Uncertainty
Daitenjis Besuch ist keine sieben Stunden her.
Rei sitzt neben mir am Fenster im Flugzeug und starrt regelrecht nach draußen. Er war nicht in der Verfassung gewesen sich mit unserem Manager zu unterhalten – durchaus verständlich. Also hatte dieser uns die Lage erklärt und ich hatte Rei später alles unter zwei Augen noch einmal erzählt. Und zwar wirklich nur das, was für diesen auch von Bedeutung war. Er hatte immer nur leicht abwesend genickt, aber nichts dazu gesagt.
Wir hatten erfahren, das Rei noch eine größere Stiefschwester namens Yui besaß und eine Großmutter, die allerdings an fortgeschrittenem Alzheimer litt und somit außer Frage kam den Vormund für ihn zu übernehmen. Yui kam also als einzige in Frage. Sie war eine Tochter aus erster Ehe von Reis Vater und nun schon 24 Jahre alt. Da sie damals bei ihrer Mutter geblieben war, kannte dieser sie überhaupt nicht und hatte somit jetzt einen völlig fremden Menschen zum Vormund – falls diese den überhaupt übernehmen wollte.
Sie würde auch Reis Anteil an seinem Erbe verwalten, bis dieser volljährig würde. Eigentlich eine reine Formsache für diese kurze Zeit. In meinen Augen einfach unnötiger Stress für Rei. Seufzend betrachte ich den Chinesen unauffällig von der Seite. Was wohl in seinem Kopf vorgehen mag? Von außen her gesehen wirkt er gefasst, gerade zu, als wäre gar nichts passiert. Doch seine linke Hand, die sich etwas mehr als nötig in den Stoff seiner Hose krallt, seine leicht unregelmäßige Atmung und das leise Schniefen verraten mir, das er momentan mit aller Kraft versucht weitere Tränen zurück zu halten. Kurz hebe ich die Hand, will ihn irgendwie beruhigen, etwas sagen – doch kein Wort verlässt meine Lippen und ich drehe mich statt dessen leicht weg von ihm.
Mizuhara, Takao und Kyōju, die im Mittelgang des großen Flugzeuges sitzen, benehmen sich wohl das erste Mal seit ich sie kenne gerade zu unauffällig. Alle drei versuchen sich mit etwas zu beschäftigen… Takao hört Musik, Kyôjyu versucht zu schlafen und Mizuhara liest weiter in seinem Buch – nur habe ich das Gefühl, das dieser seit dem Start noch nicht eine einzige Seite umgeblättert hat. Unruhig wende ich mich nun doch wieder Rei zu, der die Augen inzwischen geschlossen hat. Bevor ich noch einmal vorher über meine Handlungen und deren Folgen nachdenken kann lege ich meine Hand leicht auf die seinige, die sich immer noch in seine Jeans krallt und drücke sie ganz leicht. Etwas überrascht blickt er mich daraufhin an, schlisst jedoch gleich wieder seine Augen, in denen ich in diesem kurzen Augenblick Tränen schimmern sehen konnte. Gerade will ich die Hand wieder zurückziehen, da mich nun doch wieder dieses unschöne Gefühl der Unsicherheit plagt, da sehe ich, wie Rei ein stummes ‚Danke’ mit den Lippen formt. Ich lächle leicht. Auch wenn Rei nicht um Hilfe bittet – er braucht sie und ich werde ihm so viel davon geben, wie ich kann.
Abwesend blicke ich an ihm vorbei aus dem kleinen Fenster, doch mit dem Gedanken bin ich bei Rei. Seine Hand ist warm und ich muss mich zurückhalten, um nicht dorthin zu starren. Ich weiß ganz genau, dass dies nicht der Augenblick ist um an seine eigenen Gefühle zu denken – oder an seine Probleme. Aber ich kann mich dagegen nicht währen. Allein diese kleine Verbindung zwischen uns lässt mein Herz einen Tick schneller schlagen und meine Gedanken in Richtungen wandern, in die sie jetzt definitiv nicht gehören.
Meine Sorgen sind gegenüber Reis ohne Frage absolut unbedeutend und sollten mich in keinster Weise ablenken, doch so ist das eben mit den Gefühlen - sie hören nicht auf den Kopf... Bevor ich allerdings weiter darüber nachdenken kann, kommt eine Stewardess mit ihrem Servierwagen vorbei. „Vegetarisch oder mit Huhn?“ Sie lächelt mich freundlich an, da Rei die Augen ja noch immer geschlossen hat. „Vegetarisch“ höre ich mich sagen. Eigentlich habe ich nichts gegen Fleisch, nur habe ich schlicht und einfach nicht über meine Antwort nachgedacht. Als ich meine Hand von Reis löse um das Gericht entgegen zu nehmen, öffnet dieser die Augen, blickt erst zu mir, dann zu der Stewardess. „Danke, ich möchte nichts.“ Er versucht sich an einem Lächeln, was aber einigermaßen missglückt. Als die Frau weg ist blicke ich besorgt zu Rei. Gut, das Frühstück ist zwar nicht allzu lange her, aber da er da auch nichts hatte essen wollen, mache ich mir nun doch langsam Sorgen.
Da ich nicht weiß, was ich tun soll, fange ich allerdings trotzdem wortlos an zu Essen, beobachte Rei währenddessen allerdings hin und wieder aus dem Augenwinkel. Als das Essen bei den ersten Fluggästen schon wieder eingesammelt wird, beschließe ich Rei doch irgendwie noch etwas von meiner Mahlzeit anzudrehen. Wortlos halte ich ihm einfach meinen Nachtisch, einen Kirschjoghurt, unter die Nase. Etwas verwirrt blickt er mich erst an, schüttelt dann aber zaghaft den Kopf.
„Bitte – für mich, okay?.“
Bevor ich mich fragen kann, was der Mist soll, den ich hier gerade von mir gebe, lenken mich zwei bernsteinfarbene Opale ab, die mich verwundert ansehen. Kurz öffnet der Chinese den Mund, um etwas zu sagen, lässt es dann aber, schenkt mir ein kaum merkbares Lächeln und nimmt mir dann doch meinen Joghurt ab. Ich muss Lächeln – natürlich so, dass es keiner sieht. Ein Kai Hiwatari bittet niemanden um etwas. Das habe ich früher zumindest einmal gedacht. Doch das ist Vergangenheit – obgleich ich es auch heute sehr selten tue.
Gähnend stecke ich mich und schließe danach die Augen, um ein wenig zu dösen.
Doch nach einiger Zeit spüre ich einen Blick auf mir ruhen und drehe mich zu den anderen dreien. Mizuhara, der mir am nächsten sitzt, lächelt flüchtig, als sich unsere Blicke treffen. Etwas verwirrt runzele ich die Stirn, was jedoch nur mit einem viel sagendem Blick quittiert wird, der mich noch mehr verwirrt. Dann widmet sich der Blondschopf wieder seinem Buch zu. Seufzend beschließe ich Mizuhara später darauf anzusprechen. Hier erscheint mir irgendwie nicht der richtige Ort dafür.
Mit leichter Verspätung sind wir dann auch vor etwa einer halben Stunde endlich in Hong Kong gelandet. Wie immer führte uns unser erster Weg zu der Gepäckausgabe und wie immer scheinen Stunden zu vergehen, bis wir endlich alle unsere Koffer wieder haben. Die ganze Zeit kann ich sehen, wie Rei nervös von einem auf dem anderen Fuß tritt, zwischendurch immer mal wieder ruhiger wird, nur um dann wieder nervös mit seinen Ponyfransen zu spielen. Ich weiß nicht, ob er gespürt hat, dass ich ihn beobachte, aber nun dreht er sich auf einmal abrupt zu mir um und kommt langsam auf mich zu. Kurz vor mir bleibt er stehen. Ich kann sehen, wie er seine Hände in seiner Jacke zu Fäusten ballt. „Kai…“ Seine Stimme klingt schwach und er sieht zu Boden, als ob ihm sein Verhalten unangenehm wäre. „Kannst du mir einen Gefallen tun?“ Verwundert und ohne etwas zu sagen, nicke ich einfach, doch als ich registriere, dass Rei das nicht sehen kann, antworte ich doch noch. „Welchen denn?“
Ich kann hören wie Rei einmal tief Luft holt. „Kannst du mich nachher mit zu Yui und ihrer Familie begleiten? Ich weiß, dass ich da alleine hingehen sollte, aber ich kann einfach nicht...“
Ein kaum wahrnehmbares Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. Reis Vertrauen und dass er gerade mich um diesen Gefallen bittet macht mich in einer gewissen Weise glücklich. „Natürlich“.
~*~
Yui ist...eine seltsame Person.
Als sie die Tür aufmachte dachte ich nur ‚Na Prima, ein chinesischer Punk’, doch entgegen ihres Auftretens hatte sie im Umgang mit Rei viel Feingefühl bewiesen. Das Gespräch verlief eigentlich genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte und darüber war ich unendlich erleichtert. Auch sie sah in der vorübergehenden Regelung bezüglich Reis Erbe und ihrer Rolle als Vormund eine reine Formalität. Schnell hatte sie lieber versucht, Rei ein wenig aus sich heraus zu locken, doch das wollte ihr nicht so wirklich gelingen. Rei hatte fast den ganzen Nachmittag so gut wie nichts gesagt und ich hatte hingegen das Gefühl noch nie so viel ‚freiwillig’ geredet zu haben.
„Und, was macht ihr jetzt?“
Ein wenig verwirrt blicke ich in Yuis, durch Kontaktlinsen blau gefärbte, Augen. „Was meinst du damit?“ Ein kurzer Seitenblick zu Rei bestätigt mir, dass auch er die Frage nicht ganz einordnen kann. „Ich meine, gibt es eine Trauerfeier oder Ähnliches? Wo werdet ihr wohnen? Schließlich war dies zu einem Teil auch meine Familie – auch wenn ich mit ihr nicht viel zu tun hatte.“ Ihre Augen glänzen verräterisch, als sie den Kopf senkt, um ihre in Schwarz und Pink lackierten Fingernägel zu betrachten. Rei senkt den Kopf, blickt einmal kurz zu mir und zuckt etwas hilflos leicht mit den Schultern. „Ich denke das werden wir alle noch von unserem Manager erfahren – auf jeden Fall aber bleiben wir wohl erst mal eine Weile hier.“ Mit einem erneutem kurzen Seitenblick zu Rei fahre ich fort: „Vielleicht sollten wir jetzt auch langsam mal zurück und alles besprechen. Ich rufe an, wenn wir wissen, was jetzt als nächstes passiert.“ Yui nickt nur und lächelt etwas gezwungen.
~*~
Zehn Minuten später gehen Rei und ich schweigend durch die engen Straßen Hong Kongs.
Schon auf dem Hinweg hatten wir fest gestellt, dass unser Hotel ganz in der Nähe von Yuis Wohnung liegt und das man diesen kurzen Weg auch noch durch eine Bilderbuch-Neubausiedlung zurück legen kann, in der keine Autos erlaubt sind, dafür aber umso mehr für die Begrünung getan worden war.
Als das Hotel schon in Sichtweite ist bleibt Rei auf einmal einen Schritt hinter mir stehen. „Was ist?“ Rei lächelt kaum merkbar und gleichzeitig schimmern in seinen Augen erneut Tränen und ohne das ich es bewusst registriere schlisst er auf einmal mit einem Schritt zu mir auf und schlingt seine Arme um meinen Oberkörper, vergräbt dabei sein Gesicht in meiner Halsbeuge. Einige Momente lang habe ich das Gefühl mein Herzschlag müsse seine Ohren taub werden lassen, so schnell und laut schlägt es, doch kaum das ich mir der Situation richtig bewusst werden kann, lässt Rei auch schon wieder von mir ab und blickt mir direkt in meine Augen.
„Ich danke dir – für alles.“
Ohne meinen verblüfften Gesichtsausdruck zu beachten setzt er seinen Weg zu unserem Hotel fort und hinterlässt mich meinem roten Kopf und unregelmäßig schlagenden Herzen. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll...