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Bis dass der Tod uns findet

von

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Kontrolle ist besser

Das Telefon klingelte, als Nathan gerade das letzte Wort des Absatzes tippte. Er speicherte noch schnell ab und griff nach dem Hörer. Auf dem Display stand Shannons Name. Mit einer unguten Vorahnung hob er ab.
 

„Ja?“

„Nathan? Sofort in mein Büro.“
 

Dann legte sie auf. Shannon war kein Fan von unnützen Worten. Oder Begrüßungen. Oder Abschiedsformeln. Nathan seufzte.
 

„Ich bin dann mal eben beim Drachen.“

„Viel Glück.“
 

Amanda streckte ihm zwei Daumen in die Höhe und er antwortete darauf mit einem halbherzigen Grinsen. Shannon hatte nicht begeistert geklungen und wenn Shannon nicht begeistert war, war Nathan es kurze Zeit später meist ebenfalls nicht mehr.
 

Umso erstaunter war er, Shannons Büro nicht so leer wie gedacht vorzufinden. Neben der eigentlichen Besitzerin stand auch noch ein großer, hagerer Mann mit einem grau melierten Bart und einer intellektuell wirkenden Brille. Als Nathan eintrat, erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht.
 

„Ah, da kommt ja der Mann der Stunde. Du musst Nathan sein. Ich bin Robert.“
 

Bevor Nathan wusste, wie ihm geschah, war seine Hand schon in einen kräftigen Händedruck verschwunden. Er besaß gerade noch die Geistesgegenwart, ihn zu erwidern. Robert schien das zu gefallen. Er legte die Hand auf Nathans Schulter.
 

„Komm“, meinte er immer noch lächelnd, „setzen wir uns und reden über deinen Artikel.“
 

Sie nahmen am dem kleinen, runden Tisch Platz, den Shannon in ihrem Büro stehen hatte. Nathan saß auf der einen, Shannon und Robert auf der anderen Seite. Oder bildeten sie einen Kreis? Und war das ein gutes Zeichen?
 

Robert eröffnete die Besprechung.
 

„Ich will nicht lange drumherum reden, mir hat dein Artikel gefallen. Ich finde ihn toll und will ihn drucken. Aber …“
 

Nathans Herz rutschte eine Etage tiefer. Natürlich kam jetzt ein Aber. Es gab immer ein Aber.
 

„Ich will dieses Ding größer aufziehen. Jetzt liest sich das Ganze eher wie eine Kolumne. Durchaus unterhaltsam und eindrucksvoll, aber ich will mehr. Ich will Zahlen, Daten, Fakten und Tabellen. Mit Quellenangaben und allem Pipapo. Kannst du das liefern?“
 

Nathan schluckte. Die Zunge klebte an seinem Gaumen und er war sich sicher, kein Wort herausbringen zu können. Also nickte er nur. Natürlich konnte er das. Er war ja schließlich nicht blöd.
 

„Der Artikel soll mindestens eine Doppelseite füllen, eher noch zwei“, referierte Robert weiter. „Am besten sprichst du dich mal mit Mei vom Layout ab, wie ihr das gestaltet. Ich will handliche, kleine Infobrocken. Ansprechend verpackt, interessant und übersichtlich. Außerdem braucht ihr jemanden aus der Graphikabteilung für die optische Gestaltung. Mei weiß sicher, wer da am besten geeignet ist. Ich will die Thematik plakativ umgesetzt haben, sodass man nicht daran vorbeigehen kann. Und ich will, dass wir das Sortiment aufstocken. Shannon, du siehst nach, ob wir entsprechende Portfolios von angehenden Autoren vorliegen haben und sprichst mit den Urgesteinen, ob sie etwas in petto haben. Wenn das einschlägt, wollen wir vorbereitet sein. Es nützt nichts, wenn wir die Leute wachrütteln und sie dann losgehen, um sich entsprechende Kochbücher bei der Konkurenz zu kaufen. Wir müssen diejenigen sein, die das größte Stück vom Kuchen bekommen. Außerdem brauchen wir einen entsprechenden Webauftritt. Vielleicht einen Blogeintrag im Blog des Monats. Ein Bücherliste. Für Anfänger und Fortgeschrittene. Wir brauchen Sachbücher zu dem Thema und und und. Das wird eine richtige Sparte.“
 

„Eine Sparte?“
 

Nathan fühlte sich leicht überrollt. So weit hatte er eigentlich gar nicht gehen wollen. Robert hingegen schien vollkommen in seinem Element.
 

„Ja natürlich“, rief er. „Eine pflanzenbasierte Ernährung ist anderswo auf der Welt schon längst auf dem Vormarsch, nur wir hängen total hinterher. Da ist ein unheimliches Potenzial vorhanden. Wir müssen dem Ganzen nur einen neuen Anstrich verpassen. Man darf dabei nicht an Salate ohne Dressing, Birkenstocksandalen und dünne weibliche Modells denken. Wir brauchen Identifikationsfiguren, die auch für Tim und Larry von der Straße erstrebenswert sind. Sportler, Bodybuilder, Schwergewichtler, Rapper, Finanzmogule. Ich will nicht, dass man dabei an Diät denkt, sondern an Genuss, Muskeln und Spaß.“
 

„Und Macht“, warf Shannon ein. „Nur wenn die Männer das Gefühl haben, dass ihnen der Schwanz schwillt, wenn sie unsere Bücher kaufen, werden sie es auch tun.“
 

Robert grinste.
 

„Wenn man Nathans Artikel glauben darf, wird er das tun. Oder Nathan? Ich gehe davon aus, dass du es ausprobiert hast.“
 

Zwei Augenpaare richteten sich auf Nathan. Er schluckte erneut. Wieso gab es hier eigentlich nichts zu trinken?
 

„Ähm ja, hab ich“, bekam er irgendwie heraus. Roberts Grinsen wurde ein bisschen breiter.
 

„Schön, das freut sicher die Ladys. Also: Ich erwarte, dass du das klarkriegst. Montagmorgen will ich Ideen auf dem Tisch haben.

„M-Montag? Aber das ist ja …“

„Ist das ein Problem?“
 

Nathan wurde erneut gemustert. Er wusste, dass er, sein Artikel, ja vielleicht sogar das ganze Projekt von seiner Antwort abhing. Wenn er bewies, dass er abliefern konnte …
 

„Nein, kein Problem“, erwiderte er und ließ seine Stimme dabei so kräftig wie möglich klingen. „Eigentlich hätte ich sogar … also ich hätte da bereits einen Entwurf für ein Kochbuch zu Hause. Es ist noch nicht fertig, aber …“
 

„Wundervoll!“, unterbrach Robert ihn. „Dann will ich das Montag ebenfalls auf meinem Schreibtisch. Shannon, du kümmerst dich um alles, ja? Das wird dein Baby.“
 

„Aber sicher doch, Robert.“
 

Shannon lächelte wieder ihr Hailächeln. Robert wertete das offenbar als ein gutes Zeichen. Er sprang auf und reichte ihnen die Hand.
 

„Gut, ihr beiden. Ich zähl auf euch. Wenn das einschlägt, sind die Verkaufszahlen für dieses Jahr sicher.“
 

Er schenkte ihnen noch ein letztes Lächeln, dann war er auf und davon. Kaum, dass er den Raum verlassen hatte, ließ Shannon ihre Maske fallen. Sie kam auf Nathan zu und bohrte ihren Blick in seinen.
 

„Ich erwarte, dass das hier ein Erfolg wird, klar? Also versau es bloß nicht.“
 

Nathan glaubte, Shannons heißen Atem in seinem Nacken spüren zu können. Ihre Zähne, die seine Haut ritzten.
 

Es macht keinen guten Eindruck, wenn du dich kleiner machst, als du bist, hörte er plötzlich eine Stimme in seinem Kopf. Unwillkürlich atmete Nathan tief durch und straffte sich.
 

„Ich krieg das hin. Wir kriegen das hin. Verlass dich drauf, Shannon.“
 

Der Hai wich ein Stück zurück, sein Lächeln wurde eine Spur umgänglicher.
 

„Fein. Dann mal ab mit dir ins Layout. Mei wartet sicher schon auf dich.“
 

Mit diesen Worten schob sie Nathan nach draußen und schloss die Tür hinter ihm mit einem Rumms. Es fühlte sich wie ein Rauswurf an, aber gleichzeitig …
 

Ich hab es geschafft. Ich hab es wirklich geschafft.
 

Jetzt musste er nach dem Treffen mit Mei nur noch eine Kleinigkeit erledigen.
 


 

„Du willst WAS?“ Marvins Gesicht schwankte zwischen Unglauben und Entsetzen. „Aber wir haben schon Karten reserviert, einen Tisch gebucht. Felipe hat extra seine Schicht verschoben. Wie stehe ich denn jetzt da, wenn du absagst?“
 

Nathan sah sich unaufällig um. Kam es ihm nur so vor oder beobachteten sie die Leute von den umliegenden Tischen schon?
 

„Ich will ja auch wirklich mit euch ausgehen, aber ich muss das fertigbekommen. Wenn ich Montag nicht abliefere …“

„Ist deine Karriere im Eimer. Ich hab’s schon beim ersten Mal verstanden.“
 

Marvin schnaufte. In Nathans Magen bildete sich ein unangenehmer Klumpen; seine Schultern sackten nach unten. Er wusste, dass er sich gerade schon wieder wie ein Arsch verhielt. Marvin schnaufte noch einmal.
 

„Jetzt guck mich nicht an wie ein Hund, den man getreten hat. Ich weiß doch, dass das dein großer Traum ist. Was für ein Freund wäre ich, wenn ich dir das vermiesen würde? Aber dein Timing ist wirklich unterirdisch, das ist dir klar, oder?“
 

Marvins dunkle Augen funkelten ihn vorwurfsvoll an. Nathan wurde noch ein Stück kleiner.
 

„Ich weiß“, seufzte er. „Aber es ist noch so fürchterlich viel zu tun. Ich habe ja nicht mal einen richtigen Entwurf. Kein Vorwort, keinen Titel, nichts. Keine Ahnung, was mich geritten hat, das zu behaupten. Jetzt erwartet Robert ein fertiges Buch und hab lediglich eine Zettelsammlung. Allein die zu digitalisieren wird ewig dauern.“
 

Marvins Gesichtsausdruck wanderte von missmutig zu besorgt.
 

„So schlimm?“

„Noch schlimmer.“
 

Nathan vergrub das Gesicht in den Händen.
 

„Es ist wirklich das reinste Chaos. Ich müsste die Rezepte ordnen, in Kategorien einteilen, dann abschreiben, formatieren, mit Bildern versehen. Aber das reicht nicht. Ich bräuchte … ich brauche ein Konzept, verstehst du? Etwas, das die Leute überhaupt dazu bringt, das Buch zu kaufen. Nur Rezepte findet man heutzutage auch überall im Internet. Ich will aber, dass mein Buch die Leute dazu bringt, selbst kochen zu wollen. Und zwar ohne Tier drin.“
 

Er hörte Marvin auf der andere Seite des Tisches schnauben.
 

„Na, mich brauchst du da nicht fragen. Du weißt, dass ich ne Niete am Herd bin. Für mich müsste ein Kochbuch vor allem Bilder haben. Ich kann ja einen Schneebesen kaum von einer Schaumkelle unterscheiden.“
 

Nathan hob ein wenig den Kopf und spähte durch die Finger zu seinem Freund hinüber.
 

„Was hast du gerade gesagt?“
 

Marvin rollte mit den Augen.
 

„Dass ich mir nie ein Kochbuch ohne Bilder kaufen würde. Ich muss ja schließlich wissen, um was es geht. Als du mir das erste Mal was von Seitan erzählt hast, hab ich gedacht, das sei was zum anziehen. Und als du mir Rührtofu ankündigtest, dachte ich, du willst mich vergiften. Dabei hat das wirklich gar nicht so schlecht geschmeckt. Und es sah sogar ein bisschen aus wie Ei.“
 

Nathans Hirn begann zu rattern. Eine Idee formte sich. Eine vollkommen verrückte Idee und vielleicht würde die Zielgruppe das Ganze auch überhaupt nicht annehmen, aber mit Chance …
 

„Ich brauche Fotos.“
 

Marvin sah ihn an, als sei er nicht ganz bei Trost.
 

„Was?“

„Fotos. Von den Zutaten, den Utensilien und natürlich den fertigen Gerichten. Damit man gleich sieht, was gemeint ist.“

„Also quasi ein Vorher-Nachher-Foto?“

„Eher so etwas wie eine Fotostrecke, aber ja.“
 

Nathan war jetzt Feuer und Flamme. Er holte sein Handy heraus und hielt es Marvin unter die Nase.
 

„Siehst du das hier? Das hab ich mit ein paar frischen Kräutern und Resten aus meinem Kühlschrank gebastelt. Hat vielleicht 20 Minuten gedauert. Und wenn man dann noch auf einen Blick sieht, dass da gerade mal eine Handvoll Zutaten drin ist …“
 

Marvins Augenbrauen wanderten nach oben.
 

„Das könnte tatsächlich funktionieren.“
 

Nathan begann zu grinsen. Endlich hatte er einen Plan. Einen Plan, wie er die Leute zum Kochen bringen konnte.
 

„Ich muss sofort los“, verkündete er und begann nach seinem Geld zu kramen. „Wenn ich noch gute Bilder machen will, brauche ich Tageslicht.“
 

Marvin betrachtete ihn, während er die benötigten Scheine abzählte. Nathan fühlte den Blick und ahnte, was kommen würde.
 

„Sag mal, wo wir gerade bei Tageslicht sind … was macht eigentlich dein Stalker?“
 

Nathans Hand mit dem Geld schwebte unschlüssig über dem Tisch. Sollte er Marvin von seinem Treffen erzählen, oder …?
 

„Er war also wieder da“, schlussfolgerte Marvin sofort. „Mein, Gott, Nathan. Wir hatten das doch besprochen. Du wolltest ihn anzeigen. Und mich anrufen!“
 

Nathan zog den Kopf ein.
 

„Aber weswegen denn? Er macht doch gar nichts. Also nicht wirklich. Er sitzt einfach nur da und wir haben uns ein bisschen unterhalten.“
 

„Unterhalten?“, echote Marvin. „Sag mal, tickst du noch ganz rund? Der Typ ist gefährlich!“

„Nein, ist er nicht.“
 

Nathan richtete sich jetzt zu seiner vollen Größe auf.
 

„Ezra ist nicht gefährlich. Und er hat auch nichts mit diesen krummen Dingern auf dem Friedhof zu tun. Ich glaube eher, dass er hinter den Typen her ist, die dafür verantwortlich sind.“
 

Marvin sah ihn zweifelnd an.
 

„Bist du dir da sicher?“

„Ziemlich sicher sogar.“
 

Nathan wusste ja selbst nicht, woher er die Gewissheit nahm. Im Grunde wusste er kaum etwas über Ezra und da war immer noch diese Vampirsache, aber …
 

Er blickte Marvin mit dem treuherzigsten Gesichtsausdruck an, den er zustande brachte.
 

„Ich weiß, was ich tue. Und wenn etwas komisch ist, bist du der Erste, der es erfährt. Aber bis dahin … vertrau mir doch einfach.“
 

Marvin sah immer noch nicht überzeugt aus. Mit Falten auf der Stirn, die an den Marianengraben erinnerten, nuckelte er an seinem Strohhalm.
 

„Und du bist dir ganz sicher, dass es nicht nur an seinen schönen, blauen Augen und seinem knackigen Hintern liegt, dass du das jetzt sagst“, fragte er argwöhnisch.
 

Nathan wurde warm.
 

„Den Hintern habe ich ja gar nicht gesehen“, protestierte er halbherzig.

„Aber du hast ihn dir vorgestellt.“
 

Ertappt ließ Nathan den Kopf sinken. Ganz, ganz, ganz eventuell hatte er das. So ein bisschen. Und er hatte auch ganz eventuell in seinem Bett gelegen und gelauscht, ob er irgendetwas von Ezras Anwesenheit mitbekam. Natürlich war das nichts zu hören gewesen, aber allein die Vorstellung, dass er dort draußen saß, war gleichzeitig gruselig und aufregend gewesen. Und ganz vielleicht hatte Nathan das ein kleines bisschen gefallen.
 

Marvin seufzte abgrundtief.
 

„Man, Nathan. Du hast wirklich ein Händchen dafür, dich in die falschen Typen zu vergucken.“
 

Bevor Nathan etwas dazu sagen konnte, fuhr er fort: „Aber ich bin nicht deine Nanny. Du bist erwachsen und musst wissen, was du tust. Ich bitte dich nur: Sei vorsichtig, Mann. Mir gefällt diese ganze Nummer nicht.“
 

Nathan schob einen Mundwinkel nach oben.
 

„Ich bin vorsichtig. Versprochen.“

„Und mach ein Pic von ihm. Du weißt, ich bin lausig darin, weiße Typen zu beschreiben. Also wenn die ein Fahndungsfoto brauchen, weil der Typ dich vom Kopf bis zu den Zehen aufgeschlitzt hat, will ich was in der Hand haben.“
 

Nathan lachte.
 

„Okay, ich werde sehen, was ich tun kann. Aber jetzt drück mir erst mal die Daumen, dass Shannon mir den Rest des Tages freigibt. Dann schaffe ich es vielleicht morgen Abend doch noch.“

„Wenn ich du wäre, würde ich lieber einen Eiswürfelstand in der Wüste aufmachen. Das erscheint mir vielversprechender.“
 

Nathan grinste und befand, dass Marvin recht hatte. Auf dem Weg nach draußen schickte er Shannon lediglich eine Nachricht und schaltete sein Handy dann aus. Das Donnerwetter am Montag würde sich so hoffentlich in Grenzen halten.
 


 

Erschöpft ließ sich Nathan auf die Couch fallen, legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Er hatte die letzten fünf, sechs, sieben (?) Stunden abwechselnd am Herd und an seinem Handy verbracht. Er hatte gekocht, arrangiert und vor allem Fotos gemacht. Hunderte von Fotos, die Lust aufs Kochen machen sollten. Jetzt tat ihm der Rücken weh, die Augen brannten und die gesamte Wohnung roch wie ein Imbiss-Restaurant. Dafür stapelten sich in seinem Kühlschrank Gerichte für die nächsten drei bis fünf Tage. Danach hatte er beschlossen, dass das erst mal reichen musste. Vermutlich musstten sie ohnehin noch mal professionelle Fotos machen und er wollte ja nichts unnötig verderben lassen. Jetzt musste er nur noch aufräumen, duschen und dann würde er sich an den Rechner setzen und mit der Bearbeitung anfangen. Ganz bestimmt.
 

Ein leises Klopfen ließ Nathan auffahren. Um ihn herum war es stockfinster. Sein Nacken fühlte sich an, als hätte er ihn zu lange mit einem Nudelholz bearbeitet, und seine Augen schienen mit Sandpapier abgeschmirgelt worden zu sein. Mit Kontaktlinsen einzuschlafen, war keine gute Idee gewesen, und es im Sitzen zu tun, erst recht nicht. Stöhnend kam er in die Senkrechte. Wie spät es wohl war? Noch vor oder bereits nach Mitternacht? Und was hatte ihn geweckt?
 

Es klopfte noch einmal. Nathan sah sich um und erkannte sofort die Silhouette, die sich gegen den Nachthimmel abzeichnete. Ezra war gekommen, um sich anzukündigen. Schnell erhob Nathan sich und ging zum Fenster.
 

„Hey“, machte er, nachdem er es entriegelt und nach oben geschoben hatte. Die kühle Luft, die an ihm vorbeiströmte, zauberte eine Gänsehaut auf seine bloßen Arme.
 

„Hey“, kam von der anderen Seite zurück. Die Nacht heute war dunkel, der Mond mal wieder hinter einer dicken Wolkendecke verschwunden. So konnte er kaum etwas von Ezras Gesicht erkennen. Nur seine Augen, die geheimnisvoll leuchteten wie die einer Katze.
 

„Du hast geschlafen.“
 

Nathan wich Ezras Blick aus.
 

„Ja, ich … ich hab den ganzen Nachmittag in der Küche gestanden. Für mein Buch. Meine Chefin – also eigentlich der Chef meiner Chefin – will sich am Montag den Entwurf ansehen. Es soll ein Kochbuch werden.“
 

Schweigen antwortete ihm und Nathan hätte sich am liebsten selbst in den Hintern getreten. Warum erzählte er Ezra das? Das interessierte ihn doch bestimmt überhaupt nicht.
 

„Du kochst also gerne.“
 

Nathan war sich nicht sicher. War das jetzt eine Frage? Oder eher eine Feststellung? Fand Ezra das gut, schlecht, albern oder interessant? Und warum war das eigentlich wichtig?
 

„Ja, ich koche gerne“, sagte er mit möglichst fester Stimme. Er hob den Kopf wieder und sah Ezra genau in die Augen. „Hast du ein Problem damit?“
 

Ein unergründliches Lächeln antwortete ihm. Er fühlte es mehr, als das er es sah. Plötzlich kam er sich albern vor.
 

„Tut mir leid, ich … ich bin gerade erst aufgewacht und ich hab noch nichts gegessen und …“

„Dann solltest du das vielleicht tun.“

„Was?“

„Na, etwas essen. Dein Magen knurrt.“
 

Genau in diesem Moment beschloss das launische Organ tatsächlich, ein Geräusch von sich zu geben. Ein ziemlich lautes Geräusch. Erschrocken hielt Nathan sich die Hand vor den Bauch.
 

„Oh, entschuldige. Tut mir leid. Ich …“
 

Ezra lächelte leicht.
 

„Kein Problem. Iss nur. Ich werde hier warten.“
 

Er drehte sich um und lehnte sich mit einer fast schon beiläufig wirkenden Bewegung gegen die Wand. Nathan zögerte kurz, bevor er sich auf den Weg in die Küche machte. Keine fünf Minuten später kam er zurück, in den Händen einen Teller mit einigen goldbraunen, verführerisch duftenden Bällchen und einer Schüssel mit einer sämigen, roten Paste. Etwas unschlüssig blieb er am Couchtisch stehen, bevor er daran vorbei und weiter zum Fenster ging. Ezra drehte sich halb zu ihm herum.
 

„Du bist schon zurück?“
 

Nathan stockte in der Bewegung, als hätte Ezra ihn mit der Hand in der Keksdose erwischt. Sein Ton hatte mehr als deutlich gemacht, dass er Nathan noch nicht zurück erwartet hatte. Und doch stand der jetzt hier und hatte offenbar vor, Ezra was vorzuessen. Das war schräg. Und seltsam. Ezra sollte ihn nicht seltsam finden.
 

Nathan räusperte sich.
 

„M-möchtest du vielleicht auch etwas haben? Ich habe selbst gemachte Dumplings mit Gemüsefüllung, eine Quinoa-Spinat-Bowl oder Blumenkohl-Falafel. Die sind wirklich gut. Und ich hätte Pancakes, falls du lieber was Süßes möchtest. Mit Ahornsirup. Und Erdbeeren.“
 

Ezra antwortete nicht und Nathans Gedanken machten Überstunden. Hatte er es jetzt übertrieben? Waren die Gerichte zu ausgefallen? Mochte Ezra überhaupt etwas davon? Oder hatte er schon gegessen? Immerhin war es spät. Jeder normale Mensch hatte um die Zeit schon zu Abend gegessen. Es war eine dämliche Idee gewesen, ihm was anzubieten.
 

„Ich esse nicht.“
 

Der Satz durchbrach das Schweigen, das schon viel zu lange dauerte. Nathan lachte auf. Es passierte ganz automatisch.
 

„Ach so, stimmt ja. Du bist ein Vampir. Hatte ich vergessen. Entschuldigung.“
 

Ezra reagierte nicht und Nathan stand da mit dem Teller in der Hand. Was nun? Sollte er jetzt zum Tisch zurückgehen? Den Fernseher anmachen? Das Fenster schließen? Hätte er Marvin gefragt, hätte der vermutlich begeistert genickt und ihm obendrein noch geraten, endlich die Finger von diesem merkwürdigen Freak zu lassen.
 

„Gut, ich … ich geh dann mal essen. Das Fenster lasse ich auf. Nur für den Fall.“
 

Für welchen Fall?
 

Nathan ignorierte die spöttische Stimme in seinem Hinterkopf, ging zurück zur Couch und griff nach der Fernbedienung. Noch im Hinsetzen schaltete er das Gerät an und wählte irgendeinen Sender. Eine Dokumentation über den zweiten Weltkrieg erschien auf dem Bildschirm. Die Geschütze flogen, Soldaten mit erhobenen Händen marschierten in Reih und Glied und ein kleiner, wütender Mann mit einem Schnauzbart brüllte unverständliches Kauderwelsch in die Kamera. Nathan betrachtete ihn nachdenklich. Irgendwo hatte er mal gelesen, dass auch er kein Fleisch gegessen hatte und ein großr Tierfreund gewesen war. Das machte einen wohl nicht automatisch zu einem besseren Menschen.
 

„Könntest du das abstellen?“
 

Ezras Stimme war nicht sehr laut, trotzdem übertönte sie den Fernseher klar und deutlich.
 

„Äh, ja natürlich.“
 

Er kam Ezras Bitte nach. Der Fernseher erlosch und im Zimmer wurde es dunkel. Nathan hatte kein weiteres Licht eingeschaltet.
 

„So besser?“, fragte er in die entstandene Stille hinein.
 

„Ja. Danke.“
 

Ezras Stimme klang leicht gepresst, fast so, als würde er sich nur mit Mühe beherrschen. Was an der Sendung hatte ihn so aufgeregt?
 

„Warum sollte ich es abschalten?“
 

Die Frage war einigermaßen legitim. Immerhin war das hier Nathans Wohnung und er konnte darin tun und lassen, was er wollte.
 

„Weil … sagen wir einfach, es weckt ungute Erinnerungen.“
 

Ezra klang ernst. Viel zu ernst.
 

Nathan ließ die Falafel Falafel sein, wischte sich notdürftig die Finger ab und stand auf. Ezra lehnte immer noch an derselben Stelle der Wand. Sein Blick war auf die Stadt gerichtet. Langsam ging Nathan zum Fenster.
 

„Warst du mal im Krieg?“, fragte er. Ezras Mundwinkel zuckte nervös.
 

„Könnte man so sagen. Aber das ist lange her. Ich werde es irgendwann vergessen, denke ich.“
 

Er wandte den Kopf in Nathans Richtung.
 

„Erzählst du mir von deinem Buch?“
 

Nathan glaubte zuerst, sich verhört zu haben. Hatte Ezra ihn gerade wirklich nach seinem Buch gefragt?
 

„Ähm.“ Er war sich nicht sicher. Sollte er wirklich? „Also es ist … ein Kochbuch. Mit Rezepten drin.“
 

„Das ist alles?“
 

Die Frage klang nicht herablassend. Eher so, als würde Ezra das Konzept nicht verstehen. Trotzdem hatte Nathan das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen.

„Tja, also, ich will … ich möchte den Leuten zeigen, dass man auch ohne tierische Produkte sehr gut und lecker essen kann. Einfach weil ich hoffe, dass sich dadurch noch mehr Leute für die vegane Küche begeistern lassen. Deswegen schreibe ich ein Kochbuch. Um … na ja.“
 

Ezra musterte ihn mit gerunzelten Brauen.
 

„Du isst kein Fleisch?“
 

Nathan schüttelte den Kopf.
 

„Nichts, was vom Tier kommt. Also auch keine Eier, keine Milch oder so.“

„Warum nicht?“
 

Nathan hätte beinahe gelacht. Wenn er einen Dollar für jedes Mal bekommen hätte, die er das schon gefragt worden war, hätte er sich um die Miete für den Rest des Jahres keine Sorgen mehr zu machen brauchen.
 

„Die ehrliche Antwort?“, fragte er halb amüsiert. Ezra antwortete nicht. Nathan seufzte und ließ sich ebenfalls mit dem Rücken gegen die Wand sinken. Sie standen nun an verschiedenen Seiten des Fensters, auf unterschiedlichen Seiten der Wand. Und doch hatte er das Gefühl, dass da eine Verbindung zwischen ihnen war. Etwas, das er nur fühlen, aber nicht in Worte fassen konnte. Noch einmal seufzte Nathan.
 

„Weil mir die Tiere leidtun“, erklärte er der Rückseite seiner Couch. „Auf der Welt wird inzwischen so viel Fleisch gegessen, dass es nur noch durch riesige Farmen und Zuchtanlagen zu beschaffen ist. Tiere, die nie an der frischen Luft waren, nie Tageslicht gesehen haben. Ich möchte dieses System nicht mehr unterstützen.“
 

Er fuhr fort, bevor Ezra etwas dazu sagen konnte.
 

„Ich weiß. Die Leute hören nicht gern, dass ihre Spare Ribs früher mal grunzen konnten oder dass die Hühnerbeine, die sie sich in den Mund schieben, ursprünglich dazu gedacht waren, dass sich ein Huhn damit fortbewegt. Und ich weiß auch, dass ich mir meine Einstellung nur leisten kann, weil ich privilegiert genug bin, mir aussuchen zu können, was ich esse. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass es gut für uns und gut für die Tiere wäre, wenn wir bei der Wahl unserer Lebensmittel ein wenig achtsamer wären. Immerhin sind auch sie lebende, atmende Geschöpfe. Geschöpfe die Angst und Schmerz empfinden können. Ich möchte nicht, dass irgendein Tier meinetwegen leiden muss.“
 

Auf seinen Vortrag folgte eine lange Zeit gar nichts. Aus den Augenwinkeln heraus sah Nathan, dass Ezra noch da war, doch er sagte kein Wort und auch Nathan war sich nicht sicher, wie er sich jetzt verhalten sollte. Damals mit Christian hatte er auch über das Thema gesprochen. Im Grunde genommen hatten sie sich sogar deswegen kennengelernt. Christian hatte sich interessiert gezeigt, hatte sich von Nathan bekochen lassen, ihm zugehört. Aber mit der Zeit war es weniger geworden. Er hatte ihn abgewürgt, hatte das Gespräch auf andere Dinge gelenkt und irgendwann hatte er Nathan knallhart ins Gesicht gesagt, dass er ihm auf den Sack ging und er gefälligst die Klappe halten sollte. Und dass er jetzt ein Steak essen gehen würde. In dem Moment hätte Nathan bereits wissen müssen, dass etwas nicht stimmte. Aber er hatte es nicht geschnallt. Noch lange nicht.
 

„Dann war es Mitgefühl, dass dich zu dieser Entscheidung getrieben hat?“
 

Nathan erwachte aus seiner Erinnerung. Wurde er diesen Schatten denn nie wieder los?
 

„Ja“, antwortete er ein wenig verspätet. „So in etwa. Aber getrieben würde ich es nicht nennen. Ich habe mich freiwillig dafür entschieden und ich habe es bisher nicht bereut. Sicher, manchmal ist es umständlich. Man kann nicht überall essen gehen und oft muss man ganz genau hinsehen, um nicht aus Versehen doch irgendetwas zu erwischen, das Tierbestandteile enthält. Aber ich finde, es lohnt sich.“
 

Wieder erhielt er keine Antwort, aber das machte nichts. Er stand zu seiner Entscheidung. Und wenn Ezra das jetzt komisch fand, dann war es eben so. Er konnte und wollte daran nichts ändern.
 

„Ich habe morgen ein Date“, sagte er plötzlich. „Also eigentlich hat mich mein Freund dazu überredet, aber … ich werde wohl ausgehen. Mich mit jemandem treffen.“
 

Er ließ den Rest ungesagt. Die Frage, die darin mitschwang, ganz leise nur. Er sprach sie nicht aus.
 

„Das freut mich für dich.“
 

Ezras Ton war reserviert. Gleichgültig. Was auch sonst? Nathan atmete tief durch.
 

„Muss ich mir Gedanken machen? Ich meine, weil ich sicherlich erst mitten in der Nacht zurückkehren werde. Wenn es dunkel ist.“
 

Dieses Mal erfolgte eine Reaktion. Ezra leckte sich über die Lippen.
 

„Du kannst unbesorgt sein. Ich werde dir nichts tun.“
 

Nathan schloss für einen Moment die Augen. Er wusste, dass das hier die richtige Entscheidung war und doch fühlte es sich vollkommen falsch an. Und außerdem gab es da noch etwas, was er wissen musste.
 

„Dann hätte ich nur noch eine Frage. Wenn ich jetzt zu dir sagen würde 'Komm doch herein'. Was würde dann passieren?“
 

Ezra regte sich nicht. Sein Blick war weiter auf die Stadt gerichtet, nur das ein wenig schnellere Heben und Senken seines Brustkorbs verriet, dass er Nathans Worte gehört hatte
 

„Ich an deiner Stelle, würde das nicht tun. Es könnte lebensgefährlich sein.“
 

Nathans Herz klopfte ihm bis zum Hals.
 

„Aber du hast doch gesagt, mir würde nichts geschehen.“
 

Ezra atmete tief ein.
 

„Nur, weil ich mich aus der Entfernung beherrschen kann, heißt das nicht, dass ich immer dazu in der Lage bin. Von daher rate ich dir dringend, diese Grenze nicht zu überschreiten. Zu deiner eigenen Sicherheit.“
 

Nathan wollte noch etwas erwidern, aber Ezra stieß sich von der Wand ab und trat an den Abgrund.
 

„Es ist spät. Ich werde mich noch ein wenig im Viertel umsehen. Vielleicht entdecke ich irgendwo anders eine Spur. Bis dann.“
 

Im nächsten Augenblick war er verschwunden, ohne dass Nathan gesehen hatte, wohin er gegangen war. Oder wie. Er war einfach weg.
 

Nathan seufzte lautlos. Er wusste, dass es keinen Sinn mehr hatte, noch länger hier stehenzubleiben. Ezra würde heute nicht noch einmal herkommen. Oder vielleicht auch nie wieder. Wer wusste das schon?
 

Langsam schob Nathan das Fenster nach unten. Als es nur noch einen kleinen Spalt breit offenstand, hielt er inne. War es wirklich das, was er wollte? Und zählte das überhaupt? Seine Finger glitten vom Rahmen herab.
 

Ich werde es schließen, wenn ich nachher ins Bett gehe.
 

Damit drehte er sich um und ging zum Schreibtisch zurück. Er würde noch ein paar Stunden an seinem Buch arbeiten und dann morgen zu diesem Date gehen. Denn das war es, was gut für ihn war.

 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Hey ihr Lieben,

Perfekte Mucke zum Kapitelende:

https://www.youtube.com/watch?v=-nof7dz5a-I

Passt auf euch auf!

Zauberhafte Grüße
Mag
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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
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Von:  chaos-kao
2022-03-21T18:22:25+00:00 21.03.2022 19:22
Na, wenn das mal keine positive Entwicklung auf Arbeit ist. Aber okay, irgendwo muss es für den armen ja mal aufwärts gehen. Und schön, dass er ein wenig selbstbewusster zu werden scheint? Na, mal schauen ob er bei seiner Datenight nicht einen heimlichen Beschützer haben wird. Bin gespannt ob er den brauchen wird oder nicht! :)
Antwort von:  Maginisha
22.03.2022 14:11
Hey chaos-kao!

JA, ein bisschen Licht am Horizont für Nathan. Zumindest im Beruf. Privat sieht es eher noch mau aus.

Heimlicher Beschützer? Wo denkst du hin? ^^

Zauberhafte Grüße
Mag


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