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Bis dass der Tod uns findet

von

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Für immer

Einige Monate später

 

 

Nervös setzte Nathan einen Fuß vor den anderen. In seinen Händen balancierte er eine Plastikbox, in der sich die Häppchen für die Party befanden. Sie wackelten und hopsten bei jedem Schritt. Nathan stöhnte leise.

 

Mist. Mistmistmistmistmist. Wahrscheinlich ist alles ruiniert, wenn ich ankomme. Ich hätte doch lieber nur einen Salat machen sollen. Der wäre haltbarer gewesen.

 

Leider hatte ihn beim Nachdenken über mögliche Mitbringsel zu Marvins und Felipes Geburtstagsfeier der Ehrgeiz gepackt. Er hatte unbedingt etwas Außergewöhnliches kreieren wollen. Fingerfood, der nicht nur geschmacklich sondern auch optisch etwas hermachte. Zu diesem Zweck hatte er frittierte Polentastückchen, gebratene Zucchinischeiben, mit schwarzem Sesam bestreute Avocado und halbierte Cocktailtomaten auf Zahnstocher gesteckt und jeden von ihnen noch mit einem frischen Basilikumblatt verziert. Theoretisch gesehen sollte durch die gewählte Reihenfolge die Feuchtigkeit von der Polenta ferngehalten werden, sodass sie schnittfest blieb. Momentan war Nathan jedoch eher davon überzeugt, dass sich das Ganze in einen krümeligen Haufen Maisgries mit Gemüse und Holzstäbchen verwandeln würde, sobald jemand den Inhalt der Box auch nur schief ansah.

 

Auch bei den Gurkenhäppchen wurde er sich zunehmend unsicher. Ob die Kombination aus Wrapteig, Avocadocreme und Gurke wohl jemanden anlocken würde? Immerhin war er auf dem Weg zu einer Barbecue-Party. Bei solchen Veranstaltungen war Grün nicht unbedingt die bevorzugte Speisefarbe.

 

Und was ist, wenn jemand keine Avocado mag? Himmel! Ich habe in beiden Gerichten welche drin. Das war ja nun wirklich selten dämlich!

 

Jetzt war es jedoch zu spät, um noch umzuplanen, denn der Hinterhof, in dem die Feier stattfinden sollte, war längst in Sicht- und vor allem in Hörweite. Gitarrenklänge und Salsa-Rhythmen mischten sich mit starken Bässen, spanischem Rap und Gelächter. Nathan vernahm Klatschen, Rufen und etwas, das stark nach Trillerpfeifen klang. Automatisch wurden seine Schritte langsamer. Er wollte nicht vollkommen abgehetzt dort ankommen und vielleicht würde so wenigstens die Hälfte der Häppchen heil ihr Ziel erreichen.

 

Das nächste Mal nehm ich ein Taxi, beschloss er im Stillen und wappnete sich für den bevorstehenden Ansturm.

 

„Na~tan!“

 

Dem freudigen Ausruf folgte ein wirrer Strom des schnellsten Spanisch, das er je gehört hatte und zwei kräftige, braune Arme zerrten ihn höchst resolut ein Stockwerk tiefer. Er brachte gerade noch ein heiseres „Vorsicht“ heraus, da ihm sowohl die Dose mit dem Fingerfood wie auch sein Gleichgewicht drohten abhanden zu kommen.

 

„Ay, ich habe doch gesagt, du brauchst nicht zu kochen“, wechselte Felipes Mutter Sofía ansatzlos ins Englische. Die erstaunlich kleine Frau mit den kastanienbraunen Haaren und dem knallroten Lippenstift schnappte Nathan am Ellenbogen und zog ihn ohne viel Federlesen hinter sich her in die Menge.

 

„Komm, komm! Iss! Trink! Es ist reichlich da. Wir haben sogar eine Torte. Selbstgemacht. Du musst probieren!“

 

Ehe Nathan sich versah, wurden ihm seine Häppchen bereits aus der Hand genommen und auf einem sich unter Tonnen von Essbarem durchbiegenden Tisch abgestellt. Nathan wollte noch darauf hinweisen, dass irgendjemand unbedingt den Deckel abnehmen musste, um Schwitzwasser zu vermeiden, als er auch schon das nächste, weibliche Wesen am Hals hängen hatte.
 

„Claudia“, krächzte er mühsam, während er rechts und links einen angedeuteten Kuss hingehaucht bekam. Felipes Cousine hatte sich heute herausgeputzt und dabei die schwindelerregentsten Absatzschuhe mit dem kürzesten Rock, den ihre Mutter zugelassen hatte, kombiniert. Nathan war schleierhaft, wie sie darin später tanzen wollte, aber er wusste, sie würde es tun.
 

„Nathan! Cómo estás? Wie schön, dass du kommen konntest. Oh sieh mal, da ist Simone. Hallo Simone!“
 

Schon winkte die junge Frau ihrer Freundin, die gerade am Eingang aufgetaucht war, und verschwand schwatzend mit ihr zwischen den anderen Gästen.

 

Nathan sah sich um. Über einem enormen Grillfeuer brutzelten Tonnen von Steaks und Rippchen, eine Bar bot Bier, Cocktails und alkoholfreie Getränke an und auf einer freigeräumten Fläche drehten und schwenkten bereits etliche Tänzer und Tänzerinnen im Licht elektrischer Lichterketten, die kreuz und quer über dem Hof gespannt worden waren, ihre Hüften. Dazwischen liefen lachend Kinder umher und spielten Fangen, während ihre Großmütter ihnen nachriefen, nicht zu wild zu machen, bevor sie sich wieder ihren Schwestern im Geiste zuwandten, mit denen sie zusammen auf angegilbten Gartenstühlen am Rand des Geschehens saßen und lautstark darüber debattierten, wie viel Knoblauch in ein gescheites Gallo Pinto gehörte und ob man nun besser rote oder schwarze Bohnen dafür verwendete. Ringsherum sah man lachende, trinkende und feiernde Gesichter in den unterschiedlichsten Schattierungen; weiß waren die wenigsten davon. Nathan kam sich fast ein wenig fehl am Platz vor und wollte schon den Rückzug in eine der weniger belebten Ecken antreten, als er plötzlich jemand Bekanntes entdeckte.

 

Jomar war zu dem aus allen Poren schwitzenden Grillmeister getreten. Wie schon bei ihrem ersten Treffen trug er ein ärmelloses, schwarzes Oberteil und dazu passende Hosen, die seine sportliche Figur zur Geltung brachten. Ein markanter Bartschatten bedeckte die untere Gesichtshälfte und ließ ihn gleichzeitig sinnlich und sexy wirken. Er war ohne Zweifel ein ziemliches Bild von einem Mann. Unwillkürlich blieb Nathan stehen und beobachtete ihn. Eine ganze Reihe strahlend weißer Zähne blitzte auf, als er über einen Scherz des gabelschwenkenden Schürzenträgers lachte. Und dann fiel sein Blick genau in Nathans Richtung. Nathan zuckte ertappt zusammen.

 

Es war natürlich zu erwarten gewesen, dass Jomar heute Abend hier sein würde. Er war immerhin Felipes bester Freund. Zudem hatten sie bereits geklärt, dass zwischen ihnen nichts laufen würde. Nathan hatte sich für die versäumte Verabredung und sein unerklärtes Abtauchen entschuldigt und inzwischen konnten sie schon fast normal miteinander umgehen. Trotzdem wäre es Nathan lieber gewesen, Jomar nicht unbedingt allein gegenüber treten zu müssen. Suchend sah er sich um, konnte jedoch weder Marvin noch Felipe unter den Gästen entdecken. Dafür kam Jomar jetzt direkt auf ihn zu.

 

„Hey Nathan!“, rief er. „Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.“
 

„Äh ja“, entgegnete Nathan stotternd. „I-ich musste noch arbeiten. Sorry.“

 

Dass er eigentlich den halben Abend neben dem Telefon gesessen und auf einen Anruf gewartet hatte, musste er Jomar ja nicht unbedingt auf die Nase binden.
 

„Wie immer also“, antwortete Jomar lachend. „Na Hauptsache, du bist jetzt da. Komm, wir besorgen dir was zu trinken. Felipe und Marvin sollten jeden Moment wiederkommen.“

 

„O-okay.“

 

Mit einem leicht beklommenen Gefühl in der Magengegend folgte Nathan Jomar in Richtung der Bar und wurde Zeuge, wie der auf dem Weg dorthin mindestens drei Gesprächseinladungen ausschlug. Womöglich von Verwandten oder Freunden, die er lange nicht gesehen hatte. Wahrscheinlich hätte er nichts lieber getan, als sich zu ihnen zu gesellen, um die laue Sommernacht zu genießen. Stattdessen kümmerte er sich um Nathan. Es war nicht richtig, aber Nathan wusste auch nicht, wie er die Einladung hätte ausschlagen sollen.

 

Er ist nur nett. Beruhige dich.

 

An der Bar angekommen, wechselte Jomar ein paar Worte auf Spanisch mit dem Barkeeper, bevor er sich wieder Nathan zuwandte.
 

„Und? Was möchtest du trinken?“

„Äh … was hast du?“

 

Jomar dunkle Augen funkelten im Licht der bunten Lampions, die rund um die Bar drapiert worden waren.

 

„Lass dich überraschen“, antwortete er grinsend und gab eine Bestellung auf. Kurz darauf hielt Nathan etwas in Händen, das aussah wie ein Glas Saft. Vorsichtig probierte er.

 

„Ich schmecke Maracuja, Ananas, Orange, Limette und einen Schuss Grenadine. Ist das richtig?“

 

Jomar grinste.

 

„Du hast den Rum vergessen. Der Rum ist doch das Wichtigste.“

 

Er zwinkerte Nathan zu, der gleich noch einen Schluck zur Beruhigung nahm, weil ihn das davon abhielt, etwas Dummes zu sagen. Unglücklicherweise wartete Jomar, bis er fertig war, und lächelte ihn immer noch wieder an.
 

„Ist ne Weile her“, sagte er so freundlich, dass Nathan unwillkürlich den Blick in sein Cocktailglas senkte.
 

„Ja, ne ganze Weile“, murmelte er. „Ich hatte viel zu tun.“

 

„Schreibst du an einem neuen Buch?“

 

Nathan hob den Blick von seinem Drink. Irgendetwas an Jomars Verhalten war merkwürdig, aber er konnte den Finger nicht darauf legen, was es war. Allerdings bot ihm die Themenvorlage die Möglichkeit, über etwas zu sprechen, mit dem er sich auskannte. Kochbücher. Wie wundervoll!
 

„Ja, ich …äh … ich habe gerade eine neue Sammlung angefangen. Feiertags-Rezepte. Für Weihnachten, Thanksgiving und so weiter. Ich habe sogar schon eine Idee für einen weiteren Band. Snacks. Mein Redakteur meinte zwar, es wird ne harte Nuss, den Superbowl zu veganisieren, aber probieren kann man es ja mal.“

 

Jomar lachte auf.
 

„Meinst du wirklich, dass du eine Chance hast gegen Hot Dogs, Riesen-Truhähne und Buffalo Wings?“

 

Nathan erlaubte sich ein Grinsen.

 

„Du hast meine vegane Wings-Version aus Blumenkohl noch nicht probiert. Wenn ja, wüsstest du, dass ich schwere Geschütze aufzufahren gedenke. Die Dinger sind köstlich.“

 

Jomar machte ein erstauntes Gesicht.

 

„Ach wirklich? Dann musst du mir unbedingt mal das Rezept geben. Oder muss ich warten, bis das Buch herauskommt?“

 

Wieder lachten sie beide und beinahe hätte Nathan angenommen, dass zwischen ihnen jetzt wirklich wieder alles in Ordnung war, als Jomar plötzlich zu Boden blickte.
 

„Ich hab mir übrigens dein Buch gekauft“, sagte er und wirkte dabei ein wenig verlegen. „Ich wollte es mal ausprobieren, weißt du? Was du da so kochst, meine ich.“

 

Er sah Nathan von unten herauf an, als erwartete er irgendeine Reaktion. Nathan schluckte leicht und nahm zur Sicherheit noch einen Schluck von seinem Cocktail. Was sollte er darauf antworten?

 

Bleib einfach ganz normal. Was würdest du sagen, wenn Felipe sich das Buch gekauft hätte?
 

Was er nicht tun würde, schon allein deswegen, weil Marvin natürlich ein Gratis-Exemplar bekommen hatte und die beiden so gut wie immer zusammen hockten. Aber wenn …

 

„Hat es … denn geschmeckt?“

 

Jomar verkniff sich jetzt deutlich ein Grinsen. Nathan irritierte das. Was war denn an der Frage so witzig?

 

„Also wenn man es genau nimmt, haben mir deine 'Linguini à la Nathan' sogar ziemlich den Arsch gerettet. Ich hatte wirklich Angst, dass Josh mich bis in alle Ewigkeiten hasst, wenn ich nichts Ordentliches zustande bringe, aber diese Nudeln haben es echt gerockt.“

 

Nathan blinzelte und stellte fest, dass zwei Seelen in seiner Brust miteinander rangen. Die eine wollte mit stolz geschwellter Brust das Lob entgegennehmen. Die andere wollte wissen, wer Josh ist. Die zweite gewann.

 

„Wer ist Josh?“

 

Jomar begann zu lachen.
 

„Josh ist eine Landplage. Wenn er nicht das Badezimmer besetzt oder an seinem Handy klebt, beschäftigt er sich damit, den Checker raushängen zu lassen und seiner Umwelt mit seinen Stimmungsschwankungen auf die Nerven zu gehen. Typisch Teenager eben. Und er ist Veganer. Ich sag dir, das sind die schlimmsten.“

 

Er grinste und fuhr fort, bevor Nathan auf die Spitze eingehen konnte.
 

„Ich gehe mit seinem Dad aus.“

 

„Oh“, machte Nathan erst ein wenig verblüfft und dann gleich noch einmal, als die Information endlich sein Großhirn erreicht hatte. „Du hast jemanden kennengelernt?“

 

Insgeheim hätte Nathan sich gerne selbst dafür geohrfeigt, dass er dabei so erstaunt klang. Natürlich hatte Jomar jemanden kennengelernt. Er lebte schließlich nicht in einem Kloster und da Nathan nicht zur Verfügung stand, hatte Jomar sich selbstverständlich nach einem Ersatz umgesehen. Daran war nichts Erstaunliches. Oder Verwerfliches.

 

Jomar grinste über das ganze Gesicht.
 

„Jepp, habe ich. Und weißt du wo?“

„Nein. Wo?“

„Im Supermarkt. Er stand vollkommen überfordert vor der Kühltheke und hat mir mit einem hinreißend verzweifelten Gesicht eine Packung vegane Mortadella unter die Nase gehalten. Ob ich wüsste, ob die gut wäre. Als ich dann sagte, dass ich auch nur hier stände, weil ein Freund von mir Veganer ist, und ich ansonsten von dem ganzen Kram keine Ahnung hätte, mussten wir beide lachen. Danach hat er mich spontan auf einen Kaffee eingeladen.“

 

Jomar Grinsen wurde jetzt wieder kleiner, aber in seinen Augen erschien ein warmer Glanz.
 

„Am Ende hat er gesagt, dass er mich gerne mal wiedersehen würde. Ich hab erst angenommen, dass das ein Scherz sein sollte, aber dann hab ich gedacht: Warum nicht? Gehst du eben mal mit ihm aus und guckst, wie es sich entwickelt.“

 

Nathan begann zu schmunzeln.
 

„Und es entwickelt sich?“

 

Jomars Grinsen kehrte zurück.
 

„Oh ja, das tut es. Er ist wirklich der Wahnsinn. Wir reden manchmal einfach nur oder kochen zusammen. Gehen spazieren oder hören Musik. Es ist unheimlich schön.“

 

Er seufzte, bevor er hinzusetzte: „Obwohl eine Sache schon nervt. Rachel, seine Ex, hat voll den Aufstand gemacht, als sie mich das erste Mal gesehen hat. Ob er sich nicht schämen würde, sich so einen jungen Kerl anzulachen, und dass ich glatt sein Sohn sein könnte. Im Supermarkt hat man Matthew für meinen Onkel gehalten und selbst Ramon meinte letztens, ob ich mir jetzt nen Sugardaddy geangelt hätte. Als wenn es nichts Wichtigeres gäbe als unser Alter. Am liebsten würde ich mir ein Schild um den Hals machen: Nein, ich ficke ihn! Die Leute sind echt so beschränkt, sag ich dir.“

 

Joamr nahm einen großen Schluck aus seiner Flasche, bevor er erneut zu lächeln begann.

 

„Aber genug von mir. Wie läuft es bei dir? Oder sollte ich sagen: bei euch?“

 

Jomars vorsichtige Frage zwängte ein erneutes Grinsen auf Nathans Gesicht. Natürlich wusste er, dass Nathan mit jemandem ausging. Nathan hatte es erwähnt, auch wenn Ezra und Jomar sich bisher nie begegnet waren. Der Kreis der Eingeweihten war nach wie vor klein und sollte es nach Möglichkeit auch bleiben. Mit einem Vampir zusammenzusein bedeutete einige Herausforderungen und oft genug machte ihnen ihr unterschiedlicher Lebenswandel einen Strich durch die Rechnung. Insbesondere dann, wenn Ezra nachts arbeiten musste.
 

„Wir arbeiten beide zu viel“, gab Nathan deshalb zurück. „Aber heute nicht. Heute wird gefeiert.“

 

„Darauf trinken wir.“

 

Jomar hob seine Flasche und prostete Nathan zu. Nathan erwiderte mit seinem Cocktail. Das helle Klirren verschwand jedoch vollständig in einem Fanfarenstoß, der in diesem Moment aus den Lautsprechern schepperte. Im nächsten Moment erklang 'Happy Birthday' in einer Salsa-Version und am Rand der Menge erschien ein dreistöckiges Monstrum von einem Kuchen mit mehr Wunderkerzen, als offiziell erlaubt sein sollten, und genug regenbogenfarbenen Zuckerguss, um drei Partymeuten an den Rand einer ernsthaften Diabetes zu bringen. Ein Blick in Marvins und Felipes strahlende Gesichter, die hinter der Torte herschritten, reichte jedoch aus, um das Ganze nur noch zu einem Hintergrundrauschen verblassen zu lassen. Sie sahen so glücklich aus. Auch als Felipe jetzt das Wort ergriff und eine kleine Rede in das eilig herbeigebrachte Mikrofon sprach, nahm dieses Gefühl nicht ab. Er und Marvin küssten sich. Schnitten die Torte an. Fütterten sich gegenseitig damit und posierten vorher noch für Fotos. Es war ein Riesenspektakel.

 

Nathan lachte. Er winkte. Zückte die Kamera und schoss ein Bild nach dem anderen. Setzte sich mit Händen und Füßen gegen Sofía zur Wehr, die ihm unbedingt ein Stück Torte aufdrängen wollte. Und er trank. Mehr als er sollte. Denn während er nach außen hin vorgab, ein glücklicher Partygast zu sein, irrte sein Blick immer öfter zu der Stelle, an der er sich nur einen einzigen Anblick erhoffte. Er wusste, dass es dumm war. Eine Nachricht von Ezra hatte ihn kurz vor seinem Aufbruch informiert, dass er später kommen würde. Wie viel, konnte er noch nicht sagen, aber er wollte sich beeilen. Danach nichts mehr. Und obwohl Nathan wusste, dass das okay für ihn sein sollte – okay sein musste – war es das heute Abend nicht. Heute Abend wollte er Ezra an seiner Seite haben.

 

 

 

Ezras Finger trommelten auf dem Lenkrad herum, während sein Blick alle zwei Sekunden zu der Ampel hochwanderte, die sich seit gefühlten Stunden weigerte, auf Grün zu springen. Dabei war sie nicht die erste. Er hatte anscheinend eine rote Welle erwischt. Anders konnte er sich nicht erklären, warum er für den Weg, den er sonst innerhalb einer halben Stunde zurücklegte, fast doppelt so lange brauchte. Noch dazu um diese Uhrzeit. Es war nicht einmal Rush Hour, verdammt nochmal!

 

Na komm schon. Mach jetzt!

 

Die Versuchung, aus dem Wagen zu steigen und gegen die störrische Lichtanlage zu treten, war groß. Allerdings nicht groß genug, um es wirklich zu tun. Zumal er wusste, dass ein Teil seines Frustes sich auf ganz andere Themenfelder bezog. Störrische, alte Vampire beispielsweise. Die Ratssitzung, der er in den frühen Abendstunden hatte beiwohnen müssen, hatte ihn mehr als nur einen Nervenstrang gekostet. Vermutlich war es gut gewesen, dass er sich darauf beschränkt hatte, dem Treffen online beizuwohnen. Ansonsten wäre er womöglich dem einen oder anderen Mitglied gegenüber handgreiflich geworden.

 

Sie waren so … stur. Er konnte von Glück sagen, dass er etwas in der Hinterhand hatte, um sie im Schach zu halten. Die Sache mit dem Ghulblut durfte nicht publik werden, also hatte Ezra dieses wohlbehütete Geheimnis genutzt, um sich seinen Platz im Rat zu sichern. Er hatte ihnen klargemacht, dass sie alle einen hohen Preis bezahlen würden, wenn ihm etwas zustieße. Und sie hatten es ihm geglaubt. Einer der Vorteile, den er aus der Tatsache gezogen hatte, Aemilius’ Ziehsohn gewesen zu sein. Ihm traute man diese Dinge ebenso zu, wie man sie Aemilius zugetraut hatte. Damit war er allerdings auch schon am Ende seines Handlungsspielraums angekommen. Man erlaubte ihm, die Stadt so zu führen, wie er es für richtig hielt. Alles, was darüber hinausging, lag außerhalb seines Zuständigkeitsbereichs. Und es machte Ezra wahnsinnig. So sehr, dass er am liebsten in das Lenkrad gebissen hätte, statt es nur fast aus seiner Verankerung zu reißen.

 

Ich weiß schon, warum ich mich früher aus solchen Sachen herausgehalten habe. Ich bin einfach kein Politiker.

 

Aber er hatte jetzt einen verantwortungsvollen Posten. Er hatte Macht. Und Geld. Er konnte Dinge bewirken, statt das Leben nur an sich vorbeiziehen zu lassen. Aber das Ganze kostete ihn auch Zeit. Und Nerven. Und wesentlich mehr seiner Geduld, als er sich je hatte träumen lassen.

 

Die Ampel wechselte endlich die Lichtphase und Ezra trat das Gaspedal durch. Eigentlich hatte er schon vor Stunden hier sein wollen, aber kaum, dass er die Verbindung zum Rat gekappt hatte, hatte ihn ein Hilferuf aus einem der Clubs erreicht. Einige Gäste hatten sich nicht an die Regeln halten wollen und Ezra selbst hatte nach dem Rechten sehen müssen, bevor die Sache vollkommen außer Kontrolle geriet. Natürlich hatte er schnell herausbekommen, dass die Störenfriede bezahlt worden waren, um Stress zu machen. Ein Problem, das Ezra leicht lösen konnte, indem er ihnen mehr anbot als die ursprünglichen Auftraggeber. Es war reine Schikane, das wusste er. Trotzdem würde er herausfinden müssen, wer die Unruhestifter geschickt hatte, und dann …

 

Stopp jetzt! Genug damit für heute Nacht. Du wirst noch alles verderben.

 

Die Straße, in der er üblicherweise parkte, war natürlich ausgerechnet heute gesperrt worden und so musste Ezra den Wagen einen ganzen Block weit entfernt abstellen, bevor er endlich aussteigen und sich auf den Weg zur Party machen konnte. Leider zeigte die Uhr bereits weit nach Mitternacht. Weit, weit nach Mitternacht. Noch nicht so sehr, dass man von „früh“ sprechen konnte, aber so weit, dass er den Großteil der Feier wohl verpasst hatte. Mit einem Seufzen beschleunigte er seine Schritte.

 

Auf dem mit Lichterketten und Lampions geschmückten Hinterhof herrschte immer noch ausgelassene Stimmung, auch wenn Ezra sofort merkte, dass ein Gutteil der Gäste ziemlich angetrunken war. Allen voran das Gastgeberpaar, das sich gerade zu sanften Rhythmen auf der Tanzfläche wiegte. Sie waren jedoch so sehr in sich versunken, dass Ezra darauf verzichtete, sich ihnen vorzustellen. Zunächst wollte er Nathan suchen. Er kam jedoch nicht mehr dazu, denn kaum, dass er einen Fuß in Richtung Bar gemacht hatte, stellte sich ihm jemand in den Weg.
 

„Du?“, grollte Nathan und es hätte nicht seines glasigen Blicks bedurft, der einige Schwierigkeiten hatte, Ezra zu fixieren, um zu bemerken, dass auch er schon ziemlich viel Alkohol konsumiert hatte. „Was fällt dir ein, hier einfach so aufzutauchen?“

 

Ezras Augenbrauen wanderten ein Stück in die Höhe.
 

„Ich, ähm … wurde eingeladen?“, meinte er in einem leicht fragenden Tonfall.
 

„Ach“, machte Nathan und schnaufte. „Und das fällt dir jetzt ein? Wenn alles vorbei ist?“

 

Ezra wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Anscheinend war Nathan tatsächlich sauer auf ihn, weil er aufgetaucht war. Wie von selbst sah er zu Marvin und Felipe hinüber, die einander in den Armen lagen, vollkommen weltvergessen und ungeachtet der Tatsache, dass ihr beträchtlicher Größenunterschied die ganze Sache ziemlich eigenartig aussehen ließ.
 

„Hey“, fauchte Nathan und versuchte erfolglos, mit seinen Fingern vor Ezras Nase herumzuschnippsen. „Ich rede mit dir. Weißt du eigentlich, in was für eine Lage du mich bringst? Ich bin müde, ich bin betrunken und ich gehöre seit mindestens einer Stunde ins Bett. Aber nein, weil der Herr Vampir ja jetzt doch noch auftaucht, muss ich … mhm-mhm …“
 

Der Rest von Nathans Protest ging in einem Kuss unter, den Ezra ihm kurzerhand auf den Mund drückte. Es dauerte ungefähr drei Sekunden, bevor Nathan in seine Arme schmolz. Sanft zog Ezra ihn näher und küsste ihn noch einmal, dieses Mal zärtlicher. Anschließend rückte er ein Stück von ihm ab und sah ihn prüfend an.

 

„Wieder beruhigt?“

 

Nathan schob die Augenbrauen zusammen und die Unterlippe nach vorn.
 

„Ja“, grummelte er. „Tut mir leid. Ist mir so rausgerutscht. Du bist trotzdem unmöglich.“
 

„Du auch“, gab Ezra ungerührt zurück und begann, Nathan im Takt der Musik zu bewegen. Seine Bemühungen hatten ein weiteres Stöhnen zur Folge.
 

„Siehst du?“, maulte Nathan theatralisch. „Jetzt muss ich mit dir tanzen. Und eigentlich wollte ich das schon vor drei Stunden tun, aber du bist einfach nicht gekommen.“

 

„Es gab Ärger in einem der Clubs.“

„Mhm.“

 

Ezra hörte an Nathans Stimmlage, dass sein Ärger sich so gut wie amortisiert hatte. Er war bereit zu vergeben.
 

„Es tut mir wirklich leid“, murmelte er und küsste Nathan erneut. „Du weißt, dass ich lieber hier gewesen wäre. Immerhin habe ich deswegen extra auf einem Zoom-Meeting bestanden. Mit dem Vampir-Rat. Weißt du eigentlich, was das heißt?“

 

„Dass du dich über so ziemlich jede Tradition der westlichen und östlichen Hemisphäre hinweggesetzt und mindestens zwanzig Obervampire mächtig verärgert hast“, leierte Nathan leicht genervt herunter. „Ich weiß, ich weiß. Aber die könnten sich wirklich mal angewöhnen, ihre Termine rechtzeitiger bekannt zu geben. Geheimhaltung hin oder her. Du hast schließlich auch ein Leben.“

 

Ezra schmunzelte. Da war er ja wieder, sein kleiner Ziegenbock.
 

„Und ich bin verdammt froh, dass du ein Teil davon bist.“

„Ein winziger Teil.“

„Ein großer Teil. Ein verdammt großer Teil.“

„Du solltest nicht so viel fluchen. Felipes Mutter ist da echt streng.“

 

Ezra spürte, wie Nathan sich an ihn schmiegte, die Arme um ihn schlang und den Kopf an seine Schulter lehnte. Wäre er ein normaler Mann gewesen, hätte er jetzt wohl angenommen, dass alles wieder in Ordnung war. Aber er war ein Vampir. Er hörte die leichten Unregelmäßigkeiten in Nathans Atemrhythmus, die für seinen Zustand eine Winzigkeit zu schnellen Herzschläge. Er spürte die Anspannung, die Nathans ganzen Körper vibrieren ließen. Nicht zu vergleichen mit dem Zittern eines Rennpferdes in seiner Box, aber doch so deutlich spürbar, dass Ezra wusste, dass da noch etwas war. Etwas, das Nathan vor ihm zu verbergen versuchte. Aber was?

 

„Wie war die Party?“

 

Die Art, mit der Nathans Bewegungen kurz stockten, verriet Ezra genug, um zu wissen, dass er auf der richtigen Spur war. Natürlich hätte er das nicht fragen müssen. Er hätte den Frieden annehmen können, den Nathan ihm anbot, und ihn ablenken, sodass er erst sehr viel später wieder anfangen würde, darüber zu grübeln. Wenn Ezra nicht mehr da war.

 

Aber genau das will ich nicht. Ich will für ihn da sein.

 

„Gut!“, behauptete Nathan jedoch stoisch. „Es war toll. Das Essen, die Drinks. Meine Polentaspieße sind nicht auseinandergefallen. Alle waren begeistert. Nur Sofía wollte nicht einsehen, warum ich die Torte nicht probieren konnte. Aber ansonsten war es ein wirklich schöner Abend.“

 

Ezra unterdrückte ein Seufzen. Er kannte Nathan inzwischen gut genug, um zu wissen, dass das nur die halbe Wahrheit war. Bevor er sich jedoch entschieden hatte, ob es noch eines weiteren kleinen Schubses bedurfte oder ob Nathans Vertrauen zu ihm und der angetrunkene Mut groß genug sein würden, um auch den Rest zu erzählen, fuhr sein Geliebter bereits fort.

 

„Ich habe mit Jomar geredet.“

 

Ah, jetzt kamen sie der Sache schon näher. Ezra wusste, dass der junge Mann mit den lateinamerikanischen Wurzeln ernsthaftes Interesse an Nathan gezeigt hatte. Er empfand das nicht als Bedrohung, da er wusste, dass Nathan diesbezüglich absolut ehrlich zu ihm gewesen war. Trotzdem beschäftigte Nathan diese Episode immer noch und Ezra konnte sich einige Gründe vorstellen, warum das so war. Worauf er nicht vorbereitet war, war das, was er tatsächlich zu hören bekam.
 

„Er trifft sich mit jemandem.“

 

Nathan wich seinem Blick aus und Ezra ahnte, dass es besser war, jetzt nicht nachzufragen. Als Nathan jedoch auch nach einiger Zeit immer noch nicht weitersprach, rückte er ein Stück von ihm ab und sah ihn prüfend an.
 

„Und das stört dich?“

 

Nathan blies sofort die Backen auf.

 

„Nein, nein. Überhaupt nicht. Er hat mir von diesem Matthew erzählt und das muss ein wahrer Heiliger sein. Er ist Lehrer an einer der Schulen hier in der Gegend und trotz des miesen Gehalts und der ganzen Scheiße liebt er seinen Beruf noch immer. Er gibt sich Mühe mit seinen Schülern, ist für sie da und versucht, irgendwie ein bisschen Wissen und Anstand in ihre Köpfe zu kriegen. Der Mann verdient eine Medaille. Außerdem ist Jomar echt verschossen in ihn und er in Jomar, da beißt die Maus keinen Faden ab.“

 

Ezra runzelte leicht die Stirn.
 

„Aber …?“, hakte er nach.

 

Nathan atmete hörbar aus.
 

„Aber er war verheiratet. Er hat einen Sohn, eine nervige Exfrau und er ist … er ist 20 Jahre älter als Jomar. Fast doppelt so alt also. Das ist ne ganze Menge.“

 

Nathan verstummte und Ezra musste zugeben, dass er das Problem immer noch nicht ganz verstand. Immerhin war auch er ein ganzes Stück älter als Nathan und das war neben allen Dingen, die ihnen in die Quere gekommen waren, nie ein Problem gewesen. Warum also regte ihn das so auf?
 

„Aber du sagst doch, sie lieben sich“, versuchte er zu vermitteln. Er kam jedoch nicht weit.

 

„Ja natürlich tun sie das“, fauchte Nathan. „Noch! Aber was ist, wenn sie älter werden? Wenn Matthew irgendwann mal gebrechlich wird. Senil. Wenn er Jomar nicht mehr erkennt. Wenn er überall Falten und Haare in den Ohren hat. Im Rollstuhl sitzt und gefüttert werden muss. Wird Jomar es dann immer noch mit ihm aushalten?“

 

Er zückte sein Handy und wedelte damit vor Ezras Nase herum.

 

„Ich hab das gegoogelt. Weißt du, dass bei zehn Jahren Altersunterschied die Trennungsrate bereits bei 39% liegt. Bei 20 Jahren sind es sogar 95%. Das kann also gar nicht klappen.“

 

Ohne Kommentar nahm Ezra Nathan das Handy ab und begann selbst zu lesen. Ein Schmunzeln ließ seine Mundwinkel nach oben wandern.
 

„Da steht, dass die Trennungsrate erhöht ist im Gegensatz zu gleichaltrigen Paaren. Die Zahlen sind also nicht absolut zu sehen, denn immerhin trennen die sich ja auch nicht alle. Du darfst den beiden also eine Chance geben.“

 

„Ja aber …“, widersprach Nathan und sein Ton wurde verzweifelt. „Was ist, wenn ich irgendwann mal alt werde? Wirst du dann immer noch da sein? Und was ist, wenn ich eines Tages sterbe? Willst du dann mit mir ans Meer fahren und wir genießen einen letzten gemeinsamen Sonnenaufgang, bevor wir beide ins Gras beißen? So wie in diesem Film, den wir letztens gesehen haben? Ist es das, was du willst?“

 

Nathan sah Ezra an und in seinem Blick war plötzlich eine tiefe Traurigkeit.

 

„Wäre es da nicht besser, wenn wir es beenden, solange wir noch können? Solange wir noch eine Chance haben auf ein bisschen Glück? Ohne einander?“

 

Ezra schluckte. Er wusste, dass ein Teil dessen, was Nathan gesagt hatte, die Wahrheit war. Nathan würde altern und irgendwann sterben, während er ewig jung blieb. Ein Segen, der in dem Moment zu einem Fluch werden würde, an dem er ihn das Liebste kostete, was er hatte. Erneut. Und ja, auch er hatte durchaus schon ein paar Mal darüber nachgedacht, wie er diesem Schicksal entfliehen konnte.

 

Unwillkürlich zuckte seine Hand zu der Narbe auf seiner Schulter. Die Wunde, die der Pflock geschlagen hatte, war inzwischen verheilt, aber es hatte lange gedauert. Sehr lange. Viel länger, als bei einem Vampir üblich war, und das entstandene Gewebe war schwächer als der Rest seines Körpers. Verwundbarer. Sterblich. Ezra hatte daraufhin eine Probe des Ghulbluts zur Analyse gegeben und den Wissenschaftlern, die damit betraut worden waren, horrende Summen für ihr Stillschweigen geboten. Ein Ergebnis hatten sie noch nicht, aber vielleicht … irgendwann …

 

Langsam zog er Nathan wieder näher zu sich. Der wehrte sich zunächst und Ezra war schon kurz davor, ihn loszulassen, als sein Widerstand plötzlich erlahmte. Ezra spürte Wärme in sich aufsteigen.
 

„Nathan“, sagte er sanft. „Ich weiß, dass dir diese Vorstellung Angst macht. Wer wüsste das besser als ich? Immerhin bin ich derjenige, der sich aus Furcht vor dem Tod auf einen Pakt mit dem Teufel eingelassen hat. Zweimal. Aber haben uns die vergangenen Ereignisse nicht gezeigt, dass es keine Garantien gibt? Nicht einmal für Vampire. Und, ganz ehrlich, ich brauche dich. Ich brauche deine Ratschläge, deine Einwürfe und deine unvergleichliche Art, mir den Kopf zurechtzurücken, wenn ich mich mal wieder in ein Problem verrenne. Ich brauche deinen Mut, deinen Stolz und deine Beharrlichkeit, die mich immer wieder aufrichten und mir zeigen, dass das, was ich tue, eine Bedeutung hat. Durch dich habe ich angefangen, mich für etwas einzusetzen. Unter meiner Kontrolle wird in dieser Stadt zukünftig jeder Fall, in dem ein Mensch durch einen Vampir verletzt oder getötet wird, bis ins kleinste Detail untersucht und die Schuldigen für ihre Vergehen bestraft werden. Ich habe mit deiner Hilfe dafür gesorgt, dass diese Stadt ein sichererer Ort wird. Meinst du denn, ich hätte all das geschafft, wenn du nicht an meiner Seite gewesen wärst?“

 

Nathan wollte den Kopf abwenden, aber Ezra hielt sein Kinn fest und drehte es so hin, dass er ihm in die Augen sehen konnte.
 

„Und darüber hinaus liebe ich dich. Ich kann mir mein Leben ohne dich nicht mehr vorstellen. Und ich will es auch gar nicht. Du bist ein Teil davon. Ein überaus wichtiger, denn durch dich habe ich erst wieder verstanden, was es überhaupt heißt, am Leben zu sein. Nicht nur zu überleben in einem Wechsel von Tag und Nacht, in der alles und jeder bedeutungslos und austauschbar ist. Du empfindest so eine Freude, Trauer, Leid, Wut und ich … ich darf an jedem dieser Dinge teilhaben. Du bist mein Leben, verstehst du das?“

 

Er lächelte und fuhr mit dem Daumen über Nathans Wange.
 

„Und außerdem … müsste nicht eigentlich ich Angst haben, dass du mich zu alt für dich findest? Immerhin bin ich derjenige, dessen Geburtsdatum über ein Jahrhundert in der Vergangenheit liegt.“

 

Ezra sah, dass Nathan versuchte, böse auf ihn zu sein. Er bemühte sich zu schmollen und ihn unter gerunzelten Brauen heraus anzufunkeln, aber es funktionierte nicht. Immer wieder schlich sich ein Lächeln in seine Versuche, sodass er schließlich mit einem Seufzen aufgab.
 

„Du weißt, dass das nicht das Gleiche ist“, sagte er und schaffte es dabei, einigermaßen entrüstet zu klingen. „Schließlich wirst du nicht alt und schrumplig werden.“

 

Ezra lachte und zog ihn näher heran.
 

„Ich bin mir sicher, dass du auch in schrumpelig noch wahnsinnig sexy aussehen wirst.“

 

Nathan erwiderte seinen Scherz mit einem Grinsen und endlich, endlich schmiegte er sich wieder in Ezras Arme. Die Geschichte schien beigelegt, bis …

 

„Denkst du manchmal darüber nach, wie es wohl wäre, wenn Darnelle mich verwandelt hätte?“

 

Ezra wäre bei dieser Frage beinahe aus dem Takt gekommen. Er hatte bereits geahnt, dass dieses Thema Nathan beschäftigte, denn immer, wenn Nathan ihn gefragt hatte, wie es sich anfühlte, ein Vampir zu sein, war ein merkwürdiger Ausdruck in sein Gesicht getreten. Und genau deswegen wusste Ezra auch, was er antworten musste.
 

„Es hätte für mich keinen Unterschied gemacht.“

 

Nathan hob den Kopf. In seinem Blick lag Erstaunen und Empörung zugleich.
 

„Was? Aber es wäre vollkommen anders gewesen. Vielleicht wären Aemilius und Darnelle dann noch am Leben. Vielleicht würden wir jetzt gemeinsam die Nacht durchstreifen. Vielleicht hätte ich Marvin etwas angetan und mich aus Verzweiflung darüber selbst getötet. Wie kannst du da sagen, dass es keinen Unterschied macht?“

 

Ezra lächelte. Er merkte, dass die Wirkung des Alkohols langsam nachließ und Nathan wieder klarer zu denken begann. Sein Metabolismus kam erstaunlich gut mit diesem Gift zurecht.

 

„Natürlich wären viele Dinge anders gelaufen“, stimmte er zu. „Aber an meinen Gefühlen für dich hätte das nichts geändert. Ich liebe dich nicht, weil du ein Mensch bist. Ich liebe dich, weil du du bist.“
 

Er sah, dass Nathan weiter entrüstet sein wollte. Dass er sich mit ihm streiten und ihm so vielleicht beweisen wollte, dass sie eben nicht zueinander passten. Aber genauso erkannte er, dass Nathan das eigentlich wollte. Dass er sich danach sehnte, endlich zu vertrauen. Darauf, dass alles gut werden würde. Aber noch war er nicht so weit.
 

„Warum denkst du, dass er es nicht getan hat?“

 

Ezra schlug die Augen nieder. Diese Frage hatte er sich schon oft gestellt und war nie zu einem befriedigenden Ergebnis gekommen.
 

„Ich weiß es nicht“, gab er daher ehrlich zu. „Es gibt viele Möglichkeiten. Vielleicht hat er gedacht, dass du ihm als Mensch weniger gefährlich werden könntest. Vielleicht wollte er sich erst meine Erlaubnis einholen oder mir irgendwelche Bedingungen aufzwingen, um dein Wohlergehen nicht zu gefährden. Oder vielleicht mir die Ehre des ersten Bisses überlassen. Du weißt, dass das unter Vampiren als etwas Besonderes gilt.“

 

Nathans Herz machte einen Satz und ein leichter Rotschimmer erschien auf seinen Wangen. Sie hatten dieses Ritual bereits vollzogen und allein die Erinnerung daran ließ Ezras Lendengegend leise kribbeln. Es war unvergleichlich gewesen, Nathan das erste Mal zu kosten. Mit ihm zu schlafen. Die Innigkeit ihrer Vereinigung, deren bloßes Echo ausreichte, um Ezras eigenen Puls in die Höhe zu treiben. Sie waren sich so nahe gewesen.

 

Nathan biss sich auf die Lippen. Der Ausdruck in seinen Augen goss flüssiges Feuer in Ezras Adern und er wusste, dass es seinem Geliebten genauso ging.
 

„Das ist unfair“, beschwerte Nathan sich trotzdem, während er sich näher an Ezra drängte. „Du machst schon wieder dieses Vampir-Ding, das dich so unwahrscheinlich attraktiv erscheinen lässt.“

 

Ezras Lippen verzogen sich zu einem neckenden Grinsen.
 

„Tja, tut mir leid. Wenn ich so einen appetitlichen Leckerbissen vor mir habe, werden eben meine Instinkte wach. Ich kann gar nichts dagegen tun.“

„Oh doch, das kannst du.“
 

Ezra atmete tief durch und bemühte sich, einen kühlen Kopf zu bewahren. Die Voraussetzungen waren heute nicht die besten, aber er hatte inzwischen Einiges an Übung darin, seine Fähigkeiten im Zaum zu halten. Es war das Mindeste, was er tun konnte.

 

„Soll ich mich denn zurückhalten?“
 

Wenn Nathan Ja sagte, würde er sich von ihm entfernen. Das hatte er ihm versprochen.

 

Nathans Herz trommelte gegen seine Rippen. Ezra hörte es, aber er wusste, dass er ihm gerade nicht helfen konnte. Diese Entscheidung würde Nathan selbst fällen müssen. Später würde er die Kontrolle übernehmen, aber nicht, bevor Nathan dem zugestimmt hatte. Allerdings hoffte Ezra, dass er es tun würde. Er hoffte es so sehr.
 

„Nein.“

 

Nathan hob den Kopf und sah ihn an. In seinem Blick tobte immer noch ein merkwürdiger Sturm aus Reue, Zweifel und Unsicherheit. Aber mit jedem Moment, in dem er Ezra in die Augen sah, verschwand der Tumult und wich etwas, das Ezra haben wollte. Unbedingt.
 

„Nein“, wiederholte Nathan und wagte ein erstes, vorsichtiges Lächeln. Noch immer schlug sein Herz viel zu schnell aus den falschen Gründen. Ezra wollte das ändern und doch zwang er sich, ruhig zu bleiben und abzuwarten. Das hier war Nathans Kampf und er würde sich nicht einmischen.

 

Warme Hände legten sich in seinen Nacken und erstaunlich kräftige Arme zogen ihn näher. Er widerstand nicht, sondern folgte der Bewegung, bis er nur noch einen Atemzug weit entfernt von Nathan stand.
 

„Ich will nicht, dass du gehst. Ich wollte es nie. Es war nur …“

 

„Ich weiß“, flüsterte Ezra und seine Nase streifte Nathans Wange. „Ich werde versuchen, in Zukunft pünktlicher zu sein.“

 

Nathan lehnte sich an ihn.

 

„Und ich werde versuchen, in Zukunft weniger nervig zu sein.“

„Du bist nicht nervig.“

„Ach ja? Und was war letzte Woche? Da hast du es selbst gesagt.“

„Aber nur, weil du dich angeblich nicht für einen Film entscheiden konntest, obwohl ich genau wusste, welchen du sehen wolltest.“

„Aber du wolltest den Film nicht sehen.“

„Ich würde mir jeden Film mit dir hundertmal ansehen, wenn ich weiß, dass es dich glücklich macht.“

 

Für einen Moment sahen sie sich mit gekräuselten Lippen an, dann begannen sie beide zu lachen. Es war ein befreiendes Lachen, das mehr abschüttelte als nur den Streit aus dieser Nacht.
 

„Komm“, sagte Ezra und hauchte Nathan einen Kuss neben das Ohr. „Lass mich Marvin und Felipe eben noch gratulieren und dann verschwinden wir beide von hier.“

 

Ein Grinsen erschien auf Nathans Gesicht.
 

„Aber was denn? Die Nacht ist doch noch jung.“

 

Auch Ezras Mundwinkel wanderten nach oben.
 

„Ja eben. Und ich habe noch jede Menge mit dir vor.“

 

 

 

Nathans Atemzüge wurden schnell gleichmäßiger, während er warm und schwer in Ezras Arm lag. Ezra widerstand der Versuchung, ihn erneut zu berühren, zu küssen und dadurch vielleicht zu riskieren, ihn wieder zu wecken. Stattdessen wartete er, bis er sich sicher sein konnte, dass sein Geliebter fest genug schlief, bevor er ihn sanft auf das Betttuch gleiten ließ und ihn dort mit einem weiteren Laken zudeckte. Erst dann erhob er sich und trat ans Fenster.
 

Draußen zeichneten sich bereits die ersten Vorboten des heranbrechenden Tages ab. Seine Zeit näherte sich damit dem Ende, auch wenn er wusste, dass er nicht komplett auf die Dunkelheit angewiesen war. Es gab selbst für Vampire Möglichkeiten, sich draußen zu bewegen, wenn es hell war. Es gab für so vieles Möglichkeiten, wenn man nur lange genug danach suchte.

 

Noch einmal sah er zum Bett zurück. Nathans Geruch, ihrer beider Geruch, lag noch in der Luft und tränkte die Atmosphäre mit süßen Erinnerungen. Noch einmal meinte Ezra die kleinen Seufzer zu hören, die Nathan von sich gegeben hatte, als er seinen ganzen Körper mit Küssen bedeckt hatte. Das erstickte Wimmern, das kehlige, abgehackte Stöhnen, das atemlose Keuchen und schließlich das unter nur mühsam zurückgehaltenen Tränen geflüsterte „Ich liebe dich. Es war das erste Mal, dass Nathan es gesagt hatte, und seit diesem Moment erschien es Ezra, als habe sein Herz Flügel bekommen.

 

Ich will ihn noch einmal.

 

Ezra merkte, wie er sich bereits wieder zu regen begann. Er würde seinen Geliebten nicht wecken, aber er hoffte auf eine Fortsetzung, wenn dieser ein paar Stunden geruht hatte. Vielleicht ein gemeinsames Frühstück. Nathan hatte ihm erzählt, dass er beim Arzt gewesen war und seine Blutwerte absolut innerhalb der Norm lagen. Es sprach also nichts gegen einen kleinen Snack. Oder gegen noch mehr Sex. Vielleicht sogar beides gleichzeitig. Die Vorstellung erregte Ezra und er wandte schnell den Kopf ab, um nicht doch noch unvorsichtig zu werden. Nathan zu widerstehen kostete ihn viel Beherrschung, aber Ezra wusste, dass es das absolut wert war.

 

Sein Blick blieb an dem Buch hängen, das auf dem Nachttisch lag. Ezra trat näher und sah, dass es das Gedichtband war, dass Darnelle vorgegeben hatte, aus Nathans Wohnung entwendet zu haben. Eine weitere Lüge, wie sich herausgestellt hatte. Nathan hatte das Buch nie besessen und so hatte Ezra behauptet, dass es ihm gehörte. Seit diesem Tag hatte er es immer einmal mit nach Hause nehmen wollen und doch war es hier geblieben. In Nathans Wohnung,

 

Einem plötzlichen Impuls folgend griff Ezra nach dem Buch. Seine Finger fuhren prüfend über den roten Einband, bevor er es öffnete und zu der Stelle blätterte, an der die weiße Feder verborgen lag. Entschlossen hob er sie heraus.

 

Mit der Feder in der Hand trat Ezra ans Fenster und schob es nach oben. Warme Nachtluft geschwängert vom Duft der Straßen, Fahrzeuge, Menschen drang herein. Ein weiterer pulsierender Tag, der nur darauf wartete, sich zu erheben. Ezra wusste, dass er riskierte, von der Sonne überrascht zu werden, aber das hier würde nicht lange dauern.

 

Hiermit hat es angefangen. Hiermit endet es auch.

 

Ezra streckte den Arm aus. Der herannahende Tag leckte daran. Er biss und zwickte, aber Ezra ignorierte den Schmerz. Mit einem letzten Blick auf die weiße, geschwungene Form ließ er los.
 

Die Feder fiel. Sie trudelte und taumelte in Richtung Erdboden, bevor ein aufkommender Windstoß sie erfasste und mit sich forttrug. Ohne ihr nachzusehen schloss Ezra die Vorhänge, kehrte zum Bett zurück und legte sich neben Nathan. Dessen Mund stand ein Stück weit offen und leises Schnarchen drang daraus hervor; wie immer, wenn er ein bisschen zu viel getrunken hatte. Ezra lächelte.
 

Irgendwann werde ich mich sicher auch daran gewöhnen.
 

Mit einem letzten tiefen Atemzug schloss er die Augen, legte den Arm um Nathan, schmiegte sich an ihn und lauschte den Geräuschen, die sein Geliebter im Schlaf von sich gab. Vollkommen ungestört lagen sie so da und Ezra wusste, dass die Zeit des Fortlaufens endgültig vorüber war.

 



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  TaniTardis
2022-11-09T16:54:45+00:00 09.11.2022 17:54
Ja, irgendwie ist es ein trauriges Ende für ein Happy end...schön geschrieben und es freut mich das Sie zur einander gefunden haben..Dennoch ist es irgendwie traurig..vielleicht dass ihr zusammen sein von kurzer Dauer ist, was Ezra angeht. Denn Menschen leben im Vergleich zum Vampir sehr kurz...wer weiß...

Trotzdem eine schöne Story, die sehr viel spass gemacht die zu lesen.


glg : )
Antwort von:  Maginisha
16.11.2022 06:38
Hey TaniTardis!

Jetzt habe ich doch glatt vergessen zu antworten. So was! @_@

Das Ende ist natürlich nicht so ganz typisch HEA, aber wenn man bedenkt, wie lange dann kämpfe doch ist, kann man sich damit ja vielleicht doch arrangieren. Und wer weiß, was nich passiert. Möglichkeiten gibt es immer. ^_~

Es freut mich, dass es dir gefallen hat.

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  Ryosae
2022-11-03T16:24:02+00:00 03.11.2022 17:24
Hey Mag,
irgendwie bin ich traurig trotz des Happy Ends 😢
Es ist vorbei.. ich hab die Zwei echt ins Herz geschlossen! Das letzte Kapitel hat die Story zu einem schönen, runden Ende gebracht.
Es ist so toll wie Ezra sich über den Verlauf entwickelt hat und wie die Beziehung der Beiden entstand.
Kochst du eigentlich gerne? Man muss echt aufpassen und darf auf keinen Fall ein Kapitel lesen wenn man hunger hat. xDD

Du hast zwar schon immer wirklich gut geschrieben, aber hier mit dieser Story und dieser Schreibweise hast du dich selbst übertroffen! Vielen Dank dafür! 🥰

Ich muss das jetzt fragen... ist etwas neues geplant? xD

LG
Ryo
Antwort von:  Maginisha
04.11.2022 08:11
Hey Ryosae!

Ja, der Abschied von Ezra und Nathan fällt einigen schwer, wie ich mitbekommen habe. Und natürlich hätte man noch so viel mehr über sie schreiben können, aber ... ich überlasse da auch dieses Mal gerne dem Leser und seiner Fantasie, was die beiden wohl noch alles erleben.

Ich koche tatsächlich gerne, auch wenn ich hier inzwischen zwei Kostverächter im Hause habe, die mehr auf Standardgerichte stehen. Immerhin mit Kürbis-Zimtschnecken konnte ich sie letztens begeistern. Ich habe aber auch schon immer gerne neue Rezepte ausprobiert und besitze einen Haufen Kochbücher. :D

Vielen, vielen Dank für das Lob. ^__^

Was Neues? Mhm, mal schauen. Ein oder zwei Ideen hätte ich schon, aber ich warte erst mal ab, welche von ihnen mich packt. Es wird auf jeden Fall wieder anders. ;D

Ganz zauberhafte Grüße
Mag
Antwort von:  Ryosae
04.11.2022 19:38
Ungelogen aber diese Kürbis-Zimtschnecken wurden direkt gegoogelt. Konnte mir nicht ganz vorstellen wie das funktionieren kann xD

Für mich ist es ein Happy End, das niemals enden wird! ;)
Halte mich auf jeden Fall auf dem Laufenden mit deinen Projekten :)

LG
Ryo


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