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Apnoe

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Info: In diesem Kapitel wird die Leiche eines Erschossenen beschrieben. Aber mMn nicht allzu explizit und möglichst passend in den Text eingearbeitet.


Das Mare Frigoris ist eine der tieferliegenden Ebenen des Mondes.


Dicken fetten Logikfehler gekillt... >___> Komplett anzeigen

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Mare Frigoris - Das Meer der Kälte

 

 

Völlig in seine Gedanken vertieft, saß Alvaro auf dem schmalen Balkon vor seinem Wohnzimmer, seine Füße ruhten auf dem Balkongeländer vor ihm und in seiner Hand, die reglos auf der Stuhllehne lag, hielt er eine Zigarette, die schon vor über einer viertel Stunde erloschen war, ohne dass es ihm aufgefallen wäre.

Er war wahnsinnig müde, ohne dass er zur Ruhe kommen und schlafen konnte. Selbst sein Körper, der offensichtlich noch einen Funken Selbsterhaltungstrieb besaß, fuhr langsam runter, die Muskeln wurden immer schwerer und sehnten sich nach dem erholsamen Schlaf auf einem möglichst bequemen Liegeplatz, nur sein verdammter Kopf wollte einfach nicht abschalten.

Bloß nichts wichtiges vergessen! Bloß nichts übersehen!, spulte sein Hirn ohne Pause die immer gleichen alarmierenden Gedanken in Endlosschleife ab, ohne dass er mal wirklich durchatmen konnte. Ein einziger Fehler, ein noch so winziges, übersehenes Detail könnte ja zur Katastrophe ausarten.

Dabei hatte er eher damit gerechnet, dass sein Job nach LaRues Tod so dermaßen einschläfernd monoton werden würde, dass er sich nach einem zweiten umsehen musste, um das wieder auszugleichen, doch mit seinem Gewirr aus Kontakten und Geschäften, in die er, wie es aussah, nur wenige eingeweiht hatte, hatte ihm sein Chef einen ordentlichen Strich durch die Rechnung gemacht.

 

Nachdenklich sah Alvaro zum Haupthaus hinüber. Bis auf ein paar Lichter war dort alles dunkel. Genau wie hier bei ihm im Angestelltenwohnbereich, das ein eigenes Gebäude war und mehrere Wohnungen beherbergte.

Es war so still, dass das liebestrunkene Zirpen der Zikaden in den süß duftenden Sträuchern, die im Dunkeln wie graue Flecken auf dem sauber gemähten Rasen verteilt standen, ohrenbetäubend klang - doch die Stille war trügerisch für jemanden, der die Bewohner hier nicht kannte. Er wusste, wo sich diejenigen aufhielten, die heute Nacht nicht schlafen würden, damit es alle anderen konnten.

Alvaro sank auf seinem Sitzplatz nach unten, bis sein Nacken die Rückenlehne erreichte. Er klemmte sich die kalt gewordene Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie zum zweiten Mal an. Der warme Abendwind kräuselte die aufsteigende Rauchwolke sanft über seinem Kopf und wehte sie davon.

Er dachte an den Anfang seiner Suche zurück, nach dem, was LaRue so beschäftigt haben musste, dass er es unbedingt von seinem Fahrer hatte wegschaffen lassen wollen.

Der erste Abend, als er aus dem Auto stieg und sich vor dieser grellen Monstrosität namens The Gorge wiederfand und nicht wusste, was zur Hölle mit seinem Chef schiefgelaufen war, ohne dass er es mitbekommen hatte.

Mit dem Wissen über den Schlüssel in der Jacke hatte er bis zum Betreten des Appartements gedacht, er suche nur ein Zimmer, das irgendwie etwas mit LaRue zu tun hatte. Eine offene Rechnung etwa. Aber was hatte er stattdessen gefunden? Gabe und Jules, die auf den ersten Blick rein gar nichts mit LaRue zu tun hatten.

Zwei wahllose Menschen in einer beliebigen Stadt, die aus Gründen, die er damals noch nicht kannte, hinter einem Bordell wohnten, umgeben von anderen wahllosen Menschen, die ebenfalls ihr profanes Leben dort verbrachten. Die zu irgendeiner Tages- oder Nachtzeit aufstanden, etwas aßen und dann ihren Beschäftigungen nachgingen, bis es wieder Zeit zu schlafen war.

Er hätte sich umdrehen und wieder gehen können, hätte den Staub auf den Möbeln ruhen lassen können und hätte das Kinderbild nicht in die Hand nehmen müssen. Nichts davon, was vielleicht besser gewesen wäre, hatte er getan.

Er war den Geschwistern in ihren Kaninchenbau gefolgt, weiter und weiter hinein, jede noch so dunkle Abzweigung darin nehmend und noch immer war er bereit, viel viel tiefer in dieses Labyrinth hinab zu steigen, weil er noch immer darauf hoffte, dass irgendwo die Antwort auf die ganzen Fragen lag, die LaRue ihm in einer Kiste hinterlassen hatte.

Und nur durch seinen Fehler wurde Moreno erst auf den Plan gerufen, und den musste er jetzt wieder ausbügeln. Schnellstens, denn Morenos Drohung bedeutete nichts anderes, als dass er Gabe töten würde, wenn Alvaro es nicht tat. Und nicht nur ihn, sondern gleich alle, die mit ihm zu tun hatten. Und das schloss Alvaro genauso mit ein wie Jules.

Müde strich sich Alvaro mit der freien Hand über seine Stirn. Wenn sich alles dahinter doch nur so einfach wegwischen lassen würde wie Kreide auf einer Tafel...

Irgendwie musste er Gabe klar machen, dass es kein normaler Umzug war, ohne ihn direkt in Panik zu versetzen. Es reichte, wenn Moreno vorerst die Spur verlor. Danach war immer noch Zeit, um auf weite Sicht zu planen.

Dank Lidia kannte er bereits ein paar von Morenos Werken und er wollte definitiv nicht daran Schuld sein, wenn noch welche folgten. Erst recht nicht welche, zu denen er jetzt einen Bezug hatte, der über das bloße Kennen der Namen hinausging. Weit hinaus, bis in deren persönlichste Kreise.

Nate... Alvaros leises Lachen verklang zwischen dem hellen, sehnsuchtsvollen Zirpen der Zikaden. Damit hatte ihn Gabe tatsächlich überrascht, musste er sich eingestehen. Kein Wunder, dass er Nate nichts tun sollte.

 

Erschöpft, aber noch immer nicht müde genug, um schlafen zu können, sah Alvaro dem Rauch seiner Zigarette nach, der wie eine sich windende Schlange über ihm in die Nachtluft aufstieg. Der Vollmond schien so hell am wolkenlosen Himmel, dass sich ein leuchtender Schimmer um ihn herum gebildet hatte, der mit seiner Intensität fast die daneben funkelnden Sterne überstrahlte.

Die Struktur der Mondoberfläche war in ihren Details so gut zu erkennen, dass man meinen konnte, man blicke auf eine hochauflösende Aufnahme von dem blassen Himmelskörper. Wie verschüttete Tinte ergossen sich die dunklen Felder zwischen den Mondkratern, von denen strahlenförmige Linien wegführten und von der Gewalt zeugten, die sie vor Millionen und Milliarden Jahren verursacht hatten. Einschläge wie Schusswunden in einem bleichen Körper.

Alvaro ließ die nur zur Hälfte gerauchte Zigarette in den Aschenbecher neben sich fallen, wo sich die immer dunkler werdende Glut verzweifelt weiter in den Tabak hineinzufressen versuchte, um bloß nicht wieder zu erlöschen.

Seine Hände legten sich auf seine Schläfen und er versuchte, das stechende Gefühl, das sich einen Weg seinen Rücken hinauf bahnte, abzuschütteln, doch es schlug ungehindert weiter seine scharfen Krallen in ihn und kroch an ihm hoch, bis es seinen Kopf erreicht hatte.

 

Man hatte LaRues Leichnam bis zu den Schultern hoch mit einem sterilen weißen Tuch abgedeckt. Die groben Bügelfalten in dem gestärkten Baumwollstoff standen wie scharfkantige Felsklippen darauf hervor, die im völligen Kontrast zu den gewöhnlich sanft fließenden, maßgeschneiderten Anzügen standen, die er zu Lebzeiten getragen hatte, und von denen sein letzter hektisch zusammengefaltet und in eine Tüte gepresst neben ihm auf der silberfarbenen Liege lag.

Alvaros zornige Blicke hafteten minutenlang auf der schmucklosen Plastiktüte, an deren oberer Ecke ein Band mit daran hängendem Zettel befestigt worden war, als wäre es ein gottverdammtes Geschenk. Sobald diese Scheiß Tüte auch nur in die Nähe von LaRues Zuhause kam, käme er mit ihr hierher zurück und erschlug den Verantwortlichen damit.

Seine Blicke wanderten wieder zurück zum fahlen Gesicht seines Chefs, wo etwas zwischen Schläfe und Ohr in LaRues blutverkrusteten Haaren glitzerte. Alvaro streckte die Hand danach aus, auch wenn ihm schon alleine der Gedanke an das Berühren der kühlen, blutüberzogenen Haare eine Gänsehaut über die Arme jagte. Es war eine winzige Glasscherbe, die er zwischen den starren Haarsträhnen hervorzog und in deren scharfen Kanten sich das kühle Licht der Lampe über ihm brach. Bunte, funkelnde Lichtpunkte tanzten über das leblose Gesicht mit den eingefallenen Wangen und den blutleeren, leicht geöffneten Lippen, als Alvaro das Glasstück neben LaRues Kopf auf den kalten Tisch mit den hauchfeinen Kratzern in der spiegelnden Oberfläche legte.

Und als hätte die Vernunft den Kontakt zum Rest seiner Körpers eingestellt hatte er schließlich das steife Tuch angehoben und es bis über LaRues Brust hinaus zurückgezogen.

 

Ohne, dass sein Verstand tatsächlich erfassen wollte, was er da vor sich sah, hatte er sich den im grellen Licht der Pathologie kreidebleichen Körper betrachtet, den man zwar grob gesäubert hatte, aber dessen Wunden noch nicht überdeckt worden waren. Und erst jetzt erkannte man auch das wirkliche Ausmaß der tödlichen Verwundungen, die sich über den gesamten Oberkörper seines Chefs verstreuten.

Überall klafften Einschusslöcher wie Meteoriteneinschläge, mit Kraterwänden aus zerfetzter, verbrannter Haut. Selbst einer seiner Unterarme war übersät damit und Alvaro konnte LaRue vor sich sehen, wie er auf der Rückbank seines Wagens saß und den Arm hob, um sich vor den Kugeln zu schützen, die zischend um ihn herum flogen und erbarmungslos in alles einschlugen, was in ihrem Weg lag, Muskeln und Blutgefäße zerfetzten, als wäre es dünnes Papier. Alles musste wahnsinnig schnell passiert sein, so dass ihm wohl noch nicht mal die Zeit geblieben war, den Türgriff zu erreichen.

Und mit diesen Bildern im Kopf war er nach Hause gefahren, um der Frau seines Chefs zu bestätigen, dass es unzweifelhaft ihr Mann war, der da tot in einer Kühlkammer der Pathologie lag und nie wieder nach Hause kommen würde, um die wenige Freizeit, die ihm blieb, mit seiner Familie zu verbringen.

 

Es lag so viel Hass in dieser Tat, die sich Alvaro bis heute nicht erklären konnte. LaRue hatte normalerweise bedächtig agiert und Risiken sorgfältig gegeneinander abgewägt, ehe er sie eingegangen war, und war sicher niemand, der so einen Ausbruch an roher Gewalt leichtfertig provoziert hätte. Klar, er war ein zäher Verhandlungsgegner und unnachgiebig, wenn er sich mal was in den Kopf gesetzt hatte. Das wusste Alvaro von seinen sich wie Kaugummi dahinziehenden Konferenzen, die er selbst irgendwo wartend verbracht hatte.

Aber da waren auch Dinge, verborgene Seiten an LaRue, von denen Alvaro nichts wusste und die er jetzt erst nach und nach aufdeckte - das Hydra zum Beispiel, oder Gabe, und er war sicher nicht so naiv, dass er nicht alle Verbindungen zwischen LaRue und Gabe ausschloss, egal in welche Richtung. Prinzipiell war alles möglich.

Bei Moreno war es das gleiche. Nur er wusste, mit wem sie sich treffen wollten und Moreno hielt dicht. Genau wie Gabe. Und vermutlich hatte jeder von ihnen seine Gründe, die Alvaro nicht einfach aus ihnen rausprügeln konnte, auch wenn es vielleicht der einfachste Weg wäre.

Ja, er war mehr als nur der Chauffeur, da hatte Moreno richtig gelegen. Er hatte sich nie wie ein beliebiger Angestellter gefühlt, sondern als Teil von allem. Ein Teil des Namens LaRue und allem, was dahinter steckte. Gut, von fast allem...

Wäre er doch nur dabei gewesen, wie sonst auch.

Alvaros Hände, die noch immer auf seinen Schläfen lagen, schoben sich nach vorne über seine Augen. Das erste Mal seit LaRues Ermordung spürte er die Ohnmacht, die ihn in ihren eisernen Klauen hielt. Die erste Wut über diesen unnötigen Akt war verraucht und hatte etwas weitaus grauenhafterem Platz gemacht, das ihm ganz und gar nicht gefiel: der lähmenden Trauer um seinen Chef, den er wirklich gemocht hatte und dessen Verlust sich wie langsam aushärtender Zement auf ihn gelegt hatte, so dass er mit jeder vergehenden Minute spüren konnte, wie sein Körper unter der Last nach und nach den Kontakt zu allem verlor, bis auf dieses ewig andauernde Schreien in seinem Kopf, das einfach nicht zum Schweigen zu bringen war.

 



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