Das Wiedersehen
„Michael Parker?“, fragte Leo etwas verdutzt, als er auf den gut aussehenden
Mann in seinem Alter stieß, der mit einer brünetten, jungen Frau dort saß, wo
Kai Hiwatari auch ihn und Spencer hinbestellt hatte. Es war ein Büro der
BioVolt – in sämtlichen großen Städten der Welt war die BioVolt mittlerweile
vertreten.
Michael war etwas verdutzt. Er war es gewohnt, auf der Straße erkannt zu
werden, aber dieser Mann kam ihm irgendwie bekannt vor... Als Spencer
ebenfalls durch die Tür hineinkam, fiel es ihm wieder ein. Der zierliche Mann
war nur flüchtig bekannt. Das einzige, was man über ihn wusste, war dass er
Spencer Petrov auf Schritt und Tritt folgte.
Spencer sah Michael etwas geringschätzig an. „Sonst niemand hier?“, fragte er.
„Ich wusste gar nicht, dass du Spencer Petrov kennst!“, strahlte die brünette
Frau ihren Mann an. Sie ging auf Spencer zu. „Ich bin Sara Parker“, stellte
sie sich begeistert vor.
Michael runzelte die Stirn.
„Ich bin Leonard Braun“, stellte sich Leo jetzt ebenfalls vor. „Ihr könnt mich
ruhig Leo nennen.“ Seinen ganzen Namen hatte er deutsch ausgesprochen, während
sein Spitzname englisch klang. Auch seine einwandfreie englische Aussprache
ließ darauf schließen, dass er schon seit mehreren Jahren mehr Englisch als
seine Muttersprache sprach. Mit seinem freundlichen Lächeln und der Tatsache,
dass er ihnen seinen Spitznamen genannt hatte, hatte er festgelegt, dass die
vier sich untereinander duzen sollten, was Spencer und Michael, die es nicht
für nötig hielten, sich vorzustellen, da ihre Namen bereits gefallen waren, ja
eh schon taten.
„Sara ist meine Frau“, lächelte Michael stolz.
Sara war wirklich eine Frau, mit der man sich sehen lassen konnte. Mit ihren
langen, braunen Haaren, die glatt über ihre Schultern fielen, und den
sanftmütigen, rehbraunen Augen, war sie eine wahre Schönheit. Und sie strahlte
eine unglaubliche Sanftheit aus. Eine bessere und geduldigere Mutter für seine
Kinder hätte Michael seiner Meinung nach nicht finden können. Nirgendwo.
„Leo ist mein Lebensgefährte“, erklärte Spencer das Verhältnis zwischen ihm
und dem jungen Mann.
„Oh“, machte Michael überrascht. „Du bist schwul?“ Er konnte sich ein
amüsiertes Grinsen nicht verkneifen. „Ausgerechnet du?“ Er hielt sich die Hand
vor den Mund, so als wolle er nicht, dass sein Gegenüber sein Grinsen sah.
„Sorry, dass ich grinse“, murmelte er. „Aber das ist echt... überraschend.“
„Ich hätte auch nie gedacht, dass ausgerechnet du schwul bist“, meinte Sara
fassungslos und starrte Spencer an, als habe er ihr soeben mitgeteilt, er
würde sich zur Ruhe setzen und nie wieder einen Film drehen – was für sie als
Fan schrecklich gewesen wäre!
„Neidisch?“, grinste Leo sie frech an.
Michael zog eine Schnute und blickte beleidigt zur Seite.
Sara kicherte. „Quatsch“, meinte sie amüsiert und legte ihren erschrockenen
Gesichtsausdruck ab. „Aber warum wussten wir das nicht? Bei so berühmten
Leuten weiß man doch, wenn sie schwul sind. Das muss doch Schlagzeilen geben!“
„Nö“, meinte Spencer lässig. „Mir wird eh nachgesagt, dass ich etwas
exzentrisch bin, also kann ich es mir erlauben, mich nur von einem einzigen
Kamerateam filmen zu lassen. So fällt es nicht auf, dass er überall da ist, wo
ich bin.“
„Warum outest du dich nicht öffentlich?“, fragte Michael erstaunt. „Das gibt
doch verdammt gute PR.“
„Aber es ist stressig“, meinte Spencer. „Wenn es irgendwie mal an die
Öffentlichkeit kommt, ist es okay. Aber das muss man ja nicht provozieren...“
„Von dir weiß man ja auch nicht, dass du verheiratet bist“, setzte Leo
ergänzend hinzu.
„Wir haben zwei kleine Töchter.“ Michael lächelte versonnen. „Und für die
beiden wäre es wohl alles andere als schön, ständig im Mittelpunkt zu stehen,
nur weil sie einen berühmten Daddy haben.“ Er warf Sara einen liebevollen
Blick, der mit einem Lächeln erwidert wurde, zu.
„Kinder?“, fragte Leo begeistert. „Sind die auch hier?“ Er sah sich in dem
recht großen Raum um, konnte jedoch nirgends Kinder entdecken.
„Nein, wir haben sie bei unserer Nachbarin gelassen“, sagte Sara und wühlte
ihrer Handtasche. „Aber ich habe Fotos dabei.“ Während Spencer sich auf den
Sessel, der der Couch, auf der Michael saß, gegenüberstand, setzte, zog Sara
ihr Portmonee aus ihrer Hantasche und klappte es auf. Sie zog zwei Bilder
heraus. „Das hier ist Lisa“, stellte sie das rotblonde Mädchen vor. „Und die
Kleine hier“, sie deutete auf das blonde Engelchen, „ist Jolie.“
Leo besah sich die Bilder begeistert. „Die sind ja total süß“, lächelte er
verzückt. „Diese Kulleraugen und... Ohh... Dieses niedliche Lächeln.“ Er
strahlte förmlich. „Lisa sieht ja ihrem Daddy ähnlich, aber Jolie hat dein
Gesicht. Die wird bestimmt mal eine richtige Schönheit!“
Sara errötete leicht. „Danke“, murmelte sie verlegen.
Michael und Spencer warfen sich über Tisch, der zwischen ihnen stand, hinweg
belustigte Blicke zu. Sie hatten scheinbar schon vergessen, dass sie sich vor
wenigen Minuten noch missbilligend gemustert hatten und dass sie schon seit
Jahren miteinander befeindet waren. Nicht dass sie es jemals offen zum
Ausdruck gebracht hätten... Aber wegen den Geschehnissen in ihrer Jugend
hatten sie eigentlich immer mit einer gewissen Distanz über den jeweils
anderen gedacht, wenn er gerade im Fernsehen zu sehen war, was ja bei beiden
oft vorkam. Spencer hätte niemals zugegeben, dass er Michaels freche Sprüche
richtig lustig fand, während Michael stets behauptete, er würde Spencers Filme
nur sehen, weil seine Frau ihn dazu drängte.
Aber auf einmal waren all diese Gedanken verschwunden, während Leo Sara Fotos
von seinen Neffen zeigte, die in Deutschland wohnten.
Plötzlich öffnete sich die Tür, vor der eine Sekretärin darüber wachte, dass
niemand, der sich nicht als einer derjenigen, die Kai Hiwatari erwartete,
ausweisen konnte, den Raum betrat.
„Spencer?“, fragte Tala verdutzt und lächelte dann breit. „Mein Gott, du
siehst gut aus!“ Er hatte schon seit Jahren keinen Kontakt mehr zu Spencer,
weshalb er in der Tür stehenblieb und ihn einfach nur anstarrte.
„Tyson!“, strahlte Michael und sprang auf, um auf Tyson zuzulaufen und ihn
kräftig in den Arm zu nehmen. „Wie toll, dich zu sehen!“ Als er Tyson zur
Couch zog, folgte Tala den beiden und setzte sich ebenfalls auf einen der
Sessel.
„Hallo, Tala“, meinte Spencer etwas verlegen.
„Das sind Sara und Leo“, stellte Michael die beiden anderen vor. Dann deutete
er auf die beiden Neuankömmlinge. „Und hier sind Tyson und Tala.“
„Die beiden haben ihre Ehefrauen nicht mitgebracht“, stellte Leo, der auf
weitere Saras gehofft hatte, enttäuscht fest.
„Weil wir keine haben“, meinte Tala etwas verdutzt und warf Spencer einen
fragenden Blick zu. Er schien sich zu fragen, was Leo hier machte. Genau wie
Sara. Was wollten die beiden hier?
„Ich habe aber eine Verlobte“, erzählte Tyson begeistert und zog sein
Portmonee heraus, um ihr Foto zu suchen. „Das ist Alissa.“ Er reichte Sara das
Bild.
Michael und Spencer grinsten sich wieder gegenseitig an.
„Die ist aber hübsch“, fand Sara und zeigte Leo das Foto. „Schön, nicht wahr?“
„Und wie!“ Leo nickte anerkennend. „Ihr beiden passt bestimmt gut zueinander!“
„Tala hat auch eine“, setzte Tyson hinzu und zog ein weiteres Foto hervor, auf
dem seine Verlobte und eine andere junge Frau, die genau wie Alissa die Tracht
einer Krankenschwester trug und kokett in die Kamera lächelte, zu sehen waren.
„Was?“, fragte Tala verdutzt und versuchte einen Blick auf das Foto zu
erhaschen, das Tyson jedoch sofort an Sara weiterreichte.
„Das ist Svenja“, stelle Tyson vor. „Sie ist toll, nicht wahr?“
Leo nickte anerkennend.
„Hee!“, beschwerte sich Tala. „Ich habe nichts mit Svenja!“ Er warf Tyson
einen vorwurfsvollen Blick zu.
„Musst dich doch nicht schämen“, feixte Tyson. „Aus dem Alter sind wir doch
raus!“
Michaels Frage, ob die beiden sich tatsächlich miteinander angefreundet
hatten, ging in dem Gelächter um ihn herum unter.
Als Kai, Bryan, Nikolai und Alana nach einigen Stunden in den reservierten
Raum traten, war dieser leer. Entsetzt starrte Kai auf die leere Couch, wo er
eigentlich die anderen ehemaligen Beybladeprofis erwartet hatte, doch niemand
war hier. Was, wenn sie auch entführt worden waren?
Er stürzte zurück in den Vorraum zu der Sekretärin. „Wo sind sie hin?“, fragte
er aufgeregt.
„Sie wollten zusammen etwas essen gehen“, entschuldigte sich die Frau. „Ich
habe versucht, sie dazu zu bringen, sich etwas herzubestellen, aber sie
wollten unbedingt in ein Restaurant.“
„Und in welches?“, fragte er hitzig.
„Nicht wichtig“, tönte plötzlich ein Stimme. „Wir sind wieder hier!“
„Johnny!“, rief Kai entsetzt, als ihm ein rothaariger, junger Mann
entgegentorkelte und sich dann auf einen Stuhl, der vor dem Büro stand, sinken
ließ.
„Du verträgst aber auch gar nichts“, machte sich Tyson über den Schotten
lustig. Er ging, selbst nicht mehr sehr fest auf den Beinen, Kai entgegen und
fiel ihm um den Hals. „Kai, ich hab dich ja sooo vermisst!!“
Kai stieß ihn von sich und starrte ihn entsetzt an. „Ihr habt euch besoffen?“,
fragte er entgeistert, als er auch die anderen Personen ausmachen konnte.
„Ich nicht!“, kam es von einem brünetten, jungen Mann, der sich aus der Menge
löste und wichtig machte: „Ich trinke ja generell nicht. Und ich habe ihnen
allen gesagt, sie sollen nicht so viel trinken, aber auf mich wollte ja mal
wieder niemand hören!“ Er seufzte resignierend. „Aber das bin ich ja schon
gewohnt... Warum hört bloß nie jemand auf mich?“ Er trank einen Schluck aus
der Flasche, die er in der Hand hielt.
Kai hob eine Augenbraue. Wie konnte jemand so dämlich sein, zu behaupten, er
trinke nicht, und sich dann zur Unterstützung seiner eigenen Worte besaufen?
Bryan warf Kai einen irritierten Blick zu.
„Sei doch mal still, Leo“, jammerte Tyson. „Du nervst!“
„Sagst gerade du“, grinste Tala belustigt. Er schien von den hier Anwesenden
am klarsten zu sein, wenn man von der jungen Frau, die neben Michael stand,
absah.
„Ähm... Ihr habt euch also gemeinschaftlich besoffen?“, stellte Kai
schließlich fest.
„Jau!“, nickte Michael ernst, wofür er sich einen Knuff in die Seite von
seiner Frau einfing.
Kai verdrehte resignierend die Augen.
„Und was machen wir jetzt?“, fragte Bryan etwas hilflos.
Tala knickte plötzlich ein, legte sich auf den Boden und... schlief ein! Von
wegen, am klarsten...
Kai verzog kritisch das Gesicht. „Naja“, murmelte er. „Sehe ich so aus, als
müsste ich öfter solche Situationen meistern?“
„Es ist schon spät, wir könnten ins Bett gehen“, schlug Bryan vor.
„Etwas anderes bleibt uns vermutlich nicht übrig“, ärgerte sich Kai. „Selbst
als Teenagern hätte ich ihnen mehr Vernunft zugetraut!“
„Hm“, machte Bryan leidend. „Ich hatte eigentlich gehofft, wir könnten sofort
anfangen, nach Verbindungen zwischen Ian und Max zu suchen. Ich mache mir
richtige Sorgen, weißt du...“
Kai nickte leicht. „Ja, ich auch“, murmelte er. „So ein Mist!“
Michaels Frau hatte sich mittlerweile von der Gruppe gelöst und zu Alana
gestellt. Vorwurfsvoll blickte sie in die Runde. Scheinbar war sie wirklich
gegen dieses Besäufnis gewesen.
Johnny und Tala schliefen ruhig und selig, Michael und Tyson knufften sich
grundlos gegenseitig und Leo trank, während Spencer, der hinter ihm stand,
sanft über seinen Hals streichelte.
„Wo schlafen wir eigentlich?“, fragte Bryan.
Auf einmal sympathisierten er und Kai ebenfalls automatisch. Es war
erstaunlich, dass die beiden Männer, die sich den ganzen Flug über darauf
gefreut hatten, bald endlich auf andere alte Freunde zu treffen, plötzlich
wieder freundlich miteinander sprachen. Vermutlich, weil sie beide verärgert
waren. Und nicht nur verärgert. Auch wenn sie beide es gut hinunterspielen
konnten, waren sie doch stocksauer.
„In einem Hotel“, meinte Kai gepresst.
Bryan wollte gerade fragen, wie weit dieses Hotel denn entfernt sei, als
Spencer plötzlich auf Nikolai aufmerksam wurde und belustigt anmerkte: „Guck'
mal, der Niggerjunge sieht aus wie Jim Knopf!!“
Bryan starrte ihn fassungslos an. Hatte Spencer gerade tatsächlich abfällig
von seinem Sohn geredet? Er stellte sich schützend vor Nikolai. „Und die
Schwuchtel neben dir wie Marilyn Monroe!“, fauchte er aggressiv zurück. Ihm
war nicht entgangen, wie Spencer den jungen Mann bei sich anfasste. Aber er
hatte nichts gesagt. Er war ja tolerant. Und gerade Spencer hätte eigentlich
ebenfalls tolerant sein müssen!
Als Kai sich darüber lustig gemacht hatte, war es Bryan egal gewesen. Er hatte
schließlich nie sonderlich viel Wert auf Kais Meinung gelegt. Aber jetzt bei
Spencer war es etwas anderes. Immerhin waren sie früher einmal Freunde
gewesen! Und sie hatten eigentlich nie beschlossen, keine Freunde mehr zu
sein. Klar, irgendwann war der Kontakt abgebrochen, aber eigentlich hatte
Bryan immer gedacht, dass Spencer ihn noch immer mochte. Und dann kam so
etwas!
Spencer hatte sich nun ebenfalls schützend vor den recht perplexen Leo („Warum
hat mir das vorher niemand gesagt?“) gestellt und funkelte Bryan böse an.
„Wir gehen jetzt“, beschloss Kai ernst. Er konnte es sich nicht leisten, dass
die Situation eskalierte, denn er konnte sich denken, zu was Spencer fähig
war. Bryan hatte nicht den Hauch einer Chance gegen ihn. Aber andererseits
hatte Kai auch schon gemerkt, wie wichtig Bryans Sohn für ihn war.
Dementsprechend hätte sich Bryan vermutlich totprügeln lassen, nur um Nikolais
Ehre wiederherzustellen.
Kai stellte sich mutig zwischen die beiden und packte Bryan dann am Ärmel.
„Komm', Bryan, ich brauche jetzt jemanden, der nicht völlig zu ist und mir
helfen kann, die Idioten hier rauszuschaffen.“