geschlossen. Sie selbst empfand es ebenfalls als ungewohnt, jemanden in Dienstmädchenkleidung in der Öffentlichkeit herumlaufen zu sehen. Aber sie mochte das Outfit. Es war anders und aufregend. Völlig neu für Sayuri. Kaori hielt sie an der Hand und ging mit ihr immer weiter, bis sie die Treppe zur Oberwelt errichten. Zügig stiegen sie die einzelnen, schmalen Stufen hinauf, bis sie endlich das warme, wohltuende Tageslicht auf ihre Gesichter scheinen spürten. „So, Sayuri, wir gehen jetzt in meinen Stammladen. Wir werden schon was finden, dass dir steht“, sagte Kaori zuversichtlich. Sayuri hatte sich nun ein wenig beruhigt. „Alles klar“, nuschelte sie. Daraufhin machten sie sich auf den Weg. Sie gingen die Straße entlang, bis an ihrem Ende rechts abbogen. Darauf folgten sie dem Straßenverlauf, bis Kaori schließlich an einem unscheinbaren Laden stehen blieb. Über ihren Köpfen erblickte Sayuri ein Schild mit der Aufschrift „Goth-Cave“. „Ist er das?“, fragte Sayuri neugierig. „Ja, genau“, sagte Kaori, öffnete die Tür, schob Sayuri hinein und folgte ihr.
 

„Krasse Bude, oder?“, meinte Kaori, „Hier kauf’ ich meine Klamotten.“ „Cool“, staunte Sayuri. Der Laden gefiel ihr. Er war größer, als er von außen wirkte. Die Wände waren dunkelrot, der Boden war von schwarzen Fliesen bedeckt. Vor allen Fenstern hingen schwarze Samtvorhänge, wodurch das Tageslicht den Raum nicht besonders intensiv aufhellte. Dafür gab es besondere Lampen, die ein recht warmes Licht verbreiteten, sowie eine Menge schwarzer Kerzen, wie die, die in Masaos Zimmer standen. Die Kleidung war auf der einen Seite des Raumes, die Accessoires und die Schuhe auf der anderen Seite. Und ganz hinten konnte Sayuri die Theke entdecken, mitsamt Kasse und Verkäufer. Aus einer Stereoanlage dröhnte laute Rockmusik, aber das machte Sayuri nichts aus. Sie fühlte sich von den aggressiv klingenden Tönen des Liedes magisch angezogen. Sie schloss ihre Augen für einen Moment, um die Klänge auf sie wirken zu lassen, doch sie wurde sogleich wieder unterbrochen, als Kaori sie am Arm griff. „Komm’, ich weiß schon genau, was ich dir kaufen könnte“, strahlte sie Sayuri an und zerrte sie zu einem der Regale. „Wo war das noch mal? Ich hatte es letztens hier in diesem Regal gesehen, und wollte es eigentlich für mich kaufen, aber es war mir leider zu klein. Und ich dachte, dass es dir vielleicht passen könnte“, sagte sie, während sie eifrig in dem Regal herumsuchte. „Ich hab’s!“, verkündete Kaori freudig. Sie nahm es aus dem Regal heraus und zeigte es Sayuri. Es war ein langes, schwarzes Samtkleid mit langen Ärmeln, die nach unten hin immer breiter wurden. Der Ausschnitt war recht groß und war am Rand mit schwarzer Spitze verziert. Im Brustbereich des Kleides befand sich ein Stück lila Samt, der mit einer Schnürung, wie es bei einem Korsett üblich war, anschaulicher gemacht worden war. Es war ein Traumkleid. Sayuri gefiel es sehr. Noch nie hatte sie ein so schönes Kleid gesehen. Die ganzen Leute, die im Untergrund und auf den Straßen herumliefen, trugen alle langweilige, stinknormale Klamotten. Aber was sie vor sich sah, war einzigartig. Es versprühte eine magische Anziehungskraft, die Sayuri sofort in seinen Bann zog. „Und? Magst du es?“, wollte Kaori von ihr wissen. Sayuri nickte heftig. Aber sie wusste nicht, ob es ihr passen würde. „Kann ich es vielleicht mal anprobieren?“, fragte Sayuri vorsichtig. „Natürlich“, antwortete Kaori und reichte ihr das Kleid, „Da drüben sind die Umkleiden, siehst du?“ „Ja, ich geh’ dann mal“, meinte Sayuri und machte sich auf den Weg.
 

Fünf große Umkleidekabinen standen nun vor ihr. Sie öffnete den Vorhang der zweiten Kabine von links, vor der sie unmittelbar stand. „HEY! WAS SOLL DAS?“, rief eine Männerstimme aus der Kabine. „Verzeihung!“, entschuldigte sich Sayuri, und ließ den nur leicht weg geschobenen Vorhang wieder los. Kurz darauf lief sie knallrot an. Noch nie in ihrem ganzen Leben war ihr etwas derart peinlich gewesen. Extrem vorsichtig zog sie den Vorhang der mittleren Kabine zurück. Niemand sagte etwas. Ein Zeichen dafür, dass die Kabine leer war. Erleichtert ging sie hinein. Sie legte das Kleid auf einen Hocker und zog sich aus. Zuerst den Pullover, dann die Stiefel und zuletzt die Jeans. Dann nahm sie das Kleid von dem Hocker, entfernte den Kleiderbügel und ließ es über ihren kleinen Körper gleiten. Und tatsächlich, es passte fast perfekt, nur oben war es ein wenig zu weit, aber das machte ihr nichts aus. Überglücklich betrachtete sie sich im Spiegel. Was Masao und Ryo wohl dazu sagen würden? Sie lächelte.
 

„Sayuri? In welcher Kabine bist du?“, rief Kaori von draußen. Sayuri steckte ihre Hand aus der Kabine. „Hier bin ich“, rief sie. „Hast du das Kleid schon an?“, fragte Kaori. „Ja“, antwortete Sayuri. „Dann lass mal sehen!“, meinte Kaori. Sayuri schob den Vorhang beiseite, woraufhin Kaori nicht schlecht staunte. „Meine Güte, Sayuri! Das ist ja perfekt!“, sagte sie. „Aber hier oben ist es zu weit“, merkte Sayuri an. „Nicht so schlimm. Dann kaufen wir dir einfach noch einen Push-up-BH!“, schlug Kaori vor. „Einen WAS?“, fragte Sayuri verwundert. „Na, einen Push-up-BH. Welche Körbchengröße hast du?“, erkundigte Kaori sich. „Welche WAS? Tut mir Leid, aber ich weiß nicht, was du meinst“, gab Sayuri zu. Kaori machte ein merkwürdiges Gesicht. „Na, bestimmt A. Ich kauf’ einfach einen. Er wird schon passen, glaub mir. Weibliche Intuition.“, sagte sie und zwinkerte ihr zu, „Also du möchtest das Kleid?“ „Ja, es gefällt mir sehr. Ist es auch nicht zu teuer?“, wollte Sayuri wissen. „Nein, geht schon in Ordnung. Aber du brauchst noch ein Oberteil und eine Hose“, sagte Kaori sehr überzeugt.
 

Innerhalb kürzester Zeit hatten Sayuri und Kaori es geschafft, noch drei Oberteile, eine Hose, einen Rock und einen BH zu finden, die Sayuri gefielen. Mit den Kleidungsstücken in den Händen watschelten sie in Richtung Kasse. „Da bin ich aber froh, dass wir so viel gefunden haben. Ich hatte schon befürchtet, du würdest meinen Kleidungsstil ablehnen“, sagte Kaori mit erleichterter Stimme. „Ganz im Gegenteil“, strahlte Sayuri.
 

Der Mann, der die Kasse bediente, hatte sie anscheinend schon erwartet. „Kaori, ich dachte schon, du kommst nie mehr!“, rief er. „Hi, Taiki“, sagte Kaori. Taiki schaute sich Sayuri genauer an. „Ist das deine Schwester?“, fragte er Kaori. „Nein, du Dummkopf, das ist Sayuri. Sie ist ein Waisenkind. Masao hat sie im Untergrund aufgegabelt“, erklärte sie ihm. „Konnte ich ja nicht wissen“, grummelte Taiki, „Süßes Mädchen.“ „Warum sagen das nur immer alle“, fragte sich Sayuri. Plötzlich tippte Kaori sie an. „Sayuri, du hast ja noch meine Stiefel an. Komm’, ich kauf dir eigene. Bin gleich wieder da!“, rief sie ihr zu, während sie schon auf die Schuhabteilung zugegangen war. Wenig später kam sie mit einem Paar schwarzer, geschnürter Stiefel zurück. „Ich gehe mal davon aus, dass sie dir gefallen“, sagte sie mit einem Lachen auf ihren Lippen. „Ja, die sehen sehr gut aus“, stimmte Sayuri ihr zu. Kaori legte alle Sachen auf die Theke, worauf Taiki die Strichcodes scannte. Kaori bezahlte mit einer freudigen Miene und nahm die Klamotten entgegen, welche Taiki in eine Plastiktüte gepackt hatte. „Danke, Kaori. Bis dann! Tschüss, Sayuri!“, verabschiedete er sie. „Ciao!“, riefen sie im Chor und gingen aus dem Geschäft.
 

„DAS war doch mal Shopping, Sayuri!“, sagte Kaori und streckte sich, „Echt geil!“ „Danke“, murmelte Sayuri ihr zu. „Wofür?“, fragte Kaori, „Dafür, dass ich dir die Klamotten bezahlt hab’? Ach, das ist doch nicht der Rede wert, ich bitte dich!“ „Wie du meinst“, nuschelte Sayuri.
 

Langsam machten sie sich auf den Weg zurück zur Untergrundwohnung. Sie trotteten zurück zur Treppe, stiegen hinunter und schlichen sich unbemerkt zu der Metalltür in dem verlassenen Gang. Kaori öffnete sie und ging zusammen mit Sayuri hinein. „Wir sind wieder da!“, schrie Kaori durch die ganze Wohnung. Sofort kam Ryo angerannt. „KAORI! SAYURI!“, rief er überglücklich, „DA SEID IHR JA!“ „Ja, das sehen wir auch“, sagte Kaori kühl, „Wir haben neue Klamotten für Sayuri gekauft.“ „Cool!“, meinte Ryo ganz begeistert, „Kann ich die mal sehen?“ „Da“, sagte Kaori und streckte ihm die Tüte hin, mit der er sofort in der Küche verschwand. „Ach ja, ich backe gerade“, rief er, „’S ist gleich fertig. Geht doch solange ins Wohnzimmer.“ „Machen wir, Ryo-chan“, antwortete Kaori und schleppte Sayuri mit.
 

Das Wohnzimmer war bis jetzt das gemütlichste Zimmer der ganzen Wohnung. Mit Sofa, zwei Sesseln, Couchtisch, Teppich und mehreren Bücherregalen machte es eigentlich einen recht normalen Eindruck. Mitten auf dem Sofa war Masao eingeschlafen. Er wirkte leblos, er schnarchte nicht, er redete nicht im Schlaf. Eigentlich hätte man ihn gar nicht bemerken dürfen. „Am besten, wir lassen ihn in Ruhe schlafen“, flüsterte Kaori Sayuri zu. Beide ließen sich auf Sesseln nieder. „Stimmt“, meinte Sayuri, „Sonst schreit er uns nachher noch an.“

Es lag ein angenehm süßlicher Duft in der Luft, den Sayuri augenblicklich roch. „Wahrscheinlich ist Ryo gerade fertig geworden“, überlegte sie und visierte die Tür an, die genau in diesem Moment mit voller Wucht beiseite geschleudert wurde. „FERTIG, MEINE FREUNDE!“, rief er begeistert als er hineinspazierte, „Ich hoffe nur, dass du Pflaumenkuchen isst, Sayuri.“ Sie wollte gerade antworten, als sie von weiter hinten ein leises Grummeln bemerkte. Verwundert drehte sie sich um und erblicke Masao, der gerade aufgewacht war. „Mist“, dachte sie, „Jetzt hat er bestimmt wieder schlechte Laune, weil Ryo zu laut war.“ Langsam erhob Masao sich und trottete zu Ryo hinüber. „Oh, sorry, ich wusste nicht dass du geschlafen hast“, entschuldigte Ryo sich. Masao warf ihm einen drohenden Blick zu. „Weck’ mich gefälligst nicht immer auf!“, fuhr er ihn an. „Ich hab’ doch gesagt, dass es mir Leid tut!“, verteidigte sich Ryo. Masao seufzte und schritt ohne ein weiteres Wort aus dem Raum.
 

„Ryo, du Idiot, warum musstest du ihn auch wieder wecken?!“, beschwerte sich Kaori, „Danke, jetzt haben wir wieder den Salat.“ „Es tut mir doch Leid!“, jammerte Ryo und stellte leicht beleidigt den Kuchen auf den Couchtisch und ließ sich aufs Sofa fallen. „Nehmt euch ruhig vom Kuchen. Der ist ja nicht zur Deko da“, bemerkte Ryo. „Du hirnamputiertes Kleinkind!“, rief Kaori genervt, „Da können wir den Boden ja gleich mit Krümeln bestreuen. Beweg’ deinen faulen Hintern und hol’ uns Teller.“ „ICH habe den Kuchen gebacken!“, protestierte Ryo, „Also holst DU die Teller!“ „Lass’ MICH das machen“, meinte Sayuri und stand auf. „Setz’ dich wieder hin, Sa-chan. Ich mach’ das schon“, sagte Kaori in mütterlichem Ton und erhob sich. „Sa-chan?“, fragte Sayuri irritiert. „Ja, das ist jetzt dein Spitzname“, erklärte Kaori, lächelte sie an und verließ das Wohnzimmer.
 

Wenig später spazierte Kaori mit vier alten Porzellantellern wieder herein. „So, ich hab’ noch einen mehr mitgenommen, für den Fall, dass Masao sich nachher wieder beruhigt hat. Ich bezweifele es zwar, aber man kann ja nie wissen“ sagte sie mit einem leichten Grinsen auf ihrem Gesicht während sie noch im Türrahmen stand. „Du, Kaori?“, fragte Sayuri, „Warum seid ihr eigentlich hier?“ „Im Wohnzimmer?“, wollte Kaori wissen. „Nein, warum ihr hier im Untergrund lebt, und nicht in der Oberwelt zusammen mit euren Familien“, sagte Sayuri. Kaori ließ die Teller fallen, die sofort in tausende kleine Stücke zerbrachen. Ihr Gesicht war nun kreidebleich, ihre Augen wirkten leer und verängstigt. Wie angewurzelt stand sie da und bewegte sich kein Bisschen.
 

Sayuri erschrak. „OH NEIN!“ HAB’ ICH WAS FALSCHES GESAGT?“, fragte sie hektisch. Kaori antwortete nicht. Sie war, wie hypnotisiert. „Keine Sorge, Sayuri. Das konntest du ja nicht wissen“, versuchte Ryo sie zu beruhigen, „Kaori redet äußerst ungern darüber.“ „Worüber?“, fragte Sayuri nach, die allmählich ruhiger gewordne war. Plötzlich regte Kaori sich wieder. Ohne den spitzen Scherben auf dem Boden Beachtung zu schenken setzte sie sich wieder in den freien Sessel. Sie atmete tief ein und wieder aus. „Über meine Familie“, murmelte sie. „War irgendetwas passiert?“, erkundigte Sayuri sich. „Nun“, sagte Kaori mit zittriger Stimme, „Es war vor einigen Jahren. Da war ich ungefähr so alt, wie du jetzt, Sayuri. Ich hatte meine Japanisch-Klausur zurückbekommen. Ich hatte eine Zwei minus. Normalerweise hatte ich immer Einsen geschrieben, in allen Fächern. Genau, wie der Rest meiner Familie. Nicht nur, dass wir Unmengen an Geld hatten, wir waren auch noch alle Überflieger. Irgendwie unmenschlich, ich weiß“, sagte sie und lächelte etwas unsicher, „Ich hatte mich auch über die Zwei minus gefreut. Ich hatte nämlich kaum für diese Klausur gelernt. Es war, wie ein Wunder für mich, dass ich keine Fünf hatte. Überglücklich bin ich nach Hause gerannt. Aber als ich meinen Eltern die Klausur gezeigt hatte, waren sie unmöglich wütend geworden. Sie haben mich angeschrieen, mir gedroht, mich tagelang in meinem Zimmer eingesperrt. Jeden Tag hasste ich meine Eltern mehr. Irgendwann war ich so verzweifelt, dass ich abgehauen bin, ohne ihnen etwas davon zu sagen. Ohne eine Nachricht. Ich hatte nur mein Geld mitgenommen, meine Fensterscheibe mit einer Stehlampe zerschlagen und bin einfach gesprungen. Mein Zimmer lag nicht so weit oben, deswegen hatte ich mich auch nicht großartig verletzt. Dann bin ich gerannt. So schnell, wie ich noch nie gerannt war. Ich wollte weg, einfach weg. Weg von diesen Unmenschen, die sich Eltern schimpften. Ich bin in den Untergrund gerannt. Ich weiß nicht warum, es trieb mich einfach dorthin. Den ganzen Tag hatte ich dort verbracht, bis Masao auf mich gestoßen war. Zuerst hatte ich etwas Angst vor ihm, aber schnell hatte ich Vertrauen zu ihm gefasst. Er hatte mich hier hin gebracht und mir ein Obdach geschenkt. Allerdings hatte er sich nicht sonderlich um mich gekümmert. Das hat Ryo übernommen. Und obwohl Masao sich kaum um mich gesorgt hatte, war er mir immer noch lieber, als diese… diese abartigen, widerlichen Monster, die mich in diese Welt gesetzt haben!“ Kaori brach in Tränen aus. „KAORI-SAN! BITTE NICHT WEINEN!“, rief Sayuri, stand auf, ging zu Kaori und versuchte, sie zu beruhigen, „Bitte, bitte nicht weinen.“ Kaori sah sie mit großen Augen an und hielt inne. Für einen kurzen Moment war es totenstill. „Wenn du mich so bittest“, flüsterte Kaori und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, „Dann hör’ ich gerne auf, zu weinen.“ Sie lächelte sanft.
 

Ryo war aufgestanden. „Möchtest du meine Geschichte auch noch hören?“, fragte er Sayuri. „Wie du willst“, antwortete sie und setzte sich wieder zurück in den Sessel. „Oh, bitte nicht“, murmelte Kaori vor sich hin. „Also“, sagte Ryo bestimmt, „Ich hab’ dir ja erzählt, dass ich schwul bin. Nun ja, das war ich nicht immer. Zumindest nicht bewusst. Ich hatte nämlich mal ‚ne Freundin. Ich hab’ sie geliebt, und sie mich. Hm, vielleicht nicht ganz. Weil einmal ist sie mit so einem bildhübschen Kerl zu Hause aufgetaucht. Diese arrogante Ziege! Hat mich einfach rausgeschmissen. Sie hatte gesagt, dass sie ihn viel attraktiver fand, als mich. Tja, und so bin ich abgehauen. Ich wollte eigentlich mit der U-Bahn in eine andere Stadt fahren, und nie mehr wiederkommen, aber dann hab’ ich gesehen, wie Masao heimlich diesen Gang langging. Aus purer Neugier bin ich ihm unauffällig gefolgt. Irgendwann hat er mich dann doch erwischt. Nach langem Anflehen und Jammern hat er mir dann erlaubt, bei ihm zu wohnen, aber nur, wenn ich ihn in Ruhe lassen würde.“ „Ich wundere mich sowieso schon, warum er dich noch nicht rausgeworfen hat“, meinte Kaori und lachte leise, was Ryo aber ignorierte. „Tragisch, mein Schicksal, findest du nicht auch, Sayuri?“ fragte er sie und seufzte. „Äh, natürlich“, antwortete sie, „Aber warum bist du dann schwul geworden?“ „Ich hatte die Nase voll von Weibern, die sind alle gemein. Männer wissen doch immer noch am besten, was Männer wollen“, erklärte er und grinste.
 

„Sa-chan, der Kuchen wird kalt. Dabei haben wir noch gar nicht gegessen“, bemerkte Kaori. „Stimmt. Ich geh’ nur mal eben neue Teller holen“, meinte Sayuri. Kaori seufzte. „Na gut, wie du möchtest. Die Teller sind in der Vitrine im linken Fach“, sagte sie ihr, „Vier Teller, OK?“ „Alles klar“, antwortete Sayuri, stand auf und ging in Richtung Tür. Die scharfen Porzellanscherben hatte sie schon längst vergessen. Allerdings lagen sie immer noch auf dem alten Teppich. Gerade wollte Sayuri die Tür aufmachen, als sie unerwartet stolperte und hinfiel. „ARGH!“, schrie sie. Soeben hatte sich eine besonders lange, scharfe Scherbe mitten durch ihre rechte Hand gebohrt. „SAYURI“, riefen Ryo und Kaori gleichzeitig, sprangen ruckartig auf, um ihr zu helfen. „Sa-chan! Deine Hand blutet!“, bemerkte Kaori. Sayuri kniff die Augen zusammen. Der Schmerz war unerträglich. „Sei stark“, dachte sie, „Sei ein starkes Mädchen.“ Aber sie schaffte es nicht. Eine Träne nach der anderen rann ihre Wange hinunter. Ihre Hand blutete unaufhörlich. „ZIEH’ ES RAUS!“, schrie Ryo Kaori an. „ICH MACH’ JA SCHON!“, antwortete sie und nahm Sayuris Hand. „Tut mir Leid, Sa-chan“, murmelte Kaori und zog fest an der Scherbe, die sofort herausrutschte. „AU!“, schrie Sayuri. Sie wusste nicht, ob sie diese Schmerzen noch länger ertragen könnte.
 

Auf einmal sprang die Tür auf und Masao trat herein. „MASAO! SAYURI HAT SICH VERLETZT!“, erklärte Ryo ihm mit aufgeregter Stimme. Masao sah Sayuri mit ernster Miene an. „Wie ist das passiert?“, fragte er ruhig. „Nun ja“, sagte Ryo, „Kaori sind die Teller hingefallen, und Sayuri wollte neue holen, weil wir Kuchen essen wollten, aber dann ist sie gestolpert und hat sich an einer von den Scherben verletzt!“ Masao musterte die Wunde an Sayuris Hand. „Sollen wir sie ins Krankenhaus bringen?“, schlug Ryo vor. „Nein!“, sagte Masao bestimmt, „Sie bleibt hier!“ „A… aber Masao!“, protestierte Ryo. „Sei leise, Ryo!“, befahl er ihm und ging aus dem Zimmer. Kurze zeit später kam er mit einem Verband wieder, den er um Sayuris Hand wickelte. „Könnte etwas wehtun“, sagte er kalt. Und es tat weh. Es brannte höllisch, aber irgendwie schien Masaos Anwesenheit die Qualen zu lindern. „Danke“, murmelte sie. Daraufhin packte er sie an der anderen Hand und zog sie hoch. „Du gehst jetzt ins Bett“, meinte er. „Masao, es ist doch noch früh“, bemerkte Kaori. Masao ignorierte sie und schleppte Sayuri mit in sein Zimmer.
 

„Leg’ dich schlafen“, sagte Masao. Sayuri legte sich vorsichtig in sein Bett. Sie spürte das warme Licht der Kerzen, das sie durchdrang. Es tat ihr unheimlich gut, und sie hatte den Schmerz fast vergessen. „Ich werde Ryo nachher mal zu dir schicken, damit er nach dir sieht. Bis dann“, verabschiedete Masao sich von ihr und schlich aus dem Zimmer, woraufhin Sayuri sofort einschlief.



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Kommentare zu dieser Fanfic (14)
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Von:  Chimi-mimi
2007-07-10T15:03:31+00:00 10.07.2007 17:03
pflaumenkuchen XDDDDDDDD

nyo, ist dir gut gelungen ^^
bin schon gespannt wies weiter geht XD
Von: abgemeldet
2007-07-02T19:19:37+00:00 02.07.2007 21:19
ein neues kapi ^3^
man, ryo is iwie hysterisch, kann das sein? ô.o
ach ja: ich bin net dein ppersönlicher sklave, nur beta leser //Mir entgeht kein Fehler! *muahahaha*//
Von: abgemeldet
2007-07-02T19:06:31+00:00 02.07.2007 21:06
RYO~ ^3^
au ja, shopping. sollten wa auch nochma machen
sry dass das kommi erst jetzt kommt -.-
Von:  Ea
2007-07-02T18:09:59+00:00 02.07.2007 20:09
masao gefälllt mir immer besser :) ich mag ihn ;)
diesen einen abschnitt, wo die beiden ihre lebensgeschichte erzählen, da hättest du noch mehr absätze reinbríngen können
das großschreiben in der wörtlichen rede find ich auch wenig störend und leider hab ich auch den ein oder anderen rechtschreibfehler (es heißt DER kuchen) gefunden, aber das kannste alles noch beseitigen :)
Von:  Chimi-mimi
2007-06-29T09:01:21+00:00 29.06.2007 11:01
shopping
*shopping liebt*
da bekommt man ja lust drauf XD
ryo ist echt witzig und kaori cool und lieb.
bin gespannt wies weiter geht ^^
schreib also bald weiter XD
Von:  Chimi-mimi
2007-06-29T08:56:55+00:00 29.06.2007 10:56
*lol*
ryo ist luschtig
*lach*
das kapitel ist dir gut gelungen, bin schon auf das nächste gespannt ^^
Von:  Chimi-mimi
2007-06-29T08:49:53+00:00 29.06.2007 10:49
süß ^^
und masao hast du gut beschrieben, die stimmung kommt durch ihn besser rüber, als im ersten kap...
Von:  Chimi-mimi
2007-06-29T08:45:23+00:00 29.06.2007 10:45
wirklich ein guter anfang, da werd ich doch gleich mal die nächsten kaps lesen ^^
Von:  Ea
2007-06-20T19:06:24+00:00 20.06.2007 21:06
woher hat die so viel geld? muss doch sicherlich teuer sein oO
ryo gefällt mir :) ich kann mir den aber irgendwie nicht als bäcker vorstellen oO
was hat masao nur, dass er so viel schläft....?
Von: abgemeldet
2007-06-18T16:44:30+00:00 18.06.2007 18:44
mach weidda, nisi-chan
ryo~ ^3^


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