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Cause it's Life

- A Fateful Place Called School - ((KaixRay))
von

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Started

Titel: ’Cause It’s Life

Pairing: KaixRay/ RayxKai

Disclaimer: Beyblade gehört nicht mir und ich verdiene auch kein Geld hiermit
 

1. Kapitel: Started
 

Langsam näherte sich die Sonne dem Horizont. Ihre rote Farbe tauchte die Natur um sie herum in ein atemberaubendes Farbschauspiel. Ein schwacher Wind wehte und wiegte das Gras in seinem stetigen Rhythmus. Inmitten dieser Idylle lag ein Junge einsam auf einem Hügel, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Er hatte grau-blaue Haare, die durch das Rot der untergehenden Sonne beinahe violett glänzten. Doch am auffälligsten waren wohl die blauen Zeichen, die sein Gesicht zierten - waren sie doch nichts Alltägliches an einem Jungen seines Alters.

Er hatte die Augen geschlossen und man konnte meinen, er würde schlafen, doch unvermittelt öffnete er sie, denn er hatte Schritte gehört, die sich ihm langsam näherten. „Was willst du?“, durchbrach seine Stimme die sinnliche Stille. Missfallen war ihr deutlich zu entnehmen.

Eine Person trat neben ihn und sah auf ihn hinab. „Ich wusste, dass du hier bist, Kai.”

„Wo sollte ich sonst sein?”, entgegnete Kai abwesend und schloss wieder die Augen. Die Person, ein Junge etwa im gleichen Alter wie Kai, seufzte und setzte sich ins Gras. Schweigend blickte er Richtung Horizont.

„Also, was willst du, Tala?”, fragte Kai, die Augen immer noch geschlossen haltend.

„Sie haben mich geschickt, um dich zu suchen”, antwortete Tala und blickte beinahe versonnen in den Sonnenuntergang. Sekundenlang herrschte Stille, während jeder seinen Gedanken nachhing, doch schließlich erinnerte Tal sich wieder daran, weswegen er Kai aufgesucht hatte. „Voltaire war außer sich, weil du nicht beim Festessen warst, Kai.” Tala blickte auf seinen Freund hinab, welcher nun die Augen wieder geöffnet hatte und in den Himmel blickte. „Der alte Greis kann mir mal gestohlen bleiben”, erwiderte Kai knurrend und in Lächeln schlich sich auf Talas Gesicht. „Nur weil ich sein Enkel bin, muss er es nicht übertreiben”, fuhr Kai fort und er erinnerte Tala in diesem Moment eher an einen störrischen kleinen Jungen, als an einen Oberschüler. „Wäre ich jemand anderes, würde es ihm doch überhaupt nicht auffallen, ob ich beim Festessen erscheine oder nicht. Er hat so viele Schüler, da fällt einer mehr oder weniger nicht auf ...”

„Aber bei seinem Enkel, dem großen Kai Hiwatari, fällt es sehr wohl auf”, beendete Tala den Satz. Kai setzte sich auf und betrachtete den Rothaarigen finster. Tala ignorierte das offensichtliche Missfallen Kais, stand auf und hielt ihm die Hand entgegen. „Na los, komm zurück zum Schloss, bevor Voltaire die Nerven verliert springt oder gar einen Suchtrupp losschickt.” Kai murmelte etwas Unverständliches, doch er erhob sich, die angebotene Hand dabei ignorierend, und ging an Tala vorbei. Gemächlich schlenderte er Richtung Schloss. „Was ist jetzt?”, rief er ohne sich umzudrehen. „Erst drängst du mich und jetzt bleibst du da stehen. Komm schon.“ Dieser Satz duldete keinen Widerspruch. Tala zuckte die Schultern und folgte Kai schließlich zurück zum Internat. Das Internat war ein altes Schloss aus dem Mittelalter. Seit Generationen schon gehörte es der Familie Hiwatari, wurde jedoch vor hundert Jahren zum Internat umfunktioniert. Seither galt es als eines der Besten unter den Besten und hatte schon viele bedeutende Persönlichkeiten hervorgebracht. Kai Hiwatari, der Enkel des derzeitigen Schulleiters Voltaire Hiwataris, war ein Schüler der oberen Jahrgänge, zusammen mit seinem Freund Tala Ivanov. Obwohl Kai als Enkel Voltaires Anspruch darauf gehabt hatte, ohne weiteres im Internat aufgenommen zu werden, hatte er darauf bestanden, erst die Aufnahmeprüfung zu absolvieren. Schließlich sollte niemand auf den Gedanken kommen, er hätte den Platz nicht verdient. Doch dies würde ohnehin nie geschehen. Kai bekam ohne Mühe die besten Noten des gesamten Jahrgangs - dicht gefolgt von Tala.

Tala Ivanov war ohnehin eine Klasse für sich. Er war der einzige, den Kai ohne Protest für längere Zeit neben sich duldete, allen anderen zeigte er sich abweisend, unnahbar und desinteressiert. Auch Tala gegenüber pflegte er dieses Verhalten noch oft an den Tag zu legen, doch der Russe schien kein Problem mehr mit dieser stillen Übereinkunft zu haben.
 

Bei dem Gedanken an ihre Freundschaft musste Tala noch heute unweigerlich grinsen. Er und Kai hatten sich nicht immer so vertragen wie jetzt. Keinesfalls. Am Anfang ihrer Internatszeit konnten sich die beiden überhaupt nicht leiden - nicht im geringsten. Es war sogar soweit gekommen, dass sie sich regelmäßig wirklich aneinander geraten. Voltaire hatte dies alles andere als gefallen, er hatte Kai regelmäßig zu sich gerufen und ihn scharf zurecht gewiesen, doch diesen hatte es sichtlich wenig interessiert. Die Reibereien gingen noch eine ganze Weile so weiter.

Doch mit der Zeit hatten sich die beiden respektieren gelernt und letztendlich war daraus so etwas wie Freundschaft entstanden. Keine Freundschaft wie aus dem Bilderbuch, mit Herz und Seele oder etwas ähnlich Kitschigem, aber sie kamen miteinander klar und Tala war wahrscheinlich der einzige an dem Internat, der mit Kais Art umgehen konnte. Und es war keine Seltenheit, dass Tala, sollte Kai mit seinem Verhalten wieder maßlos übertreiben, ihn tadelnd darauf hinweisen würde.

oOo
 

Tala lag auf seinem Bett und starrte gedankenverloren an die Decke.

Kai war zurzeit in Voltaires Büro und musste sich wahrscheinlich wieder eine Standpauke anhören, was ihm als Enkel des Internatsleiters denn einfiele, nicht zum Festessen zu erscheinen und was dies denn für einen Eindruck auf den Schulrat machen würde ... Tala lachte leise. Als ob es nicht schon oft genug vorgekommen war, dass Kai nicht zu solchen Festessen erschienen war. Es war offenkundig bekannt, dass Kai solche Veranstaltungen nicht ausstehen konnte. Voltaire müsste das doch langsam mal begreifen, doch er machte jedes Mal einen furchtbaren Aufstand, wenn Kai nicht auftauchte – ganz so, als wäre es eine Eigenschaft an dem Russen, die sich so einfach ändern ließe.

Die Tür des Zimmers wurde rücksichtslos aufgestoßen und ein aufgebrachter Kai kam fluchend, mit wehendem Schal hereingestürmt. „Was bildet sich dieser alte Kerl eigentlich ein?!” Während Kai tobend durch das Zimmer marschierte setzte sich Tala auf.

„So wütend Kai?”, fragte er schließlich grade heraus, wusste er doch, dass Kai nichts mehr hasste, als ein ewiges um den Punkt herumreden. Voltaire musste ja etwas ganz schön Wirkungsvolles gesagt haben, wenn Kai so reagierte.

„Dieser - dieser aufgeblasene -” Kai blieb stehen, starrte wutentbrannt in die Luft vor sich, bevor er herumwirbelte und direkt zu einer neuen Schimpftirade ansetzte.

„Was hat er gesagt?”, wiederholte Tala seine Frage eindringlich. Kai unterbrach sich in seinem Wortschwall, den er mehr um des Zornes willen, denn um Tala zu informieren, von sich gab. Er starrte den Rothaarigen durchdringend an und in seinem Blick lagen Zorn und Entrüstung. Es kam selten vor, dass Kai sich derart gehen ließ und seine Emotionen offen nach außen hin präsentierte.

„Er ... meinte”, Kai brach bebend ab, schien offenbar nach den passenden Worten zu suchen, bis er schließlich fortfuhr:

„Wenn ich noch einmal nicht zu einem der Festessen erscheinen würde, würde er mich vom Beyblade-Untericht ausschließen lassen, noch dazu bekäme ich ein Verbot. Als wenn er das durchsetzen könnte! Dieser elende, verbohrte, alte – verdammt, ich geh raus, trainieren!” Und mit diesen Worten rauschte er aus dem Zimmer. Tala ließ sich wieder nach hinten aufs Bett sinken. Er schloss die Augen, während er langsam ausatmete. Er konnte ich durchaus vorstellen, was momentan in Kai vor sich gehen musste. Das Bladen war eines der wenigen Dinge, die Kai voller Leidenschaft betrieb. Eine der wenigen Tätigkeiten, bei denen Kai wirklich lebte.

>Mit dieser Drohung hat er dich, Kai<, dachte er mit leichter Bitterkeit. >Was wirst du jetzt tun?< Und er war sich sicher, dass selbst Kai in diesem Moment keine Antwort darauf wusste.
 

oOo
 

Der Speisesaal des Schlosses war für das Abendessen hergerichtet. So gut wie alle Plätze waren besetzt. Auch Kai war zum Abendessen erschienen. Er saß mit finsterer Mine neben Tala, denn er war immer noch wütend auf seinen Großvater. Dieser saß mit den anderen Lehrern an einem Tisch, etwas abseits, und schien grade ein ernstes Gespräch mit ihnen zu führen. Schließlich erhob sich Voltaire und Ruhe kehrte in den Saal ein. Wenn der Schulleiter etwas ansagen wollte, sollte jeder, der an seiner Gesundheit hing, sich lieber ruhig verhalten.

„Nun gut“, begann Voltaire schließlich, „ich habe euch etwas mitzuteilen: Von heute an werden wir einen neuen Schüler in diesem Internat beherbergen. Er kommt aus China und stammt aus einer angesehenen Familie - der Familie Kon.“

Sofort begannen einige der Schüler miteinander zu tuscheln. Die Familie Kon war eine der reichsten Familien Chinas. Und ausgerechnet die schickte jemanden an dieses Internat? Kai zeigte sich an diesen Worten wenig interessiert. Was kümmerte ihn ein weiterer neureicher, verwöhnter Junge, der noch dazu aus China kam?

Die Tür des Saales schwang knarrend auf und das Gemurmel erstarb. Ein Junge betrat mit langsamen Schritten den Saal, sah sich aufmerksam und mit einer Spur Ehrfurcht um. Augenblicklich hatte er die Aufmerksamkeit aller auf sich gezogen.

Selbst Kai musterte ihn mit unverhohlenem Interesse. Etwas an diesem Jungen zog die Blicke geradezu auf ihn. Es mochte an seinen unnatürlich langen Haaren liegen, doch vielleicht war es auch seine ganze Ausstrahlung. Plötzlich blickte er nach rechts, genau in Kais Augen. Sekundenlang starrten sie sich an, dann wurde Kais Ausdruck abweisend und er blickte demonstrativ zur Seite.

„Nun denn“, nahm Voltaire das Wort an sich, als der Junge den Tisch der Lehrer erreicht hatte und verharrte. „Herzlich willkommen an unserem Internat, Raymond Kon.“

„Danke“, erwiderte der Schwarzhaarige und ein Lächeln erschien auf seinen Zügen. Er wandte sich zu den Schülern um, schenkte den anwesenden ein Zwinkern. „Hier wird es mir sicher gefallen.“ Bei diesen Worten wanderte sein Blick für wenige Momente zurück zu Kai.
 

Das Abendessen war beendet und die Schüler verließen den Saal. Einige unterhielten sich. Normale Lautstärke war wieder in die Massen zurückgekehrt.

„Kai, warte bitte.“

Der Angesprochene drehte sich langsam zu seinem Großvater um. Auch Tala blieb interessiert neben ihm stehen. „Was ist, Großvater?“, fragte Kai desinteressiert und verschränkte die Arme.

„Kai, Raymond wird bei dir und Tala im Zimmer das freie Bett belegen. Ich möchte, dass du dich ihm in der ersten Zeit annimmst und ihm alles zeigst.“

Neben Voltaire erschien der Neue. Aufmerksam betrachtete er Kai.

„Warum sollte ich?“

Tala schüttelte den Kopf. Das war typisch Kai. „Ich werde mich um ihn kümmern“, bot er schließlich an, um die angespannte Stimmung zwischen Kai und seinem Großvater nicht eskalieren zu lassen. Voltaire schien einen Moment zu überlegen, nickte dann aber. „Gut Tala, einverstanden. Seid freundlich zu ihm.“ Bei diesen Worten ruhten sein Blick auf Kai, doch Tala antwortete trotzdem: „Verstanden.“

Der Mann und drehte sich um. Er legte dem Chinesen flüchtig die Hand auf die Schulter, dann verließ er die Halle. Nun waren sie die letzten. Raymond Kon machte einen Schritt auf Kai zu hielt ihm freundlich lächelnd die Hand entgegen.

„Erfreut, dich kennen zu lernen. Ich wurde zwar als Raymond vorgestellt, doch Ray alleine tut es genauso gut.“

Kai blickte kurz auf die ihm dargebotene Hand, wandte sich dann wortlos ab und verließ mit wehendem Schal die Halle. Perplex sah Ray ihm nach, die Hand noch immer ausgestreckt. Tala verdrehte die Augen. Kai übertrieb es manchmal wirklich. Letztendlich ergriff er Rays Hand und schüttelte sie. „Freut mich auch, Ray. Ich bin Tala Ivanov.“

Zunächst blickte Ray ihn verwirrt an, lächelte dann jedoch wieder, wenn auch irritiert. Erneut blickte er zu der Tür, durch die Kai soeben gegangen war.

Tala entging dies nicht. „Der Typ, der da grade einen filmreifen Abgang gemacht hat, heißt Kai Hiwatari. Mach dir wegen seiner Reaktion keine Gedanken. So ist er immer.“ Der Schwarzhaarige nickte langsam, den Blick immer noch auf die Tür gerichtet. „Wo wir das nun geklärt haben“, meinte Tala schließlich, „Ich zeig dir dann mal unser Zimmer.“
 

oOo
 

Ray sah sich aufmerksam um. Das war wirklich ein beeindruckend großes Schloss. Schon von außen hatte es groß ausgesehen, doch im Inneren war es mit seinen vielen Gängen mindestens genauso beachtlich. Ray versuchte, sich den Weg den sie gingen einzuprägen - wollte er sich später schließlich nicht verirren, doch je mehr Gänge hinter ihm lagen, desto hoffnungsloser wurde sein Unterfangen. Resigniert gab er auf. Er würde sicherlich Jahre brauchen, um sich einigermaßen zurecht zu finden, ohne Gefahr zu laufen, am anderen Ende des Schlosses oder womöglich in einer Besenkammer zu landen.

Nach einiger Zeit blieb Tala vor einer Tür stehen. „So, dies ist ab heute auch dein Zimmer.“
 

Das Zimmer hatte ebenfalls eine beachtliche Größe. Drei Betten standen an den Wänden, ebenso drei Schreibtische. Ray fiel auf dass sowohl ein Bett, als auch ein Schreibtisch vollkommen unbenutzt wirkten. Eine andere Ecke des Zimmers hingegen, war eher spärlich eingerichtet und Ray hatte das dumpfe Gefühl zu wissen, wem sie gehörte.

Achtlos schmiss er seinen Seesack neben sein Bett und ließ sich auf selbiges fallen. Die Reise hierhin hatte ihn merklich mitgenommen. Erst der stundenlange Flug und dann noch diese ewig dauernde Fahrt zum Internat. Er wandte den Kopf zur Seite. Neben seinem Bett war eine Tür, die offenbar auf einen Balkon führte.

Ein Lächeln umspielte Rays Lippen. Dann könnte er sich nachts gut den Himmel ansehen, wenn er wieder mal nicht schlafen konnte. Er wandte den Kopf zur anderen Seite.

Tala hatte sich an seinen Schreibtisch gesetzt, aber von diesem Kai - oder wie er auch immer hieß - war nicht die Spur zu sehen. Ray sinnierte noch einige Minuten vor sich hin, überlegte, wie seine Zukünftige Zeit sich in diesem Internat entwickeln würde, bis ihm die Augen zufielen und sein Atem regelmäßig wurde.
 

Als er erwachte, war es bereits tiefe Nacht. Er setzte sich auf und sah sich um. Tala schien zu schlafen und das Bett von Kai war leer. Es wunderte Ray, aber vielleicht war Kai bloß auf dem Klo oder vertrat sich nur die Beine. Was es auch war, es hatte Ray nicht zu interessieren. Sein Blick wanderte zu der Balkontür und sein Gesicht erhellte sich.

Leise schlich Ray durch den Raum und schlüpfte nach draußen. Eine kühle Brise wehte und ließ ihn kurz frösteln, doch das interessierte Ray im Moment nicht. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Mond. Er faszinierte Ray ungemein. Schon als kleines Kind war er vom Mond besonders angetan und dies hatte sich bis heute nicht geändert. Es war kein Vollmond in dieser Nacht, doch allein ein Teil des Mondes reichte, um Ray voll und ganz in seinen Bann zu ziehen.

„Was machst du denn noch hier draußen?“, erklang plötzlich eine dunkle Stimme hinter Ray. Dieser zuckte ungewollt etwas zusammen und wandte sich blitzschnell um. Eine Person stand im Schatten, an die Wand gelehnt. Obwohl sich Ray sicher war, zu wissen, um wen es sich handelte, fragte er argwöhnisch: „Kai?“

„Wer sonst?“, war die bissige Antwort.

Ray schwieg.

„Ich frage dich noch mal“, sagte Kai erneut mit eisiger Stimme, die Ray eine Gänsehaut bereitete. „Was machst du noch so spät hier draußen?“

„Dasselbe könnte ich dich fragen“, entgegnete Ray harsch.

Kai ignorierte die Worte und fuhr fort: „Solltest du um diese Uhrzeit nicht schon längst im Bett sein?“

Ray konnte Kais Gesicht nicht sehen, da es im Schatten lag, war sich jedoch sicher, dass der Russe ihn spöttisch anlächelte. Für wen hielt Kai ihn eigentlich? „Ich bin kein kleines Kind!“, fauchte er.

Kai trat aus dem Schatten und baute sich vor ihm auf. Er überragte Ray einen halben Kopf und grinste gehässig. „Vielleicht bist du kein Kind, aber klein bist du.“

„Was?!“ Ray fing vor unterdrückter Wut an zu zittern. Was glaubte Kai eigentlich, wer er war?! Rays funkelten sein Gegenüber bedrohlich an, ignorierte die Tatsache, dass Kai es in der Dunkelheit wohlmöglich überhaupt nicht bemerkte. „Du solltest mich besser nicht unterschätzen, Kai!“, zischte er, darum bemüht nicht gleich in die Luft zu gehen oder Kai den Hals umzudrehen.

Dieser lachte leise. „Glaub mir Raymond, das tu ich nicht.“

Ray musste sich beherrschen, um seine Wut nicht ausarten zu lassen. Er verspürte den Drang, auszuholen und Kai seine Meinung treffsicher ins Gesicht zu schleudern, doch er hatte das beklemmende Gefühl, es würde ihn teuer zu stehen kommen, sollte er sich so gehen lassen. Er hatte Kai spätestens ab dem Treffen in der Halle als gefühlskalt und gleichgültig eingeschätzt, aber das übertraf selbst seine Vorstellung dieses eindeutigen Mistkerls, der nun vor ihm stand und ihn noch immer herablassen angrinste

„Was ist denn, Kon?“, fragte Kai mit hochgezogener Augenbrauen. „Hat es dir die Sprache verschlagen? Im reichen Haus bist du wohl an nicht so viel gewöhnt, kann das sein?“

Das brachte das Fass endgültig zum überlaufen. Ray packte Kais Arm und in einer raschen Bewegung presste er Kai mit der Brust voran fest an die Außenwand des Internats. Nun war er an der Reihe Kai hämisch anzugrinsen, auch wenn der Russe es nicht sehen konnte, stand Ray doch unmittelbar hinter ihm. „Oh Kai, ich glaube wirklich, dass du mich ganz schön unterschätzt hast. Vielleicht solltest du anfangen, an deiner Menschenkenntnis zu zweifeln.“ Ruckartig ließ Ray Kai los und verschwand zurück ins Zimmer.

Kai blieb schweigend zurück. Als er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte verwandelte sich seine Verwunderung in Wut. Noch nie hatte es jemand gewagt, Kai Hiwatari in eine derartige Situation zu bringen. Außer Ray hatte es niemand gesehen, doch die Tatsache, dass der Chinese, der Neue es gewagt hatte, zeugte von seiner Unwissenheit. Man führte Kai Hiwatari nicht ungestraft vor.
 

Das würde er ihm heimzahlen,

Das gab Rache!

Caught

2. Kapitel: Caught
 

Der Montag brach an und somit auch Rays erster Schultag. Bereits vor dem Frühstück hatte er alles bekommen, was er für die Schulstunden benötigte, seinen Stundenplan und ebenso seine Schulbücher. Da er außer seinem Seesack keine andere Tasche besaß, hatte Tala ihm eine von seinen überlassen. Dankbar hatte Ray sie angenommen.

Als er seinen Stundenplan betrachtete, fiel ihm etwas auf: Jeden Tag stand Beybladetraining an. Nicht, dass ihn das störte – das genaue Gegenteil war der Fall. Er hatte schon befürchtet, dass r in den nächsten Monaten erhebliche Vernachlässigung würde dulden müssen. Denn er liebte das Bladen, es war seine ganze Leidenschaft. Und vor allem seinen Bit Beast Drigger.
 

„Ray!“ Jemand klopfte ihm auf die Schulter. Es war Tala. „Komm, wir haben jetzt Mathe. Ich zeig dir den Weg.“

Ray zuckte zusammen. Mathe?! Alles, bloß das nicht! Er hasste nichts mehr, als Mathe. Er hatte seit jeher das Gefühl, dass man ihm den Anteil des logischen Denkens vorenthalten hatte, welcher für Mathematik erforderlich war. Mit einem unangenehmen Gefühl im Magen folgte er dem Rothaarigen.

Im Klassenraum stellte er fest, dass nur noch ein Platz frei war. Und ausgerechnet der neben Kai. Dass es sich hierbei um einen Fensterplatz handelte, konnte Ray da auch nicht mehr aufmuntern. Kai würde doch bestimmt Rache dafür nehmen wollen, dass Ray ihn heute Nacht in eine derart missliche Lage gebracht hatte. Ihm schwante bereits Übles. Und er sollte Recht behalten.
 

Als er an Kais Tisch vorbeiging, streckte dieser, wie zufällig, sein Bein aus. Ray blieb hängen, kam ins Stolpern und schaffte es trotz einigem Abmühens nicht, sein Gleichgewicht zu halten. Bäuchlings landete er auf dem Boden. Stöhnend schloss er die Augen. Warum ausgerechnet er?

Die Klasse – bis auf Tala, der Kai einen genervten Blick zuwarf – brach in schallendes Gelächter aus. Der Rothaarige beugte sich zu Ray hinab und half ihm auf.

„Da sieht man es, Kon“, bemerkte Kai schließlich und grinste Ray siegessicher an. „Scheint wohl so, als hätte ich dich doch nicht unterschätzt. Du kannst ja nicht einmal richtig laufen. Du bist eben doch nur ein kleines Kind.“

Zornesröte schlich sich auf Rays Gesicht, während er sich vor Kai aufbaute. Seine Muskeln waren bis aufs Äußerste angespannt und seine Hände zu Fäusten geballt. Tala legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. Eine Prügelei war das Letzte, was Ray an seinem ersten Tag gebrauchen konnte. Selbst Kai und er hatten damals die ersten Wochen abgewartet, bis es bei ihnen angefangen hatte.

Die Klasse war mittlerweile verstummt. Alle beobachteten gespannt das Schauspiel, das sich ihnen bot. Ein Lehrer war noch nicht eingetroffen – und selbst wenn, hätte mit großer Wahrscheinlichkeit keiner Notiz von ihm genommen. Tala, dessen Hand immer noch auf Rays Schulter ruhte, spürte, wie sich die Muskeln von Ray schlagartig entspannten. Verwundert blickte er den Chinesen an. Erstaunlicherweise war keinerlei Wut mehr in dessen Gesicht zu sehen. Im Gegenteil - Ray lächelte.

Diese Geste schien selbst Kai beinahe aus dem Konzept zu bringen.

„Gut, Kai “, meinte Ray nach einiger Zeit mit zuckersüßer Stimme. Immer noch lächelte er den Russen lieblich an. „Vielleicht hast du Rech und ich bin wirklich ein Kind. Aber vielleicht“, und mit diesen Worten drehte er sich ruckartig ab, Sein langer Zopf folgte dieser plötzlichen Bewegung und sein Ende traf Kai frontal im Gesicht. Ray warf grinsend einen Blick über die Schulter. „Vielleicht irrst du dich auch ganz einfach, Kai!“ Mit diesen Worten machte er Kehrt und setzte sich auf seinen Platz.

Einen Moment herrschte Stille, dann fingen sämtliche Schüler im Klassenraum zum zweiten Mal an diesem Morgen zu lachen an. Selbst Tala konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, wofür er sofort tödliche Blicke seitens Kais erntete.

„Ruhe!“

Die Klasse verstummte schlagartig. Ein zorniger Kai blickte ihnen entgegen. Sofort drehten sich alle schweigend nach vorne zur Tafel. Tala schritt gemächlich zu seinem Platz. Ray lächelte fröhlich und sah aus dem Fenster. Kai hatte die Arme verschränkt und strafte jeden im Raum mit Nichtachtung. Er gab sich unbeteiligt, doch innerlich bebte Kai vor Wut und musste all seine Selbstbeherrschung aufbringen, um sich nicht auf Ray zu stürzen.
 

Die Lehrerin betrat den Klassenraum und der Unterricht begann. Wenn Ray es richtig verstanden hatte, hieß die Frau Miss Tate.

Im Moment jedenfalls, saßen sie an einer besonders schwierigen Aufgabe und zerbrachen sich die Köpfe.

„Woher sollen wir denn die Lösung wissen?“, stöhnte ein Junge, der zwei Reihen vor Ray saß. Er hatte dunkelblaue schulterlange Haare, die jedoch von einer Kappe größtenteils verdeckt wurden. Einige Schüler lachten, verstummten jedoch, als sie Miss Tates strengen Blick bemerkten.

Auch Ray war von dieser Aufgabe sichtlich überfordert. Kurz blickte er nach rechts. Kai hatte wieder die Arme verschränkt, die Augen geschlossen und sich nach hinten gelehnt. Anscheinend war er schon fertig mit der Aufgabe, ebenso Tala, der gelangweilt mit einem Kugelschreiber spielte.

„Ray, würdest du uns bitte die Aufgabe an der Tafel vorrechnen? Sofort saß Ray kerzengrade auf seinem Platz? Tafel? Vorrechnen? Er?! In seiner ersten Stunde? „W-was?“

„Die Aufgabe ... bitte.“ Die Frau Machte eine auffordernde Geste. Langsam, stand Ray auf und ging zur Tafel.

>Das geht nicht gut!<, dachte er und starrte die Aufgabe an. >Das geht überhaupt nicht gut. Ich verstehe doch nichts davon. Nicht einmal jahrelanger Unterricht hat daran etwas ändern können, wieso sollte es auf einmal anders sein? Warum immer ich?<

Da stand er nun, die Kreide in der Hand und starrte gebannt die Tafel an, als wolle er sie mit seinem Blick aufspießen oder in Flammen aufgehen lassen. Doch natürlich tat die Tafel ihm den Gefallen nicht.

„Nun Ray, was ist?“ Miss Tate klang leicht ungeduldig. Ray ließ die Hand mit der Kreide sinken und drehte sich langsam zu der Frau um. „Tut mir leid, aber ich versteh’ die Aufgabe einfach nicht“, meinte er geknickt und spürte, wie ihm Blut ins Gesicht schoss.

Einige Schüler kicherten. Kai hatte seine Augen geöffnet und grinste Ray schadenfroh an. Ray bemerkte dies und erwiderte den Blick trotzig. Die Lehrerin folgte Rays Blick. „Nun Kai“, begann sie mit hochgezogener Augenbraue. „Da es dich so zu amüsieren scheint, dass Ray diese Aufgabe nicht verstanden hat, schlage ich vor, du gibst ihm ein wenig Nachhilfe.“

Nun entgleiste Kais Gesichtszüge tatsächlich. „Wie bitte?“

„Du hast schon richtig gehört, Kai. Du sollst Ray ein bisschen Nachhilfe in Mathe geben.“

Kai fasste sich wieder und sah Miss Tate kalt an. „Nein“, erwiderte er bestimmt. „Vergessen Sie’s.“

„Auf keinen Fall, Kai. Du wirst das machen. Sonst sehe ich mich gezwungen, mit Voltaire zu reden.“

Die Schüler sogen synchron die Luft ein. Verstohlene Blicke wurden auf Kai geworfen, welcher durch die Worte Miss Tatessichtlich missgestimmt schien. Alle wusste, dass Kai diese Drohung hasste, denn sie zeigte einzigen Schwachpunkt.

„Ist gut“, knurrte er wütend.

Miss Tate lächelte zufrieden. „Sehr schön. Ray du kannst dich setzen. Tala?“ Angesprochener ließ von seinem Kugelschreiber ab und sah auf. „Rechne uns bitte die Aufgabe vor.“ Der Rothaarige erhob sich und schritt zur Tafel. Ray ließ sich geschlagen auf seinem Platz nieder. Ob er von Glück oder Unglück sprechen sollte, wusste er noch nicht genau. Doch er versuchte den stechenden Seitenblick, den Kai ihm schenkte, zu ignorieren.
 

oOo
 

Nach Mathe stand Englisch auf dem Plan. Eine sichtliche Erleichterung für Ray. Alles in allem verlief die Stunde ganz gut, wenn man von den bösen Blicken absah, die Kai Ray dauernd zuwarf.

>Na ja<, dachte Ray im Nachhinein. >Immer noch besser, als noch so ein Akt, wie in Mathe. Eine Katastrophe.<

Er hatte sich entschieden, das ganze doch als Unglück anzusehen, konnte er doch unmöglich von Glück reden, wenn es darum ging, von Kai Nachhilfe erteilt zu bekommen. Ihm graute bereits jetzt vor den Stunden, wusste er doch genau, dass Kai ihn dafür leiden lassen würde.

Nach Englisch stand schließlich Beybladetraining auf dem Plan. Dafür musste sie allerdings runter in den – Tala nannte ihn lächelnd Kerker - da nur dort genug Platz für die Beybladearenen war.

Nun standen sie munter schwatzend und vermischt in dem großen Gewölbe. Ray allerdings stand außerhalb, ebenso Kai, der gleichgültig an der Wand lehnte. Jemand tippte Ray auf die Schulter. Als der Schwarzhaarige sich umdrehte erblickte er ...

>Ein blondes Kätzchen?< Schnell schüttelte er den Kopf um diesen Gedanken zu vertreiben. Doch ganz falsch lag er mit seiner Vermutung nicht. Der Junge vor ihm hatte blonde Haare und lächelte ihn an wie eine Katze.

„Hi Ray – ich darf dich doch Ray nennen oder? - ich bin Max. Max Tate.“

„Tate?!“

Max’ Lächeln wurde eine Spur breiter. „Ja, Tate. Judy Tate, die Lehrerin, ist meine Mutter.“

Ray ergriff zögernd die Hand. „Na dann, freut mich, dich kennen zu lernen Max.“

Obwohl Ray es für unmöglich gehalten hätte, wurde Max’ Lächeln noch breiter. >Langsam wird mir dieser Junge unheimlich<, dachte der Chinese irritiert. >So breit kann doch kein normaler Mensch lächeln!<

„Und?“, fragte das lächelnde Ungetüm vor Ray freundlich. „Wie gefällt es dir hier?“

„Es ist ganz okay.“

„He Max!“, ertönte eine Stimme hinter ihnen. Der Angesprochene drehte sich um. Der Junge mit dem roten Cappy kam auf ihn zugeeilt. „Max, Hiro hat mir die Erlaubnis gegeben, wir können heute ein Team bilden. Ist das nicht toll? Immer trennt er uns, weil er meint, dass es unfair gegenüber den anderen wäre, aber heute macht er eine Ausnahme!“

Max nickte langsam, dann hielt er inne. Erneut drehte er sich zu Ray um, der sich einen Moment lang ziemlich fehl am Platz gefühlt hatte. „Ray, das ist Tyson.“ Er deutete auf den dunkelblauhaarigen Jungen neben sich.

„Hi Ray!“ Tyson hob grüßend die Hand und grinste. „Das war ja vorhin ’ne beeindruckende Show mit dir und Kai.“

Ray lächelte verlegen, doch bevor er etwas erwidern konnte, betrat der Lehrer den Raum. Er hatte trug seine langen Haare zu einem Zopf gebunden und machte einen alles andere als alten Eindruck. Tatsächlich schien er überaus jung zu sein.

„Morgen Leute“, begann er und sah sich um. „Ihr kennt den Ablauf, sucht euch zum Aufwärmen erst einmal einen Gegner.“

Sein Blick fiel auf Ray und seine Miene hellte sich auf. Während die anderen Schüler sich im Gewölbe zerstreuten und Gruppen bildeten, nahm der Lehrer Ray beiseite. „Du bist sicher der Neue, Raymond war dein Name?“

„Ja, stimmt. Aber Ray alleine reicht auch. Ich bin nicht so vernarrt in die voller Version.“ Ray lächelte entschuldigend.

Der junge Mann erwiderte diese Geste. „Schön, ich bin Hiro Granger. Aber ich bin auch nicht erpicht auf die förmliche Anrede. Nenn mich einfach Coach, das tun alle.“

Der Schwarzhaarige nickte. „Ist gut.“

„Ich kann davon ausgehen, dass du einen Beyblade besitzt?“

Ray griff in seine Tasche und tastete nach Dirgger, dann hielt er ihn Hiro entgegen. „Ja, das stimmt.“

„Das ist gut“, sagte Hiro. „So, jetzt brauchen wir nur noch einen Gegner für dich. Ah genau.“ Er winkte Tala zu ihnen herüber.

Tala folgte der Aufforderung. Sein Blick fiel auf Ray und er nickte. „Ich versteh schon, geht klar Coach.“

Hiro nickte ebenfalls und stellte sich neben die nächste Beyarena. Tala und Ray stellten sich in Startposition, die Starter hielten sie bereit. Hiro hob den Arm. „Drei, zwei, eins, Let it Rip!“

Ihre Blades starteten und landeten in der Arena. Sofort begannen sie einander zu attackieren. Tala hob eine Augenbraue. Er wirkte nachdenklich. „Dann wollen wir doch einmal ernst machen. Wolborg!“ Talas Blade begann zu leuchten und schoss auf Drigger zu. Talas Blade stieß frontal auf Drigger, doch dieser parierte den Treffer mühelos.

Mittlerweile waren auch andere Schüler auf ihren Kampf aufmerksam geworden. Interessiert Blicke folgten den Beyblades, neugierig darauf, wie gut der Neue sich gegen einen Gegner wie Tala behaupten würde. Selbst Kai hatte sich an die Wand neben die Arena gelehnt und betrachtete das Geschehen aufmerksam.

Tala strich abwesend sich eine rote Strähne aus dem Gesicht. „Nicht schlecht, Ray, ich muss zugeben, ich hab dich unterschätzt.“ Ray grinste. „Da bist du nicht der einzige hier, Tala.“ Dabei blickte er Kai kurz in die Augen, der seinen Blick ausdruckslos erwiderte.

Ray hielt es jedoch für besser, sich wieder auf den Kampf zu konzentrieren.

„Gut Ray“, sagte Tala schließlich, nachdem ihre Beyblades sich minutenlang umkreist an wiederholt angegriffen hatten. „Da ernst machen allein nicht gereicht hat, werde ich jetzt deutlich mehr geben.“

Ein Raunen die Menge, bestehend aus den Schülern. Tala musste nie mehr geben. Er war nach Kai wohl der beste Blader der Schule. Bei den meisten Kämpfen setzte er nicht einmal die Hälfte seiner Kraft ein.

„Wolborg“, rief Tala. „Norvole Rock!“ Talas Hände wurden Klauenförmig und sein Gesicht verwandelte sich in eine Furcht einflößende Fratze. Hinter ihm brachen Eiskristalle aus dem Boden.

Schlagartig sank die Temperatur im Gewölbe rapide ab. Der Boden der Arena mittlerweile eingefroren und ein kalter Wind wehte um die beiden Gegner. Wolborg schoss mit einer enormen Geschwindigkeit von oben herab. Synchron drehten sich alle Köpfe der Zuschauer zu Ray und sie hielten den Atem an. Ray hatte seine Augen geschlossen, keinerlei Anspannung war in seinem Gesicht zu sehen, er wirkte vollkommen ruhig Erneut sahen alle erst zu Drigger, dann zu Ray. Wolborg kam immer näher. Wenn Ray nicht bald etwas unternehmen würde ...

Plötzlich öffnete dieser die Augen. Seine Pupillen waren zu schmalen Schlitzen verengt. „Jetzt!“ Drigger wich blitzartig zur Seite aus und Talas Blade traf ins Leere.

„Nein!“

Rays Muskeln spannten sich wieder an. „Los Drigger, Gathling Claw!“ Grelle Blitze umzuckten sowohl Ray, als auch Drigger. Der Blade glühte und nahm direkten Kurs auf Wolborg. Ihr Aufprall verursachte einen grellen Lichtstrahl, der alle dazu brachte die Arme schützend vor die Gesichter zu halten. Alle, bis auf Ray. Er blickte direkt ins Licht und ihn schien die Helligkeit nicht. Seine Pupillen waren nur noch schmale Striche, doch er war ganz ruhig und wich auch nicht zurück.

Als sich die Helligkeit gelegt hatte, öffneten alle die Augen. Ein Aufkeuchen ging durch die Reihen der Zuschauer. Talas Beyblade lag bewegungslos in der Arena, Rays hingegen rotierte stabil weiter. Drigger drehte eine letzte Runde, dann kehrte er in die ausgestreckte Hand des Chinesen zurück. Doch hingegen aller Erwartung wirkte Ray nicht froh oder erleichtert. Er starrte entgeistert auf den bewegungslosen Beyblade in der Arena und wich einige Schritte zurück. „Es tut mir leid, Tala, ich –“ Er blickte sich Hilfe suchend um, sein Blick fiel auf Hiro und er schüttelte den Kopf. „Coach, ich –“ Er brach ab, machte auf dem Absatz kehrt und stürzte aus dem Gewölbe.

Delayed

3. Kapitel: Delayed
 

Kopflos rannte er die Treppen zur Eingangshalle hinauf. Ohne nachzudenken steuerte er auf die Portaltür zu und stieß sie auf. Knarrend schwang das Holz auf, gab den Blick auf den Vorhof des Internats frei. Hastig, regelrecht panisch blickte er nach links und nach rechts. Er kannte sich auf dem Internatsgelände nicht aus, klar war ihm nur, dass er einen Ort suchte, an dem er nicht entdeckt werden würde. Er brauchte Zeit sich zu sammeln, nachzudenken. Seine Augen erspähten einen Hügel, etwas abseits des Schlosses, bedeckt mit Büschen und einigen wenigen Bäumen. Sofort lenkte er seine Schritte in die gebotene Richtung, auf den Hügel zu.

Dort ließ er sich geschlagen ins Gras fallen. Sein Atem ging schnell und stoßweise und er versuchte, sich wieder zu beruhigen. Hoffentlich war ihm niemand gefolgt, nachdem er ein derartiges Verhalten an den Tag gelegt hatte. Wer wurde bei diesem Anblick nicht misstrauisch? Dabei hatte er doch versucht, die Panik zurückzudrängen, doch ohne Erfolg. Er hatte es nicht mehr ausgehalten. Wie dumm er sich doch verhalten hatte!

Frustriert aufstöhnend ließ er sich nach hinten ins Gras fallen, verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und starrte in den Himmel. Er hatte überreagiert, das wusste er. Obwohl er sich geschworen hatte, es nie wieder so weit kommen zu lassen. Er hatte vergessen wollen, darum war er überhaupt auf dieses Internat gekommen. Einen Neuanfang, mehr hatte er sich nicht gewünscht. Und gleich am ersten Tag geschah so etwas.

Tala oder einer der anderen hätte verletzt werden können. „Verdammt!“ Ray setzte sich auf und raufte sich fluchend die Haare.

Nach einiger Zeit der wirren Gedanken ließ er die Hände schließlich sinken und starrte Gedankenverloren auf das Internat, während er in der Vergangenheit schwelgte.
 

Als kleiner Junge hatte er in einem Dorf in China gelebt. Seine leiblichen Eltern hatten er nie kennen gelernt, denn er wurde von einer alten Frau des Dorfes aufgezogen. Woher er seinen nicht chinesischen Namen Raymond hatte, war ihm immer ein Rätsel gewesen. Dies war vielleicht auch ein Grund dafür, dass er rasch erkannt, dass er seine wahre Familie nicht kannte, doch hatte er sich mit der Zeit damit abgefunden. Mehr und mehr hatte er sich als ein Mitglied des Dorfes gesehen, hatte Freunde gefunden und sein Leben gelebt. Seine besten Freunde und er hatten bereits im jungen Alter ihre Leidenschaft für das Bladen entdeckt. Obwohl diese Sportart zunächst in den Großstädten sehr verbreitet gewesen war, war sie doch bis in ihr Dorf vorgedrungen. Gemeinsam hatten sie trainiert, hatten gegeneinander gekämpft und sich verbessert. Bis Ray eines Tages bei seinem Meditationstraining, welches der Dorf-Älteste den Jüngeren erteilte, einen Stein fand, in dem der Tiger Drigger verweilte. An diesem Tag bekam er sein Bit Beast, welches er rasche lieben lernte. Jedoch barg die Kontrolle über das Biest auch seine Tücken. An einem bewölkten Trainingstag hatte sein bester Freund Lee ihn zu einem Kampf herausgefordert. Ray hatte zugestimmt und sie waren gegeneinander angetreten.

Blitze waren über den Himmel gezuckt und als der Schwarzhaarige Drigger gerufen hatte, war ihm die Kontrolle über seinen Blade entglitten. Brutal hatte Drigger Lee angegriffen und Ray hatte gerade so verhindern können, dass diesem womöglich noch etwas Schreckliches zustieße.

Von dem Tag an begann Ray sich zu verändern. Er wurde schweigsam und zog sich zurück, verbrachte beinahe die gesamte Zeit alleine oder trainierte, um Drigger zu kontrollieren. Doch vergessen konnte er nicht.

Eines Tages hatte er beschlossen, dass es für ihn an der Zeit war, das Dorf zu verlassen. Ohne ein Abschiedswort hatte er seine Sachen gepackt und war verschwunden. Lediglich einen kurzen Brief hatte er zurückgelassen, in dem er seine Handlung rechtfertigte und sich für alles entschuldigte.

Ziellos war er durch China geirrt. Als Junge von kaum zehn Jahren, bekam er rasch Probleme und schließlich fand er sich in Hongkong in einem Waisenhaus wieder, mittellos und ohne Vormund. Nicht imstande zu beweisen, wer seine Eltern waren – wusste er es doch nicht und war doch nirgendwo niedergeschrieben, wer ihn aufgezogen hatte – hatte er sich nicht dagegen wehren können.

Ein Jahr verstrich und er hatte sich bereits mit seinem Schicksal abgefunden, da wurde er von der Familie Kon entdeckt. Auf der Suche nach einem Adoptivsohn und Erben war ihnen Ray mit seiner Intelligenz und seinem Eifer aufgefallen. In der Hoffnung auf ein besseres Leben hatte er eingewilligt und wurde ebenfalls ein Kon. Raymond Kon. Er hatte eine Schule in China besucht, doch schließlich wurde es ihm zuviel und er bat um eine Umschulung. Er wollte seine Vergangenheit vergessen, barg sie doch viele schmerzhafte Erinnerungen, und einen Neuanfang im Ausland wagen.
 

Und dieser Neuanfang sollte bereits am ersten Tag scheitern?
 

oOo
 

Ray schreckte hoch. Seine Gedanken hatten ihn mitgerissen und er hatte die Realität für kurze Zeit gänzlich vergesse Desorientiert sah er sich um, dann blickte er auf in den Himmel und -

„Verflucht!“ Augenblicklich war er wieder klar und auf den Beinen. „Es ist ja schon fast Abend!“ E hatte sich sichtlich zugezogen, dennoch ließ ich erkennen, dass es merklich dunkler geworden war und durch einige wenige Lücken in der dunklen Wolkendecke fiel rötliches Sonnenlicht. Unwohlsein keimte in Ray auf und hastig eilte er zum Schloss zurück. Die dunklen Wolken zogen sich hinter ihm weiter zu und in der Ferne hörte man leises Donnergrollen. Es würde sich bald gewittern.

Zu seinem Pech fand Ray den Weg zu ihrem Zimmer nicht sofort. Er verfluchte alle Bücher, in welchen den Held der Geschichte immer alles auf Anhieb gelang. Die Götter verwünschend hetzte er durch sämtliche Gänge der Etage, auf der er meinte, ihr Zimmer am wahrscheinlichten zu finden. Nach etlichen Fluren, unzähligen falschen Zimmern und unvermittelten Sackgassen erreichte er schließlich die Tür, die er als letzte Möglichkeit sah, unbeschadet ihr Zimmer zu finden, bevor er sich vergaß. Zaghaft klopfte er und drückte die Klinke herunter.

>Wie spät es wohl ist?<, fragte er sich in Gedanken, während die Tür aufging. >Ich bin anscheinend ziemlich lange weg gewesen.< Er trat ein. >Hoffentlich rastet Kai nicht -< Ray hielt inne, da er sich einem wütend funkelndem Russen gegenüber fand. Schwer schluckte er. >Oh oh. Das sieht aber gar nicht gut für mich aus.<

„Äh, hallo Kai“, begann er vorsichtig, nicht in der Lage, auf dem Absatz kehrt zu machen und das Zimmer hinter sich zu lassen, da seine Beine sich nicht bewegen wollten. Er lächelte schüchtern, hoffte, dass diese Geste den Kai vielleicht besänftigen mochte, auch wenn ein großer Teil von ihm der Ansicht war, dass selbst ein Hund mit großen Augen und herzzerreißendem Blick nichts an der unbeweglichen Miene hätte ändern können.

„Wie geht’s?“ Bereits noch während er diese Worte aussprach, wusste Ray, dass sie ein Fehler waren. Ein fataler Fehler. Kais Miene verdüsterte sich mit jedem Wort und die Bezeichnung finster reichte bereits nicht mehr aus, um seinen Gesichtsausdruck zu beschreiben..

„Wie es mir geht?“, knurrte er leise, mit vor unterdrückter Wut bebender Stimme. „Kannst du mir vielleicht mal sagen wo du die ganze Zeit über warst?!“ Ray zuckte bei Kais Lautstärke heftig zusammen, hatte er doch nicht damit gerechnet, dass jemand wie Kai eine derart robuste Stimme vorzuweisen hatte. „Erst verschwindest du ohne ein weiteres Wort aus dem Unterricht und dann lässt du dich bis jetzt nicht mehr blicken!“, donnerte Kai. „Es ist fünf Uhr, wo warst du?!

Bei jedem Wort wurde Ray kleiner und kleiner. Tala, der etwas weiter hinten im Zimmer stand und sich dezent im Hintergrund hielt – angesichts Kais Ausbruch war ohnehin alles hintergründig, egal um was es sich handelte - schien über Kais Lautstärke ebenfalls überrascht.

„Kai“, gab er skeptisch zu bedenken, „vielleicht solltest du etwas weniger laut -“ Doch Kai brachte ihn mit einem seiner gefährlichsten Todesblicke zum Verstummen. „Dann eben nicht“, meinte Tala Schulter zuckend und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand.

„Kai?“, kam es zögerlich von Ray.

Was?!“, fauchte Angesprochener zurück und Ray schrumpfte noch um einige Zentimeter. „Kann es sein, dass du dir ... na ja ... Sorgen gemacht hast?“

Tala sah erstaunt auf und Kai, der bereits Luft geholt hatte, um lautstark fortzufahren, hielt mitten in der Bewegung inne und stieß zischend die Luft wieder aus. Er konnte es nicht fassen, was der Chinese ihn soeben gefragt hatte. Er machte sich doch keine Sorgen! „Ich hab mir keine Sorgen gemacht“, zischte er und sah Ray kalt an. „Doch nicht um dich, Kon.“
 

/Obwohl/, sagte eine leise Stimme in Kais Kopf. /Vielleicht doch ein bisschen. Immerhin ist er einfach wortlos verschwunden./

Halt die Klappe, fuhr Kai die Stimme – natürlich immer noch gedanklich - an. Ich hab mir keine Sorgen um ihn gemacht! Das ist doch lächerlich.

/Du streitest dich gerade mit dir selbst. Lächerlicher kann es auch nicht mehr werden./

Das stimmt.

/Also gibst du es zu?/

Nein! , erwiderte er trotzig. Da gibt es nichts zuzugeben.

/Na los, du weißt es doch selbst!/

Verdammt, nein! Ich hab mir lediglich Gedanken gemacht, mehr nicht.
 

Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken hinab. Jetzt stritt er sich schon mit sich selbst. Das war doch nicht normal!

>Doch nicht um dich Kon<, wiederholte Ray Kais letzte Worte in Gedanken. Erneut spürte er die Wut in sich aufsteigen.

Kai machte sich also keine Sorgen?! Warum fuhr er ihn dann so an? „Wenn du dir keine Sorgen gemacht hast, dann erklär mir, warum du hier so einen Aufstand machst?“

„Warum ich mich so aufführe?“, entgegnete er und setzte seine übliche Maske der Gleichgültigkeit auf, während er wieder die Arme verschränkte. „Weil ich deinetwegen Probleme bekommen habe, denn ich wurde mehrfach gefragt, warum und vor allem wohin du verschwunden bist, weil ich offiziell für dich verantwortlich bin!“

Tala grinste unbemerkt. Er wusste, dass Kais Antwort nur der halben Wahrheit entsprach.

„Aha“, meinte Ray sichtlich unbeeindruckt und verschränkte ebenfalls die Arme. „Nur weil man dich gefragt hat, wo ich sei, weil du offiziell für mich verantwortlich bist – das ich nicht lache! - hast du jetzt so eine Wut auf mich? Das kann ich wirklich gut nachvollziehen. Es muss unheimlich schwer für dich gewesen sein, die Fragen zu beantworten, wo du doch so wortkarg bist. Aber du hast dir ja keine Sorgen um mich gemacht.“

„Ganz recht“, antwortete Kai selbstsicher. „Um dich mach ich mir keine Sorgen, Kon.“

Diese Aussage reichte, um dem sonst relativ ruhigen Chinesen erneut – wie in der Nacht zuvor - den Kragen platzen zu lassen. „Halt doch die Klappe, du Streifenhörnchen, ich bin nicht so dumm, dein Schauspiel nicht zu durchschauen“, fuhr er Kai wütend an, sich nicht darüber im Klaren, was er von sich gab. Er erstarrte, als die Erkenntnis ihn übermannte und begegnete dem irritierten Blick Kais. Ein interessanter Anblick, wie Ray im Nachhinein fand, doch unwichtig in diesem einen Moment.

„Wie hast du mich genannt?“, fragte Kai lauernd.

Da er ohnehin wütend auf den Kai war – und da ihm dieser Spitzname eindeutig nicht zu gefallen schien – beschloss Ray, dass er getrost noch einen Schritt weiter gehen konnte. „Streifenhörnchen“, wiederholte er trotzig. „Ich habe dich als Streifenhörnchen bezeichnet. Du verstehst schon.“ Er tippte sich zur Verdeutlichung an die eigene Wange. „Wegen den Steifen.“

„Damit eins klar ist“, zischte Kai erbost. „Ich bin kein Streifenhörnchen!

„Doch, das bist du!“ Dieses Mal deutete Ray unzweifelhaft auf Kais Gesicht. „Sieh dich doch an!“

„Ach lass mich doch in Ruhe!“

„Das sagt der Richtige. Wer hat denn angefangen?“

„Du, Kon, wer sonst?“

Tala, der dem ganzen nur lächelnd zugesehen hatte, zog sich einen Stuhl heran, setzte sich und folgte gelassen dem Streit der beiden. Er hatte Kai noch nie so ausgelassen mit jemandem streiten sehen. Nicht einmal er selbst hatte sich früher so mit ihm auseinander gesetzt.

„Wenn du mich noch einmal Streifenhörnchen nennst -“ donnerte Kai, wurde jedoch von Ray unterbrochen.

„Was ist dann?!“

Kai verengte seine Augen zu gefährlichen Schlitzen. „Katze!“, fauchte er wütend.

Ray musste grinsen. „So wie du fauchst, Kai, könntest du viel eher die Katze sein.“

Kai stockte, sichtlich aus dem Konzept gebracht. Rasch wechselte er das Thema.. „Du hast immer noch nicht gesagt, warum du vorhin einfach verschwunden bist!“

Schlagartig wurde Ray ernst. „Ich hatte meine Gründe, Kai. Es tut mir leid, dass ich so reagiert habe. Ich weiß, dass es keine gute Idee war.“ Er ging an Kai vorbei. „Wenn du mich jetzt entschuldigst.“ Noch einmal drehte er sich um und lächelte Kai zuckersüß an. „Trotz allem ist es nett, dass du dir Sorgen gemacht hast, Streifenhörnchen.“

Kai ballte die Hände zu Fäusten. Ein erster Blitz zuckte über den Himmel. Ruckartig drehte er sich um. „Sei doch still.“

Verwundert über die Härte der Worte drehte Ray sich erneut zu Kai um. Dieser beachtete ihn nicht, genauso wenig wie Tala, riss die Tür auf, verließ den Raum und schlug sie hinter sich zu. Verwundert starrte Ray auf die geschlossene Tür. „Was hat er denn jetzt?“

Tala seufzte. „Ich nehme mal an, du hast seinen Stolz angekratzt Du hast ja heute mehrfach am eigenen Leib zu spüren bekommen, wie eigen er ist.“ Er zuckte die Schultern.

>Seinen Stolz angekratzt?<, dachte Ray erstaunt. >Es stimmt, Kai ist stolz. Stolzer als gut für ihn ist, wenn ich das richtig einschätze. Allein sein Auftreten ist einfach nur ... wow. Und trotzdem lässt er sich so leicht kränken? Und dann auch noch ausgerechnet von mir? Was hab ich denn getan, abgesehen davon, dass ich ihn ‚Streifenhörnchen’ genannt habe? Ich meine, jeder hat doch in seinem Leben schon einmal einen Spitznamen gehabt, da kann das doch nicht gleich so schlimm sein. Ist Kai jetzt echt so eine Drama Queen oder hat er womöglich -?<

„Tala?“, fragte er in die Stille des Raumes, die einzig von dem stärker werdenden Heulen des Windes durchbrochen wurde. „Hatte Kai in seinem leben je einen Spitznamen?“

„Nein.“

„Mist.“ Da lag also der Hund begraben.
 

Die ersten Regentropfen fielen vom Himmel, trafen die Scheiben des Zimmers. Glitten langsam nach unten. Erneut zuckte ein Blitz über den Himmel. „Tala?“, fragte Ray nach einer halben Stunde, während er nachdenklich aus dem Fenster gesehen hatte.

Angesprochener blickte von seinen Aufgaben auf. „Hm?“

„Wo ist Kai hingegangen?“

Der Rothaarige schwieg und lehnte sich auf seinem Schreibtischstuhl nach hinten, bevor er schließlich antwortete: „Das kann ich dir nicht genau sagen, aber so wie ich ihn kenne, steht er jetzt im strömenden Regen und trainiert. Er war schon immer so wahnsinnig.“

Rays Augen weiteten sich. Nach draußen? Sein Kopf wirbelte herum und er starrte nach draußen, wo mittlerweile ein ausgewachsener Sturm wütete. „Bei dem Wetter?!“, stieß er hervor. „Spinnt der total?! Der wird sich den Tod holen!“

„Machst du dir etwa Sorgen?“, fragte Tala stichelnd.

Schlagartig drehte sich Ray vom Fenster weg. „Um den mach ich mir doch keine Sorgen!“

„Natürlich.“

Ray schüttelte den Kopf. „Wenn er bei dem Wetter da draußen umkommen will, bitte, ich hindere ihn nicht daran, Mir ist das herzlich egal.“ Trotzig stapfte er zu seinem Schreibtisch und schlug das Mathebuch auf. Verkrampft starrte er auf die Formeln, doch sie wollten in seinen Augen einfach keinen Sinn ergeben. Ob dies an seiner Matheschwäche oder an der Tatsache lag, dass seine Gedanken ständig zu dem Kai drifteten, der irgendwo draußen im Unwetter stand und eine Lungenentzündung geradezu provozierte, wollte er lieber gar nicht erst wissen.

Er hörte, wie Tala seinen Stuhl nach hinten schob und sich erhob. „Ray, du kannst ohnehin nichts daran ändern, so ist Kai nun einfach. Und er lässt sich von niemandem daran hindern, dazu ist er zu stur.“ Mit diesen Worten griff er sich eines seiner Handtücher und ging ins angrenzende Bad. Ray hob den Blick und sah dem Rothaarigen nachdenklich nach.

Er hatte es heute Morgen zuerst für eine weiteren Schrank gehalten. Die Tür sah mit ihrer Holzverzierung nun wirklich nicht aus wie eine Badezimmertür, doch als Tala heute Morgens mit den Worten, er wolle sich die Zähne putzen in dem vermeintlichen Schrank verschwand – wobei Ray zunächst mit großen Augen erst zu Kai, dann zu der geschlossenen Tür, erneut zu Kai und zurück zur Tür geblickt hatte – war ihm klar geworden, dass es sich um ein Badezimmer handeln musste. Zwar ein recht kleines, aber immerhin.

Während er dem gleichmäßigen Rauschen des Wassers lauschte und schließlich den Versuch aufgab, sich mit der Mathematik auseinander zu setzen, ließen Ray die Gedanken Kai noch immer keine Ruhe. Frustriert vergrub er seine Hände in den Haaren und schloss die Augen, darauf konzentriert, Kai gedanklich sämtliche Krankheiten an den Hals zu wünschen. „Vollidiot!

Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, doch als er das nächste mal auf die Uhr blickte war es bereits nach zehn. Erst jetzt wurde er sich der Müdigkeit bewusst, die ihn einen Schatten gleich verfolgt hatte und nun die Überhand gewann. Träge erhob er sich, griff nach seinen Schlafsachen und schleppte sich ins Bad. Nach einer wörtlichen Katzenwäsche kehrte er zurück.

„Nacht“, murmelte er abwesend, registrierte nicht einmal das erwiderte ‚dir auch’ von Tala, der mittlerweile wieder an seinem Schreibtisch saß und noch immer arbeitete. Seufzend ließ Ray sich auf sein Bett fallen. Er vergrub sein Gesicht im Kissen und schloss verkrampft die Augen. Er konnte sich nicht erklären, was auf einmal mit ihm los war, es war ihm ein Rätsel.

Als er schließlich einschlief, war es beinahe Mitternacht.
 

oOo
 

Schwer atmend schritt Kai den Flur entlang, der ihn zu seinem Zimmer führte. Er war von dem Regen bis auf die Haut durchnässt und kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er hatte sich und Dranzer bis an die Grenzen ihrer Leistung getrieben. Frustabbau.

Jetzt war er völlig fertig und zusätzlich, trotz der Anstrengung total durchgefroren. Seine nasse Kleidung machte ihm das Laufen auch nicht wirklich leichter, als es ohnehin schon der Fall war. Er fühlte sich, als hätte er Blei in den Schuhen und nur mit Mühe überwand er die letzten Meter bis zu ihrem Zimmer, ohne der Versuchung nachzugeben, sich einfach an Ort und Stelle gegen die nächste Wand zu lehnen und einfach nur zu schlafen.

Leise öffnete er die Tür und schlich sich so lautlos es eben ging hinein. Schlafen. Er wollte einfach nur noch schlafen. Duschen konnte er morgen früh auch noch.

Er sah sich kurz um. Tala und Ray schienen schon zu schlafen. Kai schnaubte abfällig, als sein Blick an einem dunklen Schopf unweit von ihm hängen blieb. Der Grund, warum er überhaupt erst so aufgebracht war, lag friedlich schlafend im Bett. Er schleppte sich zu seinem Bett und ließ sich achtlos einfach auf die Matratze fallen. Er machte sich gar nicht erst die Mühe, seine nassen Klamotten auszuziehen. Dazu war er viel zu müde. Augenblicklich fiel er auch in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Draußen prasselte der Regen gleichmäßig gegen die Fenster. Das Gewitter war weiter gezogen.

Weakened

4. Kapitel: Weakened
 

Der nächste Morgen brach plötzlich an. Zumindest kam es Ray so vor, wurde er doch von einem nervenaufreibenden Piepen aus dem Schlaf gerissen, kaum, nachdem er eingeschlafen war - wie es ihm schien. Doch der Urheber des penetranten Tons zeigte ihm unmissverständlich, dass eine ganze Nacht ihn von dem Zeitpunkt seines Einschlafens trennte und da ein Wecker immer Recht hatte, war es sinnlos, dies bestreiten zu wollen. Jedoch änderte dies nichts daran, dass das Gerät noch immer seine Arbeit verrichtete und ihn von Sekunde zu Sekunde aggressiver machte. Diese Aggressionen galt es nun auszuleben. Unwirsch schlug er einmal mit der geballten Faust zu und brachte das Gerät somit effektiv zum Schweigen. Der erste Sieg an diesem Morgen.

Genervt schlug er die Decke zur Seite und stand nach einigem Hin und Her - bei dem er letztendlich einsah, dass nicht unklug wäre, heute erneut zu fehlen - murrend auf. Auch Tala schien durch den schrecklichen Laut des, bei Schülern verhassten Gerätes, geweckt worden zu sein und stand – mit ziemlich mürrischem Gesichtsausdruck - auf. Ray war sich sicher, dass es ratsamer – und vor allen Dingen gesünder – war, ihn heute Morgen nicht direkt anzusprechen.

Noch halb am schlafen packte sich der Schwarzhaarige frische Kleidung und seine und schlurfte zum Bad. Auf dem Weg dorthin blieb sein Blick an einem der Betten hängen und seine Mundwinkel hoben sich kurzzeitig, während er die Tür des Badezimmers hinter sich schloss.

Er hatte sich bereits gestern Nacht resigniert eingestanden, dass es Sorge war, die ihn nicht hatte schlafen lassen. Doch das sollte der Eisteufel in Menschengestalt auf keinen Fall erfahren. Das wäre mehr als nur peinlich.
 

oOo
 

Schmerz!

Als Kai aufwachte schmerzte sein Kopf so stark, dass er sich nach wenigem Momenten stöhnend wieder zurück ins Kissen sinken ließ. Mit schmerzverzerrtem Gesicht hielt er sich den Kopf. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, gestern bei strömendem Regen zu trainieren.

>Nein!<, dachte ein anderer Teil von ihm bestimmt. >Das war es nicht. Diese Kopfschmerzen lassen sich aushalten, wenn nicht sogar ignorieren.<

Er sah sich im Raum um. Weder Tala noch Ray waren irgendwo zu sehen. Hatte er etwa verschlafen? Ein Blick auf die Uhr bestätigte ihm das Gegenteil. Es war immerhin erst viertel nach sieben. Wenn Voltaire den Unterrichtsbeginn also nicht ohne Vorankündigung um eine Stunde vorverlegt hatte, hatte er eindeutig nicht verschlafen. Schwerfällig richtete er sich auf, nur um mit leichtem Entsetzen festzustellen, dass seine Muskeln ihm beinahe den Dienst verweigerten. Mit schmerzendem Körper stand er nun mehr oder weniger aufrecht.

„Verdammt“, knurrte er gereizt. „Vielleicht hätte ich es mit dem Training nicht ganz so übertreiben sollen.“ Vorsichtig streckte er sich, zuckte jedoch sofort zusammen, da seine Muskeln – insbesondere sein Rücken - von starken Schmerzen durchzogen wurden. >Nicht auch noch ein Muskelkater.< Fortuna war ihm heute offenbar nicht gnädig gesonnen.

Die Tür des Bades ging auf und Ray trat fertig angezogen und gewaschen heraus. Sofort zeigte Kais Gesicht keine Anzeichen von Schmerz mehr und seine Haltung war nicht mehr gekrümmt, sondern gerade. Stolz schritt er an Ray vorbei, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen, ging in das Bad und knallte die Tür hinter sich zu.

„Wieder ganz der Alte“, grummelte Ray ihm hinterher. „Von wegen, den angekratzter Stolz. Davon hat er einfach zuviel.“
 

Nachdem er die Tür hinter sich zugeschlagen hatte, lehnte er sich schwerfällig an selbige. Keuchend stand er dort, versuchte, seine Atmung zu beruhigen. Die Schmerzen setzten ihm anscheinend mehr zu, als er befürchtet hatte.

„Das ist doch albern“, flüsterte er gereizt. „Ein Kai Hiwatari lässt sich doch nicht von einem lächerlichen Muskelkater und lausigen Kopfschmerzen unterkriegen!“

Schroff stieß er sich von der Tür ab und ging zum Waschbecken. Als er sein Spiegelbild erblickte, zuckte er unwillkürlich zusammen. Ein breiter Kratzer zierte seine Wange und die blaue Farbe war vom Regen der vergangenen Nacht beinahe gänzlich von seinem Gesicht gewaschen worden. Vorsichtig betastete er den Kratzer und sog scharf die Luft ein, als er ein Stechen spürte. Verächtlich starrte er sein Spiegelbild an. „Erbärmlich. Als ob ich nicht schon andere Sachen ertragen hätte.“

Wenn Blicke töten könnten, wäre sein Spiegelbild sicher schon umgefallen. Aber das wollte es partout nicht machen und somit starrte Kai sich nur weiterhin finster an, bis er sich schließlich von diesem nicht allzu berauschenden Anblick losriss.

/Du wirst schwach, Kai!/, sagte eine hämische Stimme in seinem Kopf.

>Niemals. Ein Kai Hiwatari zeigt nie Schwäche!< Mit diesem Gedanken wusch er sich den letzten Rest kümmerliche Farbe aus dem Gesicht. Danach straffte er seine Haltung, hob seine Schultern und trat gebieterisch aus dem Bad.

Schmerz, schrie es bei jedem Schritt in seinem Kopf, doch er ignorierte das Ganze gekonnt und schlug zum zweiten Mal an diesem Morgen die Tür hinter sich zu. Die Balkontür stand offen und kalte Morgenluft flutete in den Raum. Die klamme Kälte kroch voran und erreichte letztendlich auch Kai, der leicht fröstelte. Genervt über sein Verhalten, verdrehte er die Augen. >Jetzt fang ich vor Kälte auch fast schon an zu zittern Was ist los mit mir? Sonst macht mir so was doch nie was aus. Los,. Reiß dich zusammen!<
 

Verwundert sah der Chinese Kai an, der an die Wand gelehnt, mit verschränkten Armen, stand und ihn emotionslos anblickte. Etwas war anders. „Kai, du siehst anders aus?“ Kais Augenbraue wanderte in die Höhe, während er Ray nun mit einem spöttischen Blick bedachte. „Hast du etwa Angst vor Veränderungen, Kon?“

Wütend ballte Ray die Fäuste. „Sei still!“

Mit einem triumphierenden Grinsen stieß sich Kai von der Wand ab und schritt an Ray vorbei. Das hatte er zumindest vorgehabt. Als er jedoch auf gleicher Höhe mit Ray war, verschwamm einen Moment sein Sichtfeld, was unvermeidbar zur Folge hatte, dass er strauchelte. Er hätte zweifellos unangenehme Bekanntschaft mit dem Boden gemacht, hätte Ray nicht geistesgegenwärtig nach seinem Arm gegriffen und ihn zurück gezogen.

„Hoppla “, entfuhr es dem Schwarzhaarigen erstaunt und er lächelte amüsiert. „Ja gibt’s das denn? Bricht der große Kai allein bei meinem Anblick schon zusammen?“

Erstaunlicherweise erwiderte Kai nichts auf seine Worte. Kurz blinzelte der Russe, woraufhin sein Blick wieder klarer wurde – wirkte jedoch trotz aller noch getrübt. Dann wurde ihm schlagartig bewusst, in welcher Situation er sich befand. Hastig richtete er sich auf und befreite sich aus Rays Griff. Doch er hatte sich zu schnell bewegt, der Schwindel kehrte zurück und er begann erneut zu schwanken. Doch Ray war schon zur Stelle und fing Kai rechtzeitig auf.

„Na so was“, bemerkte er nun mit Sorge in der Stimme. „Also so schlimm sehe ich dann doch auch wieder nicht aus, Kai. Ist alles in Ordnung?“

Der Russe reagierte nicht auf die Frage, sonder stieß Ray von sich, welcher verdutzt einige Schritte nach hinten taumelte, bevor er sich wieder fing. Leise keuchend lehnte Kai an der Wand, die ihm am nächsten war, während Ray ihn aus großen Augen verwirrt musterte. „Kai? Geht es dir nicht gut? Fehlt dir was?“

„Das ist offensichtlich“, erklang es vom anderen Ende des Zimmers. Ray wandte den Kopf, auch Kai hob seinen Blick. Tala stand in der offenen Tür, die Arme verschränkt und hatte sich an ihren Rahmen gelehnt. Sein Blick ruhte auf Kai, der finster zurückstarrte. „Kai dir geht es nicht gut. Leg dich hin und bleib heute im Bett.“

„Was redest du da, Tala?“, entgegnete er kühl.

Der Angesprochene stieß sich von dem Rahmen ab und durchquerte den Raum, Kai dabei keinen Moment aus den Augen lassend. „Hör zu“, begann er ruhig. „Man muss kein Arzt sein, um zu sehen, dass es dir nicht gut geht.“

„Ach ja?“, schnaubte Kai verächtlich. „Tut mir leid dich enttäuschen zu müssen, aber mir fehlt nichts Ich war nur für einen Moment unachtsam und bin gestolpert.“ Mit diesen Worten drückte er sich von der Wand weg, richtete sich grade auf und schritt in Richtung Tür.

Doch Ray war schneller, packte Kais Arm und hielt ihn fest. „Kai, sei doch vernünftig. Tala hat recht.“

Kai riss ruckartig seinen Arm los, wirbelte herum und funkelte Ray an. „Kümmere dich um deine Angelegenheiten. Ich habe noch nie Hilfe benötigt, warum meinst du sollte sich das bei dir ändern?!“ Mit diesen Worten wandte er sich ab und schritt an Tala vorbei aus dem Zimmer, schlug die Tür demonstrativ hinter sich zu. Rays Besorgnis verwandelte sich augenblicklich in Wut auf Kai. „Idiot!“, zischte er, riss die Tür auf, stapfte ebenfalls hinaus und knallte sie genauso laut wie Kai wieder zu.
 

Auf dem Flur war keine Spur mehr von dem blau-grauhaarigen zu sehen. Das kümmerte Ray jedoch wenig. Wütend vergrub er die Hände in seinen Taschen und marschierte nach links, den Gang entlang.

>Dieser dumme, eingebildete, verdammte Trottel! Da macht man sich Sorgen um ihn und was ist? Ich habe noch nie Hilfe benötigt – bla bla! Noch mehr von diesen leeren Phrasen und mir wird übel.< Ray blieb stehen und sah sich um. Er hatte überhaupt nicht darauf geachtet, wo er hingegangen war. Stöhnend griff er sich an die Stirn. >Herrlich, einfach herausragend<, dachte er. >Jetzt hast du dich mal wieder in deiner eigenen Schule verlaufen. Ich hasse diesen Tag und er hat noch nicht einmal richtig angefangen!< Er blickte sich erneut im Gang um, erkannte jedoch nichts wieder. Er stand in einem gottverlassenen Flur, irgendwo im Nirgendwo. Aber wahrscheinlich – wie er sein Glück kannte - am weitesten entfernt von seinem eigentlichen Ziel - dem Speisesaal.
 

Plötzlich öffnete sich am anderen Ende des Ganges eine Tür und eine Gruppe munter schwatzender Schüler trat hindurch. Zu Rays Erleichterung waren darunter auch Max und Tyson. Die beiden erblickten Ray.

„Hey Ray! Schön, dich zu sehen.“

„Hi“, antwortete Ray lächelnd und Erleichterung durchströmte ihn.

Ebenfalls lächelnd löste Max sich aus der Gruppe. „Was machst du denn hier so alleine?“

„Na ja“, Ray fasste sich verlegen an den Hinterkopf. „Ich hab es fertig gebracht mich komplett zu verlaufen. Ich weiß offen gesagt weder ein noch aus.“

Bei Rays verlegenem Anblick begannen zwei der Mädchen aus der Gruppe miteinander zu tuscheln und zu kichern.

„Ach kümmere dich nicht um die zwei“, winkte Max auf Ray fragen Blick hin ab. „Die beiden benehmen sich bei so gut wie jedem Jungen so. Die Braunhaarige heißt übrigens Hillary und die Blonde ist Julia.“ Bei Max Worten hörten die Mädchen augenblicklich auf zu flüstern.

„Komm schon Max“, Hillary betrachtete den blonden Jungen vorwurfsvoll, „so schlimm sind wir auch wieder nicht.“

„Stimmt“, pflichtete ein weiteres Mitglied der Gruppe – ein großer bulliger Typ mit braungebrannter Haut und hellem Haar - ihr zu. „Ich seid noch um einiges schlimmer!“ Der Rest der Gruppe lachte. Beleidigt verschränkten die beiden Mädchen die Arme.

„Und das ist Rick“, stellte Max weiter vor. Rick nickte Ray grüßend zu. Max setzte erneut zum Sprechen an: „Damit wir alle haben, stell ich dir auch den restlichen beiden vor: Mathilda und Miguell.“ Die zwei hoben grüßend die Hände. Der Chinese nickte und lächelte. „Aber wir sind noch nicht wirklich komplett“, fuhr Max unbeirrt fort. „Wir sind eine ziemlich große Clique, wenn du es so nennen willst. Die anderen sind sicher schon unten und frühstücken.“

„Ah.“

„Ma¬¬¬¬¬¬aax!“, fing nun Tyson an zu nörgeln. „Können wir endlich runtergehen? Ich hab Hunger ...“

„Das ist ja nichts Neues“, murmelte Max und verdrehte theatralisch die Augen. Plötzlich sprang die Tür am Ende des Ganges erneut auf und ein roter Blitz schoss daraus hervor. Im nächsten Moment hatte Tyson im wahrsten Sinne des Wortes jemanden an sich kleben. Um genau zu sein einen Jungen mit rotem Wuschelkopf und einer x-förmigen Narbe auf der Stirn.

„Tysooooon! Warum bist du einfach verschwunden ohne zu warten?“, verlangte der Kleine lauthals zu wissen. Mit Mühe versuchte der Angesprochene sich aus dem Klammergriff zu befreien, jedoch ohne Erfolg. „He Daichi, lass mich los. Ich hatte Hunger und wollte bllß vorgehen!“

Max seufzte schwer. „Das ist Daichi, Herr des Chaos.“

„Ganz schön aufgedreht “, bemerkte Ray leise an den Amerikaner gewandt.

„Wem sagst du das?“ seufzte Max. „Mir kommt er manchmal vor, wie ein überspannter Flitzebogen ... na komm schon Daichi!“, richtete er sich nun an den Rothaarigen. „Lass Tyson los, damit wir runtergehen können. Du hast doch auch Hunger.“

Wie zur Bestätigung knurrte in diesem Moment dessen Magen. „Essen!“

„Ich auch!“, rief Tyson und beide rannten los.

„Immer diese Kinder“, meinte Hillary kopfschüttelnd und sie und Julia folgten den beiden, wenn auch in beträchtlich langsameren Tempo. Auch die anderen setzten sich in Bewegung.

„Komm Ray“, sagte Max und machte eine auffordernde Handbewegung. „Wir zeigen dir den Weg zur Cafeteria, damit du in Zukunft nicht mehr Gefahr läufst, bereits vor dem Frühstück als vermisst gemeldet zu werden.“
 

oOo
 

An eben jenem Zielort saß zur selben Zeit ein vertrauter Grau-Blauschopf und trank seinen Kaffe. Obgleich seines schmerzenden Rückens saß er gerade auf seinem Stuhl, er war ja immerhin kein alter Greis. Plötzlich hörte er zwei laute Stimmen, die das muntere Geschwätz der anderen frühstückenden Schüler um einiges übertönte. Kai sah auf und erblickte Tyson und Daichi, die sich an der Theke lautstark darüber stritten, wer von ihnen als erster am der Reihe war.

Kais Augenbraue begann zu zucken, als die beiden zu allem Überfluss damit begannen sich gegenseitig mit Essen zu bewerfen.

Er blickte sich um, doch es war weit und breit kein Lehrer zu sehen, der etwas dagegen hätte unternehmen können. Wo waren die Lehrer, wenn sie mal benötigt wurden? Von wegen, diese Schule besäße genügend Lehrkräfte. Seine ohnehin schon schlechte Laune wanderte durch die Lautstärke der beiden nur noch mehr in den Keller. Und als die anderen Schüler dann auf die beiden Kontrahenten aufmerksam wurden und nichts besseres zu tun hatten, als sie lauthals anzufeuern – wodurch die Lautstärke im Saal durch diese neu gewonnene Lärmquelle sich nur noch mehr erhöhte - schien die Laune Kais einen Weg aus dem Keller gefunden zu haben. Einen Weg direkt in die tiefsten Katakomben. Es reichte, er hatte die Nase voll.

Nicht allein, dass heute ein äußerst schlechter Tag war und er starke Kopfschmerzen hatte, jetzt brachten Tyson und Daichi, besonders Tyson – vor allem Tyson! - die Eliteschulmannschaft der Blader (zu der sie leider gehörten) durch ihr Benehmen in Verruf! Das konnte er als Teamleader nicht zulassen, außerdem musste er seiner aufgestauten Wut, die seit dem Gespräch mit Tala und Ray bereits in ihm kochte, Luft machen. Sein Ziel hatte er gefunden.

Ruckartig erhob er sich, was ihm einige verwunderte Blicke seiner Mitschüler einfing. Diese Blicke nicht beachtend stapfte er an den anderen Tischen vorbei, mit geballten Fäusten, direkt zur Theke. Die Lebensmittel lagen mittlerweile teils verstreut auf dem Boden, teils klebten sie sogar an Decke und Wänden.

Kai stand vor Tyson und Daichi, die sich davon jedoch nicht beirren ließen. Sie schienen ihn gar nicht zu bemerken. Die anderen Schüler johlten immer noch. Der Grau-blauhaarige holte gerade Luft um den beiden zankenden gehörig die Meinung zu geigen, als ihn etwas frontal im Gesicht traf.

Augenblicklich kehrte eine beklemmende Stille im Saal ein. Alle Blicke waren auf Kai gerichtet, auch Tyson und Daichi regten sich nicht mehr. Sie waren mitten in ihren Bewegungen erstarrt.
 

Als die kleine Gruppe Schüler munter miteinander redend den Speisesaal betrat, bemerkten sie sofort die angespannte Stimmung. Auch sie verstummten und ihre Blicke fanden das Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit.
 

Langsam glitt der Pfannkuchen von Kais Gesicht hinab und landete mit einem Klatschen auf dem Boden. Auf Kais linker Augenbraue schien ein Erdbeben der Stärke acht stattzufinden, der Russe selbst glich einer unkontrollierbar tickenden Zeitbombe, die kurz vor ihrer Detonation stand. Er machte einige rasche Schritte, stand nun direkt an der Theke und hatte allen den Rücken zugewandt.

„Tyson?“, sagte er leise und der angesprochene Kappenträger zuckte zusammen - alle im Saal hielten die Luft an und erwarteten den Knall. „Komm bitte her.“

Das klang ruhig, zu ruhig, viel zu ruhig! Eindeutig ruhiger als gesund für ihn war! Vorsichtig trat Tyson näher, bis er unmittelbar neben Kai stand. „Was ist denn?“ Seine Stimme glich beinahe einem verschüchterten Fiepen. Daichi wich vorsorglich einige Schritte zurück. Gleich musste etwas Schreckliches passieren, das war sicher.

Nun hob Kai den Blick und sah Tyson direkt an. Sein Gesicht zeigte keine Regung. Er hob die Hand, Tyson zuckte zusammen und erwartete bereits mit Schrecken den Schlag, doch keiner folgte. Stattdessen griff Kai nur nach seiner Kappe, nahm sie ihm vom Kopf und legte sie neben sich auf die Theke. Dann legte eine Hand an Tysons Hinterkopf und drückte sein Gesicht mit voller Wucht in den Pudding, der auf der Theke stand und das „Massaker“ wie durch ein Wunder, als einziger unbeschadet überstanden hatte.

Sollte es noch einmal vorkommen, dass du unsere Schulmannschaft durch dein Verhalten in den Schmutz ziehst“, donnerte Kai und drückte Tysons Kopf noch ein Stück tiefer in die Süßspeise. „Dann schwöre ich dir, dass du dir wünschen wirst, mich nie kennen gelernt zu haben!“

Er pachte den Jungen am Kragen und zog ihn ruckartig hoch. Wütend funkelte er in Tysons verschmiertes Gesicht. „Und das ist keine Drohung“, fuhr er fort und verengte seine Augen zu gefährlichen Schlitzen. „Das ist ein Versprechen.“ Mit diesen Worten griff er sich Tysons Kappe und setzte es ihm grob wieder auf den Kopf.

Tysons Gesicht zeigte im Augenblick alles - von Erstaunen und Verblüffen, über Angst und Verschreckung, bis hin zu schwacher Wut und einer gehörigen Portion Verlegenheit angesichts der jetzigen Situation. All dies war zu erkennen, während er dabei zusah wie Kai sich umwandte und den Speisesaal verließ.

„Ach ja“ Kai blieb stehen und blickte kurz über die Schulter. Ein diabolisches Lächeln zierte seine Lippen. „Guten Appetit. Ich hoffe, davon wirst du satt, Tyson.“ Er setzte seinen Weg zum Ausgang fort. Dort stand die Schülergruppe wie versteinert und starrte teils ihn, teils Tyson sprachlos an, der immer noch vollkommen perplex an der Theke stand.

Kurz trafen sich Rays und Kais Blicke, jedoch zeigte keiner von beiden eine Reaktion und schon war Kai vorbei und mit ihm die bedrohliche Aura, die bis dahin den gesamten Saal erfüllt hatte.

Sekunden verstrichen, dann breitete sich ein Laut in dem Raum aus. Erst leise, dann zunehmend lauter und letztendlich war das Frühstück vergessen und einstimmiges Lachen erfüllte die Halle. Was für ein Start in den Morgen.

Forced

5. Kapitel: Forced
 

Ruckartig öffnete Kai die Tür des Klassenzimmers und trat ein. Was er im nächsten Moment sofort bereute, denn er war leider nicht der einzige, der beschlossen hatte, früher zu kommen. Entnervt verdrehte er die Augen. Ihn konnte er im Moment am wenigsten gebrauchen. Dennoch ließ er sich auf seinen Platz sinken, darauf bedacht, sich ja nicht anzulehnen. Er warf einen missbilligenden Blick zum Fenster. Der Junge dort sah ihn nicht an, schien ihn aber bemerkt zu haben. Er saß am geöffneten Fenster und beobachtete den Sonnenaufgang.
 

„Du scheinst dich ja schon ganz gut mit dem Neuen zu verstehen, Kai.“

„Was du nicht sagst“, erwiderte Kai, verschränkte die Arme und schloss die Augen. Seine übliche Haltung eben. „Ich habe jetzt keine Geduld für ein Gespräch.“

Der Junge am Fenster drehte sich zu Kai um. Die Sonne beschien sein Gesicht und auf seiner Hand saß ein Spatz. Er lächelte freundlich. „Dass du schlechte Laune hast, merkt man. Man hat dich eben bis hier hin brüllen gehört.“

„Tu mir bitte einen Gefallen und lass mich in Ruhe.“

Doch der Junge ließ sich nicht beirren. Er wandte sich wieder dem Vogel zu und sprach weiter: „Woher kommt denn eigentlich deine schlechte Stimmung? Hast du dich wieder mit dem Chinesen gestritten? Wie hieß er gleich noch mal ... ah, Ray war sein Name, wenn ich mich nicht irre.“

„...“

Auch wenn Kai es nicht sehen konnte, lächelte der Junge wieder. „Dein Schweigen spricht Bände, Kai. Also habe ich Recht.“

„Brooklyn“, zischte Kai und verengte die Augen. „Halt den Mund.“

Ohne darauf einzugehen fuhr Brooklyn fort: „Euer kleines Zwischenspiel gestern war zugegeben amüsant. Ich meine die, bei der du am Ende seinen Zopf im Gesicht hattest. Und sein Kampf gegen Tala war auch recht eindrucksvoll. Einzig seine Reaktion wirft Fragen auf.“

Doch Kai hörte ihm gar nicht mehr zu. Er hatte sich trotz allem Protest seines Rückens auf seinem Stuhl zurückgelehnt und sich seine Hand auf die Stirn gelegt. Einen Moment lang verschwamm seine Sicht und er fragte sich flüchtig, ob es vielleicht doch besser gewesen wäre, wenn er einfach im Bett geblieben wäre. Doch er besann sich rasch eines Besseren. Also nahm er erneut seine vorige Haltung ein und keine Faser seines Gesichtes zeugte davon, wie mies er sich fühlte.

Das Pochen hinter seiner Stirn nahm zu und eine seiner Hände krallte sich in seine Weste. Er stutzte und öffnete die Augen. Konzentriert betastete er seine Weste weiter und stellte zu seiner Verwunderung fest, dass sie klamm war. Nachdem er sich der Tatsache bewusst wurde, dass auch seine Hose nicht wirklich als trocken zu bezeichnen war, erinnerte er sich wieder. Lautlos stöhnend griff er sich an die Stirn.

Das erklärte die klamme Kälte, die er den ganzen Morgen über schon verspürt hatte und nicht einmal mit dem Kaffee losgeworden war. Was war er nur für ein Idiot, dass er das hatte vergessen und übergehen können? Jetzt war es auch zu spät, um sich frische Kleidung anzuziehen. Die Stunde fing in wenigen Minuten an und alleine bei dem Gedanken an die vielen Treppenstufen wurde ihm ganz anders. Innerlich verfluchte er sich.
 

Es läutete. Erdkunde. Ray betrat das Klassenzimmer und ließ sich auf seinen Platz fallen. Keine Sekunde zu früh, denn ihr Lehrer betrat den Raum. „Guten Morgen!“ Die Schüler erwiderten den Gruß und schlugen gleichzeitig die Bücher auf.

Nach Erdkunde stand wieder Beybladen auf dem Stundenplan. Erneut folgten sie der langen Treppe nach unten und warteten nun auf Hiro.

„He, Ray“, rief Tyson von anderen Ende des Raumes. Der Gerufene sah auf und lächelte. Tyson war erstaunlich gut drauf, nach der Sache mit Kai und dem Pudding, allerdings merkte man deutlich, dass er einen großen Bogen um den Russen machte. „Was ist denn?“

„Komm doch zu uns rüber. Mein Bruder kommt mal wieder zu spät.“ Erstaunt durchquerte Ray den Raum, bis er vor Tyson und den andern stand. „Dein Bruder?! Hiro ist dein Bruder?“

Der Rest der Gruppe grinste, angesichts Rays verblüfften Gesichts. Tyson nickte stolz. „Genau, er ist mein großer Bruder.“

„Und das geht einfach so? Ich meine, du hast bei ihm Unterricht.“

Der Stolz verschwand aus Tysons Gesicht.

„Wenn du denkst, er könnte Tyson bevorzugen“, mischte Max sich ein, „dann irrst du dich, Ray. Er ist genauso kritisch mit ihm, wie mit jedem anderen. Es ist genauso wie bei meiner Mutter und mir. Ich habe manchmal vielmehr das Gefühl, man wird benachteiligt, wenn man mit einer Lehrkraft verwandt ist.“

In dem Moment betrat Hiro den Raum. Sofort hörten die Privatgespräche auf und die Aufmerksamkeit galt ganz dem jungen Mann. Dieser seufzte hörbar.

„Nun“, begann er, „es gibt nicht mehr viel, was ich euch noch beibringen kann. Einige von euch sollten ihre Starttechniken perfektionieren und andere wiederum sollten lernen, ihr aufbrausendes Temperament zu zügeln“ - bei diesen Worten warf er Daichi, der einige Rückwärtssaltos vollführte, einen tadelnden Blick zu – „und ansonsten ... nun ja“, er blickte in die Runde, „machen wir es einfach so, wie gestern. Bildet Paare und tretet gegeneinander an, es steht euch ebenso frei, als Team gegen andere Paare anzutreten. Wenn jemand Probleme hat, tut euch keinen Zwang an und fragt.“

Die Schüler zerstreuten sich, Ray blieb stehen wo er war. Er blickte zur Seite und starrte direkt in Hiros ernstes Gesicht. Ray schluckte scher. „Coach.“, begann er zögernd, „ wegen gestern, ich wollte nur sagen, dass -“

Doch Hiro schüttelte nur den Kopf und ließ Ray verstummen. „Ist schon vergessen, Ray. Der Kampf war außerordentlich. Ich bin mir sicher, dass du dir einen Platz in der Elitemannschaft unserer Schule verdienen wirst, wenn du so weiter machst.“

Verblüfft starrte Ray den Blauhaarigen an.

„Echt?!“

„Ja. Du hast Tala besiegt. Er ist der Vizekapitän.“

Damit hatte Ray nicht gerechnet und schwieg . Hiro lächelte und sah sich um. „Es scheinen sich schon alle aufgeteilt zu haben“, stellte er fest, doch dann blieb sein Blick an Kai hängen. „Nun, nicht alle. Ray, gestern hast du dich gegen Tala gut geschlagen, ich würde gerne Erfahren, wo dein Limit liegt.“

Ray folgte seinem Blick und erstarrte, doch es war zu spät, um Hiro aufzuhalten.. „Kai Hiwatari, wärst du so frei mir einen Moment deiner Aufmerksamkeit zu widmen“, rief Hiro dem Russen zu. Der Angesprochene blickte ihn nicht an, öffnete noch nicht einmal die Augen. „Was gibt es, Coach? Nein, ich habe die jüngeren Schüler heute Morgen nicht zum weinen gebracht und ja, dein Bruder hat sich gegen jegliche Norm verhalten, darum sah ich mich gezwungen, etwas zu unternehmen.“

Hiro schmunzelte. „Würdest du bitte gegen Ray antreten?“, fragte er, nicht näher auf Kais Worte eingehend. Der Russe öffnete nun doch die Augen und blickte Ray abschätzend an, bevor er sie wieder schloss. „Willst du mich beleidigen? Das wäre Verschwendung.“

Ray ballte die Fäuste, doch Hiro kam ihm zuvor. Er schien nicht verärgert zu sein, sein Gesichtsausdruck war regelrecht Belustigt. „Kai, ich scheine dich daran erinnern zu müssen, dass ich der Coach bin.“ Es war eine einfache Feststellung. Erneut schlug Kai die Augen auf. Durchdringend blickte er Hiro an, bevor er sich mit einem abfälligen Schnauben von der Wand abstieß. Gemächlichen Schrittes näherte er sich der Arena vor Hiro und Ray, ließ keinen Zweifel daran, dass es ihm mehr als missfiel. Ray starrte ihn wortlos an, bis Kai die Geduld verlor. „Komm schon Kon, oder soll ich hier Wurzeln schlagen?“

„Wäre vielleicht nicht schlecht“, entgegnete Ray trotzig. Auch er stellte sich in Position.
 

„Tyson, sieh mal.“ May stieß seinem Freund mit dem Ellenbogen in die Rippen. Der Blauhaarige schreckte zusammen. „Wer? Was? Wo?“

Max verdrehte die Augen. „Du sollst nicht träumen.“ Er packte den Kopf des Japaners und drehte ihn in Richtung Ray und Kai. „Da, sieh dir das an. Die beiden wollen kämpfen, das wird sicher spannend.“

Nun zeigte auch Tyson Interesse. „Du hast Recht. He Rick!“ Der Amerikaner drehte sich zu Tyson um. Verwirrt betrachtete er den wild mit den Armen gestikulierenden Tyson, bis er endlich in die gebotene Richtung sah. Nun erblickte auch er die zwei Kontrahenten und machte seine Freunde ebenfalls darauf aufmerksam. Auch Tala, der ein Match gegen Daichi ausgefochten hatte wandte sich ab, um dem Geschehen zu folgen.
 

Mittlerweile hatte sich die ganze Klasse um die Beyarena versammelt. Alles in allem glich es der Szenerie, die sich einen Tag vorher während des Kampfes zwischen Tala und Ray abgespielt hatte. Tyson hatte sich an seinem Bruder mit den Worten „Ich mach den Schiedsrichter, das wird klasse“ vorbeigeschummelt, was dieser nur mit einem ergebenen Kopfschütteln quittiert hatte, und stand nun neben der Arena.

„Gut, seid ihr bereit?“ Kai sah ihn scharf von der Seite an.

„Verschwende noch mehr meiner Zeit und du bist der nächste“, knurrte er gereizt. Tyson schien um einen Kommentar verlegen, der morgige Vorfall schien ihm noch immer ins Gedächtnis gebrannt zu sein. „Das nehme ich als ein ja.“ Ray und Kai hoben die Arme. „Drei, zwei, eins, Let it Rip!“

Die Beyblades der beiden schossen aufeinander zu, umspielten sich kurz, bevor sie einander rammten. Funken sprühten, als sie aufeinander trafen, keiner war bereit nachzugeben. Dranzer versetzte Drigger unvermittelt einen heftigen Stoß und Rays Blade geriet ins Trudeln. Kai schenkte dem Chinesen ein herablassendes Lächeln. „Dafür muss ich meine Zeit vergeuden?“

Ray ballte die Hände zu Fäusten. Drigger glühte kurz auf und traf mit voller Wucht auf Dranzer. Dieser wurde ein Stück zurückgeschleudert, behielt jedoch sein Gleichgewicht. „Mehr hast du nicht zu bieten?“, fragte Kai höhnisch.

Plötzlich trübte sich seine Sicht und er schwankte für einen Moment, bevor er sich wieder fasste und irritiert inne hielt. Er hob abwesend die Hand, fasste sich an die Stirn und stellte fest, dass sie schweißnass war. Was hatte das zu bedeuten, er hatte sich überhaupt nicht angestrengt. Sein Körper rebellierte und ein plötzliches Gefühl der Schwäche nahm von ihm Besitz.

„Los Dranzer, Attacke!“, rief er in einem Versuch, seine Überforderung zu überdecken. Ein Murmeln ging durch die Reihen der Zuschauer, denn Kai ließ sich für gewöhnlich selten dazu herab, sein Bit Beast direkt anzurufen. Auch Ray war überrascht über den plötzlichen Ausbruch seines Gegenübers. Einen Moment später starrte er wie gebannt auf Dranzer, der sich über Kais Blade materialisierte. Dieses Bit Beast zog ihn in seinen Bann, es strahlte die selbe Sicherheit aus, die Kai für gewöhnlich an den Tag zu legen pflegte.

Doch irgendetwas stimmte da nicht an dem Bild. Hinter Dranzers starker Fassade schien etwas Schwächeres zu stehen. Anscheinend schien Kais derzeitige Schwäche auch auf Dranzer überzugreifen. Kai sah zu seinem Bit Beast auf. „Los“, er schien zu keuchen. „Dranzer, greif“, er hustete, „greif an!“

Doch das stolze Wesen ignorierte den Befehl, stattdessen flog er auf Kai zu und ließ sich schützend hinter dem Blader nieder.

Die Umstehenden beobachteten gebannt wie Dranzer sich von hinten über Kai beugte und ihn besorgt betrachtete. Ein derartiges Verhalten hatten sie noch nie bei einem Bit Beast gesehen, zumal nicht einmal jeder von ihnen eins besaß. Selbst Kai schien Dranzers Verhalten zu überraschen. Einen Moment überkam ihn der paradoxe Gedanke, sich einfach nach hinten Fallen zu lassen – Dranzer würde ihn auffangen, keine Frage - aber dann wurde ihm wieder bewusst, dass er dadurch vor aller Augen Schwäche zulassen würde. Das käme nicht in Frage. „Dranzer“, wiederholte er deshalb nun eindringlicher und deutliche Schärfe schwang in seiner Stimme mit. „Ich hab dir einen Befehl erteilt.“

Er ignorierte den vorwurfsvollen Blick Dranzers, wandte den Kopf ab, um ihn nicht mehr sehen zu müssen und schloss die Augen. „Gehorche“, presste er hervor, mit einer ungeheuren Härte in der Stimme, die ihn viel Überwindung kostete. Widerwillig erhob sich der Phönix und richtete seine Aufmerksamkeit auf Drigger, bevor er begann, ihn zu attackieren.

Ray hatte bereits mit einem damit gerechnet und war nicht unvorbereitet.

„Drigger, greif ebenfalls an!“ Sein Beyblade begann hell zu glühen und Drigger erschien fauchend in seiner vollen Pracht. Er duckte sich und sprang auf Dranzer zu. Der Aufprall verursachte eine Druckwelle. Ray kam bedrohlich ins Wanken, schaffte es jedoch sein Gleichgewicht wiederzuerlangen. Als er zu Kai sah, weiteten sich seine Augen. Der Russe stand gekrümmt vor der Arena und hielt mit einer Hand verkrampft seinen, vor Anstrengung zitternden, Arm umklammert. Seine Stirn glänzte vor Schweiß und sein Atem war unregelmäßig.

„Kai“, rief Ray bestürzt über den Lärm der Beyblades und der tuschelnden und murmelnden Umstehenden hinweg. Kai sah auf, doch sein Blick schien durch Ray hindurch zu gehen. Ray warf einen Blick in die Bowl - Dranzer und Drigger waren noch mitten in ihrer Attacke. Funken sprühten berstend, während sie versuchten sich gegenseitig aus dem Ring zu schieben.

Kai fasste sich an den Kopf, alles um ihn herum schien sich zu drehen. Wollte dieser Schmerz denn nie aufhören? Er wusste nun, dass er einen Fehler begangen hatte, er wusste, das Tala wieder Recht behalten hatte, doch es war zu spät. Er musste durchhalten und Haltung bewahren, nicht mehr lange, dann war der Kampf vorüber und er konnte gehen. Nichts weiter als Haltung bewahren ...

Er versuchte, sich aufzurichten. Es misslang ihm, alles um ihn herum schien sich nur noch schneller zu drehen als vorher und der Sog, der ihn in das Schwarze seines Bewusstseins zog, nahm noch weiter zu. Dranzer geriet ins Trudeln. Kai fluchte und konzentrierte sich vollkommen auf seinen Beyblade, bis er die Konturen seines Bit Beasts wieder klar erkennen konnte.

Er konnte jetzt nicht aufgeben, zuviel stand für ihn auf dem Spiel. Dies hier war im Moment nicht irgendein wertloser Kampf zum Spaß, es war ein Kampf gegen die Schwäche, die ihn zu übermannen drohte.

Drigger hatte Dranzer an den Rand der Bowl gedrängt. Lange würde er dem Tiger nicht mehr standhalten können.

Er durfte nicht nachlassen! Sie hassten Schwäche! Und er durfte nicht verlieren! Nicht schon wieder. Unweigerlich wanderten seine Gedanken zurück. Zurück zu jener Zeit, in der Schwäche mehr als nur ein Vergehen bedeutete.
 

*~*
 

Eine Gruppe Jungen lief durch den strömenden Regen. Sie waren kaum älter als sieben Jahre und trotz des Sturmes, der unaufhaltsam um sie herum wütete, liefen sie weiter. Der kleinste von ihnen, ein Junge mit grau-blauen Haaren bildete das Schlusslicht. Obwohl seine Lungen bei jedem Atemzug wie Feuer brannten, seine Beine ihn kaum noch tragen wollten und beinahe unter ihm nachgaben, blieb auch er nicht stehen. Er wusste, was ihm drohte, sollte er versagen. Also biss er die Zähne zusammen und quälte sich weiter vorwärts.

Am Abend desselben Tages suchte das Fieber ihn heim. Es ließ ihn Dinge sehen, die nicht existierten, ließ die Schatten, die ihn umgaben zu Monstern werden, doch er schwieg. Er konnte es nicht zulassen, Schwäche zu zeigen und ignorierte es. Am nächsten Tag ließ man ihn gegen die stärksten Blader der Gruppe antreten, doch während des letzten Kampfes übermannte ihn die Müdigkeit und ließ ihn einen Moment unachtsam sein. Er spürte einen scharfen Luftzug an seiner Wange, dann fiel Dranzer scheppernd hinter ihm auf den Steinboden. Der Junge starrte fassungslos in die Arena hinab, nur langsam sickerte die Erkenntnis in seinen vom Fieber benebelten verstand. Er hatte verloren.

Kurz verschwamm seine Sicht, er stand kurz vor einem Zusammenbruch, als man ihn grob am Arm packte und hochzog. Mit verschleiertem Blick bekam er gerade noch mit, wie er einige dunkle Gänge entlang gezogen wurde. Eine Tür wurde geöffnet und er wurde nach vorne gestoßen. Unsanft landete er auf dem Boden, stöhnte schmerzerfüllt auf. Die Tür fiel hinter ihm schwer ins Schloss.

„Du hast also verloren?“, fragte eine kalte, harte Stimme, die den Jungen mit beharrlicher Regelmäßigkeit bis in seine Albträume verfolgte.

Ein schatten fiel vor ihm auf den Boden, er hörte eine Bewegung, dann spürte er eine Hand in seinen Haaren, die ihn zwang, aufzusehen, in das Gesicht seines Gegenübers zu blicken. Der Junge spürte die Angst wie Ungeziefer an ihm nagen, als der Griff in seinen Haaren sich schmerzhaft verstärkte.

„Sag“, begann Boris leise und unheilvoll. „Hast du verloren, Kai?“

Kai wich seinem Blick aus und schwieg. Die Hand ließ ihn los, trotzdem blickte er weiterhin zur Seite. Gleich würde sie beginnen, seine Bestrafung, seine Züchtigung. Denn er hatte versagt. Wieder hatte er versagt.

Ein harter Griff u seine Schulter zog ihn hoch, bis er wieder stand, dann erschütterte eine Ohrfeige seinen Körper und ließ ihn taumeln. Starke Hände verhinderten, dass er fiel, eine weitere Ohrfeige folgte.

„Habe ich dir nicht deutlich klargemacht, dass ich verlieren nicht dulde?“, zischte Boris ihm ins Ohr. Er zog seine Hand zurück Kai nickte unter Schmerzen. Beim nächsten Schlag breitete sich eine kalte Taubheit in ihm aus. „Verlieren bedeutet Schwäche!“, fuhr Boris schneidend und packte Kai an den Schultern, begann, ihn zu schütteln. Der Junge stöhnte gequält auf, wehrte sich jedoch nicht.

„Wenn sich dieses Fehlverhalten noch einmal wiederholt“, sagte Boris unheilvoll und machte einen Schritt zurück, „dann werde ich nicht mehr so nachsichtig sein. Hast du verstanden?“ Kai nickte betäubt, den Blick gen Boden gerichtet. Diese Stimme, kalt und erbarmungslos. Wie sehr Kai diese Stimme, dieses Gesicht, diesen Menschen doch hasste. Und wie sehr er sich doch vor ihm fürchtete.

„Sehr gut. Du bist entlassen.“ Boris kehrte ihm den Rücken und Kai folgte den Worte, verließ den Raum und kehrte zum Training zurück. Seine Hand hatte sich fest um Dranzer geschlossen, von dem eine geradezu tröstende Wärme ausging. Und dennoch vermochte die Wärme nicht sein Innerstes zu erreichen.
 

*~*
 

Dranzer begann erneut zu glühen, jedoch um einiges heller als beim ersten Mal. Plötzlich schienen ihm die Angriffe von Drigger nichts mehr auszumachen, denn er parierte sie mühelos. Als Ray seinen Blick hob und Kai ansah, keuchte erüberrascht auf. Der Russe war von einer roten Aura umgeben, hatte die Augen geschlossen und schien sich voll auf Dranzer zu konzentrieren. Mit einem Mal riss er die Augen auf.

„Dranzer, Blazing Gig Tempest!“ Dranzer kesselte Drigger in sekundenschnelle vollkommen ein und beförderte ihn mit einem gezielten präzisen Treffer aus der Arena. Das alles ging so schnell, dass Ray seine Niederlage erst gänzlich bewusst wurde, als sein Beyblade hinter ihm auf dem Boden landete. Langsam drehte er sich um, bückte sich und griff nach Drigger.

Niemand rührte sich, niemand sagte etwas. Alle starrten Ray an, der sich unweigerlich an den vergangenen Tag zurückerinnert fühlte. Nur hatte er gegen Tala nicht verloren.
 

Dranzer rotierte unbeeinflusst weiter, dann streckte Kai einen Arm aus und der Beyblade kehrte in seine Hand zurück. Als wäre dies eine unausgesprochene Erlaubnis gewesen, begannen die Schüler um sie herum aufgeregt miteinander zu tuscheln. Hiro nickte anerkennend.

Doch Rays Blick haftete unverwandt auf Kai, welche seinen Beyblade sekundenlang stumm gemustert hatte, bevor seine Lippen sich flüchtig zu einem müden Lächeln verzogen hatten. Dann wandte Kai sich von der Arena ab und ging. Er hatte erst wenige Schritte getan, da begann seine Haltung in sich zusammen zu fallen. Sein nächster Schritt ging ins Leere, er schwankte und hatte nicht mehr die Kraft, sich wieder zu fangen. Mit Schrecken sah der Chinese, wie Kais Beine unter ihm einknickten und dem Russen somit jeden Halt raubten. Mit einem Stöhnen brach er zusammen.

„Kai!“ Ray stürzte auf dem Bewusstlosen zu. Er umrundete die Arena, stieß seine Mitschüler beiseite und ließ sich neben Kai auf den Boden sinken. „Kai, he“, sagte er nachdrücklich, während er den anderen and der Schulter packte. „Was ist, sag etwas, Kai.“

Jemand stand neben ihm und beugte sich über sie. „Ray“, sagte Hiro ernst, „er ist bewusstlos, er kann dir nicht antworten. Er muss umgehend auf die Krankenstation.“

Eine zweite Person trat eilig näher - Tala. „Das übernehmen wir, Coach“, meinte er mit bestimmtem Blick an Hiro gerichtet, welcher nickte und seine Aufmerksamkeit schnell auf die anderen Schüler lenkte. Er begann, eindringlich und laut auf sie einzureden, um die allgemeine Unruhe und das Durcheinander wieder unter Kontrolle zu bekommen.

„Komm Ray, wir bringen ihn zur Krankenstation“, sagte Tala so beruhigend wie nur möglich zu Ray, der nickte und sich aufrichtete. Jedoch nur so, dass er noch immer auf dem Boden hockte und Tala den Rücken zugedreht hatte. Er warf einen Blick über die Schulter. „Los, heb ihn mir auf den Rücken, ich trag ihn.“

Tala zögerte keinen Moment. Gemeinsam verließen sie schnellen Schrittes den Raum, mit Kai auf Rays Rücken.
 

Eine einzelne Person stand am Rande des Raumes, abseits des ganzen Trubels, den Hiro zu schlichten versuchte. Brooklyn hatte seinen Blick auf Ray gerichtet, der eben nun Gewölbe hinter sich ließ. Er lächelte. „Ein beachtliches Schauspiel. Scheint als habe das Vorspiel nun ihr Ende gefunden und neigt sich dem Hauptakt zu.“

Fainted

6. Kapitel: Fainted
 

Eilig hasteten sie die vielen Gänge der Schule entlang - Tala vorneweg.

„Sag mal“, keuchte Ray schließlich, von der ganzen Schlepperei sichtlich außer Atem. „Haben die hier die Krankenstation ans andere Ende der Schule verfrachtet?“

Während des Gehens warf Tala einen Blick über die Schulter und lachte heiser. „Ja, das kann man so sagen.“ Als Ray daraufhin nur große Augen machte fügte er noch beschwichtigend hinzu: „Es ist nicht mehr so weit. Den Gang dort hinten rechts entlang, die Treppe hoch, die Tür links, die folgende Ecke wieder links und wir sind da. Das ist alles nur halb so weit, wie es klingt!“, fügte er rasch dazu, da Rays Augen mittlerweile die Größe von Untertassen angenommen hatten.

„Das war alles?“, fragte der Schwarzhaarige mit deutlicher Ironie in der Stimme. „Oder sind da vielleicht noch ein paar Türen und Ecken mehr, die du eventuell nur vergessen hast?“

„Sehr witzig“, kam es trocken von dem Rothaarigen, der unbeirrt weiterlief. Ray schnaubte. „Echt mal, deinen Orientierungssinn möchte ich haben.“

Tala hatte Recht gehabt, wie sich Ray zerknirscht eingestehen musste, als sie vor einer großen Tür mit der Aufschrift ‚Krankenzimmer’ standen.

„Na?“, fragte der Rothaarige und warf ihm einen triumphierenden Blick zu. „Wie war das mit dem oder sind da vielleicht noch ein paar Türen oder Gänge mehr?“

„Ist gut“, murmelte Ray. „Du hast ja Recht. Jetzt lass uns Kai da reinbringen.“

Sie betraten das Krankenzimmer, welches eher den Namen Krankensaal hätte tragen müssen, wie Ray fand. Es war erstaunlich groß. Links und rechts an der Wand standen einige Betten, jedoch waren alle leer. Ray ging zielstrebig auf das Bett zu, das sich ihnen am nächsten befand, und legte Kai vorsichtig darauf ab. Kaum hatte er das gemacht, ging die Tür am anderen Ende des Saals auf und eine kleine Frau trat heraus. Als sie die Jungen erblickte, wuselte sie sofort zu ihnen herüber. Ray hatte kaum den Mund geöffnet, um alles zu erklären, als er schon einen Holzstiel im Mund und somit einige Probleme hatte, einen anständigen klingenden Satz zustande zu bringen: „Äh ...“

„Oh“, sagte die alte Frau und besah sich besorgt die Zunge Rays. „Das sieht aber gar nicht gut aus.“

„Äch bän näch’ ger Paschient“, versuchte Ray der Frau zu verstehen zu geben, doch sie kümmerte sich nicht darum.

„Ja, ja“, sagte sie in routinemäßigem Ton, „du brauchst keine Angst zu haben, meine Kleine!“

„K’eine?“, wiederholte Ray empört, soweit das mit dem Widerstand im Mund überhaupt möglich war. Selbst Tala musste durch das Schauspiel, das sich ihm bot, leicht grinsen. Schließlich beschloss er, Ray aus dieser unangenehmen Situation zu befreien. „Nun ja, Mrs. Dickinson? Ich glaube, da liegt wirklich ein Irrtum vor. Er“, er deutete auf Ray und betonte das Wort extra stark, „ist nicht der Patient!“

„Nicht?“, die Frau blickte Tala eine Spur irritiert an. „Wer denn?“

„Ger da!“, nuschelte Ray (immer noch mit dem störenden Objekt im Mund) und deutete auf Kai.

„Oh je.“ Mrs. Dickinson ließ augenblicklich von Ray ab und beute sich über Kai. Jedoch hielt sie noch einmal inne, drehte sich zu Ray um und musterte ihn eindringlich. „Er?“, wiederholte sie, was Tala eben gesagt hatte. „Ach“, sagte sie plötzlich, als sie die Erkenntnis erlangte und ihn als Jungen erkannt zu haben schien, während ihr Gesichtsausdruck aufhellte. „Tut mir Leid, mein Lieber, es lag nicht in meiner Absicht, dich zu kränken“, meinte sie freundlich mit entschuldigendem Lächeln. „Es muss an deinen Haaren gelegen haben.“ Schließlich wandte sie sich dem eigentlichen Patienten zu. Sie besah ihn sich genauer und legte ihn eine Hand auf die Stirn. „Also wenn ich mich nicht irre, scheint der Gute sich eine Grippe geholt zu haben“, diagnostizierte sie nach wenigen Minuten.

Sie fühlte vorsorglich noch seinen Puls – unregelmäßiger Herzschlag hätte Medikamente erfordert - stutzte und legte eine Hand auf seine Weste. „Merkwürdig, seine Kleidung ist ganz klamm. Hat es heute schon wieder geregnet? Ist er draußen zusammengebrochen?“ Sie überprüfte rasch, ob sein T-Shirt und sein Schaal auch feucht waren.

Ray blinzelte irritiert. „Äh, nein. Wir hatten gerade Unterricht bei dem Coach, als es passierte und –“, er unterbrach sich, als ihn die Erkenntnis übermannte. „Oh nein“, stöhnte er und fasste sich an die Stirn. Ray trat nur einen Schritt näher an das Bett heran und sah Kai vorwurfsvoll an. „Dieser Idiot hat den ganzen Tag die nassen Klamotten von gestern getragen. WIe kann man und so wahnsinnig sein?.“ Unterdrückter Ärger schwang in seiner Stimme mit, jedoch nur, um seine eigentliche Besorgnis zu überdecken.

Auch Tala fasste sich nun an die Stirn und schüttelte den Kopf. „Dieser elende Dickkopf.“

„Wir können ihm seine Kleidung jetzt unmöglich ausziehen, er würde sich wohlmöglich noch mehr verkühlen“, meinte Mrs. Dickinson sachlich, mit einem Blick auf Kai. „Wartet bitte einen Moment.“

Sie eilte zurück durch die Tür, aus der sie eben gekommen war. Keine fünf Sekunden später kehrte sie mit einem Stapel Decken zurück, die sie Ray in die Arme drückte. „Hier, wickele ihn am fest darin ein, damit keine Körperwärme entweicht.“

Gesagt getan. Nachdem Ray Kai ordentlich in die Decken eingewickelt hatte, nahm er sich einen Stuhl, zog ihn neben das Bett und setzte sich darauf. Fragend blickte er zu Mrs. Dickinson auf. „Und jetzt?“

„Jetzt lassen wir ihn schlafen.“

„Aber er ist ohnmächtig!“, widersprach Ray leicht aufgebracht.

Die Frau lächelte ihn warm an. „Ich weiß, was du meinst und dass du dir Sorgen um ihn machst“, bei diesen Worten rötete sich Rays Gesicht kaum merklich und Tala musste ein Schmunzeln zurückhalten, „aber als ich ihn eben untersucht habe und seinen Puls gefühlt habe, stellte ich fest, dass er sich mittlerweile in einer Art Schlafohnmacht befindet.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich befürchte, vor morgen wird er nicht mehr zu sich kommen. Aber beunruhigt euch jetzt bitte nicht. Er braucht nur etwas Ruhe, dann kommt er bald wieder auf die Beine! Glaubt mir, ich weiß, wovon ich spreche.“ Sie durchschritt den Saal und wollte schon wieder in dem Raum verschwinden, aus dem sie vorhin gekommen war, blieb jedoch noch einmal stehen. „Ich lasse euch erst einmal alleine, im Büro wartet mich Arbeit auf mich. Ruft mich einfach, wenn etwas ist.“ Mit diesen Worten ließ sie die drei Jungen in Ruhe.

Tala ließ sich auf einem Hocker neben Ray nieder. Es herrschte ein paar Minuten Stille zwischen den beiden, die nur durch Kais mittlerweile regelmäßigen Atmen durchbrochen wurde.

„Warum hat er den Kampf eben nicht einfach abgebrochen?“, sprach Ray nach einiger Zeit den Gedanken, der ihn schon eine ganze Weile beschäftigte. „Warum hat er nicht einfach aufgehört? Er hätte mir doch nur was sagen müssen, dann wäre er doch nicht zusammengebrochen.“

Tala seufzte. „Weißt du“, begann er, hielt jedoch inne. Er schien zu überlegen. „Kai ist, wie soll ich sagen ...?“

„Ein sturer Dickkopf mit zu viel Stolz?“, half Ray ihm auf die Sprünge.

Tala lächelte schwach. „Ja, auch, aber das meinte ich in diesem Zusammenhang nicht. Er würde nie in seinem Leben aufgeben. Für ihn hieße das Schwäche zeigen und er hasst nichts mehr, als das. So ist er schon, seit ich ihn kenne.“ Nachdenklich blickte Ray auf den reglosen Kai hinab. Seine Brust hob und senkte sich regelmäßig. Und wieder kam in ihn die Frage hoch: Warum war Kai so?
 

*~*
 

Kalt. Alles war kalt. Und warum war er alleine? Zögernd sah er sich um. Es war nichts als trostlose Dunkelheit um ihn herum. Niemand war zu sehen. Warum war er wieder alleine? Diese Frage quälte ihn.

Mit einem Mal erschien vor ihm, in einiger Entfernung, ein schwaches Licht. Ohne weiter darüber nachzudenken, ging er auf das Licht zu. Schließlich stand er vor einer dunklen Holztür. Das Licht drang durch den Unteren Türspalt und durch das Schlüsselloch hindurch. Langsam, beinahe in Zeitlupe, hob er seine Hand und legte sie auf den Türgriff. Sollte er die Tür öffnen?

Etwas in ihm sagte, dass er das bereuen würde, doch er drückte die Klinke runter und die Tür schwang auf. Als er erkannte, was sich hinter der Tür befand, blieb er wie versteinert stehen. Dieses Büro ...

Er kannte es gut. Viel zu gut.

„Was willst du in meinem Büro?“, fragte plötzlich eine kalte dunkle Stimme, die ihm beinahe das Blut in den Adern gefrieren ließ. Nicht er.

„Ich gehe!“

Kai wirbelte herum und ein Keuchen entwich seinen Lippen. Dort, nur wenige Meter entfernt, stand er selbst, nur um einiges jünger, im Alter von etwa zehn Jahren. Das Blut wich ihm aus dem Gesicht, als die Erinnerung ihn übermannte. Dieser Tag?! An diesem Tag hatte er zum ersten Mal den Mut aufgebracht, sich Boris entgegenzustellen.

Boris drehte sich zu dem Jüngeren um. „Du gehst? Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz. Glaubst du ernsthaft, du würdest so durchkommen? Geh wieder zu den anderen oder ich muss andere Seiten aufziehen.“

„Nein“, erwiderte der Junge voller Überzeugung. „Ich gehe endgültig. Und niemand kann mich davon abhalten.“

„Ich glaube, ich habe mich nicht klar genug ausgedrückt“, meinte Boris nun schärfer. „Du gehst jetzt sofort zu den anderen, du weißt, was dir sonst blüht.“

Der Kleine wurde blass. Er hätte es kommen sehen müssen. Doch jetzt gab es kein Zurück. „Niemals! Ich komme nie wieder und dich werde ich dann nie mehr wieder sehen müssen!“ Er erschrak. Als er Boris wütenden Gesichtsausdruck sah, wurde ihm klar, dass er zu weit gegangen war.

„Was hast du da gesagt!?“ Der Mann kam auf Kai zu, der entsetzt zurückwich. Plötzlich spürte er ein Hindernis in seinem Rücken, die Wand. Mit Schrecken sah er, wie Boris immer näher kam, das Gesicht vor Zorn verzerrt. Der Mann streckte den Arm aus, packte den Jungen am Kragen und zog ihn zu sich. Mittlerweile hatte Kai keinen Boden mehr unter den Füßen. Sie baumelten in der Luft. Boris zog ihn näher, sodass ihre Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander getrennt waren. „Dir muss ich anscheinend die Manieren einprügeln!“

Kai konnte nur stumm dem Geschehen folgen, das sich vor ihm abspielte. Die Angst schien ihn zu lähmen. Er wusste, was als nächstes kam. Jeder Schlag von damals, hatte sich förmlich in sein Gedächtnis gebrannt.

Ein scharfer Laut erfüllte den Raum, als Boris dem Kleinen eine schallende Ohrfeige verpasste.

Den älteren Kai durchfuhr ein stechender Schmerz in der rechten Wange. Sofort hab er die Hand und fasste sich mit ihr an die Wange. Er spürte denselben Schmerz, wie sein früheres Ich? Er hatte dies alles doch schon einmal durchgemacht, warum noch einmal?!

Der junge Kai gab keinen Laut von sich und wehrte sich auch nicht. Er wusste, dass das keinen Zweck hatte. Er hatte es schon oft genug versucht und war kläglich daran gescheitert - hatte es dadurch sogar noch schlimmer gemacht. Grob stieß Boris Kai von sich. Dieser taumelte zurück und stieß hart gegen die Wand.

Ein scharfer Schmerz durchzuckte sowohl ihn, als auch den anderen Kai im Rücken. Beide schnappten keuchend nach Luft.

Doch Boris dachte jetzt noch nicht daran, von Kai abzulassen. Der Junge weitere Schläge erdulden. Keuchend und nach kauerte Kai und sein älteres Selbst auf dem Boden, stützten sich mit den Händen ab und war kurz davor, den Schmerzen zu erliegen.

„Bist du noch immer von deiner fixen Idee überzeugt?“, fragte Boris verächtlich mit einem diabolischen Grinsen auf den Lippen. „Du erweckst nicht den Eindruck, als wäre dem so. Ein schwaches Bild, Kai. Ich hatte angenommen, ich hätte dir in den Jahren wenigstens Hartnäckigkeit beigebracht.“ Kai bekam gerade wieder Luft in die Lungen, als ihn Boris Fuß in die Rippen traf. Mit einem Röcheln fiel er zur Seite und blickte aus vor Schmerz zusammengekniffenen Augen zu Boris auf. Dieser lachte höhnisch, ließ ihm nicht einmal Zeit, erneut nach Luft zu schnappen, sondern trat erneut zu.

Ja, Kai wusste wieder, was damals geschehen war. Verdrängen war zwecklos, die Erinnerung hatte ihn wieder eingeholt, hielt ihn in ihren Klauen und war nicht gewillt, ihn wieder aus ihren Fängen zu entlassen. Aus seiner Flucht war nichts geworden, stattdessen hatte er einige geprellte Rippen als Erinnerung davon getragen..

Während der junge Kai noch immer stöhnend am Boden lag, richtete der sein älteres Ich sich unter Schmerzen auf, sodass er wieder auf dem Boden kniete.

Kai fing unvermittelt heftig an zu husten und während er sich mit einem Arm vom Boden abstütze, hielt er sich die andere Hand vor den Mund. Als er sie zurückzog, erkannte er zu seinem Schrecken, dass an ihr rot schimmerndes Blut klebte. Er spuckte Blut?! Was war hier los?! Kai hustete erneut. Nein, so war es damals nicht gewesen, wieso war es dann jetzt so?

Es sollte aufhören. Einfach nur aufhören ...
 

*~*
 

Ray schreckte auf. Etwas hatte ihn geweckt. Vollkommen desorientiert blinzelte er. Wo war er hier? Nach einer Minute, in der er sich irritiert umgesehen hatte, wich die Schläfrigkeit von ihm und ließ ihn wieder einigermaßen klar denken.

Um zu rekapitulieren, er befand sich hier im Krankenzimmer, es war dunkel, er saß auf einem Stuhl, sein Rücken tat ihm weh und – einen Moment. Es war dunkel? Ja, wirklich. Aber das hieß ja, dass er - er war eingeschlafen! Nachdem Tala am späten Nachmittag schon gegangen war, wollte Ray noch etwas an Kais Bett sitzen bleiben. Dabei war er dann offenbar eingeschlafen.

>Warum bin ich überhaupt aufgewacht? Etwa wegen dieses Rückenschmerzen?< Er rieb sich murrend den ziehenden Rücken. >Memo an mich, nie wieder auf einem harten Holzstuhl schlafen.< Leise Verwünschungen von sich gebend, fiel sein Blick auf Kai, der nicht mehr ruhig zu schlafen schien, sondern sich unruhig von einer Seite auf die andere wälzte. >Er scheint einen Albtraum zu haben<, dachte Ray und warf einen mitleidigen Blick auf Kai. Er hob die Hand und legte sie auf Kais Stirn. >Fieber hat er ohne Zweifel.<

Er wollte gerade seine Hand wieder zurückziehen, als ihm eine Veränderung des Russen auffiel. Er wälzte sich nicht mehr unruhig hin und her, allerdings ging sein Atem noch immer unregelmäßig und er zitterte kaum merklich. >Das muss ein wirklich schlimmer Traum sein, wenn er ihn so mitnimmt. Schient als hätte die Berührung wenigstens in gewissem Sinn etwas Wirkung gezeigt.“

Unwillkürlich musste Ray lächeln. Seine Hand, die eben noch ruhig auf Kais Stirn geruht hatte, schien sich selbstständig gemacht zu haben. Mittlerweile war sie zu Kais Haaren gewandert und fuhr vorsichtig durch die dunklen Strähnen.
 

*~*
 

Kai lag mit dem Rücken auf eiskaltem Boden. Kalt, so wie alles in ihm selbst. Alles an ihm schmerzte. Er hatte die Augen fest geschlossen. Er wollte nichts mehr sehen. Nichts mehr.

Hörte er da Schritte? Kai hielt die Augen krampfhaft geschlossen und biss sich auf die Lippen. Er wollte diese Kälte nicht mehr spüren. Die Schritte verstummten. Die Person stand unmittelbar vor ihm, er spürte es. Wenn er die Augen jetzt öffnen würde, würde er in Boris Gesicht sehen. Er hielt die Augen weiterhin fest geschlossen. Gleich würde es wieder von Neuem beginnen. Die Schmerzen würden sich sicher noch mehr verstärken.

Er zuckte zusammen, als er eine Hand auf seiner Stirn fühlte, doch wider Erwartens folgte kein Schmerz. Die Hand wanderte zu seinen Haaren und strich durch seine Strähnen. Kai wagte es nicht, die Augen jetzt zu öffnen, zu groß war die Sorge, diese Berührungen würden sich wieder in Schmerzen umwandeln. Also blieb er liegen und genoss stumm die erste wahre Zärtlichkeit, die er in seinem Leben zuteil bekam.
 

*~*
 

Mit einem milden Lächeln sah Ray auf Kai hinab, der nun zu zittern aufgehört hatte. Der Chinese strich ihm weiterhin unentwegt durch die Haare. „Weißt du Kai“, meinte der Schwarzhaarige leise, während er ohne Pause durch seine Haare fuhr, „Wenn du so daliegst, siehst du richtig friedlich aus. Kein vergleich zu dem sturköpfigen Idioten, den ich sonst immer vor mir habe. Du bist beinahe –“

Er brach ab. Horchte leicht geschockt in sich hinein. Hatte er gerade wirklich niedlich sagen wollen?! >Das ist unmöglich< schalt er sich in Gedanken. >Das kann nicht sein. Sicher wollte ich nur nett oder sympathisch sagen. Was denn sonst?< Ach, was barg der Vorgang der Verdrängung doch für Vorteile, das fiel Ray besonders in Momenten wie diesem auf.

Eine Zeitlang saß er noch da, strich Kai weiterhin durch die Strähnen, biss seine Sicht langsam verschwamm, seine Augenlider allmählich schwerer wurden und ihm schließlich, nachdem er den Kampf um das Wachbleiben aufgab, gänzlich zufielen. Während sein Oberkörper langsam auf dem Bett zum Ruhen kam, da er im Moment des Einschlafens nach vorne gekippt war, ruhte seine Hand immer noch auf Kais Stirn.
 

Es dämmerte und Kai öffnete schwerfällig die Augen. Müde blickten sich zwei Rubine im Raum um. Wo zum Teufel war er hier? Man konnte förmlich hören, wie die Räder hinter seiner Stirn angestrengt ratterten. Wie war das noch ...

>Das Letzte, woran ich mich erinnern kann, ist der Kampf gegen Ray. Danach<, erschnaubte abfällig, >Filmriss.< Er sah sich um. >Es scheint zumindest so, als wäre ich hier im Krankenzimmer.< Er ließ sich wieder zurück in die Kissen sinken. Nachdenklich starrte er an die Decke.

Plötzlich überkamen ihn die Erinnerungen an den Traum der letzten Nacht. Unbewusst verkrampfte er sich. Er hob einen Arm und legte ihn über seine Stirn. Sie war noch immer warm. >Was für ein Traum. Aber ich darf mich von so was nicht beeinflussen lassen. Ich hab mit meiner Vergangenheit abgeschlossen. Sie liegt Jahre zurück. Und trotzdem ...<

Er wagte es nicht, jetzt weiterzudenken, denn ansonsten hätte er sich Schwäche eingestehen müssen.

Vor seiner Vergangenheit hatte er Angst. Ebenso vor diesen Träumen. Die kamen leider nicht das erste Mal. Seit er die Abtei verlassen hatte, plagten ihn regelmäßig solche Albträume. Letzte Nacht war es einfach besonders heftig gewesen. Allerdings - er verengte leicht die Augen - dieses Mal war irgendetwas anders gewesen. Er ging den Traum in Gedanken noch einmal durch. Uf einmal weiteten sich seine Augen. Genau, diese Hand. Diese Berührung hatte sich so echt angefühlt.

So beruhigend.

Kai fuhr hoch und saß nun kerzengerade in dem Krankenbett. Was dachte er da?! Warum machte er sich Gedanken über so etwas?! Es hatte sich ‚so beruhigend’ angefühlt?! War ihm die Müdigkeit zu Kopfe gestiegen? Was bitte ging hier vor? Seine innere Unruhe wurde nicht unbedingt durch die Tatsache verbessert, dass sein Blick nach links fiel. „Das darf doch wohl nicht wahr sein“, murmelte er unbewusst.

Dort lag Ray mit dem Oberkörper auf dem Bett und schlief. Im selben Moment erblickte er etwas anderes, was ihn um einiges mehr schockte. Rays Arm war ausgestreckt und seine Hand lag dicht neben Kai. Der Russe wich ungewollt ein Stück nach rechts. Weit weg von dem Chinesen. >Kai Hiwatari, wie konntest du das bitte übersehen?!<

Der Chinese regte sich. Seine Hand verrutschte und berührte nun Kais Arm. Vor Schreck wich Kai noch ein Stück zur Seite. Doch er hatte anscheinend die Breite des Bettes um einiges überschätzt und so kam es, wie es kommen musste.

Kais stützender Arme traf auf >Leere<, er rutschte ab und fiel mit einem erstickten Schrei nach hinten vom Bett.

Mit einem Lauten Rums sagte sein Körper dem Boden freundlich Hallo! und dieser grüßte nicht minder freundlich zurück. Stöhnend lag er da. >Scheiße, tut das weh!<

So etwas musste natürlich ausgerechnet ihm passieren. Typisch. Er versuchte sie wieder einigermaßen aufzurichten, was sich als schwerer herausstellte, als er gedacht hatte, da er sich in der Decke verheddert hatte. Frustriert ließ er sich nach hinten fallen und fasste sich entnervt an den Kopf.

Durch das Geräusch eines Aufpralls wurde Ray geweckt. Er blinzelte und sah sich um. >Was ist los? Was soll dieser Lärm am frühen Morgen? Und wo ist Kai?< Der Chinese sah sich verwundert um. >Kein Kai im Krankenbett, kein Kai im Krankenzimmer, ein Stöhnen von der anderen Seite des Bettes, kein Kai, der mich mit überheblichem Blick mustert ...< Verwirrt kratzte der Schwarzhaarige sich am Kopf. >Moment, da stimmt was nicht. Irgendwas ist da falsch.< In Gedanken ging Ray die Aufzählung noch einmal durch. Bei einem Punkt blieb er hängen. >Ein Stöhnen von der anderen Seite des Bettes?!<

Hastig war Ray aufs Bett geklettert und robbte zur anderen Seite. Argwöhnisch spähte er über den Bettrand und musste sich ein Grinsen verkneifen. „Was machst du denn da?“, fragte er in die Stille des Raums, was den anderen aufblicken ließ.

Kais Laune, ohnehin schon auf einem Tiefpunkt, sank noch ein Stück weiter in den Keller. „Morgengymnastik. Wonach sieht’s denn aus?!“, fauchte er den ungehalten. „Ich bin aus dem Bett gefallen.“

Ray legte verwirrt den Kopf schief. „Wozu bist du aus dem Bett gefallen?“

„Ich habe es bestimmt nicht mit Absicht getan“, knurrte Kai zurück. „Außerdem ist das deine Schuld.“

„Wieso meine Schuld?“, empörte sich Ray. „Ich hab dich doch wohl kaum gestoßen!“

„Nein, aber es kommt dem sehr nahe.“

„Wie darf ich das jetzt bitte verstehen?“

„...“

„Was ist Kai? Fällt dir nichts mehr ein?“

„Du hast mich bedrängt.“

„Ich habe dich bedrängt?!“

„Schrei es doch am besten gleich durch die ganze Schule, damit dich auch ja keiner überhört“, zischte Kai.

Umgehend senkte Ray seine Stimme. „Wie soll ich dich bitte bedrängt haben?“, flüsterte er und musterte Kai aus schmalen Augen.

„Du bist mir zu nahe gekommen. Willst du es noch genauer?“

Ray schwieg angesichts dieser Beweislage, bevor er sich aufraffte und das Thema wechselte. „Und warum liegst du da unten noch rum? Warum stehst du nicht auf?“

„Ich kann nicht“, murmelte Kai und wandte den Blick ab.

„Was?“, fragte Ray verdutzt.

„Ich kann nicht“, gab Kai zurück und seine Stimme hatte deutlich an Schärfe gewonnen.

„Und warum kannst du nicht?“, hakte Ray nach.

„Was weiß ich“, Kai schien das Ganze sichtlich unangenehm zu sein, „die Decke hat sich verheddert, die Physik spielt mir einen üblen Streich und ich komme nicht einfach los.“

Er sah zu Boden, etwas was er sonst normalerweise nie tat. Entweder blickte er seinen Gesprächspartnern direkt in die Augen – eine Angewohnheit, die vielen unangenehmer war, als ihm selbst, denn er besaß die Fähigkeit die Menschen unter seinem Blick nervös werden zu lassen - oder er ignorierte sie - was bedeutete, das er erst gar nicht mit ihnen sprach - aber er wich den Blicken nie aus. Trotzdem tat er es jetzt. Elende Schwäche. Gleich würde Ray ihn auslachen. Er würde es ihm nicht verübeln, sein eigenes Verhalten war wirklich zu lächerlich.

Sekunden verstrichen, doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen bekam er aus den Augenwinkeln mit, wie Ray sich vom Bett schwang, dann hockte er plötzlich vor ihm. Kai musterte Ray mit unverhohlenem Argwohn, als dieser den Arm ausstreckte. „Was soll das werden?“

Ray hielt kurz inne, bevor seine Hand nach der Bettdecke griff. „Wonach sieht es aus? Ich Helfe dir.“ Kai spürte ein Ziehen, dann besaß er mit einem Mal wieder seine volle Bewegungsfreiheit. Dennoch bewegte er sich nicht, zu sehr hatten Ray Worte ihn getroffen. Hilfe. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals um Hilfe gebeten, geschweige denn, sie erhalten zu haben. Tala war kein schlechter Mensch, doch er hatte unlängst eingesehen, dass Kai Hilfe als Zugeständnis von Schwäche sah darum mied er es, dass Wort in seiner Anwesenheit in den Mund zu nehmen. Ray so unbeschwert darüber reden zu hören, hatte etwas in ihm getroffen.

Kai hob den Blick und schluckte schwer, als er Rays Hand erblickte, die nur ein Stück von seinem Gesicht entfernt war. Ray stand vor ihm und hielt sie ihm entgegen. „Na los“, sagte er geduldig, „ich helfe dir auf.“ Misstrauisch beäugte Kai die dargebotene Hand. „Willst du da unten Wurzeln schlagen?“

Unentschlossen blickte er auf die Hand. Zögernd griff er schließlich danach. Rays Lächeln wurde breiter, als er Kai zu sich hochzog. „Na siehst du, war doch nicht so schwer.“

Murrend setzte Kai sich auf den Bettrand und mied Rays Blick. Stattdessen beugte er sich vor und griff nach seinen Schuhen, die neben dem Krankenbett auf dem Boden standen.

„Was wird das, wenn es fertig ist?“, fragte er mit Blick auf die Schuhe. Kai warf einen Blick über die Schulter und sah Ray abschätzend an. „Was denkst du denn, was es wird?“, stellte er die Gegenfrage.

„Du machst dich doch nicht etwas zum Aufstehen fertig?“, fragte Ray argwöhnisch.

Kai lächelte lieblich. „Nein, wo denkst du hin. Das käme mir nie in den Sinn.“ Er verzog den Mund und verdrehte die Augen. „Was denkst du denn? Wozu sollte ich mir sonst die Schuhe anziehen?!“ Er wandte sich ab, doch dann spürte er mit einem Mal zwei Hände auf seinen Schultern. Verwundert hielt er inne und ließ seine Schuhe los. Dann spürte er einen Rück, der durch seinen Körper ging und keine Sekunde später fand er sich mit dem Rücken auf dem Bett wieder, Rays Gesicht dicht über seinem. Der Chinese hatte sich von hinten über ihn gebeugt, drückte Kai dabei weiterhin mit seinen Händen nach unten und sah ihn streng an. „Du gehst nirgendwo hin.“

Kai verengte die Augen. „Und warum?“

Ray presste ihm eine Hand auf die Stirn. Kai wollte protestieren, doch Ray kam ihm zuvor. „Du bist jetzt still, Kai. Du bleibst mindestens heute noch im Bett. Sieh mich nicht so an, du hast Fieber und falls du es vergessen hast, du bist gestern zusammengebrochen.“

Der Griff um Kais Schultern lockerte sich, der Russe richtete sich wieder auf und wandte sich zu Ray um. „Wegen einer leicht erhöhten Temperatur soll ich heute den ganzen Tag im Bett bleiben?“ Er lächelte herablassend. „Tut mir leid Ray, aber da muss ich dich enttäuschen. So ein bisschen Fieber macht mir nichts aus.“

So ein bisschen Fieber hat dich gestern umgehauen“, flötete Ray. Zornig funkelte der Russe ihn an. Ray grinste triumphierend. „Das war ein Ausnahmefall“, knurrte Kai. „Der sich sicher nicht wiederholen wird.“

„Aber natürlich“, kam es ungläubig von Ray. „Ein Ausnahmefall. Aber heißt es nicht so schön, dass Ausnahmen die Regel bestätigen?“ Trotzig wand Kai Ray den Rücken zu. Eine Zeitlang saßen sie so da und niemand sprach ein Wort.

„Wie dem auch sei“, durchbrach Kai schließlich die Stille. „Ich habe Hunger, als gehe ich runter.“

„Das tust du nicht.“

„Willst du mich etwa aufhalten?“, höhnte Kai.

„Allerdings.“

„Das möchte ich sehen“, murmelte der Russe, jedoch mehr zu sich als zu Ray. Er stand auf und wollte gehen, doch Ray packte ihn fest am Handgelenk. Was nun folgte ging so schnell, dass Kai nicht reagieren konnte, bis er sich mit großer Verwunderung erneut rücklings auf dem Bett wieder fand. Ray hielt ihn im Griff - er hielt Kais Handgelenke eisern umschlossen - und hatte sich über den ihn gebeugt.

„Überzeugt?“, fragte Ray mit einem überlegenen Grinsen.

„Das hättest du wohl gerne“, zischte Kai zurück und versuchte sich aus dem Griff des Schwarzhaarigen zu befreien. Erfolglos. „Lass mich los, Kon.“

„Warum sollte ich?“, erwiderte Ray und kam Kais Gesicht ein Stück näher. Zu nah, wie Kai fand. Er konnte Rays Atem auf seinem Gesicht spüren. „Ich rate di, mich loszulassen Kon, sonst-“

„Sonst was? Kai, seien wir mal ehrlich: Wenn ich dich loslasse, wirst du doch nur versuchen, abzuhauen.“

„Ein Kai Hiwatari -“

„Läuft nie davon, ich weiß“, beendete Ray den Satz. „Bist du dir da denn sicher, Kai? Ich denke mittlerweile wirklich anders.“

Kai funkelte ihn an, dann drehte er den Kopf zur Seite. Er wollte Ray nicht weiter in die Augen sehen. „Lass mich in Ruhe, Ray“, sagte er müde.

>Sie an, sieh an<, dachte Ray zufrieden. >Ich glaube, jetzt ist er vorläufig handzahm - wenn man es denn so nennen darf.<

„Ich stelle einige Regeln auf“, begann Ray nach einer Weile. „Du bleibst heute im Bett, ich bringe dir alles, was du brauchst und morgen kannst du wieder tun und lassen, was du willst. Wie klingt das?“

„Das klingt wie ein erbärmlicher Bestechungsversuch.“

„Dann wären wir uns ja einig. Versprichst du mir, heute im Bett zu bleiben, Kai?“ Kais Kopf ruckte herum, seine Augen blitzten Ray an. Widerwille war deutlich in ihnen zu sehen. Noch einmal versuchte er, sich aus Rays Griff zu befreien, nur um resignierend feststellen zu müssen, dass er dieses Mal machtlos war. Er musste zustimmen, andernfalls würde Ray ihn nicht loslassen. „Von mir aus“, murmelte er schließlich leise.

„Wie war das?“, harkte Ray, der sehr wohl verstanden hatte, grinsend nach.

Kais Selbstbeherrschung ging dahin. „Ich verspreche es“, fuhr er Ray wutentbrannt an. „Und jetzt lass mich verdammt noch mal los.“

Ray gab sich unbeeindruckt. „Aber aber, wer wird denn gleich blindwütig?“ Er ließ Kai los und setzte sich wieder auf den Stuhl neben das Bett. Der Russe griff nach der Decke. Er drehte Ray demonstrativ den Rücken zu, was der Chinese nur mit einem Lächeln quittierte.

Kais Stolz war nur noch ein Schatten dessen, was er einst gewesen war. Zumindest hatte Kai das Gefühl, als wäre es so. Nicht allein, dass er gestern zusammengebrochen war und somit Schwäche gezeigt hatte, jetzt hatte Ray ihn auch noch derart vorgeführt, dass er keine andere Wahl gehabt hatte, als ihm das Versprechen zu geben. Frustriert zog er sich die Decke über den Kopf. Ray sollte ihn einfach nur in Ruche lassen. Nein, viel eher: Alle sollten ihn einfach für den Rest seines Lebens in Ruhe lassen!

>Da scheint aber jemand ganz schön pikiert zu sein<, dachte Ray amüsiert mit einem Blick auf Kai. >Aber es muss sein. Er soll sich erst einmal auskurieren. Der würde hier doch tatsächlich den ganzen Tag mit Fieber rumlaufen. Wirklich, wie verrückt kann man sein?< Ray starrte noch eine ganze Weile stumm auf Kais Rücken, bis ihm eine Veränderung des Russen auffiel. Seine Haltung hatte sich entspannt und sein Atem ging regelmäßig. Vorsichtig beugte sich Ray über Kai und zog die Decke langsam hinab. Als er einen Blick auf sein Gesicht erhaschte, stockte er. >Ich wusste es. Er war doch nicht so fit, wie er mir vorspielen wollte.< Schmunzelnd deckte er den Schlafenden wieder zu.

Supported

Mein Dank geht an
 

o_gEiLa_muLLy_o, alex1991, Tamon, lunalinn, Firelady_Dira, BlackSilverLady, wheinachtsmann, ange_gardien, Nessy, Ravens_Heart, Nisa_Sukunamie, Dark_Sayuki, Minerva-moon
 

7. Kapitel: Supported
 

Kai wusste nicht, wie viel Zeit vergangen, war, als er die Augen das nächste Mal aufschlug. Dunkel erinnerte er sich daran, vom Fieber immer wieder in den Zustand des Schlafes gezwugen worden zu sein, wann immer sein Bewusstsein sich an diesem Tag an die Oberfläche gekämpft hatte. Zwischendurch hatte er das Gefühl gehabt, eine schemenhafte Gestalt neben sich zu sehen, doch war er nicht in der Lage gewesen, sie genauer wahr zu nehmen.

Das Fieber schien seinen Körper weitgehend verlassen zu haben, denn er war wieder in der Lage, zusammenhängende Gedanken zu formulieren, außerdem fühlte er sich neben der anhalten Müdigkeit und der Trägheit seines Körpers wieder halbwegs lebendig. Mühsam richtete er sich auf und fasste sich leise stöhnend an die Stirn, hinter welcher es schmerzhaft pochte.

>Ray hatte offenbar Recht behalten. Es war in gewisser Hinsicht wirklich besser, im Bett liegen zu bleiben.< Sein Magen knurrte. Kai schnaubte. >Hunger habe ich trotz allem.< Er sah sich um. Ray war nicht mehr da. Nachdenklich verschränkte er die Arme. >Ray ist nicht hier und ich habe Hunger. Versprechen hin oder her, ich gehe jetzt. Ich sehe nicht ein, nur wegen einem dummen Versprechen zu warten, bis der Herr sich hierher bequemt.<

Er schwang sich aus dem Bett und stand auf. Sein Schal und seine Weste waren zusammengefaltet auf den Stuhl gelegt worden, auf dem Ray vor ein paar Stunden noch gesessen hatte, doch Kai besaß nicht die Geduld, sich die Sachen überzuziehen. Also griff er lediglich nach seinen Schuhen.
 

„Wo willst du denn hin, wenn ich fragen darf?“ Kai drehte sich um. Ray stand in der Tür zum Krankensaal und sah ihn aus strengen Augen an. Kai unterdrückte den Drang, die Augen zu verdrehen.

„Ich geh etwas essen“, bemerkte er abwesend.

„Du sollst im Bett bleiben.“

„Ich hab Hunger. Oder willst du, dass ich wegen Unternährung wieder zusammenbreche?” Er grinste gehssig.

„Das kannst du haben, wenn du es drauf anlegst“, fügte er zynisch hinzu.

„Sei nicht albern, Kai.“ Ray betrat den Raum. Erst jetzt fiel Kai die dunkle Tasche auf, die locker über der Schulter des Chinesen hing. Ray griff nach ihr und platzierte sie auf Kais Bett. Argwöhnisch beobachtete der Russe, wie Ray sie öffnete und in ihr wühlte.

„Was soll das werden?”, fragte Kai schließlich geringschätzig, beobachtete mit wenig Begeisterung Rays Handeln. „Willst du mir dein altes Pausenbrot geben? Nein danke, so nötig habe ich es auch wieder nicht.”

„Idiot”, knurrte Ray und warf Kai etwas entgegen, wecher überrumpelt die Arme ausstreckte und es auffing. Nach einigen Momenten realisierte er, dass es sich dabei um frische Kleidung handelte.

„Ich war so frei, deinen Schrank ein wenig zu durchstöbern”, meinte Ray erklärend und schulterte seine Tasche. „Ich schätze, es wäre nicht wirklich ratsam, dich noch länger in den feuchten Sachen rumlaufen zu lassen.”

„Sie sind nicht mehr feucht”, gab Kai bissig zurück, musste sich jedoch eingestehen, dass Ray durchaus Recht hatte.

„Sie sind jetzt nicht mehr feucht, waren gestern aber alles andere als trocken.”

„Ja, ist gut”, meinte Kai wegwerfend und wandte sich ab. Ray blieb wo er war. Kai warf ihm über die Schulter einen finsteren blick zu. „Was ist, willst du mir beim Umziehen zusehen oder was?”

„Wie?” Ray blinzelte. Ein schwacher Rotschimmer erschien auf seinen Wangen. „Nein, ich ... vergiss es, ich hol dir etwas zu Essen.” Er drehte sich um und schritt schnell auf die Tür der Krankenstation zu. Kai meinte noch so etwas, wie „Wollte ohnehin selbst was essen” von ihm zu vernehmen, dann fiel bereits die Tür hinter dem Chinesen zu. Hätte Kai es nicht besser gewusst, hätte er Rays überstürztes Gehen als Flucht bezeichnet.

Nachdem er sich seiner Schuhe und noch imer leicht feuchten – ja, Ray hatte wieder einmal Racht gehabt – Sachen entledigt und die trockenen übergezogen hatte, ließ er sich auf der Fensterbank nieder. Er wollte nicht noch mehr schlafen und betrachtete schließlich notgedrungen den Himmel. Die Zeit verging und Kai sah zu, wie die Sonne allmählich hinter dem Horizont verschwand und den roten Abendhimmel in ein tiefes Azurblau tauchte.

„Wieso sorgt er sich um mich und bemuttert mich so?“, fragte er schließlich in die Stille des Raumes hinein, nachdem er seine wirren Gedankengänge leid war.
 

oOo
 

Ray war auf dem Weg zum Speisesaal. Auch er hatte Hunger. Darauf bedacht, Kais letzte Aussage ihm gegenüber zu vergessen und die Röte endlich aus seinem Gesicht zu vertreiben, betrat er den Speisesaal.

Dieser war bereits ziemlich leer - die Hauptessenszeit war längst vorbei. Mit wenigen Schritten erreichte er die Theke, nahm sich einen Teller und häufte sich Essen darauf. Danach ging er zu einem Tisch und ließ sich auf einem Platz nieder. Während er aß, dachte er an seinen heutigen Schultag zurück. Die Stunden hatten sich wie Kaugummi in die Länge gezogen und ständig waren seine Gedanken zu Kai abgedriftet. Warum eigentlich? Die Antwort war erschreckend simpel – er hatte sich sorgen gemacht. Kais Fieber war im Verlauf des Tages wieder angestiegen und Mrs. Dickinson hatte alle Mühe gehabt, es unter Kontrolle zu behalten. Erst gegen Abend war es wieder gesunken.

Aber warum zu Teufel machte er sich solche Sorgen um Kai? Eigentlich konnte er ihn doch überhaupt nicht leiden. Und trotzdem ...

>Ach, es ist doch zum wahnsinnig werden. Ich mach mir später darüber Gedanken. Ich sollte Kai jetzt lieber was zu Essen bringen, sonst haut er mir nachher doch noch ab.< Ray schob seinen Teller beiseite, stand auf, griff sich ein Tablett und häufte etwas zu Essen für Kai darauf. Schließlich verließ er den Saal und machte sich auf den Weg zum Krakenzimmer.
 

Er öffnete vorsichtig die Tür zum Krankenzimmer, darauf bedacht, das Tablett bloß nicht fallen zu lassen. Die Tür schwang lautlos auf. Ray trat ein und sah sich um. Für einen Moment befürchtete er bereits, Kai hätte sein versprechen gebrochen und den Krankensaal einfach verlassen, doch dann entdeckte er ihn am Fenster und hörte die leisen Worte des Russen: „Warum sorgt er sich um mich und bemuttert mich so?“

Mit dem Fuß schob Ray die Tür hinter sich zu. „Einer muss sich doch um dich kümmern, Kai.“

Der Russe sah kurz über die Schulter, erblickte Ray und wandte sich dann wieder dem Fenster zu. „Da bist du der erste.“

Ray stellte das Tablett auf den Nachttisch. „Und was ist mit Tala?“, fragte er wie nebenbei.

„Tala?“ Kai schnaubte. „Ich behandle ihn doch viel schlecht, als dass er sich verpflichtet fühlt, sich um mich zu sorgen.“ Ray stutzte und starrte den Rücken des Russen an. Dieser schien den Blick zu spüren, denn er sprach ohne sich umzudrehen: „Sieh mich nicht so an, es ist so.“

Diese Aussage schien Kai wirklich ernst zu meinen. Ungläubig schüttelte Ray den Kopf. „Du verstehst es nicht, oder Kai?“

Der Russe hob den Kopf, drehte sich jedoch nicht um. Ray ließ sich auf dem Bett nieder. Er lehnte sich nach hinten, stützte sich mit den Ellbogen auf der Matratze ab und sah an die Decke. Es war wohl an der Zeit, Kai zumindest in einigen Dingen reinen Wein einzuschenken. „Weißt du Kai, als du gesternzusammengebrochen bist, hab ich mir wirklich Sorgen um dich gemacht. Aber nicht nur ich, auch Tala war besorgt um dich.“ Kai bewegte sich nicht. „Und weißt du warum Tala sich Sorgen um dich gemacht hat?“, fuhr Ray ruhig fort, nahm den Blick von der Decke. „Weil ihr Freunde seid, Kai. Tala ist dein Freund.“

Kai lachte verächtlich. „Das glaubst auch nur du, Kon.“ Da war er wieder - dieser abweisende, regelrecht verhöhnende Tonfall. „Mag sein, dass Tala und ich uns lange kennen und es mag auch sein, dass wir miteinander auskommen, aber das heißt nicht, dass wir Freunde sind.“

Ray stand auf und seufzte. „Ich seh schon, du willst es nicht verstehen.“

Kai sah ihn nicht an, sondern blickte weiterhin starr aus dem Fenster. „Was gibt es da schon viel zu verstehen, Kon?“, fragte er emotionslos.

Ray durchquerte den Raum und öffnete die Tür. Kurz hielt er inne, drehte sich noch einmal um und sah Kai an, der ihm noch immer den Rücken gekehrt hatte. „Weißt du eigentlich, dass du mich immer dann Kon nennst, wenn unsere Gespräche in eine Richtung gehen, die etwas mit deinen Gefühlen zu tun hat?“ Er sah wie Kai überrascht den Kopf hob. „Warum machen wir uns wohl sorgen um dich, Kai? Doch nicht, weil du uns egal bist. Denk mal drüber nach.“ Mir diesen Worten schloss er leise die Tür hinter sich.

Mittlerweile war das Azurblau des Himmels einem tiefen Dunkelblau gewichen. Immer noch starrte Kai hartnäckig in den Himmel. Sein Blick war glanzlos während ein bitteres Lächeln auf seinen Lippen lag. „Nein, du irrst dich Ray.“

>Es macht sich nie jemand Sorgen um mich. Es ist nie so gewesen.<
 

oOo
 

Ray sah wiederholt auf die Uhr. Gleich war es halb zwei. Er blickte an die Decke. Von seinem Zimmerpartner Tala war nur das regelmäßige Atmen zu hören. Ray seufzte. Er lag jetzt hier schon zwei Stunden, hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und starrte unablässig an die Decke. Er konnte nicht einschlafen.

Ständig musste er an Kai denken. Warum kam ihm seit dem letzten Tag immer die Bezeichnung niedlich in den Sinn, wenn er an diesen unterkühlten Eisklotz dachte? Kai war verdammt noch mal ein Junge. Und er war außerdem ein dickköpfiger, nie - sturert Idiot. Mist!
 

oOo
 

Zur selben Zeit lag Kai ebenfalls wach im Bett und starrte, genau wie Ray, an die Decke. Auch er konnte nicht schlafen. Das, was Ray gesagt hatte, ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.

‚Warum machen wir uns wohl Sorgen um dich, Kai? Doch nicht, weil du uns egal bis. Denk mal drüber nach.’

Kai drehte sich auf die Seite.

‚Doch nicht, weil du uns egal bist.’

Er kniff die Augen zusammen. Er hatte es doch verstanden.

‚Denk mal drüber nach.’

„Ich denk doch drüber nach!“ Kai saß aufrecht im Bett, hatte die Hände krampfhaft in den Haaren vergraben. Einen Augenblick lang war er froh, Mrs. Dickinson heute Abend klar gemacht zu haben, dass es ihm gut ginge, er keine Hilfe brauche und dass sie getrost schon gehen könne, denn sonst hätte er sie mit diesem Ausbruch sicherlich angelockt.

Er konnte mit den Rays Worten nichts anfangen. Ray hatte wir gesagt, also meinte er nicht nur Tala, sondern auch sich selbst. Warum? Warum machte Ray sich Sorgen um Ihn? Warum? Warum hatte er sich um ihn gekümmert? Ray hatte gemeint, einer müsse sich ja um ihn kümmern - wenn der nur wüsste!

In seinem ganze Leben hatte sich noch nie einer um ihn gekümmert. Nie wurde er als er klein war, gefragt, wie es ihm ginge. War auch kein Wunder. Als er in der Abtei gelebt hatte, hatte sein Lebenssinn daraus bestanden, zu gewinnen, versagte er, wurde er bestraft. Unwillkürlich schauderte Kai. Diese Strafen. Sie hatten ihre Male hinterlassen. Nicht körperlich, man war nie bis an sein Limit gegangen, aber ein Schlag mit Verachtung war für ein Kind unerträglich. Er zerstörte einen ganzen lebensabschnitt, dafür musste man sich keine ausgefallenen Bestrafungen einfallen lassen, eine Ohrfeige mit den falschen Ambitionen war zerstörerischer als Worte. Wirte hinterließen ihre Narben, doch man konnte sie vergessen – Kinder konnten vergessen, wenn siewollten, genauso wie sie sich erinnern konnten, wenn sie wollten. Schmerzen prägten sich ein, sie prägten sich wie ein Brandmal ein, wenn hinter ihnen nicht nur Züchtigung, sonern auch Verachtung lagen.

Niemand würde einen Menschen akzeptieren können, der wie er von Verachtung gezeichnet war. Ein Kind des Hasses.
 

*~*
 

Er stand in einem Dunklen Raum. Vor ihm stand Boris. Er holte aus. Der Schlag traf ihn im Gesicht. Er schrie auf. Ging zu Boden. Boris zog ihn hoch.

Nein!

Schrie ihn an.

Nein, nein! Hör auf, lass mich los!

Nichts wirkte. Er musste ihm zuhören, musste es ertragen. Schmerz durchzog seinen Körper. Es sollte aufhören. Er wollte Ruhe. Warum ließ man ihn nicht in Ruhe?! Was hatte er verbrochen? Er würde stark sein. Er würde nicht wieder verlieren. Er würde es schwören!

Keuchend kniete er auf dem Boden, den Blick gesenkt. Erwartete die Worte, die Verachtung, den Hass. Stattdessen legte sich eine Hand auf seine Stirn. Er zuckte zusammen, sah auf, bickte direkt in das besorgte Gesicht Rays, der sich vor ihn gehockt hatte. „Warum machen wir uns wohl Sorgen um dich um dich, Kai?“ Die Hand von seiner Stirn verschwand. Ließ nichts als Kälte zurück. Er wollte protestieren. Wollte die Wärme zurück. Doch Ray wandte sich ab. „Doch nicht, weil du uns egal bist.“

Der Schwarzhaarige entfernte sich.

Nein, nicht! Er streckte die Hand aus. Wollte ihn aufhalten. Bleib hier! Wollte schreien. Doch kein Laut verließ seine Lippen. Ray verschwand. Wurde von der Dunkelheit verschluckt.

„Denk mal drüber nach.“

Geh nicht! Warum konnte er nicht rufen? Warum ließ man ihn allein? Er wollte schreien. Schreien nach Gerechtigkeit, doch es ging nicht. Verdammt!

Er schlug mit den geballten Fäusten auf den Boden.

‚Denk mal drüber nach.’

Das Echo hallte um ihn herum.

‚Doch nicht, weil du uns egal bis.’

Ach ja?! Warum war dann niemand da?

‚Denk mal drüber nach.’

Das tat er doch! Der Boden unter ihm bekam Risse. Er schluckte. Starrte wie gebannt nach unten. Die Risse breiteten sich immer weiter aus. Es splitterte. Der Boden brach. Er fiel ins Leere. Er sah Boris.

„Du bist ein Schwächling!“

Nein!

„Ich hasse Schwächlinge!“

Hör auf! Er hielt sich die Ohren zu.

„Du bist ein Nichts!“

Sei ruhig! Lass mich endlich in Ruhe!
 

‚Denk mal drüber nach.
 

*~*
 

„Nein!“ Er riss die Augen auf und setzte sich ruckartig auf. Keuchend und nach Luft ringend versuchte er herauszufinden, wo er war. Nach einigen Sekunden konnte er wieder einigermaßen klar denken, und auch seine Erinnerung an alles kehrte zurück. Er sah an sich hinab. Er war verschwitzt und sein Shirt klebte ihm am Körper.

Was war das nur für ein Traum gewesen? Warum bekam er in letzter Zeit immer wieder diese furchtbaren Träume? Und warum hörte er dauernd Rays Worte? Erneut gingen ihm die Wörte Rays durch den Kopf.

‚Doch nicht, weil du uns egal bist.’

Die Erkenntnis überrollte ihn. Das hieß - wollte Ray etwa damit sagen, dass auch sie Freunde waren? Er und Ray? Aber wieso? Es war schon merkwürdig genug, dass Ray sich überhaupt Sorgen um ihn gemacht hatte.

Sie stritten sich doch nur. Und der dauernde stumme Machtkampf, den sie außerdem noch austrugen, war trotz allem immer noch am Fortlaufen. Und trotzdem ... fühlte Kai sich in letzter Zeit seltsamerweise zu Ray hingezogen...

Allein diese Augen. Wie bei einer Katze Und er ... liebte Katzen. Was keinesfalls bedeutete, dass er Ray liebte. Es war einfach nur seine Meinung über Katzen, mehr nicht. Das hatte nichts mit Ray zu tun. Vor wem rechtfertigte er sich eigentlich? Er war sich doch für seine Gefühle für Ray vollkommen im Klaren. Da war nichts. Wenn er das also wusste, wieso machte er dann so einen Aufstand?

Er schob die Gedanken an Ray rasch beiseite. Nun, wo er beschlossen hatte sich den Katzen zuzuwenden, überkam ihn mit einem Mal die Erinnerung an einen ganz bestimmten Tag. Er lächelte leicht bitter. Der Tag, an dem er zum ersten Mal eine Katze gesehen hatte. Das erste Wesen, dass ihn so akzeptiert hatte, wie er war.
 

*~*
 

Ein kleiner Junge lief keuchend durch die verlassenen Gassen der Stadt. Es war mitten in der Nacht und regnete in Strömen. Der Junge blieb stehen und lehnte sich schwer atmend an eine schmutzige Hauswand. Der Schock saß ihm noch immer in den Knochen. Er war weggelaufen, geflohen, hatte die Abtei hinter sich gelassen. Es war ein schweres Stück Arbeit gewesen, etliche Kratzer und Schrammen zierten seine Arme und seine Hose hatte einige Risse. Doch er hatte es geschafft und war endlich frei!

Langsam ließ er sich an der Wand hinab gleiten. Er legte den Kopf in den Nacken und ließ sich den Regen auf sein erhitztes Gesicht prasseln. Einige Minuten saß er einfach nur da, ließ den Regen seine Sorgen wegspülen.

Unvermittelt hörte er ein Geräusch. Es war ihm unbekannt, klang jedoch ähnlich einem leisen Wimmern. Verwundert öffnete er die Augen und blickte in die Richtung, aus der das Geräusch kam.

Schwerfällig rappelte er sich auf und schleppte sich vorwärts, auf den Urheber des Geräusches zu. Als er um die Ecke spähte erblickte er ein kleines schwarzes Tier, das verzweifelt versuchte unter einer nassen Zeitung Schutz vor dem Regen zu finden. Eine Katze.

Es war das erste Mal, dass Kai eine lebendige Katze sah. Er kannte sie nur aus Büchern, war aber sofort von ihnen fasziniert gewesen. Vorsichtig näherte er sich dem Tier, dessen Ohren zuckten, als es die Schritte hörte. Als es Kai erblickte, gab es ein verschrecktes Maunzen von sich und wich zurück.

„He“, sagte der Junge, für seine Verhältnisse ungewöhnlich sanft. Langsam ließ er sich auf die Knie sinken und streckte die Hand nach dem Tier aus. „Na los - komm her.“

Sein Tonfall schien Wirkung zu erzielen. Das Tier kam vorsichtig näher, Pfötchen um Pfötchen. Kurz schnupperte es an Kais Fingern, dann schmiegte es sich schnurrend an seine Hand. Kai kraulte es hinter den Ohren. Plötzlich machte das Kätzchen einen Satz und sprang Kai direkt in die Arme. Im ersten Moment verblüfft, lächelte der Russe dann aber auf das schnurrende Bündel in seinen Armen hinab. Es war das erste Mal, seit er denken konnte, dass ein ehrliches Lächeln seine Lippen zierte. Zärtlich strich er dem Kätzchen über den Rücken, hielt jedoch inne, da das Fell vollkommen durchnässt war. Kai ließ sich in einer Ecke der Gasse nieder, zog sich seine Weste aus und wickelte sie um das zitternde Tier in seinen Armen. „So ist es besser, was?“

Die klamme Kälte, die an ihm hoch kroch ignorierend, kraulte er das Kätzchen weiterhin, welches die Augen geschlossen hatte und zufrieden schnurrte. Ein Blitz zuckte über den Himmel und im nächsten Moment folgte ein lautes Donnern. Das Tier riss erschrocken die Augen auf und Miaute erschrocken. Aus Angst hatte es die krallen ausgefahren und in Kais Arm vergraben. Der Junge zuckte kurz zusammen, konzentrierte sich jedoch sofort darauf, das Tier zu beruhigen. „Ganz ruhig. Ist schon gut.“

Die Worte erfüllten ihre Pflicht, vielleicht war es auch der sanfte Tonfall, jedenfalls rollte sich das Kätzchen wieder zusammen und drückte sich noch etwas mehr an Kai. Dieser war froh, endlich einmal nicht alleine zu sein.

Glücklich schloss auch er die Augen, lauschte dem leisen Schnurren. Das erste Mal in seinem Leben hatte er das Gefühl, einen echten Freund zu haben.
 

*~*
 

Ein bitteres Lächeln schlich sich auf Kais Lippen. Ja, dies waren die einzigen Stunden seines Lebens gewesen, in denen er das gefühlt hatte. Als er am Tag darauf aufgewacht war, war er vollkommen allein gewesen. Das Tier war verschwunden, hatte nichts als Kälte hinterlassen. Kälte und Selbstzweifel. Er hatte sich gezwungen, das Ganze zu vergessen, hatte sich klargemacht, dass es wichtigere Dinge zu erledigen gab. Dem war tatsächlich so gewesen.

Er war monatelang durch das Land gezogen, hatte nach außen hin seine Beybladetechnik perfektioniert, doch in Wahrheit war er auf der Suche nach seinen Verwandten gewesen. Schließlich, nach zwei Jahren, war er auf seinen Großvater getroffen. Es hatte ihn endlose Zeit der Recherche gekostet, seine Reise hatte in Russland begonnen, ihn nach Japan geführt und letztendlich wieder in Russland geendet. Er würde nie den Moment vergessen, als er seinem einzigen noch lebenden Blutsverwandten zum ersten Mal begegnet war. Voltaire hatte ihn lange angestarrt, voller Unglaube und Fassungslosigkeit, dann hatte er Kai an sich gezogen. Kai erfuhr, dass seine Eltern in jungen Jahren gestorben waren, dass man ihn in den entlegensten Winkel Russlands geschickt hatte, in dem Glauben, ihm dort eine gute Erziehung sicher zu können. Dies war das letzte Mal gewesen, dass man etwas von ihm gehört hatte. Voltaire war kein Mann vieler Gefühle und Kai konnte sich an keinen Moment in den folgenden Jahren erinnern, in dem sein Großvater auch nur annähernd ähnlich reagiert hatte, doch er hatte ihn aufgenommen und so oft Kai auch vor anderen über ihn herzog, sich beklagte und abfällig über ihn sprach, so war er doch seine Familie.

Von der Abtei und ihren Machenschaften hatte er nie wieder etwas gehört, Nachforschungen stießen auf Lücken in Regierungsakten, doch Kai hatte lange bevor er an diesen Punkt gekommen war, bereits das Interesse verloren. Er wollte bloß vergessen ...
 

Kai gähnte und zog die Decke fester um sich. Er schloss die Augen, wollte vergessen, wenigstens für ein paar Stunden. Seine Gedanken drifteten davon. Als er schließlich einschlief, verfolgten ihn zum ersten mal seit langem keine Albträume.

Surprised

Vorwort(e): Ohne Worte. Mir fällt nichts ein. Ich frage mich bloß, ob jemand hier das hier überhaupt lesen wird. Ich lass mich überraschen!
 

8. Kapitel: Surprised
 

Die Wochen vergingen, alles nahm seinen gewohnten Lauf. Tag um Tag verstrich. Während dieser Zeit lieferten Kai und Ray sich gegenseitig ihre Machtkämpfe, bei denen sowohl Kai, als auch Ray als Sieger hervorgingen. Unentschieden. So endete es immer.

Einmal in der Woche mussten sie sich jedoch zusammenreißen, denn dann gab Kai Ray den von ihm verlangten, Nachhilfeunterricht in Mathe. (Der Chinese machte langsam Fortschritte.) Es hätte so weiter gehen können, gäbe es nicht ein Problem, welches beide ohne es zu wissen, teilten. Jeder von ihnen fühlte sich in verschiedenen Situationen auf unbekannte Weise zum jeweils anderen hingezogen. Manchmal. Nur Sekundenbruchteile lang. Dennoch spürbar.

Zum einen versuchten beide es zu unterdrücken, zu ignorieren, als Einbildung abzutun. Zum anderen versuchten sie es verbittert voreinander zu verbergen. Rays Haltung verkrampfte sich in solchen Momenten immer und bei Kai konnte man bei genauerem Hinsehen, dass in seinen ‚Verdrängungsmomenten’ seine linke Augenbraue anfing leicht zu zucken. Kleine Anzeichen, nur bei deutlichem Hinsehen erkennbar. Dennoch waren sie da. Ignorieren hin oder her, die Tatsache, dass sie da waren, reichte aus, um die Nerven der beiden zu strapazieren. Dies alles hätte vielleicht noch über längeren Zeitraum funktioniert, wäre da nicht dieser eine Tag gewesen.
 

Das Schicksal, an jenem Tag ohnehin schon merklich schlecht auf die beiden gestimmt, legte noch eins drauf.
 

Ray stand auf der obersten Sprosse einer Leiter, mitten auf dem Schulflur und befestigte ein Banner an der Decke. Mr. Dickinson hatte ihn darum gebeten und Ray war dankbar für jede noch so kleine Ablenkung. Weiter unten stand Tala, hielt die Leiter fest. Ray warf einen Blick über seine Schulter nach unten. „Bin gleich fertig Tala. Einen Moment noch.“

Das Schicksal brachte ihren zweiten Protagonisten ins Spiel. Kai bog um die Ecke, auf dem Weg zum Speisesaal, als sein Blick auf Tala und Ray fiel. Seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen, witterte er doch eine Chance, Ray zu provozieren und er näherte sich den beiden.

„Hallo Kon“, begrüßte er den Schwarzhaarigen spöttisch. Er zog es in letzter Zeit vor, den Chinesen weiterhin beim Nachnahmen zu nennen, unterstrich dies doch nur die Distanz, die zwischen ihnen war. Sein sollte. „Was wir das, wenn es fertig ist?“

Ray zeigte sich unbeeindruckt, und hantierte weiter an dem Plakat herum „Das siehst du doch“, entgegnete er gelassen. „Oder hast du keine Augen im Kopf?“, fügte er spitz hinzu, warf einen kurzen Blick über seine Schulter und lächelte Kai gehässig an.

„Doch, tatsächlich habe ich welche. Aber im Gegensatz zu dir, würde ich für eine Kleinigkeit wie das hier“, er nickte mit dem Kopf in Richtung Banner, „keine Hilfe brauchen.“

„Du lässt dir nicht helfen“, stellte Ray nüchtern fest, während er eine Ecke des Banners ein Stück nach oben schob.

„Weil ich nun mal keine Hilfe brauche“, meinte Kai und verschränkte die Arme.

Tala verdrehte die Augen. So amüsant diese Streitereien auch manchmal sein konnten – und das waren sie wirklich - so fingen sie allmählich doch auch an zu nerven. Ray ignorierte Kais letzte Aussage, lehnte sich ein Stück zurück und betrachtete sein Werk. „Perfekt.“

Skeptisch betrachtete Kai das Banner und eine seiner Augenbrauen schwang in die Höhe. „Für dich vielleicht. Meiner Meinung nach könnte es rechts noch ein Stück höher.“

„Es ist gut so“, fauchte Ray ihn nun doch ziemlich gereizt an. Wenn er etwas nicht leiden konnte, dann, dass seine Arbeit kritisiert wurde. Was bildete Kai sich eigentlich ein? „Du hast doch keine Ahnung.“

Er wandte dem Russen demonstrativ den Rücken zu und ließ sich behände die Leiter hinab. Als er seinen Fuß auf die dritte Sprosse stellen wollte, rutschte er jedoch unglücklich daran ab. Verzweifelt versuchte er, das Gleichgewicht zu halten, ohne Erfolg. Er verlor den Halt, die Stange entglitt seinen Händen. Die Leiter war nicht sehr hoch, aber ein Fall aus dieser Höhe und ein falscher Aufprall könnten ihm einiges brechen. Als ihm dieser Gedanke durch den Kopf schoss, war es allerdings schon zu spät. Er fiel bereits nach hinten.
 

Kais Augen waren perplex auf Ray gerichtet, welcher versuchte sein Gleichgewicht zu halten, aber trotzdem von der Leiter fiel. Auf ihn zu. Reflexartig streckte er die Arme aus und fing den Chinesen auf, bevor dieser unschöne Bekanntschaft mit dem harten Boden des Flures machte. Aufkeuchend, aufgrund des plötzlichen Gewichts in seinen Armen knickte er ein, schaffte es allerdings, stehen zu bleiben und sich aufrecht zu halten. Er blickte auf das Bündel Mensch in seinen Armen und erstarrte.

Die Handlung schien eingefroren. Niemand auf dem belebten Flur regte sich noch. Alle starrten die beiden Jungen an, die ein äußerst befremdliches Bild boten. Selbst Tala hatte die Leiter Leiter sein lassen, versuchte seine ungläubigen Gesichtszüge wieder unter Kontrolle zu bringen und nicht allzu ungläubig auf Kai zu starren.

Der Schwarzhaarige starrte aus großen Augen zu seinem unfreiwilligen ‚Retter’ hinauf und blinzelte mehrmals, wie um sich zu vergewissern, dass er keinen Wahnvorstellungen unterlag. Blut schoss ihm ins Gesicht. „Kai?“, fragte er verwirrt.

Als würden diese Worte ihn aus einem Traum aufwecken, kehrte Kai unvermittelt in das Hier und Jetzt zurück. Er wurde sich schlagartig der Situation bewusst. Sein Gesicht war gezeichnet von Fassungslosigkeit. „Was zum –“ Er ließ Ray jählings los und dieser fiel mit einem überraschten Aufschrei auf den Boden.

„Verdammt Kai, ging das nicht etwas sanfter?!“ Fluchend rieb er sich sein schmerzendes Hinterteil und starrte wütend zu dem Russen hinauf. Dieser erwiderte den Blick angriffslustig.

„Was denn, Kon, sei froh, dass ich nicht einfach einen Schritt nach rechts getreten bin, damit du einen besseren Landeplatz hast.“

„Das hättest du nicht gewagt“, knurrte Ray und verengte die Augen, sich weiter die malträtierte Stelle reibend.

Kai verschränkte die Arme, setzte sein undurchdringliches Pokerface auf und meinte kühl: „Du hattest lediglich Glück, dass ich in dem Moment nicht nachgedacht habe, sonst hättest du mehr Blessuren davongetragen, als die da“, er deutete mit einer abwertenden Handbewegung in die Richtung von Rays ‚Verletzung’.

„Ja, ich kann offenbar wirklich froh sein, dass du dein unterkühltes Hirn nicht benutzt hast“, gab Ray giftig zurück und funkelte Kai wütend an. „Solltest öfter so handeln, kann ja nur besser werden.“

Sie starrten sich noch einige Sekunden stumm an, dann wandte Kai sich um schritt davon und bog, ohne sich noch einmal umzusehen, um die nächste Ecke. Ray sah sich um. Alle starrten ihn an. „Was?!“, fragte er angriffslustig und blickte provozierend in die Runde. Sofort widmeten sich alle wieder anderen Dingen oder setzten ihren ursprünglichen Weg fort.
 

Die Tür des Jungenklos fiel laut ins Schloss. Kai lehnte sich an selbige und legte den Kopf in den Nacken. Er atmete tief durch. Gott, was war eben mit ihm los gewesen?! Es hatte ihn verdammt viel Überwindung gekostet, sich von Ray Anblick zu lösen. Er hatte beinahe seine gesamte Selbstbeherrschung aufbringen müssen, um sich nichts anmerken zu lassen. Ray war ihm nahe gewesen. Viel zu nah. Genau, wie in dem Krankensaal, vor ein paar Wochen. Und auch da war dieses Gefühl gewesen. Aber zu dem Zeitpunkt war er krank gewesen. Das ganze hatte an dem Fieber gelegen, daran und an nichts anderem.

Und jetzt? Was hatte das jetzt zu bedeuten?! Er kniff die Augen fester zusammen und schüttelte den Kopf, als wolle er ihn von diesen verwirrenden und zudem äußerst störenden Gedanken befreien. Er durfte keine Gefühle zulassen. Gefühle machten verletzlich. Er durfte nicht verletzlich sein. Kai verbannte diese Angelegenheit in die hinterste Ecke seines Bewusstseins, um nicht mehr damit konfrontiert werden zu müssen. Noch einmal atmete er tief ein und aus, dann stieß er sich von der Tür ab und straffte die Schultern. Dann verließ er ohne merkliche Gefühlsregung in seinem Gesicht das Jungeklo.
 

„Na, Ray?“, fragte Max grinsend und stieß den Angesprochenen in die Seite. „Du scheinst dich ja mittlerweile blendend mit Kai zu verstehen.“

Eine leichte Röte legte sich auf Rays Wangen und er wandte schnell den Blick ab. „Wie kommst du darauf?“

„Also bitte“, mischte sich nun auch Tyson ein und grinste hinterhältig. „Die ganze Schule weiß mittlerweile von eurer ‚Aktion’. Sie wird ihm Jahrbuch stehen, da schwöre ich drauf!“

Der Schwarzhaarige hob ruckartig und starrte den Tayon entsetzt an, die Röte auf seinen Wangen wurde eine Spur intensiver. „Die ganze Schule?!“, fragte er ungläubig. „Wie das? Das ganze ist keine fünf Minuten her!“

Tyson zuckte die Schultern. „Du wirst nicht glauben, wie schnell so etwas hier die Runde macht.“

Ray ließ den Kopf hängen. Mittlerweile glühten seine Wangen in einem ungesunden Farbton. „Das war doch keine Aktion“, beteuerte er hilflos.

„Wenn du das sagst“, meinte nun wieder Max. Er wechselte einen viel sagenden Blick mit Tyson, was Ray, der zaghaft den Blick gehoben hatte, nicht entging. Er ballte die Fäuste. „Was habt ihr denn? Und wieso eigentlich Aktion?! Ich bin von der Leiter gefallen, verdammt! Und er stand zufällig gerade unter der Leiter, also hat er mich aufgefangen. Was also bitte ist daran eine Aktion?!“

Max hob abwehrend die Hände. „Ist ja gut, bleib ganz locker!“

„Tze.“ Ray wandte ihnen demonstrativ den Rücken zu. „Ihr habt ja keine Ahnung.“
 

oOo
 

Der Tag schien sich offenbar endlos in die Länge ziehen zu wollen. Sie hatten noch ganze zwei Stunden. Momentan saßen sie im Geschichtsunterricht und ihr Lehrer, Professor Barthez, schilderte in in allen Einzelheiten den Lebenslauf von Haniball.

>Wenn sein Leben voller Aufregung war, warum ist seine Geschichte dann so furchtbar Langweilig<, dachte Ray und starrte wortwörtlich Löcher in die Luft. >Was interessiert es mich, wenn er mit seinen Elefanten wer-weiß-wo überquert hat?< Er gähnte. Unglücklicherweise sah Professor Barthez gerade in diesem Moment auf. Sein Blick fiel auf Ray. Ein gefährliches Blitzen zuckte durch seinen Blick. „Ray Kon, da dich der Unterreicht ja so zu interessieren scheint, wiederhole doch bitte meinen letzten Satz.“

Die Schüler drehten sich auf ihren Plätzen zu Ray um, welcher gelangweilt nach vorne blickte. „Hanniball überquerte mit seinen Gefolgsleuten und seinen vielen Elefanten bei einer beinahe unvorstellbaren Eiseskälte die Gebirgszüge der Alpen “, wiederholte er monoton und schloss die Augen.

Professor Barthez schien sichtlich überrascht. „In der Tat. Nun gut, du scheinst wenigstens zuzuhören.“ Einige Schüler lachten leise, während Ray nur teilnahmslos die Schultern zuckte. Der Professor fuhr mit dem Unterricht fort und die Schüler versanken wieder in ihrem Tranceähnlichen Zustand. Tala blickte kur zu Kai hinüber. Zu seiner Verblüffung registrierte der Rothaarige das Lächeln, welches sich schwach auf Kais Zügen abzeichnete.

Es läutete. Endlich, die erste Freistunde an diesem Tag. Professor Barthez ordnete rasch seine Unterlagen, griff nach seiner Tasche und verließ den Klassenraum. Ray verstaute seine Sachen in seiner Schultasche, erhob sich und streckte sich. Jetzt brauchte er erst einmal ein ordentliches Mittagessen. Er sah sich um. Kai war bereist mit dem ersten Ton der Schulglocke aus dem Klassenraum verschwunden. Er selbst wartete noch kurz auf Tala, dann machten sie sich auf den Weg zur Spesesaal.
 

„He, Ray!“ Er und Tala blieben knapp vor der Treppe zum Erdgeschoss stehen und drehten sich um. Hilary und Julia kamen den Gang auf sie zugeschlendert. „Was gibt’s?“

Die beiden Mädchen blieben stehen und strahlten Ray an. „Wir wollten dich nur beglückwünschen, Ray.“

Der Chinese starrte sie perplex an. „Beglückwünschen? Wofür? Hab ich etwas gewonnen?“

„Nun ja“, meinte Hilary und stieß ihm mit viel sagendem Blick den Ellbogen in die Seite. „Wir haben gerade von deinem kleinen ‚Unfall’ gehört. Du und Kai, ihr bringt die Gerüchteküche ja ordentlich zum kochen.“

Diese Worte schienen nun auch Talas Interesse zu wecken. „In wiefern genau?“

Hilary grinste den Rothaarigen an. „Weißt du, da kommen ein paar spezielle Fragen in dem Zusammenhang auf.

Was ist zwischen den beiden? Warum sehen sie sich so an? Warum streiten sie so oft? Ist da mehr zwischen ihnen?

Bei dem letzten Satz schien Tala sichtlich überrascht und Ray klappte der Mund auf. „M-mehr?!“ stotterte der Schwarzhaarige konfus und sichtlich aus der Fassung gebracht. „Kai und ich?“

Tala grinste. „Ray, mach den Mund zu, das sieht nicht intelligent aus, geschweige denn charmant.“

„Aach ja?!“ Ray versuchte verzweifelt seine Fassung zurückzuerlangen. „Ihr - ihr glaubt allen Ernstes, dass Kai und ich -?! Habt ihr sie noch alle?! Zwischen uns ist nichts, verdammt noch mal!“ Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. „Tala, hör auf so zu grinsen! Ihr seht es doch selber, wir streiten uns dauernd. Wir können uns nicht leiden. Wir meiden uns, so gut es geht. Ach, lasst mich doch in Ruhe!“, fauchte er, wandte sich um und schritt erhobenen Hauptes die Treppe hinab. Doch er hätte wahrscheinlich besser daran getan, darauf zu achten, wo er hintrat. Während er dabei war, Tala, Hilary und Julia innerlich zu verwünschen und ihnen auf Chinesisch einige kreative Spitznamen zu geben, verfehlte er eine der Stufen, strauchelte und fiel zum zweiten Mal an diesem Tag dem Boden entgegen. Noch im Fall weiteten sich seine Augen vor Schreck und Horror, als er die Person erkannte, die in diesem Moment im Erdgeschoss die Treppe passierte. >Oh Gott, nein!<

Kai war auf dem Weg zu seinem nächsten Kurs, durchquerte einen der Gänge im Erdgeschoss, als er einen warnenden Ruf von der Seite vernahm. „Achtung!“

Sein Kopf ruckte nach rechts, seine Augen weiteten sich erstaunt. Ein weiterer Ruf erklang, nicht von ihm. Er kannte die Stimme gut. „Woah!“

Das Nächste was er spürte, war ein schweres Gewicht, das ihm unmittelbar traf und nach hinten warf. Unsanft machte er Bekanntschaft mit dem Flurboden, das Gewicht noch immer auf sich. Stöhnend öffnete er die Augen. Was bei allen Göttern war das gewesen?! Er hob den Kopf an und langsam wanderte sein Blick an sich hinab. „Oh, nein.“ Er fasste sich mit der Hand an die Stirn und ließ seinen Kopf zurücksinken. „Womit habe ich das verdient? “

Ray kniff die Augen krampfhaft zusammen und wartete auf den Aufprall, der folgen musste, doch blieb dieser aus. Verzweifelt kniff Ray die Augen noch fester zusammen und hoffte, dass die alte Methode ‚Ich seh dich nicht, also siehst du mich auch nicht’ wenigstens in dieser Situation zutreffen würde. Doch als er das entnervte ‚Oh nein.’ Des anderen vernahm, wusste er, dass es diesmal nicht funktioniert hatte. Jetzt wusste er, wer seinen harten Aufprall auf den Boden verhindert hatte. Erneut verhindert hatte.

Zaghaft öffnete er die Augen, wusste, dass er sich stellen musste, und sah auf. Er zuckte leicht zurück, als er sich unmittelbar Kais ernst funkelnden Rubinen gegenübersah. Er erwartete schon angespannt das Donnerwetter, das nun kommen musste, doch genau wie der Aufprall eben blieb dies aus. Stattdessen starrte Kai ihn nur unverwandt an. Und Ray starrte zurück.

Sekunden vergingen, dann durchbrach Kai die Stille. „Du scheinst es heute wohl auf mich abgesehen zu haben, kann das sein?“, stellte er kühl fest, woraufhin der Chinese gegen seinen Willen leicht errötete. Rasch sah der Schwarzhaarige zur Seite, stutzte und sah sich, mittlerweile feuerrot im Gesicht, um. Zu seinem Entsetzen registrierte er nun, dass zum zweiten Mal an diesem Tag alle Blicke auf sie gerichtet waren.

Hastig entfernte er sich von Kai, auf dem er, wie ihm in diesem Moment siedendheiß bewusst wurde, die ganze Zeit gelegen hatte und rappelte sich auf. „Tut mir leid“, nuschelte er mit gesenktem Blick.

Kai folgte seinem Beispiel und richtete sich langsam auf. Er straffte die Schultern, dann wandte er sich ab, ließ Ray einfach stehen. Dieser blickte ihm verwirrt hinterher, war die Reaktion des Russen doch gänzlich gegen seine Erwartung verlaufen, dann sah er sich auf dem Flur um und wurde sich der Tatsache bewusst, dass nun, da Kai nicht mehr anwesend war, ausnahmslos alle Blicke auf ihn gerichtet, waren, ganz so, als verlangten sie nach den Antworten, die Ray momentan nicht fand.

Erneut verstärkte sich die Röte auf seinen Wangen und schließlich machte auch er auf dem Absatz kehrt und flüchtete. Vergaß dabei, dass Hilary und Julia noch immer wartend am oberen Ende der Treppe standen und ihm mit den Blicken interessiert folgten, wobei Tala neben ihnen stand sich ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte, während er einen Gegenstand in seiner Schultasche verschwinden ließ.
 

Mit einem dumpfen Knallen fiel die Zimmertür hinter den Chinesen ins Schloss. Er glitt an dem Holz hinab und vergrub frustriert den Kopf in den Händen. Warum zum Teufel immer er?!



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Kommentare zu dieser Fanfic (59)
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Von:  MiyaKamiya
2009-09-09T17:36:07+00:00 09.09.2009 19:36
Wow.
Die FF ist einfach nur klasse....

ich war völlig gebannt
*hat alles am Stück durchgelesen*

Deine Art die ganzen Szenen zu beschreiben ist wahnsinnig unterhaltsam^^

und oho, Tala hat ein Foto gemacht?
(nehm ich mal an)
^^

ich hoffe ich kann mich bald am nächsten Kapitel erfreuen^^

lg
yuki
Von:  -akame-
2009-08-09T23:09:02+00:00 10.08.2009 01:09
omg!! xDDD
ich find die ff einfach nur großartig xD
ich mag deinen schreibstil
und zu lachen is auch reichlich da xDDDDDDDDDDDDDD

ich hoffe es geht bald weiter :3
obwohl das letzte kappi vor über nem halben jahr geuploaded wurde ^^"
ich würde mich auf jeden fall freuen <3
Von:  Shane-
2009-03-30T17:54:53+00:00 30.03.2009 19:54
Hey hey. Ich habe deine FF nicht vergessen. Nur heute leider erst festgestellt, dass es ein neues Kapitel gibt.^^
Freut mich, dass die FF nicht auf Eis gelegt ist, denn sie ist einfach immer noch total spitze! Bitte bringe sie noch zu Ende! Nicht aufhören, ich mag deinen Stil echt gern! ^-^
lG: Xx-Kanon-xX (Früher: Dark_Sayuki) ^^
Von:  melody_neko
2009-01-26T18:35:50+00:00 26.01.2009 19:35
oah, was ist das jetzt wieder für ein mysteriöser gegenstand?!
das macht mich jetzt WAHNSINNIG, bis du das schreibst... >.<"
Von:  Fye-chan
2009-01-25T19:46:56+00:00 25.01.2009 20:46
Erste :D
also, ich lese es... gerne sogar, falls es dich beruhigt xD
aber ohoh, das schicksal verarscht die beiden jawohl schon mal n bisschen sehr, oder? :D naja, also nciht, dass ich was dagegen hab...xD *dem schicksal nen kuchen hinstell und es bitte, so weiter zu machen* :D
Aber kann sowas nicht mal passieren wenn sie alleine sind? xP Hätte doch mal was :D
Ne, also, ich will dir da gar nicht reinreden! Ich hoffe nur, dass es sehr schnell weitergeht, bin nämlich echt gepannt!
Ist aber wirklich super geschrieben ;)
Lg, Fye-chan <3
Von:  Vergangenheit
2008-02-12T17:38:28+00:00 12.02.2008 18:38
Tut mir leid, dass der Komm so lange auf sich warten ließ. Ich habe dich nicht vergessen, es gab nur ein paar technische Probleme zu Hause. ^^;

Wir kommen der Sache schon näher. Beide denken nach. Allerdings scheint Rei schon ein Stück weiter zu sein, aber sein Weg war ja auch nicht so lang. Kai musste ja erstmal mit sich und seiner Person ins Reine kommen und der erste Schritt ist getan.

Ich bin sehr neugierig darauf, wie es weitergeht. Wie Kai sich entwickelt, ob er irgendwann auch Yuriys Freundschaft erkennt und anerkennt und wann er und Rei es schaffen, den nächsten Schritt zu machen.

Mir gefiel Kais Erinnerung an die Katze. ^^ Es war so typisch Katze, am nächsten Morgen einfach fort zu sein. Ich liebe Katzen sehr und deine Darstellung war zwar wenig romantisch aber dafür realistisch.

Ich hoffe, du lässt uns nicht so lange auf das nächste Kapitel warten.

ByeBye
BlackSilverLady
Von:  Shane-
2008-02-10T22:11:15+00:00 10.02.2008 23:11
Das Kapi ist total schön geworden. Kai tut mir total leid! Und die Situation zwischen ihm und Ray wird auch immer spannender. Einfach nur total süß! Ich mag deinen Schreibstil sehr gern! ^-^
mach schnell weiter!
*gespannt ist*

mfg: Sayuki^^
Von: abgemeldet
2008-02-10T20:26:02+00:00 10.02.2008 21:26
Ich habe mich sehr über dieses Kapitel gefreut!
Es hat mir auch wirklich gut gefallen!
Ich freue mich schon sehr auf die Fortsetzung!

Bye

Minerva
Von: abgemeldet
2008-02-10T19:50:21+00:00 10.02.2008 20:50
Kai hatte wirklich keine einfache Kindheit, das wissen wir alle...
Hast du toll geschrieben, nur manchmal am Anfang hat es kleine Tippfehler ^^
Ich hoffe es kommt bald ein 8. Kapitel...
bye
Von: abgemeldet
2008-02-09T21:43:20+00:00 09.02.2008 22:43
Hi!

Ich bin total von dieser Geschichte begeistert!

Dein Stil ist angenehm und fließend.
Die Charaktere sind dir sehr gut gelungen und gefallen mir.

Es ist schön, Ray nicht als "verweiblichte Heulsuse" zu sehen, sondern als "richtigen Kerl", wenn du verstehst was ich meine^^!

Kais Vergangenheit ist rührend und ich bin gespannt, wie der junge Russe auf zärtliche Berührungen reagieren wird.
Wahrscheinlich äußerst scheu und verletzlich, aber ich finde das auch sehr süß.
Kai ist nicht unbedingt ein Charakter der bei KaixRay immer "der Starke" sein muss.

Ich finde das so viel besser!

Die Dialoge zwischen den beiden Protagonisten sind göttlich!
Es ist ein Genuss sie zu lesen!

Alles in allem: Ich bin einfach begeistert und hoffe, dass bald die Fortsetzung kommt!

Bye

Minerva


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