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Bis dass der Tod uns findet

von

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Vabanquespiel

Wie ein Bollwerk ragte die Fassade des vielstöckigen Gebäudes vor ihm auf. Ezra sah daran empor und konnte ein leichtes Flattern in seinem Magen nicht verdrängen. Wenn es nur um ihn gegangen wäre, hätte er die Stadt wohl noch in der heutigen Nacht verlassen. Aber es ging nicht nur um ihn. Er hatte andere – Nathan – mit hineingezogen. Er war es ihnen schuldig.

 

Mit einem letzten tiefen Atemzug ließ er das Lenkrad los und öffnete die Wagentür. Den Schlüssel ließ er stecken, die Tür unverriegelt. Sollte er zurückkommen, würde er sehen, ob das Fahrzeug noch an seinem Platz stand.

 

Der Fahrstuhl brachte ihn die endlosen Stockwerke nach oben. Als die Türen sich öffneten, erwartete ihn Stille. Ezra trat aus der Kabine. Sie schloss sich automatisch hinter ihm. Er lauschte, aber kein Laut drang an sein Ohr. Auch sonst nahm er keinerlei Schwingungen wahr. Das Apartment schien verlassen. Sollte er sich getäuscht haben?

 

Langsam begann er, die Räume zu durchstreifen, vorbei an teuren Möbeln und edlem Interieur. Doch nichts davon hatte einen wirklichen Wert, nichts davon war echt. Es waren nur Dinge, angehäuft wie in einem Museum.

 

Oder einem Mausoleum.

 

Endlich erreichte er das oberste Stockwerk. Wolkengedämpftes Mondlicht fiel durch die großen Fensterfronten und warf diffuse Schatten auf die marmornen Böden. Die weiße Sitzgruppe stand verlassen da. Das Feuer im Kamin war erloschen, die Asche kalt. Nichts deutete auf irgendeine Form von Leben hin. Die einzigen Anzeichen dafür kamen von außerhalb. Von den Menschen, auf deren Leben er von hier oben aus herabsehen konnte. Ezra trat noch näher ans Fenster und blickte hinaus.

 

Ich sollte jetzt dort unten sein.

 

Das Gefühl war heftiger, als er erwartet hatte. Es war, als zöge etwas an ihm. An seinem Herz.

 

Ein leises Klirren ließ ihn herumfahren. In den Schatten hinter der Bar bewegte sich etwas. Eine dunkle Silhouette trat nach vorn. In ihrer Hand hielt sie ein Glas.

 

„Du hast lange gebraucht. Ich musste die hier schon zweimal erneuern.“
 

Wieder klimperten die Eiswürfel und die goldbraune Flüssigkeit um sie herum schwappte träge hin und her. Ezra roch den Alkohol mit einer Spur von Rauch, Torf und bitterer Schokolade. Ein teurer Whiskey. Eigentlich zu teuer, um ihn als Requisite zu verschwenden. Aber wen in seiner Familie interessierte das schon?

 

Ezras Blick fokussierte sich wieder auf Darnelle. Dass er ihn nicht bemerkt hatte, bewies, wie gut der andere inzwischen in der Lage war, seine Anwesenheit zu maskieren.

 

Oder ich bin aus der Übung.

 

Beides war möglich. Beides war gleich beunruhigend.
 

„Du hast mich also erwartet.“

 

Ein Lächeln verformte Darnelles Lippen.
 

„Natürlich. Immerhin ist das hier dein Zuhause. Der Ort, an dem du immer willkommen bist.“

 

Ezra verzog das Gesicht, sagte aber nichts. Das hier fühlte sich nicht mehr nach Sicherheit an. Eher wie …

 

Eine Falle.

 

Misstrauisch und bis aufs Äußerste gespannt beobachtete er Darnelle, der jetzt hinter der Theke hervortrat und langsam begann, den Raum zu durchqueren. Als er an Ezra vorbeiging, konnte der Nathans Geruch an ihm wahrnehmen.

 

Er versucht nicht einmal, es zu verstecken.

 

Darnelle war jetzt am Fenster angekommen. Es schien, als betrachte er die Stadt. Seine blassen Züge spiegelte sich in dem dunklen Glas.

 

„Aber es ist ja nicht das erste Mal, dass du mich warten lässt“, sagte er, ohne sich umzusehen. Auf den ersten Blick klang es wie eine einfache Feststellung. Doch da war eine Nuance, ein leiser Unterton in seiner Stimme, die Ezra hellhörig werden ließ. Etwas daran war eigenartig und anders, als er erwartet hatte. Aber was?

 

Verdammt! Ich habe keine Zeit für solche Spielchen.

 

Ezra versuchte ein Lächeln.

 

„Ich habe dich warten lassen? Wir haben doch fast den ganzen Abend miteinander verbracht. Ich wusste nicht, dass du so große Sehnsucht nach mir hast.“
 

Darnelle schnaubte leise.

 

„Tja, das sollte man meinen, nicht wahr? Und doch galt deine Aufmerksamkeit fast ausschließlich diesem Nathan oder wie immer sein richtiger Name auch sein mag.“

 

Sein Blick traf Ezras durch die Scheibe.

 

„Hast du wirklich gedacht, dass du mich mit diesem dilettantischen Manöver täuschen kannst?“

 

Ezra schluckte und beruhigte gleichzeitig seinen Herzschlag. Darnelle wusste es. Er hatte es die ganze Zeit gewusst und nichts gesagt.

 

„Du hast mir keine Wahl gelassen.“

 

Darnelle lachte bereits, bevor Ezra den Satz beendet hatte.
 

„Keine Wahl? Oh du weißt, dass das nicht stimmt. Du hättest mir einfach die Wahrheit sagen können. Du weißt, dass ich eine Lösung gefunden hätte. Das tue ich doch immer.“

 

Wieder wollte sich Ezras Puls beschleunigen. Nur mit Mühe könnte er verhindern, dass das verräterische Organ in seiner Brust ihn ans Messer lieferte. Seit wann fiel es ihm so schwer, einen kühlen Kopf zu bewahren?

 

Du wirst doch nicht weich werden?

 

Er wusste nicht genau, wem die Stimme gehörte, aber er mochte sie nicht.

 

„Und wenn mir deine Lösung nicht gefallen hätte?“, fragte er. „Was dann?“

 

Wieder lachte Darnelle.

 

„Dann willst du also behaupten, dass deine Lösungen besser sind als meine?“

 

Er drehte sich herum und bedachte Ezra mit einem spöttischen Lächeln.
 

„So wie mit diesem Wachmann, den du am Leben gelassen hast, obwohl er dich hätte identifizieren können?“

 

Ezras Herz setzte einen Schlag aus. Er hatte doch nicht …?
 

Darnelles Lächeln wurde breiter.
 

„Was? Hast du gedacht, dass ich zusehe, wie mein kleiner Bruder alles aufs Spiel setzt, was ich aufgebaut habe? Was wir aufgebaut haben?“
 

Ezra begann zu zittern. Die Wahrheit, die er so lange nicht hatte sehen wollen, stürzte auf ihn ein. Sein Magen rebellierte, sein Blut kochte, während es gleichzeitig in seinen Adern gefror. Er war so ein Idiot!
 

„Du!“, zischte er. „Du warst es, der mich an diesem Abend in die Irre geführt hat. Und dann hast du mir diesen Wachmann auf den Hals gehetzt, um mich aufzuhalten, damit die Ghule …“
 

Darnelle unterbrach ihn, indem er sich abwandte.
 

„Ich habe nichts dergleichen getan. Oder zumindest nicht aus den Gründen, die du mir unterstellst.“

„Dann warst du es?“

„Dann war ich was?“

 

„Die Koordinaten“, bellte Ezra. Seine Finger gruben sich in das Leder des weißen Sofas, das neben ihm stand. Es knirschte und war bis zum Zerreißen gespannt. „Hast du mir die falschen Koordinaten geschickt?“
 

Darnelle sah auf das Glas hinab, in dem nur noch einige wenige, farblose Stücke schwammen.

 

„Ich werde wohl neues Eis brauchen“, seufzte er.

 

„Darnelle!“

 

Ezras Beherrschung schnappte in sich zusammen. Mit einem Satz war er bei seinem Bruder. Das Glas entglitt dessen Händen und zerschellte auf dem Fußboden. Im nächsten Moment prallte Darnelle mit dem Rücken gegen die Wand, Ezras Hände an seinem Kragen.
 

„Sag mir jetzt endlich die Wahrheit. Hast du versucht, Nathan umzubringen?“

 

Darnelles Augen leuchteten auf. Seine Mundwinkel hoben sich.
 

„Nein, das habe ich nicht.“

„Dann hast du es beauftragt.“

 

Dieses Mal blieb Darnelle ihm die Antwort schuldig. Stumm stand er da und sah ihn an. Ezra knurrte. Noch bevor er wusste, was er tat, hatte er die Faust gehoben und zugeschlagen.
 

Darnelles Nase brach. Blut schoss aus seinen Nasenlöchern. Er sog scharf die Luft ein. Immer noch grinsend, doch jetzt blutbeschmiert, sah er zu Ezra auf.

 

„Du hast keine Ahnung, nicht wahr?“, fragte er lachend und spuckte aus. Danach fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen.

 

„Möchtest du probieren?“

 

Der Blutstrom war längst wieder versiegt, das pulsierende Rot zum Stillstand gekommen. Ezra konnte hören, wie die Knochen zurück an Ort und Stelle rutschten. In wenigen Augenblicken würde nichts mehr davon zeugen, dass Darnelle überhaupt verletzt gewesen war. Nur das Blut, das sein Kinn besudelte. Der Geruch war berauschend. Ezra packte stärker zu.
 

„Antworte mir endlich! Was hast du mit ihm gemacht?“
 

Darnelle grinste.

 

„Nichts.“

„Du lügst!“
 

Wieder wollte Ezra zuschlagen, doch noch bevor er die Faust erneut gehoben hatte, schnalzte Darnelle vorwurfsvoll mit der Zunge.
 

„Ah, nicht doch. Was würde wohl Nathan von dir denken, wenn er sich so sehen würde. Ein wildes Tier, voller Gewalt und Blutdurst.“

 

Ezra erstarrte. Es war, als hätten sich Darnelle Worte in giftigen Efeu verwandelt, der sich unbarmherzig um seine Glieder wand und ihn festhielt. Er wollte Darnelle immer noch wehtun, aber er konnte nicht. In Darnelles Augen blitzte es auf.
 

„Wie ich es mir dachte“, gluckste er. „Du hast ihm diese Seite von dir noch gar nicht gezeigt, oder? Aber warum? Hattest du Angst, dass er sich dann von dir abwendet? Dich verachtet? Dich … fürchtet?“
 

Darnelle kicherte. Er lehnte den Kopf gegen die Wand, gegen die Ezra ihn drückte, und lachte.
 

„Oh, da wäre ich gerne dabei. Der Augenblick, in dem er erkennt, was er wirklich heißt, ein Vampir zu sein. Aus diesem Grund habe ich ihn auch nicht gewandelt, auch wenn ich ihn dir zuerst zum Geschenk machen wollte. Die Gefahr, dass er einfach aufgibt und lieber stirbt, anstatt die Jahrhunderte an deiner Seite zu verbringen, war mir einfach zu groß. Es sei denn natürlich, du stehst darauf, Ghule zu ficken. Ich fand ja schon immer, dass du und Gilbert …“
 

„Hör auf!“
 

Ezra schrie. Er ballte seine Hand zur Faust und wollte zuschlagen, aber noch bevor er die Bewegung zu Ende geführt hatte, fing jemand sie ab. Sein Arm wurde nach hinten geschleudert, der Raum drehte sich um ihn und er landete flach auf dem Rücken. Der Aufprall trieb die Luft aus seinen Lungen. Ein Gewicht drückte ihn zu Boden.
 

„Hände weg von meinem Meister“, fauchte eine weibliche Stimme. Schläge prasselten auf ihn ein. Jemand rief seinen Namen. Darnelle?

 

Mit einem gezielten Hieb gegen die Rippen wollte er seine Angreiferin stoppen, aber die prügelte weiterhin unbeeindruckt auf ihn ein. Die Schläge waren kraftvoller, als sie hätten sein dürfen. Zumal er keinerlei Regung aus ihrem Inneren wahrnahm. Sie war wie tot.
 

Die Ghula!

 

Die Überraschung lähmte Ezra für einen Augenblick und brachte ihm zwei weitere schmerzhafte Treffer ein. Sein Schlüsselbein brach, der zweite Schlag riss seinen Kopf so heftig herum, dass er seinen Schädel knacken hörte. Instinktiv holte er aus, um ihre Kehle zu zerfetzen. Ein Schwall schwarzen Blutes schoss aus den gerissenen Wunden. Er bekam etwas davon in den Mund. Es verklebte sein Gesicht, seine Augen. Trotzdem gelang es ihm, seine Angreiferin von sich runter zu katapultieren. Mit einem Satz war er wieder auf den Füßen. Kampfgeräusche waren zu hören. Darnelle rang am Fenster mit …

 

Aemilius?

 

Ezra kam nicht dazu, sich darüber zu wundern. Die Ghula packte ihn am Fuß und zog. Vergeblich versuchte er, den Sturz abzufangen. Seine blutverschmierten Finger glitten haltlos über den glatten Boden, während sie ihn in Richtung Treppe schleifte. Als er merkte, was sie vorhatte, begann er um sich zu treten. Wieder hörte er Schläge, Schreie. Er musste dieses Ding loswerden!

 

Seine Hand erwischte ein Beistelltischchen. Die darauf befindliche Lampe krachte zu Boden und zersplitterte in tausend Stücke. Er holte aus und warf. Blitzschnell duckte die Ghula sich. Darauf hatte Ezra nur gewartet. Mit einem schnellen Ruck beförderte er sie ein Stück nach vorn und trat zu. Er spürte, wie der Kieferknochen unter der Wucht des Aufpralls zersplitterte. Noch einmal traf er und zermalmte auch noch den Rest. Die Ghula kreischte. Schwarzes Blut tropfte zu Boden, aber sie ließ nicht los. Ihre Finger lagen wie ein Schraubstock um seinen Knöchel.

 

Verdammt!

 

Mit einem letzten Akt der Verzweiflung riss er noch einmal an dem Bein, das sie umklammert hatte. Die Ghula verlor das Gleichgewicht und stürzte. Noch im Fallen griff er zu und schmetterte ihren Körper zu Boden. Sein Knie landete auf ihrem Brustkorb. Drückte ihn ein. Sie begann um sich zu schlagen. Fäuste trommelten gegen seine Brust, seine Arme und Beine Beine. Scharfe Fingernägel hieben schmerzhafte Wunden und Risse. Sie gebärdetet sich wie toll. Ihr einstmals schönes Gesicht zerkratzt und zerfurcht, der untere Teil fehlte.

 

Ezra überlegte nicht lange. Ohne zu zögern griff er mitten hinein in das widerliche Chaos aus Blut, Haaren und Knochensplittern. Totes Fleisch quoll zwischen seinen Fingern hervor, während er ihre Wirbelsäule zu fassen bekam. Ein scharfer Ruck und die Spannung, die die Ghula gerade noch aufrecht gehalten hatte, erlosch. Die Untote sackte in sich zusammen.

 

Angewidert ließ Ezra die leblosen Überreste los und kam auf die Füße. Alles an ihm klebte und stank nach Verwesung. Der Boden war schwarz verschmiert und die unförmige Masse inmitten der immer größer werdenden, dunklen Lache erinnerte nur noch sehr vage an einen menschlichen Körper. Aber es war noch nicht vorbei.

 

 

Am anderen Ende des Raumes entdeckte er Darnelle. Auch er trug Spuren eines Kampfes und zu seinen Füßen lag eine grauhaarige Gestalt. Ezra riss die Augen auf.
 

„Aemilius?“ Sein Blick irrte zu Darnelle. „Was hast du mit ihm gemacht?“

 

Sein Bruder antwortete nicht sofort. Er hob den Kopf und machte einen Schritt auf Ezra zu. In seinem Gesicht stand eine seltsame Verwirrung.
 

„Er hat …“, begann Darnelle, als plötzlich ein Ruck durch seinen Körper ging. Eine hölzerne Spitze zerriss den Stoff seines Hemdes auf Herzhöhe und schob sich noch ein Stück daraus hervor.

 

„Was …?“
 

Darnelle wollte nach dem Pflock greifen. Ihn wieder herausziehen, doch seine Hände glitten von dem schmierigen Holz ab. Er brach in die Knie. Keuchend. Blutend. Schub um Schub quoll es aus seiner Brust. Hinter ihm ragte Aemilius’ Gestalt auf. Ezra konnte den Ausdruck auf seinem Gesicht sehen. Er war mörderisch.
 

„Darnelle Rivoire, hiermit verurteile ich dich aufgrund von Aufrührerei, Durchführung verbotener Rituale, Verrat und Angriff gegen ein Ratsmitglied zum Tode. Die Strafe wird sofort vollstreckt.“

 

Noch einmal trieb er den Pflock tiefer in Darnelles Körper. Ezra konnte förmlich spüren, wie er sich gegen den Fremdkörper wehrte. Wie er versuchte zu heilen. Zu flicken, was unabdingbar für das Überleben war, aber er konnte nicht. Der Pflock verhinderte es.
 

„Aemilius“, rief Ezra. „Aemilius, hör auf.“
 

„Nein“, fauchte der ältere Vampir. „Er hat schon viel zu lange sein Unwesen getrieben. Es endet heute Nacht.“
 

„Nein!“
 

Darnelle starrte Ezra an. In seinem Blick ein Schmerz, wie Ezra ihn noch nie gesehen hatte. Lautlos bewegte er die Lippen, während das Blut seine Lungen füllte.
 

„Darnelle!“

 

Ohne zu überlegen, sprang Ezra nach vorn. Er fing seinen Bruder auf und hielt ihn fest. Darnelles Gesicht zuckte.

 

„Ich … ich habe das nicht … “, flüsterte er. Der Rest dessen, was er sagen wollte, ging in einem erneuten Hustenanfall unter. Mehr Blut lief über sein Kinn. Es war rot aber mit ekelhaften, schwarzen Schlieren darin. Ezra zuckte zurück.
 

„Was ist das?“
 

„Das ist Ghulblut“, knurrte Aemilius. „Der Pflock war damit getränkt.“

 

„Aber wie …?“

 

Ezra wollte noch mehr sagen, doch Darnelle bäumte sich ein letztes Mal in seinen Armen auf. Immer noch waren seine Augen fest auf Ezra gerichtet. Tränen schimmerten darin und eine von ihnen rann stumm seine Wangen hinab.

 

„Darnelle!“
 

Eiskalte Finger griffen nach ihm. Umklammerten seine Hand. Ezras Brust wurde eng. Er spürte Darnelles Leid, als wäre es sein eigenes.

 

Im nächsten Moment war es vorbei. Darnelles Körper erschlaffte. Ezra kannte dieses Gefühl. Er hatte schon mehr als einmal einen Toten im Arm gehabt. Er wusste, wie sich das anfühlte.
 

Aemilius trat zu ihnen. Der ältere Vampir betrachtete den Leichnam von oben herab.

 

„Er hat bekommen, was er verdient hat“, sagte er, ohne das Wort direkt an Ezra zu richten. „Ich werde den Rat informieren.“
 

Ezra antwortete nicht. Er wusste, dass sein Bruder für immer von ihm gegangen war, aber der Schmerz war seltsam gedämpft. Wie durch Watte oder feuchte Leinenbinden, die sich über seine Augen legten, sein Herz, seinen Verstand.

 

„Hätte er nicht … eine Verhandlung bekommen müssen?“, fragte er mit erstickter Stimme.
 

Der Einwand war lächerlich. Unwichtig.
 

„Das Ergebnis wäre dasselbe gewesen“, erklärte Aemilius ohne einen Hauch von Mitgefühl. „Die Beweise, die du zusammengetragen hast, hätten zweimal für eine Verurteilung gereicht.“
 

„Beweise?“ Ezra wurde hellhörig. „Welche Beweise?“

 

Aemilius lachte trocken.
 

„Nun, sieh dich doch mal um. Du hast ihn so weit aus der Reserve gelockt, dass er sich dir offenbart hat. Allein die Anwesenheit der elenden Ghula ist diesbezüglich nicht von der Hand zu weisen. Und sie trug sein Zeichen. Sie muss also zu ihm gehört haben.“

 

Ezra sah auf seine Hände hinab. Dort mischte sich das schwarze Blut der Ghula mit Darnelles rotem. War er wirklich derjenige gewesen, der sie erschaffen hatte? War er ihr Meister?

 

Sie hat es gesagt, oder nicht? Ihn verteidigt. Also muss es stimmen.

 

„Aber warum?“

 

Die Frage war ihm über die Lippen gekommen, bevor er darüber nachgedacht hatte. Jetzt, da sie im Raum stand, kam er jedoch nicht umhin, sie zu beachten.
 

„Warum hat er das gemacht?“, wiederholte er.

 

Aemilius schnaubte.

 

„Ist das nicht offensichtlich? Er wollte Chaos stiften. Die Stadt in den Ruin treiben und auf ihrem Gerippe tanzen. Er und seine sogenannten Freunde sind nichts als ein Haufen aufgeblasener Querulanten, die sich einbilden, sie wüssten alles, nur weil sie ein paar Jahrhunderte überlebt haben. Emporkömmlinge allesamt. Als wenn jemand, der aus der Gosse kommt, wüsste, was es heißt zu regieren.“
 

Der Hass, der ihm entgegenschlug, ließ Ezra zurückweichen. Ihm war bewusst, dass es schon immer Spannungen zwischen Aemilius und Darnelle gegeben hatte. Ihr Vater hatte mehr als einmal betont, dass er Darnelle für eine Kanalratte hielt, die es geschafft hatte, sich in ein gemachtes Nest zu setzen. Aber er hätte nie mit einer derartigen Abscheu gerechnet.

 

Sieh es doch ein. Es passt alles zusammen. Er hat dich benutzt. Erpresst. Hat dich mundtot gemacht und versucht, dich auf seine Seite zu ziehen. Er wollte eine Rebellion. Du selbst hast bereits überlegt, ob er es nicht sein könnte, der hinter allem steckt.
 

„Aber warum hat er sich dann an Nathan vergriffen? Er hätte doch froh sein müssen, dass ich abgelenkt war. Warum hat er mich immer wieder bedrängt und meine Nähe gesucht? Es wäre ihm doch ein Leichtes gewesen …“
 

Ezras Gemurmel erstarb, als sein Blick auf einen Gegenstand fiel, den Aemilius in die Höhe hielt. Im Licht der sterbenden Nacht blitzte er silbern auf. Ezras Augen wurden groß.

 

„Das ist … Elisabeths Medaillon!“

 

Den Blick unverwandt auf das Schmuckstück gerichtet trat er näher. Mondlicht spiegelte sich in dem filigranen Muster des Anhängers. Im Inneren war Platz für Bilder. Fotos von geliebten Menschen, damit man sie ganz nahe an seinem Herzen tragen konnte.

 

„Woher hast du das?“
 

Der ältere Vampir verzog keine Miene.
 

„Ich fand es in Darnelles Zimmer. Er muss es dir gestohlen haben. Vielleicht, um dich erneut damit zu quälen.“

 

Aemilius streckte den Arm aus und Ezra griff zu. Ungläubig ließ er die silbernen Glieder der Kette durch seine Finger gleiten. Das Medaillon war immer noch wunderschön. Wie an dem Tag, an dem er es vergraben hatte. Woher hatte Darnelle davon gewusst?
 

„Du wolltest es ihr zum Geburtstag schenken. Darnelle hatte beobachtet, wie du es gekauft hast. Er hat es dir heimlich entwendet und es Elisabeth gezeigt, um dir die Überraschung zu verderben. Du warst so vor den Kopf gestoßen, dass du ihr das Geschenk nie gegeben hast.“
 

Aemilius bewegte sich hinter ihm, aber Ezra achtete nicht darauf. Sein Blick war einzig und allein auf das Schmuckstück in seiner Hand gerichtet.

 

„Er hat mich verspottet“, sagte er leise. „Ob ich denken würde, dass sie sich wegen so eines billigen Kleinods für mich entscheiden würde. Dabei war das gar nicht meine Absicht. Ich wollte nur …“

 

„Ich weiß, was du wolltest“, unterbrach ihn Aemilius. „Aber Darnelle war eifersüchtig. Er hat es nicht ertragen, euch beide zusammen zu sehen. Wann immer das der Fall war, hattet ihr nur noch Augen füreinander. Das hat ihn wahnsinnig gemacht.“
 

Ezra runzelte die Stirn.

 

„Aber das stimmt nicht“, murmelte er. „Elisabeth hat immer …“
 

Aemilius lachte auf.

 

„Oh, es ging ihm dabei nicht um Elisabeth.“

 

Ezras Gedanken kamen ins Stocken. Seine erste Reaktion war zurückzuweisen, was Aemilius eben gesagt hatte. Da war nichts gewesen zwischen ihm und Darnelle. Nichts, was über körperliche Befriedigung und Freundschaft hinausgegangen war. Sie hatten Spaß miteinander gehabt und das immer nur, wenn Elisabeth sie dazu aufgefordert hatte.

 

Aber Elisabeth ist fort und das schon lange. Er jedoch ist geblieben.

 

Ezra unterdrückte ein Keuchen. Für ihn hatte Elisabeths Tod alles geändert. Sie hatte den Mittelpunkt seines Lebens, ja seines ganzen Seins bedeutet. Aber was, wenn das für seinen Bruder nicht so gewesen war? Wenn er sein Herz an jemand anderen verloren hatte? Jemand, der ihn nie auf diese Weise betrachtet hatte.

 

Noch einmal schienen Darnelles Finger in seinen zu liegen, die leuchtend blauen Augen ihn durch den Tränenschleier hinweg anzusehen.

 

Du hast keine Ahnung, nicht wahr?

Ich will doch nur, dass du glücklich bist.

Bitte. Ich brauche es.

 

Ezras Brust zog sich zu einem kalten Knoten zusammen. Er konnte nicht atmen. Sollte das wirklich möglich sein? Nach all der Zeit?

 

„Aber warum hat er nie etwas gesagt?“

 

Wieder lachte Aemilius.
 

„Hättest du ihn denn erhört? Für dich gab es doch immer nur Elisabeth. Selbst sein dilettantischer Versuch, dich durch eine Wandlung an sich zu binden, ist fehlgeschlagen. Oder meinst du etwa, es war ein Versehen, dass er dich in jener Nacht fast getötet hat? Nein, mein Lieber. Das war alles von langer Hand geplant und wäre Elisabeth nicht dazwischen gekommen, wärst du jetzt von seinem Blut. Manchmal frage ich mich, ob er es nicht war, der sie damals in die Flammen gestoßen hat.“

 

Ezra fuhr auf. Diese Anschuldigung war ungeheuerlich. Er wusste, dass es eine Lüge war. Darnelle hatte Elisabeth geliebt. Genau wie sie alle.
 

„Das glaube ich nicht.“
 

Aemilius schnaubte belustigt.
 

„Glaube es oder glaube es nicht. Nach all dieser Zeit spielt es ohnehin keine Rolle mehr. Du warst der Einzige, der das nicht verstanden hat.“

 

Wieder schüttelte Ezra den Kopf. Die Vorstellung, dass Darnelle etwas mit Elisabeths Tod zu tun gehabt haben könnte, war ungeheuerlich. Andererseits würde es erklären, warum er die Ghule auf Nathan gehetzt hatte. Er wollte ihn aus dem Weg räumen. Die Konkurrenz ausschalten. Allerdings …

 

Irgendetwas stimmt da nicht. Wenn es ihm wirklich darum gegangen wäre, Nathan zu töten, warum hat die Ghule dann nicht einfach tagsüber geschickt? Oder einen menschlichen Killer angeheuert und einen Raubüberfall inszeniert oder etwas in der Art. Warum hat er bis zur Nacht gewartet und damit riskiert, von mir als Schuldiger identifiziert zu werden? Warum hat er das gemacht?

 

Nur mit halbem Ohr vernahm er das feuchte, schmatzende Geräusch, das hinter seinem Rücken erklang. Er konnte sich einfach nicht erklären, warum Darnelle derart stümperhaft hätte vorgehen sollen, wenn er sonst ein Meister der Heimlichkeiten war. Ein Mann ohne Spuren. Es ergab keinen Sinn.

 

Es sei denn …

 

Ezra hob den Kopf. Sein Blick richtete sich auf Aemilius, der mit dem Pflock in der Hand über ihn gebeugt dastand.
 

„Es sei denn, jemand anderes wollte mich nur glauben lassen, dass er es war.“

 

Aemilius’ Lippen verzogen sich zu einem zähnestarrenden Lächeln.

 

„Ganz schön clever für einen Schafficker aus Kanada. Man könnte meinen, dass du doch etwas von mir gelernt hast.“

 

Ezra presste die Kiefer aufeinander.
 

„Du warst es, nicht wahr? Du hast die Ghule auf die Stadt losgelassen. Und dann hast du versucht, es Darnelle in die Schuhe zu schieben. Was hast du dir davon versprochen? Dass wir uns gegenseitig zerfleischen?“

 

Aemilius grinste breit.

 

„Oh nein, das war eigentlich nicht mein Plan, aber ein netter Zusatzgewinn. Zumal es den Verdacht so wunderbar von mir abgelenkt hätte. Du wärst als großer Held aus der Sache hervorgegangen, ich als dein Mentor hätte meinen Platz im Rat behalten, es war einfach perfekt.“

 

Sein Grinsen wurde kälter, der Ausdruck gezwungener.
 

„Aber dann musstest du diesen Menschen ja retten. Ich hatte Katherine gesagt, dass sie sich auf keinen Fall auf einen Kampf mit dir einlassen soll. Sie sollte lediglich dafür sorgen, dass du sie neben der Leiche erwischst. Dann, so war ich mir sicher, würdest du außer dir vor Wut in den Club deines Bruders stürmen und ihn vor den Augen aller zur Rede stellen. Aber wie immer hast du den Schwanz eingezogen und warst zu feige, um einen offenen Kampf zu wagen. Du hast gekniffen und dich versteckt. Wie gut, dass ich schon ahnte, wo du hingehen würdest, und dort alles vorbereitet hatte. Du bist so vorhersehbar.“

 

Ezra lief es kalt den Rücken hinunter. Aemilius Worte zeigten ihm, dass er mit allem Recht hatte. Vermutlich hatte der ältere Vampir die Summe für den Kauf des Hofs seiner Eltern in irgendeinem alten Geschäftsbuch entdeckt. Er war dorthin gereist und hatte an sich gebracht, was nie für ihn bestimmt gewesen war. Und dann hatte er versucht, Darnelle den Diebstahl in die Schuhe zu schieben. Ebenso wie die Sache mit den Ghulen. Ein perfider Plan,d er fast funktioniert hätte.
 

„Also warst du es“, stellte er fest. „Aber warum? Weil er dir damals Elisabeth weggenommen hat? Oder ich?“

 

Aemilius blinzelte überrascht, bevor er schallend anfing zu lachen.

 

„Oh, wie naiv kann man sein? Anscheinend hast du es immer noch nicht kapiert.“

 

Er hörte auf zu lachen und funkelte Ezra an.
 

„Als wenn es mich nach all den Jahren noch interessieren würde, mit wem sie damals ins Bett gestiegen ist. Diesbezüglich waren sie und Darnelle sich ähnlicher, als sie wahrhaben wollte. Wie eine rollige Katze hat sie sich verhalten und er hat jedem seinen Arsch hingehalten, der sich auch nur an den Hosenstall gegriffen hat. Die beiden waren wirklich das perfekte Paar. Aber mit dir war das anders.“

 

Aemilius’ Stimme wurde zu einem Zischen.
 

„Dir hat sie schöne Augen gemacht. Hat dich überall mit hingeschleppt, dich ausstaffiert, gehegt und verhätschelt wie einen verdammten Schoßhund. Jedes zweite Wort aus ihrem Mund drehte sich um dich.“

 

Er lachte auf.
 

„Aber selbst das war mir egal. Sogar als sie sich deinetwegen von mir trennen wollte, habe ich ihr zwar gesagt, dass sie es bereuen würde, aber wie hätte ich sie daran hindern sollen? Sie hat schon immer gemacht, was ihr in den Sinn kam. Als sie dann starb, war es für mich nicht mehr als eine kleine Unannehmlichkeit. Ich habe mein Leben weitergelebt und ein Imperium erschaffen, das seinesgleichen sucht. Aber Darnelle … Dieser dreckige, kleine Hurenbock hat bereits sein Leben lang seine nach den Arschlöchern fremder Männer stinkenden Finger nach allem ausgestreckt, was nicht ihm gehörte. Er hätte besser bei seinen Partys und seidenen Bettlaken bleiben und sich nicht in politische Angelegenheiten einmischen sollen. Anhänger um sich scharen und Unfrieden stiften, wie eine Made, die des Specks um sie herum überdrüssig geworden ist. Er konnte nicht genug kriegen, wollte immer noch mehr. Und wie eine Dirne, die zu gierig geworden ist, hat er jetzt die Quittung dafür bekommen. Einen van Draken bestiehlt man nicht.“

 

Der ältere Vampir umfasste den Pflock fester.
 

„Zu dumm, dass du anscheinend nicht mal in der Lage bist, einer extra für dich vorbereiteten Fährte zu folgen. Du wärst als strahlender Held aus der Sache hervorgegangen. Als derjenige, der die Stadt von der herannahenden Bedrohung gerettet, deinen Bruder überführt und die Aufständler in ihre Schranken verwiesen hat. Aber du musstest ja beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten wieder unter Darnelles Rockzipfel kriechen und dich damit erpressbar machen. Als wenn ich nicht schon längst gewusst hätte, was da vor sich ging. Vielleicht hätte ich dich dein kleines Spielzeug sogar behalten lassen für eine Weile. Als Belohnung für deine gute Tat sozusagen. Jetzt jedoch wird mir nichts anderes übrig bleiben, als diesen Burschen zu töten. Immerhin ist er ein Zeuge. Wir können ja nicht zulassen, dass er damit an die Öffentlichkeit geht, nicht wahr?“
 

Ezra spannte sich.

 

„Du wirst Nathan nichts antun.“
 

Aemilius grinste.
 

„Wie ich hörte, ist das ja nicht einmal mehr notwendig. Darnelle hatte ihn bereits in der Mangel und du hast genug Zeugen hinterlassen, die aussagen werden, dass du deswegen außer dir warst. Du hast ihn verfolgt, es kam zum Streit, die Ghula mischte sich ein und am Ende habt ihr euch gegenseitig zerfetzt. Ein perfektes Szenario, um euch für immer loszuwerden.“

 

Ohne weitere Vorwarnung holte Aemilius mit dem Pflock aus und stach zu. Ezra zuckte zurück, doch er war zu langsam. Das schwarze Holz durchbohrte seine Schulter und ein beißender Schmerz durchfuhr seinen ganzen Körper. Er schrie auf und riss sich los, doch es war bereits zu spät. Das Gift war in die Wunde vorgedrungen und tat seinen tückischen Dienst. Er spürte, wie die Wunde zu heilen versuchte, aber das Fleisch vor dem Gift zurückzuckte. Wie es auswich und versuchte, einen Weg drumherum zu finden. Der Schmerz war unbeschreiblich. Nervenzerfetzend. Ezra sog scharf die Luft ein.
 

„Zwickt ein bisschen, nicht wahr?“
 

Aemilius lächelte und zog sein Hemd aus der Hose. An seiner Seite entblößte er die Narbe, die Ezra bereits viele Male gesehen hatte. Er hatte nie gefragt, woher sie stammte. Lächelnd deutete Aemilius darauf.
 

„Ein Überbleibsel des Krieges. Ein überambitionierter Jäger hat mir die halbe Seite aufgerissen und sie mit Ghulblut beschmiert. Damals wussten unsere Gegner noch, wie man einen Vampir zur Strecke bringt. Aber wir haben dafür gesorgt, dass dieses Wissen in Vergessenheit geraten ist. Wir brachten Gesetze heraus, die die Haltung und Erschaffung von Ghulen verboten. Wir taten alles, um zu verhindern, dass jemals wieder jemand solche Schmerzen erleiden muss. Aber ich denke, heute Nacht werde ich eine Ausnahme machen.“

 

Mit einer Geschwindigkeit, die sein Äußeres Lügen strafte, sprang Aemilius auf ihn zu und holte erneut zum Stoß aus. Dieses Mal wich Ezra im letzten Moment aus und der Pflock traf eines der edlen Sitzmöbeln. Mit einem reißenden Geräusch schlitzte Aemilius das weiße Leder der Länge nach auf und wirbelte herum. Ezra brachte sich mit einem beherzten Satz in Sicherheit. Er ging gerade noch rechtzeitig hinter einer weiteren Couch in Deckung, bevor eine der schweren Kristallvasen den Boden hinter ihm in einen Splitterregen tauchte. Viel Zeit zum Aufatmen blieb ihm jedoch nicht. Schon hörte er, wie Aemilius hinter ihm her setzte, wild entschlossen, auch sein Herz zu durchbohren.

 

Ich muss mir was einfallen lassen.

 

„Hab ich dich!“

 

Nur wenige Zentimeter neben Ezras Kopf stak der Holzpflock aus dem Polster der Couch. Aemilius hatte es glatt durchstoßen. Ezra sah seine Chance und griff zu, doch schon hatte der ältere Vampir den Pflock zurückgezogen und hieb zum zweiten Mal nach ihm. Dieses Mal verfehlte er noch knapper.
 

„Wird es nicht eigenartig aussehen, wenn Darnelle und ich durch die gleiche Waffe sterben?“, warf er Aemilius zusammen mit einer abstrakten Skulptur entgegen. Der andere duckte sich und die Bronzeplastik polterte zu Boden.

 

Vielleicht macht das die Sicherheitsleute aufmerksam.

 

Kaum hatte er das gedacht, sah er Aemilius grinsen.
 

„Oh, keine Bange“, meinte er leichthin. „Man wird eure Leichen niemals finden. Siehst du? Die Sonne geht bald auf. Von euch wird nichts übrig bleiben.“

 

Noch einmal versuchte Aemilius einen Ausfall, aber Ezra war auf der Hut. Wie ein Stierkämpfer wich er dem heranrasenden Vampir aus und rettete sich mit einem Sprung in Richtung des offenen Kamins. Daneben das gusseiserne Kaminbesteck. Ezra griff nach dem Schürhaken. Gerade noch rechtzeitig hob er die improvisierte Waffe über den Kopf, um den nächsten Hieb abzufangen. Krachend trafen die ungleichen Materialien aufeinander. Ezra meinte, das Holz knirschen zu hören. Er ächzte unter der Wucht des Aufpralls.

 

„Du hast keine Chance gegen mich“, fauchte Aemilius und stach wieder zu. Seine Ausdauer war unerschöpflich. Ezra hingegen bemerkte bereits, wie seine Kräfte zu schwinden begannen. Die Wunde an seiner Schulter hatte sein gesamtes Jackett durchtränkt und immer noch wurde das kostbare Rot aus der Wunde gepumpt. Schwindel griff mit dünnen Spinnenfingern nach ihm und seine Sicht begann unscharf zu werden. Er musste die Blutung stoppen. Aber wie?
 

Wieder wehrte er einen Schlag ab und brachte mit einem Satz mehr Abstand zwischen sich und die teuflische Waffe. Er musste sie Aemilius abnehmen und … Sein Blick blieb an dem Körper der Ghula hängen. Ihr kopfloser Körper lag immer noch in der schwarzen Blutlache. Ein See voller Gift, wenn man es genau nahm.

 

Aber nur, wenn ich es in seine Blutbahn bekomme.

 

Doch wie sollte er das anstellen? Aemilius würde kaum abwarten, bis er eine Spritze mit Ghulblut aufgezogen und sie ihm verabreicht hatte.

 

Es sei denn …

 

So unauffällig wie möglich schob Ezra sich an den Leichnam heran. Ohne hinzusehen bohrte er die Spitze des Schürhakens in den Körper der Ghula, während er Aemilius gleichzeitig nicht aus den Augen ließ.

 

Der ältere Vampir bleckte die Zähne.

 

„Du bist ein Feigling“, fauchte er. „Das warst du schon immer. Sobald es Schwierigkeiten gibt, ergreifst du das Hasenpanier. Du bist ein Schwächling. Ein Trottel. Ich frage mich, was sie je an dir gefunden hat. Du taugst eher dazu, einen Pinsel zu schwingen denn ein Schwert. Einen Künstler hat sie dich genannt. Dabei verstehst du so viel von Kunst wie eine Sau vom Harfe spielen. Du bist ein Nichts. Ein Dreck. Bauernabschaum, der vergessen hat, wo sein Platz ist.“

 

Wieder stürmte Aemilius heran, doch dieses Mal blieb Ezra stehen und wich nicht aus.
 

„Ich bin kein Feigling!“, rief er, als hätten ihm die Worte etwas anhaben können. Unmerklich spannte er sich. Dabei packte er den Schürhaken fester. Er hatte nur einen Versuch. Wenn der scheiterte …

 

Aemilius war heran. Er sprang, holte mit dem Pflock aus und zielte direkt auf Ezras Herz. Ezra ging in die Knie. Die Hand mit dem Schürhaken schnellte nach oben und die schwarzglitzernde Metallspitze durchbohrte den herabstürzendenVampir.

 

Erneut warf sich Ezra zur Seite. Der Pflock streifte seine Wange und riss eine brennende Spur. Ezra zischte und zog sich noch weiter zurück. Am Boden lag Aemilius und stöhnte. Ezra erhob sich. Der Blutverlust ließ ihn taumeln.

 

„Mag sein, dass ich nur ein dummer Schafficker bin“, sagte er keuchend. „Aber ich weiß, wie man einen Wolf fängt.“
 

Aemilius lachte. Er richtete sich auf. Blut kam aus seinem Mund, der Schürhaken stak mitten in seinem Bauch.
 

„Ach ja?“, fragte er und grinste. „Dann solltest du auch wissen, dass man einem Wolf nicht das Fell abzieht, bevor man sicher ist, dass man ihn auch wirklich getötet hat.“

 

Schon griff Aemilius nach dem Schürhaken und begann, ihn sich aus dem Leib zu ziehen. Ezra holte tief Luft.
 

„Ich brauche dich nicht zu töten. Ich brauche nur dafür zu sorgen, dass du nicht mehr weglaufen kannst.“

 

Ezra stürmte auf Aemilius zu. Der hieb mit dem Pflock nach ihm, aber Ezra blockte den Schlag ab und prallte gegen den älteren Vampir. Er stieß ihn rückwärts und warf sich gleichzeitig hinterher. Die gläserne Außentür barst unter ihrem Gewicht und in einem Scherbenregen stürzten sie gemeinsam nach draußen.

 

Auf dem Dach war es bereits hell. Jeden Moment würden die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont lecken. Ezra hatte nicht viel Zeit.

 

Mit voller Wucht hieb er auf den Griff des Schürhakens. Der Schlag trieb die Metallstange tief in die steinernen Bodenplatten. Anschließend sprang Ezra rückwärts und rettete sich nach drinnen, während über der Stadt die Sonne aufging.

 

Aemilius heulte auf. Erfolglos versuchte er, den Eisenstab aus dem Boden zu ziehen, aber seine Hände glitten immer wieder an dessen glitschiger Oberfläche ab. Gleichzeitig war der Stab so lang, dass er sich nicht darüber hinweg schieben konnte. Er war gefangen wie ein Wolf in einer Fallgrube.

 

„Du Hundsfott!“, kreischte er. „Niederträchtige Ratte! Wenn ich dich in die Finger kriege …“

 

„Ich glaube nicht, dass das noch passieren wird.“
 

Gleißend brach die Sonne über das Dach herein. Immer näher kam das helle Leuchten dem älteren Vampir, bis es ihn schließlich einhüllte. Sein Körper begann zu glühen und von innen heraus zu leuchten. Ein Schrei löste sich aus seiner Kehle, wie Ezra ihn noch nie vernommen hatte. Jede einzelne Zelle erstrahlte im Licht des mächtigen Himmelskörpers, bevor sie von innen heraus explodierte. Geblendet schloss Ezra die Augen und wandte den Kopf ab. Die Druckwelle spülte über ihn hinweg und mit ihr der Geruch nach verkohltem Fleisch und verbrannten Haaren. Die Hitze nahm ihm den Atem.

 

Es ist vorbei.

 

Vollkommen erschöpft ließ Ezra sich neben der Tür zu Boden sinken. Seine Schulter brannte, seine Muskeln versagten ihm den Dienst. Vor seinen Augen tanzten bunte Flecken. Alles an ihm wünschte sich nichts mehr als zu schlafen und nie wieder aufzuwachen.

 

Vielleicht sollte ich einfach hier sitzen bleiben.

 

Das Sonnenlicht würde auch ihn irgendwann erreichen. Er brauchte einfach nur zu warten, dann würde der neue Tag auch seinen Körper zu einem Haufen Asche werden lassen.

 

Vielleicht wäre es besser so.

 

Die Welt brauchte keine Vampire. Niemanden der sie benutzte, manipulierte und mit ihren Leben spielte, als wären die Menschen nicht mehr als Schachfiguren auf einem riesigen Spielfeld. Bauernopfer, die bereitwillig hierhin und dorthin verschoben werden konnten, wie es den Vampiren gerade passte. Wesen wie er waren wertlos, nutzlos und dienten einzig und allein dem Zweck, sich selbst am Leben zu erhalten. Schmarotzer, die sich wortwörtlich vom Blut der Gesellschaft nährten. Es war erbärmlich.

 

Unsere Zeit ist vorbei. Wir sollten gehen.

 

Irgendwo in dem Chaos aus umgeworfenen Möbeln, aufgeschlitzten Polstern, zerstörten Kunstgegenständen und den zwei blutverschmierten Leichen begann plötzlich etwas zu klingeln. Sein Telefon. Es musste ihm während des Kampfes aus der Tasche gerutscht sein und jetzt versuchte jemand äußerst Hartnäckiges, ihn zu erreichen. Das Geräusch wollte und wollte nicht verstummen.

 

Ächzend erhob Ezra sich schließlich. Er folgte dem Klang des nervigen Piepens, bis er irgendwann es zwischen den Überresten eines venezianischen Glastisches fand. Auf dem gesprungenen Display leuchtete eine unbekannte Nummer. Einen Moment lang betrachtete Ezra sie, dann ging er ran.
 

„Hallo?“

„Ezra? Ezra, bist du das?“

 

Marvins Stimme klang aufgeregt.

 

„Ja, ich bin es“, bestätigte Ezra. Sein Herz begann zu zittern.

 

„Er ist aufgewacht. Nathan ist aufgewacht.“

 

Ezra schloss für einen Moment die Augen. Immer noch fühlte er den Drang in sich, einfach ins Licht zu gehen. Alles hinter sich zu lassen. All das Leid, dass er verursacht hatte. All die Schmerzen.

 

Aber was wird dann aus Nathan?
 

Würde er es verstehen? Sein Leben weiterleben und ihn einfach vergessen? Oder würde er sich am Ende die Schuld geben, so wie er es all die Jahre mit Elisabeths Tod gemacht hatte.

 

Nein. Das kann ich ihm nicht antun.

 

Mit Gewalt kämpfte Ezra sich in die Höhe. Sein ganzer Körper schmerzte und aus der Wunde, die Aemilius geschlagen hatte, sickerte immer noch Blut. Zudem stieg die Sonne immer höher. Er würde sich vorbereiten müssen, wenn er jetzt rausging.

 

„Ich komme“, sagte er jedoch nur. Dann legte er auf.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  TaniTardis
2022-09-20T04:48:25+00:00 20.09.2022 06:48
Oh man, das war ein Kapitel...toll gemacht, man hatte gefühl dabei gewesen zu sein....Und die Wahrheit ist hart für Ezra wer hätte das gedacht....Bin beruhigt das Ezra überlebt hat, trotzdem schade um seinen Bruder Darnelle...er tut mir schon leid...Bin gespannt wie es weiter geht...super gemacht :)
Antwort von:  Maginisha
20.09.2022 11:27
Hey TaniTardis!

Freut mich, dass es dir gefallen hat. Ich hab mir Mühe gegeben. :) Es hat aber auch Spaß gemacht, mal wieder eine schön flüssige Szene aufs Papier zu bringen.

Die Wahrheit war dann tatsächlich hart, zumal sie ja durch Darnelles Tod auch so etwas Endgültiges hat. Andererseits ... er war halt schon irgendwie auch ein A...loch. Dieses Schicksal hat man ihm dann aber vielleicht doch nicht gegönnt.

Wann es weitergeht, muss ich sehen. Moment liege ich noch so ziemlich flach, aber vielleicht geht es ja auch bald wieder bergauf.

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  Ryosae
2022-09-18T11:24:22+00:00 18.09.2022 13:24
Alter war das ein geiles Kapitel! 😳
Es war einfach so unfassbar gut geschrieben, man hat keinen Text gelesen, sondern einen Film geschaut! Wow!

Ich hab viele Fragen... Darnelle wollte Ezra also ein "Geschenk" damit machen Nathan zum Vampir zu wandeln? Damit er immer an seiner Seite sein kann? Ist auf verqerte Weise ganz süß..
Zu Elisabeth, sie war ursprünglich mit Aemilius zusammen, hat dann aber mit Darnelle angebändelt und später Ezra gewandelt, weil sie ihn toll fand, sich dann von Aemilius getrennt um dann mit einem der anderen zusammen sein zu können? Diese Vampirbeziehungen 😅
Wird Nathan jetzt gleich Marvin anfallen wollen und wie zum Teufel kommt Ezra jetzt dort hin? Läuft das wie bei Buffi, wenn Spike mit einer Decke tagsüber in der Stadt rumgelaufen ist?
Wird das nächste Kapitel der Epilog?

Bin noch ganz verzaubert!

LG
Ryo
Antwort von:  Maginisha
20.09.2022 11:23
Hey Rosae!

Vielen Dank für die Blumen. Dann hat mein Gehirn ja vor dem Corona-Kollaps noch schnell was Gutes vollbracht. :D Ich hatte auch einen ziemlichen Film im Kopf. Wie gut, dass ich ihn "auf Papier" bringen konnte.
(Wobei wir nicht hoffen, dass jemand gesehen hat, wie ich auf dem Badezimmerteppich liegend einige der Kampfszenen nachgestellt habe. *hüstel*)

Damit dem Geschenk hast du schon ganz richtig verstanden. ^^ Und ja, es ist ziemlich schräg. Man kann, wenn man das jetzt weiß, bei einigem vielleicht jetzt eine andere Motivation erkennen, als ursprünglich angenommen. Zum Beispiel auch bei Darnelles Überfall auf Ezra damals. Vielleicht war es ja von Anfang an sein Ziel, ihn auch zum Vampir zu machen und er wollte es nur nicht zugeben, als Elisabeth ihn dann erwischt hat? Immerhin war der Vorschlag, Ezra zu wandeln, ja ursprünglich von ihm. Oder die Tatsache, dass er sofort losgestürmt ist, um Elisabeth zu retten. Kann natürlich an seiner innigen Liebe zu ihr liegen. Oder daran, dass er verhindern wollte, dass Ezra sich in Gefahr begibt. Möglich wäre vieles. ^__^

Elisabeth hat eigentlich so ihre Männer gesammelt. Aemilius fand sie sicher nicht unschick, aber in früheren Zeiten hätte sie als alleinstehende Dame wohl auch nicht viel gekonnt. Sie brauchte daher einen Herren an ihrer Seite, der ihr die Freiheiten ermöglicht, die sie wollte. Darnelle fand sie dann auch "haben wollen", weil auch er einen Teil ihrer Persönlichkeit "befriedigt" hat und dann eben noch Ezra, mit dem sie die eher gefühlvolle, romantische Seite teilen konnte. (Und jetzt hab ich grad wieder "One to make her happy" von Marque in Kopf. :D)

Die Idee mit der Decke ... ich bin fast lachend vom Stuhl gefallen. Also ja, so ähnlich, aber zum Glück ist Ezra ja ein wenig besser aufgestellt als Spike in seiner Gruft. Ein bisschen was Besseres als ne Decke wird er wohl finden. Zumal es ja auch noch früh ist und zwischen den Hochhäusern noch fast überall Schatten liegt.

Das nächste Kapitel ist noch als richtiges Kapitel geplant, aber ich schaue mal, wie lang es wird. Theoretisch kommt dann aber noch ein Epilog hinterher.

Weiterhin eine verzauberte Woche!
Mag
Von:  chaos-kao
2022-09-17T23:09:21+00:00 18.09.2022 01:09
Hui, that escalated quickly! Ich habe ja nicht gedacht, dass es jetzt doch so schnell zum großen Kampf kommen würde. Und das ganze Drama nur aus jahrhundertelanger Eifersucht? Man sollte meinen, dass jahrhundertelanges Leben Vampire weise werden lässt... So wie Elben :D Ich bin ja mal gespannt wie er das mit der Vergiftung lösen wird. Und was nun mit Nathan tatsächlich passiert ist.
Antwort von:  Maginisha
18.09.2022 10:36
Hey chaos-kao!

Eigentlich war Eifersucht ja nicht wirklich das Motiv. Also schon, mal Darnelles Aktion mit den Koordinaten angeht. Er wollte ihn halt von Nathan wegbekommen und hat gehofft, dass sein Bruder ihn, wie so oft, dann zur Hilfe ruft, um die Leiche des Nachtwächters zu entsorgen. Hat ja aber nicht geklappt.
Bei Aemilius spielten da eher "politische" Gründe eine Rolle. Darnelle hatte angefangen, gegen die bestehende "Regierung" zu rebellieren. Also hat Aemilius , weil er ihn eh nie wirklich leiden konnten und das anfangs tatsächlich auch aus Eifersucht, ihn zum exemplarischen Sündenbock gemacht, damit die anderen kritischen Stimmen den Mut verlieren. Hat halt auch nicht geklappt. ^^

Die Frage mit der Vergiftung und auch mit Nathan klären wir natürlich noch. :)

Zauberhafte Grüße
Mag


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