Moralisch vertretbar?
~~~~~
69. Moralisch vertretbar?
~~~~~
~Seto´s Sicht~
Verdammt! Was mache ich hier eigentlich? Und was macht dieser blonde Trottel da eigentlich? Dieser kleine blonde Köter liegt in meinen Armen und lässt sich von mir küssen. Ich hätte erwartet, dass er mich von sich stößt und mir vielleicht auch noch eine Ohrfeige verpasst, aber nicht, dass er sich praktisch um meinen Hals wirft. Ist es wirklich in Ordnung, dass ich die Situation derart schamlos ausnutze? Er ist schwach und praktisch willenlos. Ich könnte mit ihm wirklich alles tun. Ihn demütigen, ihn zerstören, wenn ich es denn wollte. Warum nur macht mir dieser Gedanke Angst? Vertraut er mir wirklich so sehr? Kommt ihm gar nicht in den Sinn, dass er sich mir gerade förmlich ausliefert?
Er versteckt nichts von seinen Gefühlen, seinen innersten Wünschen vor mir. Ich kann in seinen Augen lesen, was er will, was er gerade braucht. Aber bin ich wirklich bereit ihm zu geben, wonach er still verlangt? Kann ich es mit meinem Gewissen vereinbaren, ihn zu wollen, mit allem was er hat und was er nicht hat?
Er ist ein Mann. Er ist der Köter, verdammt nochmal. Ein Idiot. Ein Chaot. Ein Volltrottel. Er ist so anders als ich. So verdammt offen, so durchschaubar. So leichtsinnig, so impulsive. Seine Nähe tut mir nicht gut.
Und doch. Trotz allem kann ich ihn nicht von mir stoßen und zieh ihn stattdessen noch ein wenig dichter. Ich spüre die Verbände unter seinem Jogginganzug, seine Gipshand in meinem Nacken, sein Gipsbein über meinem Oberschenkel, seinen Kopfverband an meiner Stirn.
Und ich schiebe ihn nun doch ein Stück von mir fort, so dass ich den Kuss unterbrechen und ihn stattdessen genau ansehen kann.
Seine Augen sind glasig, seine Wangen gerötet, sein Mund glänzt feucht, seine blonden Haare sind zerzaust, seine Augenbrauen leicht zusammengezogen, als würde er angestrengt nachdenken und nach Worten suchen, die diese ganze Situation entschärfen oder erklären.
„Du solltest noch eine Weile versuchen zu schlafen.“, höre ich mich selbst sagen. Er öffnet den Mund, vermutlich um zu protestieren, doch ich schüttle den Kopf. „Alles weitere klären wir, wenn Du wieder gesund bist. Alles andere würde nur dazu führen, dass wir es bitter bereuen.“
Ich kann förmlich die Enttäuschung in seinen Augen lesen, ohne dass er ein Wort sagen muss. Aber, wenn ich es nicht hier und jetzt beenden würde, würde diese Nacht mit Sicherheit in die Geschichte eingehen als die Nacht, in der Seto Kaiba die Kontrolle verliert und sich an einem hilflosen, willenlosen und vor allem verletzten Volltrottel vergreift. Es wäre eine moralische Fehlentscheidung.
Ich seufze niedergeschlagen und streich dem blonden Köter durch die zerzausten Haare.
„Du bist definitiv momentan nicht in der Lage, klar zu denken und ich scheinbar ebenso wenig. Die letzten Tage haben uns hart zugesetzt, Dir vermutlich mehr als mir und scheinbar fühlen wir uns stressbedingt zueinander hingezogen. Die eine Möglichkeit wäre, es einfach laufen zu lassen, doch was passiert, wenn wieder Ruhe eingekehrt ist? Wenn der Stresspegel sich gesenkt hat? Tun wir dann so, als wäre nie etwas passiert?“, frage ich, er senkt niedergeschlagen den Blick und schüttelt den Kopf.
„Das will ich nicht.“, flüstert er und wirft mir einen beinahe traurigen Blick zu. Sekundenlang spiele ich mit dem Gedanken, ihn wieder an mich zu ziehen, doch ich zwinge mich dazu, es nicht zu tun.
„Das ist auch nicht das, was ich will. Auch wenn ich noch nicht genau weiß, was genau ich eigentlich will. Ich weiß, dass es kein schnelles Abenteuer im Eifer des Gefechts ist, was ich suche. Und außerdem muss ich mich erst einmal mit dem Gedanken anfreunden, dass....“, versuche ich zu erklären, doch der kleine Köter unterbricht mich.
„...dass ich ein Kerl bin und Du mich scheinbar trotzdem willst.“, flüstert er und seine Mundwinkel zucken verdächtig, als müsse er mit aller Gewalt ein Grinsen zurückhalten.
Ich streiche mir unsicher eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht und nicke leicht.
„In der Tat.“, antworte ich, seine Mundwinkel zucken stärker und seine Augen scheinen amüsiert zu funkeln.
„Geht mir auch so.“, meint er und zuckt mit den Schultern. „Ist wohl wirklich besser, wenn wir warten, anstatt gleich über einander herzufallen wie wilde Tiere.“
„Ganz der Köter, wie ich ihn kenne. Obwohl Du momentan eher mit einem hilflosen Schoßhund vergleichbar bist.“, spotte ich, zornig ziehen sich seine Augenbrauen zusammen.
„Hey, ich bin nicht hilflos und ein Schoßhund schon gar nicht.“, mault er mich beleidigt an und verschränkt etwas umständlich seine Arme, was ihn in meinen Augen nur noch hilfloser erscheinen lässt. Er sieht so verletzlich aus mit seinem Gipsarm und dem Kopfverband.
Ich drücke leicht gegen seinen Brustkorb, er kippt sofort nach hinten weg, völlig kraftlos.
„Du bist hilflos.“, sage ich bestimmt, beuge mich über ihn und drücke ihn an den Schultern auf die Matratze meines großen Bettes.
„Bin ich nicht.“, flüstert der Köter mit einem Hauch von Panik in der Stimme.
„Dann wehre Dich doch. Köter.“, sage ich, mein Gesicht schwebt ganz nah über seinem, seine Augen weiten sich kurz, schließen sich jedoch nur wenige Atemzüge später.
„Ich kann nicht.“, antwortet er. Meine Lippen berühren seine fast. Ich kann seinen heißen Atem spüren.
„Warum nicht?“, hauche ich ihm entgegen, ein Zittern geht durch seinen Körper und seine geschlossenen Augenlider zucken leicht.
„Weil ich nicht will.“, haucht er zurück, seine Augen öffnen sich und er sieht mich mit einem Blick an, der mein Blut zum Kochen zu bringen scheint und in tiefere Regionen schickt, wo es dann zu pulsieren beginnt. „Weil ich Dich will.“
Mit meiner letzten Willenskraft schaffe ich es, mich von seinem Blick und von ihm zu lösen, ohne ihm die Kleidung vom Leib zu reißen. Fast fluchtartig springe ich aus dem Bett und dreh ihm den Rücken zu, damit er mein großes Problem nicht sofort sieht.
„Verfluchter Köter! Legst Du es wirklich darauf an, dass ich Dich hier und jetzt vergewaltige?“, fluche ich aufgebracht und versuche tief durchzuatmen, um mich wieder unter Kontrolle zubekommen. „Schlaf jetzt. Ich schlaf auf der Couch da hinten. Alles weitere klären wir später, verstanden?“
Ich warte seine Antwort nicht ab, zieh mir einfach mein Kopfkissen und meine Bettdecke vom Bett und marschiere missmutig in Richtung Couch am anderen Ende meines Schlafzimmers, das noch immer pulsierende Problem meiner unteren Körperhälfte ignorierend.
„Seto.“, höre ich ihn flüstern und eine Gänsehaut breitet sich auf meinen Armen aus, während ein kalter Schauer meinen Rücken hinunter jagt.
Ich widerstehe dem Impuls, mich zu ihm umzudrehen und geh ohne sichtbare Reaktion oder Kommentar direkt zur Couch, werfe mein Kissen auf die linke Armlehne, lege mich mit dem Gesicht zur Rückenlehne auf die Couch, deck mich zu und zieh mir die Decke bis über den Kopf.
Der Köter wird etliche Tage, nein Wochen, vermutlich sogar Monate in meiner Villa verbringen, wenn es nach Mokuba geht.
Wie zum Teufel soll ich das aushalten, ohne über Joseph Wheeler herzufallen?
~~~~~