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Bis dass der Tod uns findet

von

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Vertrauen ist gut

Zwei Tage. Zwei Tage wartete Nathan bereits darauf, dass sein merkwürdiger Besucher wieder auftauchte, und es war genau nichts passiert.

 

Am ersten Abend hatte er noch ungefähr alle halbe Stunde mit Marvin getextet, der sich nach dem neuesten Stand erkundigt hatte. Am zweiten Abend hatte er Marvin irgendwann Funkstille verpasst, weil ihn das ständige Gepiepse seines Handys auf die Nerven gefallen war. Am dritten Abend hatte er sein Abendessen anbrennen lassen. Dieser Abend war heute.
 

„So ein Mist.“

 

Nathan fluchte vor sich hin, während er versuchte, die Rosenkohlreste aus dem Topf zu kratzen. Ursprünglich hätte es eine leckere Kombination aus erdigem Kohl, frischem Ingwer und pikanter, koreanischer Chilipaste werden sollen, aber irgendwie war heute der Wurm drin gewesen. Erst war Nathan das Glas mit der Paste heruntergefallen und natürlich prompt zersplittert, dann hatte er sich beim Wegräumen der Bescherung geschnitten – Chilipaste auf einer frischen Wunde war nichts, was sich einfach so ignorieren ließ – und zu guter Letzt hatte er das Ergebnis seiner Bemühungen auch noch ruiniert, weil er vergessen hatte, die Hitze runterzudrehen. Nun roch die Wohnung nach angebranntem Kohl, seinen linken Zeigefinger zierte ein dicker Verband, unter dem es schmerzhaft puckerte, und er hatte obendrein die Zutaten verschwendet und nichts zu essen. Ganz wundervoll.

 

Mit einem Schnauben schob Nathan das Fenster nach oben, um wenigstens etwas frische Luft ins Zimmer zu lassen. Daran, dass er die letzten zwei Abende damit zugebracht hatte, die Vorhänge abwechselnd auf und wieder zu zu ziehen, mochte er in diesem Augenblick nicht denken. Manchmal hatte er sogar heimlich durch die Lücke im Stoff gespäht, um zu sehen, ob sein Stalker aufgetaucht war, aber der Sims war immer leer geblieben.
 

„Wahrscheinlich kommt er gar nicht mehr“, murmelte Nathan und stützte sich auf das Fensterbrett. Die Nacht heute war milder und eher feucht. Sicher würde es später noch regnen.
 

„Wer kommt nicht mehr?“, fragte eine Stimme. Nathan erschrak.

 

Das kam von oben. Oh Gott, er ist da. Er ist auf dem Dach!

 

Nathan wollte nach seinem Handy suchen. Er wollte die Polizei rufen, wie sie es geplant hatten. Aber er konnte nicht. Stattdessen sah er zu, wie Ezra mit einem eleganten Sprung auf dem Sims landete. Er trug wieder den langen Mantel, doch dieses Mal war er offen. Darunter ein weißes Hemd, schmale, schwarze Hosen. Elegante Schuhe. Vollkommen ungeeignet, um damit auf Dächern herumzuklettern. Warum tat er das?

 

Weil er denkt, dass er ein Vampir ist. Vergiss das nicht. Und sprich ihn bloß nicht darauf an.

 

Ein schmales Lächeln erschien auf Ezras Lippen. Er machte keine Anstalten näherzukommen. Er stand nur da und sah Nathan an. Irgendwann legte er den Kopf schief.

 

„Hast du jemand anderen erwartet?“

 

Nathan schüttelte den Kopf. Antworten konnte er nicht. Sein Mund war wie zugeklebt, seine Stimmbänder ausgewandert. Nach Ecuador vielleicht. Das war ziemlich weit weg.

 

Ezras Blick glitt an ihm herab. Nathan fühlte förmlich, wie er gemustert wurde. Er bemerkte das kurze Aufleuchten im Blick des anderen, als er in der Gegend des Schritts ankam. Das anschließende Schlucken. Sollte er etwa noch etwas anderes zu befürchten haben? Unwillkürlich machte Nathan einen Schritt rückwärts. Ezra setzte wieder ein Lächeln auf.

 

Aber immer nur ein bisschen, sodass ich seine Zähne nicht sehen kann. Ist das nicht unsinnig?

 

„Was hast du angestellt?“

 

Er deutete auf Nathan und der sah an sich herab. Was meinte er?
 

„Hast du dich verletzt?“

 

Nathans Augen wurden groß.

 

„Oh, das. Ich … ich hab mich geschnitten. Ist nur ein Kratzer.“

„Verstehe.“

 

Ezras Ton war nicht wirklich mitfühlend, aber seltsam verständnisvoll. Nathan wusste nicht recht, wie er es beschreiben sollte. So als würde er … gesehen. Auch wenn das überhaupt keinen Sinn ergab. Außerdem wollte er nicht, dass Ezra hier war. Nicht ohne seine Erlaubnis.
 

„Was hast du auf dem Dach gemacht?“

 

Die Frage erschien ihm logisch und doch hätte Nathan sie am liebsten wieder zurückgenommen. Er sollte nicht hier rumstehen und Smalltalk machen. Nicht, bevor er die Cops gerufen hatte. Unauffällig tastete er nach seinem Handy.
 

„Ich habe gewartet.“

 

Die Antwort war so nichtssagend, dass Nathan beinahe gelacht hätte.
 

„Gewartet? Worauf?“

 

Nathans Finger hatten jetzt das Handy in seiner hinteren Hosentasche erreicht. Nun musste er es nur noch ein Stück herausziehen und …

 

„Was machst du da?“

 

Nathan hielt erschrocken inne. Ezras Augen ruhten genau auf der Hand, mit der er gerade unauffällig den Notruf hatte wählen wollen. Sein Herz setzte einen Schlag aus, nur um dann mit doppelter Geschwindigkeit weiter zu schlagen.
 

„I-ich? Gar nichts. Ich wollte nur …. meine Schwester anrufen. Sie lebt in Illinois. Anstrengender Job, idiotischer Mann, drei Kinder. Die kann ich immer erst erreichen, wenn sie im Bett sind und …“

 

Er brach ab, weil er genau sah, dass Ezra ihm kein Wort glaubte. Und tatsächlich runzelte sein Gegenüber die Stirn.
 

„Du lügst.“

„Tue ich gar nicht.

 

Die Erwiderung war ganz automatisch aus seinem Mund geschlüpft. Viel zu schnell, um ihn nicht zu verraten. Wieder lächelte Ezra.
 

„Gib dir keine Mühe. Ich weiß, dass du lügst.“

„Ach ja? Und woher?“

 

Die Antwort bestand aus einem Lächeln. Keine Erklärung, keine Ausreden. Er tat einfach nichts. Es machte Nathan rasend.

 

Du musst ihm deutlich machen, dass er eine Grenze überschreitet.

 

„Ich will nicht, dass du mich weiter beobachtest.“
 

Der Satz kam einigermaßen klar aus seinem Mund. Bevor er sich dafür selbst auf die Schulter klopfen konnte, reagierte Ezra bereits.
 

„Ich beobachte dich nicht. Zumindest nicht mehr als alle anderen.“

„Oh. Ach so. Na dann …“

 

Nathan wünschte sich mit einem Mal einen Tisch, um seinen Kopf dagegenzuschlagen. Warum zum Geier klang das denn jetzt bitte so enttäuscht? Er sollte froh sein, dass dieser Hampelmann nicht wegen ihm hier war. Gleichzeitig beruhigte ihn das Geständnis so überhaupt nicht.

 

„Und warum beobachtest du uns?“

„Ich beobachte euch nicht.“
 

Ezra klang beinahe gelangweilt. Auf Nathans Stirn bildete sich eine steile Falte.
 

„Aber du hast doch gerade gesagt …“

„Ich sagte, dass ich dich nicht mehr beobachte als alle anderen. Das bedeutet aber nicht, dass ich euch überhaupt beobachte. Ihr seid nicht mehr als ein Hintergrundrauschen. Wahrscheinlich wäre meine Aufgabe sogar einfacher, wenn ihr nicht da wärt.“

 

Dieses Mal hatte der Schlag gesessen. Nathan wusste nicht, was er dazu noch sagen sollte. Außer vielleicht …
 

„Dann verschwinde doch. Hau ab von hier!“

„Das geht nicht.“

„Und warum nicht?“

 

Ezra antwortete nicht. Er drehte sich lediglich um und warf einen Blick über die Dächer, die im Dunst des Abendhimmel zu nebligen Schatten geworden waren.

 

„Hat es etwas mit diesem Parkhaus zu tun? Und den verschwundenen Leichen?“

 

Nathan war unwillkürlich wieder näher ans Fenster getreten. Er wollte sehen, wie Ezra reagierte. Der jedoch wandte ihm weiter den Rücken zu.

 

„Es wäre besser für dich, wenn du dich da raushieltest.“

„Ach ja? Erzähl du mir nicht, was das Beste für mich ist. Du kennst mich nicht. Du weißt nichts über mich.“

 

Dieses Mal brachte ihm sein Wüten eine Reaktion ein. Einen amüsierten Blick über Ezras Schulter.

 

„Stimmt. Und ich gedenke auch nicht, das zu ändern.“

 

Arrogantes Arschloch!

 

Die Worte schossen so unvermittelt durch Nathans Kopf, dass er sie beinahe ausgesprochen hätte. Zu seinem Glück konnte er sich gerade noch zurückhalten. Seine Hand ballte sich zur Faust.
 

„Ach ja?“, spuckte er dem ungehobelten Klotz entgegen. „Und was sollte dann diese Show beim letzten Mal? Was sollte diese geheimnisvolle Tour? Und warum hast du mir die Visitenkarte gegeben. Sie ist vollkommen leer.“

 

Dieses Mal lachte Ezra. Es klang ernsthaft amüsiert. Nathan bleckte die Zähne.
 

„Hey!“, bellte er. „Ich rede mit dir. Was sollte die Scheiße mit der Visitenkarte?“

 

Er erhielt keine Antwort. Ezra stand weiterhin auf dem Sims herum und blickte ins Leere. Nathan beschloss, dass er genug davon hatte. Mit einem gewaltigen Rums schloss er das Fenster und zog, weil er schon einmal dabei war, auch noch den Vorhang zu. Schwer atmend stand er anschließend vor der Wand aus rotem Stoff und versuchte, seine Wut irgendwie in den Griff zu bekommen.

 

Wie hatte ihn dieser Kerl nur so reizen können? Wie hatte er den Plan so völlig außer Acht lassen können? Wie hatte er nur so … so dämlich sein können?

 

„Ich rufe jetzt die Cops“, beschloss er und griff nach seinem Handy. In diesem Moment klopfte es.

 

Nathans Finger schwebten über der Tastatur. Er hatte die Nummer schon eingegeben und musste nur noch auf den grünen Hörer drücken. Wenn er Glück hatte, würden die Beamten Ezra auf frischer Tat ertappen und ihn … ja was eigentlich. Einsperren? Marvin hatte diesbezüglich so zuversichtlich geklungen, aber Nathan hatte inzwischen herausgefunden, dass die Sache gar nicht so einfach war. Er brauchte Beweise. Protokolle, Zeugen, Aufzeichnungen von Telefongesprächen oder ähnliches. Er musste nachweisen, dass Ezra eine Gefahr für ihn darstellte. Dass er ihm gedroht hatte oder ähnliches. Aber Ezra hatte nichts in der Art getan. Er stand einfach nur da draußen rum. Und klopfte.

 

„Argh!“

 

Mit einem Fluch schloss Nathan die Telefon-App und riss den Vorhang zur Seite. Ezra sah ihn fragend an. Er schob etwas Unsichtbares mit den Handflächen nach oben um anzudeuten, dass Nathan das Fenster öffnen sollte. Der schüttelte jedoch entschlossen den Kopf. Kam gar nicht in Frage. Was bildete sich der Typ eigentlich ein? Erst einen auf unnahbar machen und dann angekrochen kommen, sobald Nathan ihm den Rücken zuwendete. Ha, das konnte er haben.
 

Wütend zog Nathan den Vorhang wieder zu. Er wusste, dass das kindisch war, aber er würde diesem Blödmann schon zeigen, wer hier am längeren Hebel saß. Und das war eindeutig er. Doppel-Ha!

 

Nachdem Nathan das für sich geklärt hatte, fühlte er sich besser. Voller Elan machte er sich daran, zunächst einmal die Reste seines verbrannten Abendessens zu beseitigen. Dann räumte er die Küche auf und gönnte sich anschließend eine sehr ausführliche und alle Stufen eines halbwegs vernünftigen Beautyplans beinhaltende Dusche. Als er frisch rasiert und mit einem Handtuch um den Kopf in das Wohnzimmer kam, schwand seine Euphorie jedoch merklich. Die Kaffeemaschine, die immer noch auf dem Boden vor dem Wohnzimmertisch hockte, blickte ihn grinsend an.

 

„Ach, leck mich doch“, knurrte Nathan und ging in die Küche zurück, um sich ein Sandwich zu machen. Immerhin hatte er noch nichts gegessen.

 

Mit dem Teller und einem Glas Orangensaft ließ er sich schließlich auf dem Sofa nieder und schaltete den Fernseher an. Unentschlossen zappte er durch die Kanäle und blieb schließlich bei einer Wiederholung von 'Kitchen Nightmares' hängen. Während der britische Küchenchef sich daran machte, mal wieder ein völlig veranztes Restaurant auf Vordermann zu bringen, biss Nathan in sein Sandwich.

 

Ezra ist genau wie dieser Restaurantbesitzer, dachte er dabei. Blasiert bis zum Gehtnichtmehr und durch und durch davon überzeugt, dass er die Weisheit mit Löffeln gefressen hat. Und dann diese Vampirnummer. Wobei … davon hat er gar nichts erwähnt. Würde er das nicht tun, wenn er wirklich so ein Spinner wäre?

 

Je länger Nathan auf den Bildschirm starrte, desto mehr wanderten seine Gedanken von der Fernsehsendung zurück zu seinem merkwürdigen Fenstergast. Ob er wohl immer noch da draußen hockte?

 

Ich werde nicht nachsehen. Ich werde nicht nachsehen. Ich werde nicht … ach scheiß drauf.

 

Wild entschlossen warf Nathan die Reste seines Abendessens von sich, knallte den Teller auf den Tisch und eilte zum Fenster. Dort angekommen zögerte er.

 

Wenn Ezra mitbekam, dass er nach ihm sah, bildete er sich womöglich etwas darauf ein. Und hatte Nathan nicht gelesen, dass man Stalker auf gar keinen Fall ermutigen sollte? Andererseits schien Ezra ja nicht wirklich Interesse an ihm zu haben. Oder war das genau seine Masche?

 

Gott, das ist so bescheuert!

 

Nathan hatte wirklich das Gefühl, nur zwischen Pest und Cholera wählen zu können. Wenn er Ezra ignorierte, würde er mit der Ungewissheit leben müssen, ob dort draußen nicht irgendwer um das Haus herumschlich. Aber wenn er sich auf ihn einließ – was immer das auch heißen mochte – konnte das ziemlich brenzlig werden. Die Frage war also, was eher auszuhalten war. Eine konkrete Gefahr oder die Angst vor dem Unbekannten. Als er das festgestellt hatte, wusste Nathan, was er zu tun hatte.
 

Vorsichtig schob er den Vorhang ein Stück weit zur Seite.

 

 

Vor dem Fenster war es dunkel. Einige Regentropfen hingen an der Scheibe oder liefen daran herunter. Der erwartete Schauer war offenbar gekommen, während er im Bad gewesen war. Jetzt war die Luft draußen klarer und Nathan hatte keine Schwierigkeiten damit, die dunkle Gestalt zu erkennen, die auf dem Rand des Simses saß und auf die Stadt hinausblickte.

 

Wonach er wohl Ausschau hält?

 

Das war eine der vielen Fragen, auf die Ezra ihm keine Antwort gegeben hatte. Einzig bei der Sache mit dem Parkhaus hatte er nicht nicht geantwortet. Er hatte gesagt, dass Nathan sich da raushalten sollte. Aber war es dafür nicht schon längst zu spät?

 

Als hätte Ezra gemerkt, dass er beobachtet wurde, hob er plötzlich den Kopf und sah Nathan an. Es lag keine Ablehnung in seinem Blick, aber auch kein Interesse. Nathan hätte eine Taube oder eine Parkbank sein können. Er war sich sicher, dass Ezra ihm dann nicht viel mehr Beachtung geschenkt hätte. Doch allein die Tatsache, dass er noch hier war und sich nicht wieder aufs Dach zurückgezogen hatte, hatte doch bestimmt etwas zu bedeuten. Oder nicht?

 

Ich weiß es nicht. Aber ich werde wahnsinnig werden, wenn ich nicht versuche, es herauszufinden.

 

Mit einem Seufzen öffnete Nathan das Fenster.
 

„Du bist noch da“, stellte er das Offensichtliche fest. Ezra nickte leicht.
 

„Die Nacht ist noch nicht vorbei.“

 

Aha. Jetzt bewegte es sich also endlich in die Richtung, die Nathan gehofft hatte. Oder gefürchtet. Er war sich nicht sicher.

 

„Du arbeitest also nur nachts?“

 

Immerhin hatte Ezra gesagt, dass er hier eine Aufgabe hatte. Was immer das auch bedeuten mochte. Aber ein Schritt nach dem anderen.

 

„Ja.“

 

Nicht mehr. Keine Erklärung, keine Geheimniskrämerei. Nur eine simple, eindeutige Antwort. Nathan hatte ehrlicherweise nicht damit gerechnet.
 

„Und warum?“

 

Vielleicht konnte er ihn so aus der Reserve locken. Ezra lächelte leicht. Mehr sagte er nicht.

 

„Ich kriege also keine Antwort?“

„Möchtest du denn wirklich eine haben?“

 

Nathan überlegte. Wollte er? Im Grunde genommen wusste er ja schon, was mit Ezra los war. Oder vermutete es wenigstens. Er wollte eigentlich nur wissen, ob er recht hatte. Unentschlossen krauste er die Nase.
 

„Na ja … mein Freund hat gemeint, dass du vielleicht … ein Vampir bist.“

 

Jetzt hatte er ihn doch darauf angesprochen. Verdammt.
 

An Ezras Miene war nicht abzulesen, wie er es aufnahm. Oder war es dafür nur zu dunkel? Wo war der Mond, wenn man ihn mal brauchte?
 

„Wie kommt er darauf?“
 

Also wieder keine Antwort, nur eine Gegenfrage. Na schön, das Spiel konnte man auch zu zweit spielen.
 

„Ach, weißt du, es gab … Anzeichen dafür. Da haben wir es uns zusammengereimt.“

 

Mist, das war näher an der Wahrheit, als ich wollte.

 

„So so. Anzeichen also.“

 

Wieder schien sich Ezra ziemlich gut zu amüsieren. So kam Nathan nicht weiter. Er musste konkreter werden.
 

„Warum wolltest du vorhin, dass ich das Fenster aufmache?“
 

Dieses Mal schien er einen Treffer gelandet zu haben. Ezra zögerte mit der Antwort. Vielleicht, um sich nicht zu verraten?

 

„Ich hatte das Gefühl, dass du … aufgebracht bist. Menschen, die aufgebracht sind, neigen zu unüberlegten Handlungen.“

„Die da wären?“

 

Jetzt lachte Ezra. So langsam fing Nathan an, sich an das Geräusch zu gewöhnen. Oder es zu hassen. Er war sich nicht sicher.
 

„Da gibt es viele Möglichkeiten. Sie essen oder trinken zu viel, kaufen Dinge, die sie nicht brauchen, konsumieren Drogen, haben Sex, fahren zu schnell Auto oder führen Telefongespräche, die sie später bereuen. Oder sie posten das Ganze im Internet. Eine wirklich eigentümliche Angewohnheit, die ich nie so ganz verstanden habe.“

 

Diesmal waren es Nathans Mundwinkel, die zuckten.
 

„Dann bist du nicht bei Facebook?“

„Nein, aber ich habe einen Instagram-Account.“

 

Nathan lachte. Die Vorstellung, dass dieser merkwürdige Vogel, der sich hier nachts auf seinem Fenstersims herumtrieb und einen auf Vampir machte, tatsächlich an seinem Handy hing, sich durch irgendwelche Bildreihen scrollte und Likes verteilte, war zu komisch. Und trotzdem konnte er sich es irgendwie vorstellen. Es war eigenartig.
 

„Was?“, machte Ezra und tat entrüstet. „Glaubst du mir etwa nicht?“

„Nicht im geringsten.“
 

Wieder dieses Lächeln. Der Blickkontakt, der einen winzigen Augenblick zu lange andauerte und ein eigenartiges Kribbeln durch Nathans Lendengegend sandte. Oh nein. Er fand den Kerl doch nicht etwa attraktiv?

 

Nein. Vollkommen unmöglich. Er ist gefährlich. Und durchgeknallt. Und außerdem hält er sich für einen Vampir. Du musst sofort aufhören, mit ihm zu reden.

 

„Machst du das öfter?“

„Was?“

„Nachts auf Dächern herumspazieren.“

 

Schon wieder ein Lächeln. Dieses Mal ein überhebliches.
 

„Ich bin ein Vampir. Was hast du erwartet?“

 

Na toll, jetzt waren sie wieder ganz am Anfang. Ezra hatte, ohne dass Nathan es merkte, mal wieder die Kommunikation abgewürgt. Es war, als würde er absichtlich zweideutige Signale senden, um Nathan zu verunsichern. Aber warum?

 

Er spielt mit dir wie eine Katze mit der Maus. Wenn du nicht aufpasst, wird das böse enden.

 

Nathan grinste, als ihm etwas einfiel.

 

„Aber wenn es stimmt, dass du nicht unaufgefordert eine Wohnung betreten kannst, ist es doch ziemlich sinnlos, nachts hier herumzuschleichen. Selbst wenn eine unschuldige Jungfrau ihr Fenster offen ließe, könntest du sie ja doch nicht beißen. Oder sehe ich das falsch?“
 

Dieses Mal dauerte es noch länger, bis Ezra reagierte. Nathan hatte das Gefühl, dass er nachdenken musste, was er sagte. Das war gut.
 

„Du hast recht“, gab er jedoch zu Nathans Erstaunen offen zu. „Ich kann tatsächlich kein Heim betreten, ohne dazu aufgefordert zu werden. Allerdings gilt das nicht für vorübergehende Wohnsitze wie Hotels, Motels oder Gasthäuser. Zudem zählt eine neu bezogene Wohnung erst nach einer Weile als Heim. Du siehst also, es gibt da noch jede Menge Möglichkeiten. Dazu noch die dunklen Gassen, Parks, U-Bahn-Schächte, Kinosäle. Dort ist es sogar tagsüber dunkel. Ein Markt der Möglichkeiten.“

 

„Du gehst gerne ins Kino?“
 

Die Frage war einfach über Nathans Lippen geschlüpft. Ezra lächelte wieder.

 

„Ausgesprochen gern sogar. Ich mag es im Dunkeln zu sitzen mit einer Reihe ausgewählter Köstlichkeiten um mich herum.“

 

Er versucht, dir Angst zu machen. Hör nicht auf ihn.

 

„Na gut, dann wirst du also nicht verdursten. Oder verhungern? Wie sagt man da bei Vampiren?“

„Wir essen, wenn wir Blut trinken.“

„Ah gut. Dann wäre das geklärt. Ich meine, es hört sich ja auch blöd an, wenn man sagen würde 'Ich habe heute eine Jungfrau getrunken'.“

 

Ezra gab ein amüsiertes Geräusch von sich.
 

„Würde es sich besser anhören, wenn ich sagte, ich hätte sie gegessen.“

„Äh, nein. Nicht wirklich.“

 

Nathan ließ die Schultern hängen. Erneut hatte Ezra es geschafft, ihn ins sprachliche Aus zu manövrieren. Dabei hatte er immer geglaubt, dass er hinreichend … eloquent war. Gebildet. Dass seine inneren Werte wettmachten, was das Äußere nicht hergab. Aber irgendwie …

 

„Du machst dir ziemlich viele Gedanken um das Thema. Warum?“

 

Perplex hob Nathan den Kopf. Ezra hatte sich jetzt ein wenig zu ihm herumgedreht und beobachtete ihn aufmerksam. Nathan wurde bewusst, dass er immer noch das Handtuch auf dem Kopf hatte. Schnell nahm er es ab und strich sich die Haare zurück. Augenblicklich wurde es kühl.
 

„Also, ich … mir ist so etwas einfach noch nie passiert. Ich meine, dass auf einmal jemand bei mir vor der Tür steht – oder dem Fenster vielmehr – und sich für mich interessiert.“

„Wer sagt, dass ich das tue?“

 

Nathan zuckte leicht mit den Schultern und wandte den Blick ab.
 

„Tja, niemand eigentlich. Aber …“
 

Er erschrak, als Ezra plötzlich unmittelbar vor der Scheibe stand. Noch Sekundenbruchteile zuvor hatte er auf dem Sims gesessen, jetzt stand er nur wenige Zentimeter entfernt. Seine dunklen Augen musterten Nathan eindringlich.
 

„Es macht keinen guten Eindruck, wenn du dich kleiner machst, als du bist. An dir gibt es einiges, das interessant sein könnte.“

„A-ach ja?“

 

Nathan hatte das Gefühl, dass Ezra eine unglaubliche Hitze ausstrahlte. So sehr, dass sie die Kälte der Nacht verdrängte und den Regen auf seinen Kleidern zum Verdunsten brachte.
 

„W-was denn zum Beispiel?“

 

Ezra kräuselte die Lippen.
 

„Erwartest du jetzt, dass ich dir ein Kompliment mache?“

„Ich weiß nicht. Würdest du?“

„Nein.“

 

Nathan schluckte. Dass er so nahe am Fenster stand, war vielleicht ein Problem. Konnte Ezra hier hineingreifen und ihn nach draußen zerren? Er hätte es gerne gewusst, traute sich aber nicht zu fragen. Wer wusste, auf was für Ideen er den „Vampir“ damit brachte. Andererseits …

 

„Das mit der Visitenkarte. War das nur ein Trick, um mich zu fassen zu bekommen?“

 

Ezras Augenbraue bewegte sich einen Millimeter nach oben.
 

„Siehst du, ich brauche mir gar keine Schmeicheleien einfallen zu lassen. Du sorgst ganz allein dafür, dass man deine Qualitäten erkennen kann.“

„Meine Qualitäten?“

 

Ezra seufzte.

 

„Nun ja. Normalerweise hätte ich jetzt noch einmal wiederholt, dass ich dich für schlau halte. Wenn du jetzt allerdings nachfragen musst …“

 

„Nein, nein, schon gut“, unterbrach Nathan ihn eilig. „Ich glaube ja auch, dass ich nicht ganz … dumm bin.“

 

„Schön, dann sind wir uns ja einig.“

 

Und wieder hat er nicht geantwortet.

 

„Also war es ein Trick?“
 

Ezra atmete tief ein.
 

„Du verstehst es wirklich, zweimal hintereinander in denselben Fettnapf zu treten, nicht wahr?“
 

Als Nathan nicht reagierte, schmunzelte er.
 

„Nun gut. Ich gebe zu, es war ein Trick. Eine Visitenkarte erschafft eine Verbindung. Ein Vertrauensverhältnis. Man erweckt den Eindruck, als würde man etwas von sich preisgeben. Außerdem lenkt es die Aufmerksamkeit des Opfers für einen Moment auf etwas anderes und bringt es gleichzeitig dazu, dir nahezukommen. Genug Zeit, um es aus der Überraschung heraus zu überwältigen.“

 

Während Ezra das sagte, waren Nathans Augen unwillkürlich zu der Visitenkarte gewandert, die auf seinem Schreibtisch lag. Er hatte sie dorthin geworfen, nachdem er sie Marvin gezeigt hatte, und seitdem nicht wieder angerührt. Fast nie wenigstens.

 

„Siehst du. Es funktioniert sogar jetzt noch.“

 

Das Amüsement in Ezras Stimme war kaum zu überhören. Nathan lächelte schwach.

 

„Tja, das erklärt … einiges.“

 

Zum Beispiel, dass ich ein Riesentrottel war mir einzubilden, dass hinter dieser Visitenkarte irgendetwas stecken könnte. Es war nur eine Ablenkung, ein Spaß, eine völlige Belanglosigkeit. Ich bin so dumm.

 

„Kann es sein, dass du enttäuscht bist?“
 

Die Frage ließ Nathan aufschrecken. Immer noch beobachtete Ezra ihn genau.
 

„Nein! Nein, bestimmt nicht. Wieso auch? Es ist ja nur … eine Visitenkarte. Jeder Idiot hat heutzutage so etwas.“
 

Er lachte und machte einen Schritt rückwärts. Es fühlte sich an, als hätte er eine Abfuhr bekommen. Wenn das hier ein Date gewesen wäre, hätte er jetzt wohl den Rückzug angetreten. Aber das ging nicht, denn er befand sich immer noch zu Hause in seiner eigenen Wohnung.

 

Ein Date? Was denke ich denn da? Bin ich denn vollkommen wahnsinnig?

 

„Du musst dich nicht grämen. So ein Missverständnis kann vorkommen. Und immerhin … habe ich dir die Karte vielleicht nicht ganz ohne Hintergedanken hier gelassen.“

 

Langsam hob Nathan den Kopf.

 

„Ach wirklich?“

 

Er mochte nicht, wie hoffnungsvoll seine Stimme dabei klang, aber der Schaden war bereits angerichtet. Ezra lächelte.

 

„Diese Begegnung, die du in der Nacht zum Sonntag hattest. Es könnte sein, dass du dabei etwas aufgestöbert hast, das lieber in Ruhe gelassen werden wollte.“

 

Nathan glaubte zu spüren, wie sich ein unsichtbares Gewicht auf seine Brust legte. Das Atmen wurde schwer.
 

„Dann war also tatsächlich etwas in diesem Parkhaus?“, fragte er leise.

„Ja.“

„Hat es etwas mit den verschwundenen Leichen zu tun?“

„Ja.“

„Und was?“

 

Nathan starrte Ezra an und wartete darauf, dass er wieder anfangen würde zu lachen. Dass er damit herausplatzte, dass es alles nur ein Scherz war und dass er ihn hereingelegt hatte. Aber er tat es nicht. Er sah Nathan einfach nur an.
 

„Glaub mir, wenn ich dir sage, dass du das lieber nicht weißt. Aber wenn es stimmt, was ich denke, dann bist du in Gefahr.“

„In größerer Gefahr, als wenn ich mich mit einem Vampir unterhalte?“
 

Dieses Mal lächelte Ezra. Der Anblick erleichterte Nathan ungemein.
 

„Vielleicht“, gab er vage zur Antwort. „Im Augenblick solltest du jedoch sicherer sein, wenn ich nachts in deiner Nähe bleibe. Wenigstens für eine Weile.“

 

„Dann beschützt du mich also?“

„Wenn du so willst.“

 

Nathan überlegte. Er hörte schon, wie Marvin ihm die Ohren dafür langzog, aber hatte er denn überhaupt eine Wahl?
 

„Na schön“, sagte er langsam. „Ich … ich erlaube dir, hierzubleiben. Aber nur, bis dieses … Monster den Stadtteil gewechselt hat. Dann verschwindest du wieder.“
 

„Natürlich.“ Ezra hob beschwichtigend die Hände und deutete eine Verbeugung an. „Es läge mir fern, dich über die Maßen zu belästigen. Wenn du möchtest, kann ich auch wieder auf dem Dach warten.“

 

„Nein“, rief Nathan schnell, „Das … das ist nicht notwendig. Ich weiß lieber, wenn du da bist. Lieber den Spatz in der Hand und so … äh, das passt wohl nicht ganz.“

 

Er lachte gekünstelt und war froh, dass Ezra nicht darauf einging. Stattdessen lächelte er nur sanft.
 

„Na schön, dann bleibe ich hier. Und du solltest vielleicht langsam schlafen gehen. Immerhin musst du morgen zur Arbeit.“

 

„Das … äh, ja … stimmt. Ich sollte wohl wirklich …“, stammelte Nathan und gestikulierte in die ungefähre Richtung seines Schlafzimmers. Dort gab es auch ein Sims. Ob Ezra ihn wohl nachts heimlich dabei beobachtete, wie er …

 

„Du bleibst aber auf dieser Seite, oder?“, fragte er, bevor er darüber nachgedacht hatte.

 

Ezras Augen blitzten spöttisch auf.
 

„Hast du Angst, dass ich dir beim Schlafen zusehe?“

„Würdest du das tun?“

„Würdest du das wollen?“

 

Ihr Blickkontakt hielt und hielt. Nathan musste plötzlich an den Traum denken, den er in der Nacht davor gehabt hatte. Die Beteiligten dieses Traums waren am Ende ziemlich leicht bekleidet gewesen. Eilig schüttelte er mit dem Kopf.
 

„Nein, nein, ich glaube, ich möchte, dass du im Wohnzimmer bleibst. Also am Fenster. Also hier, auf dieser Seite des Gebäudes und …“

 

Ezra lachte.
 

„Keine Bange. Ich werde deine Privatsphäre berücksichtigen.“

„Gut. Sehr gut. Dann … dann gehe ich mal.“

 

Nathan wusste nicht recht, wie er sich jetzt verhalten sollte, aber Ezra nahm ihm die Entscheidung ab, indem er sich einfach umdrehte und wieder zu seinem Platz auf dem Sims zurückkehrte. Einen Augenblick lang überlegte Nathan noch, ob es unhöflich war, wenn er das Fenster schloss, aber dann schalt er sich selbst einen Dummkopf und schob den beweglichen Teil mit einer entschiedenen Bewegung nach unten. Nachdem er noch den Riegel vorgelegt und den Vorhang zugezogen hatte, ließ er sich mit geschlossenen Augen dagegen sinken.
 

Das Ganze war einfach vollkommen verrückt. Und Nathan wusste, dass ihm das hätte Angst machen müssen. Immerhin saß ein Kerl, der sich für einen Vampir hielt, draußen auf dem Fenstersims und gab vor, ihn vor einem Monster zu beschützen. Aber gleichzeitig fühlte es sich auch irgendwie gut an und das war es, was Nathan wirklich Sorgen bereitete.

 

Mit einem Seufzen ging er zum Schreibtisch hinüber, ließ sich auf dem Stuhl nieder und schaltete den Laptop an. Da er eh nicht würde schlafen können, konnte er die Zeit ebenso gut nutzen, um noch etwas zu recherchieren. Informationen konnte man schließlich nie genug haben.

 



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  chaos-kao
2022-03-10T19:18:39+00:00 10.03.2022 20:18
Das kann ja noch lustig werden mit den beiden. Ezras Familie wird es aber wohl eher nicht gefallen, wenn er sich auf einen Menschen einlassen würde. Und bisher scheint Nathan auch noch keinen so wirklich bleibenden Eindruck hinterlassen zu haben... Ich bin auf alle Fälle weiterhin gespannt was das Ding im Parkhaus war und wie es allgemein weiter gehen wird! :)
Antwort von:  Maginisha
11.03.2022 13:41
Hey chaos-kao!

Mit Ezras Familie liegst du vermutlich ziemlich richtig. Mal sehen, wie lange es dauert, bis sie was mitkriegen.

Ob Nathan Eindruck gemacht hat? Na mal sehen. Immerhin hat sich Ezra ja aus gerechnet sein Haus zum Beobachten der Gegend ausgesucht. Aber vielleicht wartet er ja wirklich nur darauf, dass das Parkhaus-Monster vorbeikommt. ^^

Zauberhafte Grüße
Mag


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