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Apnoe

von

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Schlafende Hunde

 

 

Bist du noch wach? Können wir reden?

Alvaro, der aus dem Augenwinkel beobachtete, wie sie sich die eingehende Nachricht von oben auf das Display seines Smartphones schob, wartete reglos, bis sich das kleine Fenster wieder geschlossen hatte und nichts mehr auf diese sieben Worte hinwies.

Er wandte den Kopf von dem nun erlöschenden Display ab und rieb sich mit den Händen über seine brennenden Augen. Reden? Könnte er reden, hätte er vermutlich weniger Probleme. Oder vielleicht sogar mehr, was wusste er. Eine Möglichkeit davon würde er noch früh genug rausfinden, ob er wollte oder nicht - das war sicher.

Seine Haut kribbelte taub, ganz so als löse sie sich wie ein Fremdkörper von ihm ab, und er konnte noch so oft darüber reiben, wie er wollte, es wurde nicht besser. Er spürte, wie er immer mehr den Kontakt zu ihr verlor, wie sich die Schichten voneinander abtrennten wie Wasser und Öl und das Empfinden zwischen dem unteren Teil, der noch mit seinen Nerven verbunden war und dem oberen, der sich schon gelöst hatte, ihm vor Schmerzen den Atem nahm. Aber mit jedem Millimeter, den sich seine äußere Hülle von ihm entfernte, wurde es auch erträglicher, schwand der gleißende Schmerz, der sich wie ein Messer mit glühender Klinge in seinen Körper bohrte.

Er musste nur geduldig sein und warten.

Geduldig sein und warten.

Geduldig sein.

Warten.

Alvaro verschränkte die Hände auf seinem Bauch und schloss die Augen. So mussten sich Skorpione und Schlangen fühlen, wenn sie sich häuteten. Jetzt verstand er, warum sich diese Tierchen einsam in tiefen, stillen Höhlen verborgen hielten und in aller Ruhe diese Phase durchlebten, bis sie irgendwann mit ihrem neuen Äußeren wieder diese laute und gefährliche Welt betraten, mit allem, was sie bis dahin bereits darüber wussten und sich dennoch mutig dem Unbekannten stellten, was noch auf sie zukommen würde.

Und trotzdem hatte er Angst, zu früh mit dieser neuen noch dünnen, weichen Haut zu erwachen, die noch nicht vollständig ausgehärtet war und ihm kaum Schutz bot. Die noch viel zu leicht zu verletzen war.

Alvaros Hände sanken müde neben ihm hinab, streiften seinen Bauch, seine Hüften, das kühle Metall des Stuhls. Seine Augen suchten den nun dunkleren Himmel über sich nach dem leuchtend weißen Flecken ab, der ein bisschen weiter gewandert sein musste, doch da war nichts mehr. Keine Krater, die wie Schusswunden in fahler Haut aussahen. Keine Glasscherben, die unter kaltem Licht schimmerten. Der Mond war samt Sternen unter einer dichten, schwarzen Wolkendecke verschwunden und hatte alle vorangegangenen Gedanken hinter sich verwischt, um ja nicht mehr gefunden zu werden.

Erschöpft tastete Alvaros Hand nach seinem Telefon.

 

"Was gibt’s?", meldete sich Alvaro möglichst locker, sobald der Anruf angenommen wurde. Nichts in seiner Stimme deutete auf die vergangenen Stunden hin, obwohl ihm noch immer wahnsinnig übel war, sobald er daran zurückdachte. Aber so lange noch das letzte bisschen seines alten Ichs mit ihm verbunden war und dafür sorgte, dass er sich nicht selbst verlor, selbst wenn es nur wenige Millimeter waren, an denen er noch hing - bis sich alles wieder gefestigt hatte, würde er weitermachen.

"Ich bin alleine und mir ist langweilig", antwortete ihm Gabe ungewohnt entspannt, was nach dem vorherigen Abend mit der weggeworfenen Kiste und LaRues letzten Notizen eigentlich völlig undenkbar sein sollte.

"Was hast du an?", rückte Gabe schließlich weiter mit der Sprache raus und sorgte mit dieser aus dem von Alvaro eigentlich erwarteten Kontext gerissenen Frage augenblicklich für kurzzeitiges Entsetzen.

"Was ich anhabe?" Fassungslos sah Alvaro an sich hinab. Bei dieser Hitze trug er natürlich nicht viel, aber ob er ausgerechnet das zum Thema eines Telefonats machen wollte? Mit Gabe? "Meinst du meine Kleidung oder-?"

"Ja, was hast du an? Oder hast du nichts an?"

"Ich weiß nicht, ob ich-" Mit jedem Wort wurde Alvaros Stimme leiser, bis er endlich das erlösende Lachen am anderen Ende der Leitung hörte.

"Ja, vielen Dank auch..." Alvaro konnte sich das Grinsen nun selbst nicht mehr verkneifen.

"Ich weiß doch, dass du immer Anzug trägst, wahrscheinlich auch, wenn du schläfst", zog ihn Gabe weiter auf. "Ich wette, deine Unterwäsche hat Nadelstreifen und Bügelfalten, richtig?"

Mühsam unterdrückte Alvaro das Lachen, das sich in ihm zusammenbraute, bis sein Zwerchfell schmerzte, aber er hatte absolut keine Lust, hier irgendjemanden zu wecken und dann morgen die dämlichen Fragen von seinen noch dämlicher grinsenden Kollegen beantworten zu müssen. Er setzte sich auf und beugte sich etwas über das Balkongeländer, um sich zu vergewissern, dass die Wohnungen in dem U-förmigen Komplex auch alle dunkel oder außer Hörweite waren.

"Du wolltest doch nicht ernsthaft telefonieren, um dich über Unterwäsche zu unterhalten?", flüsterte Alvaro gerade laut genug, dass Gabe ihn verstehen konnte und er hoffentlich sonst keine Aufmerksamkeit erweckte.

"Und wenn doch? Ist es noch zu früh dafür?" Gabes heiteres Lachen sprudelte wie eine kühle klare Quelle aus einem Felsen mitten in der Wüste. "Warum so schüchtern? Du hast es mir doch gestern Abend selbst angeboten."

Gestern? War es schon so spät? Oh Gott, und er hatte noch keine Sekunde geschlafen...

"Also was ist?" Gabe konnte sich Alvaros entgeistertes Gesicht gerade lebhaft vorstellen. Vermutlich war er sogar so ähnlich blass wie bei ihrem letzten Abschied oder davor im Hydra. Und es war zu lustig, um jetzt damit aufzuhören. "Schickst du mir ein Foto?"

"Ganz sicher nicht!", protestierte Alvaro verblüfft, worauf ihm ein belustigtes Spielverderber entgegnet wurde. Das Gespräch ging in eine Richtung, aus der er sich nicht mehr lange flüsternd rauswinden konnte, hatte er das Gefühl.

Alvaro erhob sich von seinem Sitzplatz und schlich in sein Schlafzimmer. Möglichst leise zog er die Balkontür hinter sich zu, nicht ohne noch einen schnellen letzten Blick auf die dunklen Wohnungen seiner Kollegen zu werfen. Wenn von denen doch einer draußen war, würde er es morgen, nein, heute wissen. Noch vor dem ersten Kaffee.

 

"Komm schon, du hast mich im Hydra auch schon nackt gesehen", versuchte Gabe ihn weiter aus der Reserve zu locken. Erinnerung für Erinnerung tastete er sich vor.

Alvaro spürte, wie die aufsteigende Röte in seinem Gesicht wie Feuer aufloderte. Wie ein Brand in einem ausgetrockneten Pinienwald, um genau zu sein. Egal, was er jetzt dazu sagte, um sich zu verteidigen - es war ja nur aus Versehen im Spiegel passiert und Gabe hatte direkt in seinem Blickfeld gestanden! - jedes Wort davon würde Gabe genau als das identifizieren, was es war: eine lahme Ausrede. Natürlich hatte er hingesehen...

"Das ist ja wohl was anderes, als ein Foto", widersprach Alvaro, aber es klang schon nicht mehr ganz so selbstsicher.

"Ja, es ist besser."

"Kein Foto, vergiss es!" Hätte er doch bloß nicht angerufen...

"Gut, dann komm hierher."

Wie viel Blut konnte einem in den Kopf steigen, ehe man einen Schlaganfall bekam? Zum Glück war das hier kein Videoanruf. Nahezu im gleichen Moment, als Alvaro den letzten Gedanken beendet hatte, hörte er auch schon den Klingelton einer eingehenden Nachricht. "Die werde ich jetzt sicher nicht öffnen!"

"Das glaubst du ja selbst nicht", lachte ihn Gabe prompt aus. Als ob ihm Alvaro noch was vormachen konnte. "Es ist nicht schlimm, versprochen."

Er musste sein Telefon wegwerfen. Jetzt sofort. Und er brauchte eine neue Nummer. Gleich am Morgen. Alvaro ließ sich auf sein Bett fallen. Das Lachen, das er auf dem hellhörigen Balkon erfolgreich unterdrückt hatte, füllte jetzt den ganzen Raum und hatte das schlaflose Rascheln seiner Bettwäsche abgelöst, das hier seit Monaten die Nächte dominierte, sobald er sich hinlegte und wenigstens ein bisschen zu schlafen versuchte und sich stattdessen nur im Halbschlaf von einer Seite auf die andere wälzte, bis es wieder Zeit zum Aufstehen war.

Still lauschte Gabe Alvaros Lachen, das dunkel und rauchig heiser klang. Er hörte es zum ersten Mal und es offenbarte eine Seite an Alvaro, die diesem sicher unangenehm war, wenn er ihn darauf ansprechen würde. Samtig weich wie das tintenschwarze Fell eines Panthers, der aus dem Dunkel des Waldes in den hellen Mondschein trat, schlich es durch die stillen Straßen, die zwischen Alvaros Wohnung und seiner lagen, und legte sich hier neben ihn. Kühles Mondlicht schimmerte in dem glänzenden Pelz, der sich unter dem rhythmisch rollenden Vibrato, das tief in ihm tönte, hob und senkte. Honigfarbene Augen blinzelten ihn in der Dunkelheit vertrauensvoll an und für einen winzigen Moment fühlte es sich an, als würde alles besser werden. Irgendwann.

Die Augen geschlossen atmete Gabe das wehmütige Gefühl weg, das ihn beinahe etwas sagen ließ, für das ihn selbst Jules auslachen würde.

 

"Über was wolltest du denn wirklich reden?", fragte Alvaro in die abwartende Stille hinein.

Über die Münzen. Über den Zettel. Über die Zweifel an Thomas, die er seit dem Entsorgen spürte.

"Ich weiß nicht, wie ich es Jules sagen soll."

Alvaro seufzte. "Da bin ich wohl der Falsche, den du fragst."

"Ich wollte nicht fragen, nur darüber reden." Alvaro war genau der Richtige, auch wenn er das nicht so sah. Er wusste nicht, welche Bedeutung die Münzen gehabt hatten, aber dass sie existiert hatten und dass Thomas für die Kiste verantwortlich war, daran hatte Gabe jetzt keine Zweifel mehr. Und Alvaro hatte nicht lockergelassen, weil er genau wie Gabe mehr dahinter vermutete, auch wenn es noch außerhalb ihrer Sichtweite lag. Eine verschwommene, unfokussierte Ahnung. Wie Farben unter Wasser, die ab einer gewissen Tiefe alle nur noch blau aussahen.

"Warte doch, bis ihr umgezogen seid", schlug Alvaro das vor, was am Schlüssigsten schien. Er konnte sich die Überforderung vorstellen, die LaRues Erbe hinterlassen hatte. Nichts davon ließ sich wirklich greifen und festhalten. Es war wie Wasser, das einem durch die Finger rann.

"Vermutlich hast du recht." Gabes Augen suchten in der dunklen Wohnung nach dem kleinen Rahmen, der im Regal vor dem Sofa stand. "Weißt du, was ihre Bedingung für den Umzug war?"

"Keine Ahnung", gab Alvaro zu und wartete auf die Erklärung. Es fiel ihm noch schwer Jules und ihre Beweggründe richtig einzuschätzen.

"Dass du danach nicht einfach verschwindest, wie unsere Mutter. Oder wie Thomas."

"Hatte ich nicht vor. Außer du willst es." Alvaro sah an die Decke über sich, wo sich der Ventilator still unter der Lampe drehte. Die Schatten der Rotorblätter huschten wie Silhouetten schwarzer Vögel über die Decke. Still flogen sie zu ihrem Horizont, wo die Decke an die Wand stieß und verloren sich dort im Licht.

Ohne die Bettfläche des Sofas auszuklappen, legte sich Gabe auf die durchgesessene Sitzfläche des uralten Möbelstücks und ließ dabei das gerahmte Foto keinen Wimpernschlag lang aus den Augen. "Was hat er mit Entsorgen gemeint? Mich?"

"Glaube ich nicht." Alvaro hätte gerne etwas Tröstenderes gesagt, als das, weil Gabe plötzlich wieder so niedergeschlagen klang und ihm dessen Zusammenbruch im Hydra noch viel zu gut in seiner Erinnerung haftete, doch sein Kopf war wie leergefegt. "LaRue hätte das niemals gewollt." Jedenfalls nicht auf die Weise, wie Gabe dachte. Oder Moreno.

"Genau das würde ich auch antworten, um von der Wahrheit abzulenken", murmelte Gabe tonlos. Alvaros Sicht auf Thomas war so herrlich unverdorben. Er kannte ihn nur als Chef, den man respektierte und sicher nicht hinterfragte, aber er selbst kannte Thomas von einigen anderen Seiten, über die er aber sicher nie im Leben mit Alvaro reden würde.

"Seine letzten Worte zu mir waren Kümmer dich darum. Das klingt nicht nach Entsorgen, oder?" Alvaro wartete gar nicht erst auf Gabes Antwort. "Erst dachte ich das auch, aber die Reihenfolge stimmt nicht. Er kann nur gemeint haben, dass ich zuerst euch in Sicherheit bringen soll und dann die Kiste entsorge." Offensichtlich hatte er Gabe überzeugt, denn der schwieg.

"Wie meinst du das?", erklang nach minutenlangem Schweigen Gabes eisige Stimme wieder. "Wovor sollst du uns in Sicherheit bringen?"

 

Alvaros kreisende Gedanken kamen augenblicklich zum Stillstand. Atemlos wartete er darauf, dass ihm eine passende Erklärung einfiel, doch Gabe ließ ihn gar nicht erst nach einer Ausrede suchen.

"Überleg dir gut, was du darauf antwortest", riet Gabe seinem erschrocken verstummten Gesprächspartner mit warnendem Unterton. Er hatte es befürchtet. Er hatte sich blauäugig von ein bisschen Verständnis blenden lassen und darüber vergessen, dass er es mit jemandem zu tun hatte, der aus einem völlig anderen Universum kam, als er es gewohnt war. Jemand, der nicht viele Worte brauchte, um sein Ziel zu erreichen, was er mit den ganzen Auftritten bei Nate und Jules bereits bestens unter Beweis gestellt hatte. "Keine Sorge, ich lasse dir genug Zeit zum Nachdenken. Der Umzug findet erst statt, wenn du mir die Wahrheit sagst."

Noch ehe Alvaro Zeit zu protestieren hatte, hatte Gabe den Anruf beendet.

"Fuck!", fluchte Alvaro. Sein Finger presste hektisch die Wahlwiederholung, doch anstatt Gabe antwortete ihm nur die blecherne, automatisierte Ansage seiner Mailbox.

 

Nach dem fünften vergeblichen Versuch Gabe zu erreichen, legte Alvaro schließlich sein Telefon auf den Nachtschrank und schloss die Augen.

Der kühle Luftstrom des Deckenventilators floss wie ein eisiger Gebirgsbach über ihn hinweg, ohne dass er noch genug Energie besaß, ihn auszuschalten oder sich wenigstens mit dem dünnen Laken zuzudecken. Reglos lag Alvaro in der Dunkelheit und spürte, wie die Kälte sich Millimeter für Millimeter in seiner alten, spröde gewordenen Haut festbiss und sie so paradoxerweise daran hinderte, sich weiter von ihm zu lösen.

 



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