Blue
Keiner steht hinter mir. Nicht die Gerechtigkeit, die Justitz, das Gesetz, nicht die Polizei.
Eine lästige Kleinkriminelle.
Wieso? Mit mir habt ihr zwischen Mittagspause und Feierabend bisschen was zu tun.
Warum brichst du in Museen ein, klaust mal kleine Kunstwerke oder scheinbar wertlose Gegenstände?
Das kann ich nicht genau sagen. Ich provoziere, ich bin frei.
Freier als Beamte, freier als Mütter.
Kain sieht das ähnlich. Sie ist auch etwas verrückt, hängt in der Sache drin mit ihrem Superhirn.
E=mc². Vielleicht ist sie fasziniert von meinem Wahnsinn. Der Naivität, der Entschlossenheit. Kein Mord, keine Körperverletzung, keine Aussetzung, keine Freiheitsberaubung.
Sie macht das Risiko, erwischt zu werden, nichtig. Sie kappt die Technik, ich tanze umher.
Es ist ein Kinderspiel. Man hat Phantasie.
Man lebt jede Sekunde von neuem.
Ein Verbrecher kehrt nie am Ort eines begannenen Verbrechens zurück.
Ich bin kein Verbrecher.
Oder doch. Ich bin ein Verbrecher, weil ich mein Leben lebe.
Regeln werden gebrochen. Die Öffnungszeiten sind vorbei. Ich winde durch den Eingang, schlendere gemächlich bis zum Dachgeschoss. Keine Hektik.
Lässig.
Alles ist in schwaches Licht getaucht. Manche Objekte agressiv in rotes Licht in deren Glaskästen geblendet.
Einige Gemälde baumeln stramm an Gitterstäben herab.
Die Flure sind endlos lang. Nach und nach erkennt man einen umrahmten Durchgang.
Ein weiterer Raum.
Eine weitere Stufe. Meine Schritte brechen sich an den Wänden.
Und das Licht... die Umgebung wirkt mysteriös.
Die vollgepumpten Straßen mit tuckernden Fahrzeugen hört man hier drinnen nicht.
Schalldichte Mauern, wie angenehm.
Es gibt kein Gebäude, in das man nicht eindringen kann. Ein Gebäude ist standhaft, ein Mensch ist beweglich.
Ich gucke nach oben auf das flache Dachfenster. Der Anblick ist noch faszinierender als der von 1 000 Kunstwerken. Besser als im Observatorium. Sterne sind unantastbar.
Guckt man nach draussen, nach unten, sieht man schleichende Lichterketten, die im dichten, gelben Dunst diffus aussehen. Alles verschlungen vom dreckigen Schmutz der Gaßen.
Faszinierend. Guckt man gerade aus, ist das Blickfeld mit Wolkenkratzern verdunkelt. Mitten unter ihnen die KaibaCorporation.
Richtig, die Arbeit ruft.
Ich wende mich dem nächtlichen Anblick ab, bis ich an einer leeren Vitrine stehen bleibe, mich darauf setze, nachdem billiger, gelockter Draht um den Podest gewunden wurde.
Eine Atrappe fürs Auge, die man aus Filmen kennt.
Eine falsche Handbewegung und der Alarm geht los. Mein Trommelfell wird platzen, man verliert die Orientierung.
Berauschend, oder? Die langen Beine verharren auf dem massiven Glaskasten. Das bläuliche Licht schmeichelt meiner Gestalt. Die dunklen Graniplatten glänzeln, als wären sie mit Wasser bespritzt.
Ich stecke mir etwas in die Ohren, dann betätige ich den Alarm.
Der Boden vibriert, violette diagonale Infrarotstrahlen zerstören die beruhigende Außenbeleuchtung.
Das wird dauern. Ich ziehe die Karte heraus.
Aus aufkommender Langeweile studiere ich nochmal die Hieroglyphen darauf.
Kaiba lässt sich Zeit. Habe ich ihn doch nicht in der Hand?
Das Gebäude wird nicht gestürmt.
Keiner zielt mit einer geladenen Dienstwaffe auf mich, weil keiner da ist.
Der Wind heult und das samte Blau lullt einen ein. Langweilig.
Seit 30 Minuten steht der Alarm still, dröhnend verschließen sich die Notausgänge.
Fette Gitterstäbe aus Stahl. Glänzend, transparent, dass das Mondlicht hindurch scheint.
Samtig weich.
Als wäre das Fundament mit jedem Herunterrasseln tiefer in die Erdkrüste gestampft.
Das nennt man Sicherheitsvorkehrung. Man nimmt an, der gesetzeswidriege Dieb säße in der Falle.
Ein Gefängnis kann schützen, ein Gefängnis kann verderben.
Niemand kommt.
45 Minuten.
Nichts.
55 Minuten.
Null.
60 Minuten.
Mein Plan geht nicht auf. Das beruhigende Blau legt sich intensiver um das Rauminnere.
Finito. Basta.
Vor den Gitterstäben bleibe ich stehen, seitlich schinde ich hindurch.
Wie das Mondlicht.
Gesundes Körpergefühl.
Scheiße. Fluchend laufe ich die kilometerlangen Flure entlang.
Obzöne Fikaliensprache bringt nicht annähernd meine Wut zum Ausdruck.
Tausend Treppenstufen runter ins Erdgeschoss. Mehrere Möchtegern-Hindernisse stellen sich zwischendurch in den Weg.
Möchtegern.
In das zoomende Objektiv einer Infrarotkamera präsentiere ich den ausgestreckten Mittelfinger. Kaiba hat sich zu viel Zeit gelassen.
Sitzt mit übereinandergeschlagenen Knien sonstwo im Luxus.
Reicher Pinkel.
Grinsend stecke ich die Karte in meinen Ausschnitt.
Sie wird wieder zum Vorschein kommen.
Ich bekomme meinen Auftritt.