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Apnoe

von

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Red Fish, Blue Fish

 

 

 

Das Gewitter war jetzt über dem Haus. Geisterhaft leuchtende Blitze tauchten aus dem tiefgrauen Wolkenmeer auf und wanden sich wie elektrisierte Schlangen in langen Zickzacklinien über den immer dunkler werdenden Himmel. Grollender Donner folgte ihnen und vermischte sich mit dem Poltern der Kiste, deren neuer Platz nun auf dem Wohnzimmertisch seines kleinen Apartments im Angestelltenbereich der Villa war.
 

Er musste das Rätsel dieser Kiste lösen, anders würde er wahrscheinlich nie wieder ruhig schlafen können.

Mit vom Duschen nassen Haaren und einem eiskalten Bier in der Hand, ließ sich Alvaro wenig später auf einen der beiden Sessel fallen, die den Wohnzimmertisch seitlich einrahmten. Das kondensierte Wasser auf der Flasche perlte an dem Glas hinab und verteilte sich in seiner Handfläche, die das Getränk festhielt, ohne dass er einen Schluck davon nahm. Geistesabwesend sah er auf den Erste-Hilfe-Kasten vor sich, als würde der ihm gleich antworten.

Heute morgen waren urplötzlich wieder die letzten Worte seines Chefs aus den Tiefen seiner Erinnerung aufgetaucht, die durch die Hektik nach dessen Tod irgendwo unter Pflichtgefühl und all den Dingen, die schnellstmöglich wieder so laufen mussten, wie zuvor, verschwunden waren.

Die verdammte Kiste – im Wagen. Kümmer dich darum! Und dann war er in seinem Privatwagen weggefahren und nicht mehr zurück gekommen. Nicht mehr lebend, jedenfalls.

Nie im Leben wäre ihm von alleine der Erste-Hilfe-Kasten unter dem Beifahrersitz aufgefallen. Und wenn, hätte er ihn höchstens in den Kofferraum geworfen, wahrscheinlich sogar ohne dabei zu registrieren, dass dort bereits einer lag.

 

Die aufsteigenden Kohlesäurebläschen knisterten leise, als Alvaro einen ersten Schluck aus der Flasche nahm. Ohne die Blicke von der Kiste zu lassen, zündete er sich eine Zigarette an.

Okay, gut, irgendwann würde er damit anfangen müssen, oder nicht? Warum nicht jetzt! Er stellte das Bier beiseite. Die Zigarette im Mundwinkel, zog er die Kiste zu sich hinüber. Ein letztes Mal strich er mit beiden Händen vorsichtig über den Deckel, als erwarte er, dass der sich mit einem Knall öffnen und ihm ein Springteufel ins Gesicht lachen würde.

Unfug.
 

Also, noch mal von vorne. Ein Schlüssel. Er drehte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. Schmucklos. Nicht mal ein Metallring war vorhanden, um weitere Schlüssel oder einen Anhänger daran zu befestigen. Vielleicht ein Haustürschlüssel. Oder – Alvaro lachte kurz auf. Oder von einem Bankfach. Postfach? Egal, der Schlüssel brachte ihn im Moment nicht weiter.

Das Magische Quadrat war jetzt kaputt. Und mit großer Sicherheit auch eine Niete.

Die Münzen konnte er ebenfalls abschreiben.

Die beiden Kalender waren interessant. Langsam blätterte Alvaro durch die Seiten des Kalenders vom letzten Jahr und ließ seine Blicke über jede Zeile gleiten. In regelmäßigen Abständen waren in der sorgfältigen Handschrift seines Chefs lange Zahlenreihen vermerkt. Immer mittwochs und alle zwei Wochen noch zusätzlich freitags. Von Januar bis Dezember. Sonst nichts. Keine Namen, nichts. Nur diese Zahlenreihen. Mittwochs und freitags. Geldbeträge eventuell, was auch nicht verwunderlich wäre. Sein Chef hatte mehrere Geschäfte laufen. Die einzigen Ausnahmen an den Zahlenreihen war, dass freitags noch wechselnde Abkürzungen hinter der letzten Nummer standen.
 

Was sollte diese Schnitzeljagd? Alvaro rieb sich mit den Händen die Schläfen, hinter denen es heftig pochte. Das alles war so untypisch für seinen Chef, der zwar nur wenig geredet hatte, aber immer so viel, dass unmissverständlich klar war, was Sache war. Warum jetzt diese Spielchen? Er warf den Kalender zurück in die Kiste. Das Bier in der Hand lehnte er sich im Sessel zurück und starrte an die Decke über sich. Unbeweglich, die im Kreis rennenden Gedanken in seinem Kopf sortierend.

Der Donner rollte wie ein Güterzug über das Haus und die Blitze warfen tanzende Schatten an die Wände. Der Wind trieb den Regen in immer heftiger werdenden Böen gegen das Wohnzimmerfenster und nach zehn Minuten regnete es so stark, dass die Rinne am Dach überzulaufen begann und das monotone Plätschern des Wassers auf der Fensterbank bald wie das ohrenbetäubende Dröhnen der Niagarafälle klang.

 

Er musste kurz eingeschlafen sein, denn als Alvaro die Augen wieder öffnete, war das Gewitter endlich weitergezogen. Der heftige Regenschauer hatte nachgelassen und prasselte nur noch leicht gegen die Fenster.

Er streckte die Arme, gähnte und erinnerte sich wieder an sein eigentliches Vorhaben. Seufzend nahm er den aktuellen Kalender und schlug ihn auf, mit wenig Hoffnung, etwas besonders aussagekräftiges darin zu finden. Und er behielt recht. Auch dort das gleiche. Zahlenreihen unter Zahlenreihen und manchmal diese seltsamen Abkürzungen. Mit dem Unterschied, dass dieser Kalender nur bis Mitte Juni beschrieben sein konnte. Und danach - kam nichts mehr.
 

Alvaro hielt inne und sah bewegungslos auf den Kalender in seiner Hand hinunter, als ihm dieser letzte Gedanke bewusst wurde.

Nie wieder würde er einen Anruf von seinem Chef erhalten, er solle ihn bitte so schnell wie möglich irgendwohin fahren, nur um dann ewig im Wagen vor immer gleich aussehenden chrom- und glasverseuchten Geschäftshäusern warten zu müssen, bis sein Boss entweder mit siegessicherem Grinsen oder mit einer tiefen Falte zwischen seinen Augenbrauen zurückkam, die Tür aufriss und sich auf die Rückbank sinken ließ.

Alvaro hatte ihm nie Fragen gestellt. Erst recht keinen nervigen Smalltalk. Kein "Wie war Ihr Tag?" oder "Möchten Sie noch etwas trinken gehen, bevor ich Sie nach Hause bringe?" Es wäre ihm niemals eingefallen, seinen Boss auf diese vertrauliche Art anzusprechen. Er war kein Taxifahrer, sondern Chauffeur eines Mannes, der sich im Laufe seines leider nicht besonders langen Lebens ein stattliches Unternehmen aufgebaut hatte, in dem jedes Rädchen reibungslos ineinander griff.

Stattdessen hatte er gelernt, die Mimik und Gestik seines Vorgesetzten zu lesen und war im Laufe der Zeit richtig gut darin geworden, so dass er ohne Fragen zu stellen, wusste, was sein Chef von ihm wollte, wenn er auf der Rückbank saß und gleich nach dem Einsteigen seine Aktentasche öffnete und die Papiere darin durchzusehen begann. Wortlos schlug er dann die Richtung zur Hauptgeschäftsstelle ein und fuhr danach auf direktem Weg nach Hause, denn er würde erst wieder am nächsten Morgen vor dem Bürogebäude stehen müssen, um seinen Chef, der die Nacht durcharbeiten würde, dort abzuholen und zum nächsten Termin zu bringen.

Aber offensichtlich hatte er etwas übersehen. Etwas wichtiges, sonst säße er jetzt nicht hier in seinem spartanisch eingerichteten Wohnzimmer und hätte eine Kiste mit Dingen vor sich, die anscheinend bedeutend genug waren, um sich darum kümmern zu sollen – was auch immer damit gemeint war.

Alvaro schlug die zweite Juni-Seite auf. Sie war leer. Er war gerade im Begriff, den Kalender frustriert zurück in die Kiste zu werfen, als er doch kurz innehielt. Das Papier fühlte sich dicker an als normal und er blätterte noch zwei Seiten um. In der Wochenzeile, in der sein Chef bereits unter der Erde lag, war ein gelber Notizzettel zwischen die Doppelseite geheftet. Darauf stand in Großbuchstaben und doppelt unterstrichen ein einziges Wort: ENTSORGEN!!!

 

Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals, während Alvaro die Blicke nicht mehr von diesem einen Wort lösen konnte, das aus heiterem Himmel inmitten dieses Gewirrs aus Zahlen thronte. In dem Augenblick, als er es gelesen hatte, hatte er die Stimme seines Chefs im Ohr gehabt. Ruhig, aber bestimmt, ohne auch nur ansatzweise zu zittern. Entsorgen! Keine Fragen stellen. Weder davor, noch danach.

Sein antrainiertes Gespür, auf seine Umgebung und seine Mitmenschen zu achten, das nach dem Tod seines Chefs in ein tiefes Koma gefallen war, erwachte endlich und versetzte Alvaro augenblicklich in einen Zustand, in dem er handelte, ohne dass sich seine Gedanken wieder im Kreis zu drehen begannen. Die übliche Spannung kehrte in seinen Körper zurück und kroch in jeden Muskel. Der Regen, der leicht an die Fensterscheiben klopfte, verlor an Relevanz und wurde zum Hintergrundrauschen.

Hatte er wirklich angefangen an seinem Chef zu zweifeln? Alvaro lachte bitter auf.
 

Das schal gewordene Bier auf dem Tisch hinterließ eine feuchte Spur, als Alvaro die Flasche zur Seite schob, um Platz für den Inhalt der Kiste zu machen, den er nun sorgfältig nebeneinander auf der Tischplatte ausbreitete. Er musste alles als eins betrachten, nicht einzeln. Es musste einen Zusammenhang geben und den musste er finden, damit nicht ausgerechnet der letzte Auftrag, den er von seinem Chef bekommen hatte, zum ersten Fehlschlag seiner Karriere zu werden.

Flink huschten seine Blicke zwischen den Gegenständen vor ihm hin und her, während sein Gehirn auf Hochtouren arbeitete.
 

Münzen. Schlüssel. Magisches Quadrat. Kalender mit Anweisung. Alvaro streckte die Hand aus und ordnete die Dinge neu.
 

Magisches Quadrat. Münzen. Schlüssel. Kalender mit Anweisung. Noch mal neu ordnen!, befahl ihm sein Kopf und seine Hände gehorchten.
 

Schlüssel. Kalender mit- Seine Finger streiften die gelbe Haftnotiz. Entsorgen, nicht 'wegwerfen' stand darauf. Entsorgen meinte sicher nicht, die Sachen in den Müll zu werfen, das hätte sein Chef alleine geschafft. Entsorgen war spezifischer. Er riss den Zettel von seinem Platz und sah verblüfft auf den Eintrag, der darunter verborgen gewesen war. Dieses Mal konnte er die Ziffern und Abkürzungen sogar einigermaßen identifizieren, weil sie zu seinem alltäglichen Job gehörten, obwohl ein paar Zahlen beim befestigen des Zettels verwischt worden waren. Es waren GPS-Koordinaten und wenn er sich nicht gewaltig täuschte, gehörten sie zu dem Punkt, an dem er seinen Auftrag erledigen sollte. Alvaro jubelte innerlich auf.
 

Die Flasche auf dem Wohnzimmertisch kam ins Schwanken, als er im Aufspringen mit dem Knie gegen den Tisch stieß. Mit einer blitzschnellen Handbewegung fing er das umkippende Getränk auf, ohne dass auch nur ein einziger Tropfen überschwappte, und griff nach seinem Smartphone, das daneben lag.

Es dauerte eine Weile, weil er ein paar der verwischten Zahlen raten musste, doch endlich spuckte die Suchmaschine die Wegbeschreibung einer Adresse aus. Es lag etwas weiter weg, als der Radius, in dem sein Chef sich gewöhnlich aufhielt, aber das würde er bald selbst herausfinden. Und dann würde er auch wissen, was er dort mit der Kiste anstellen sollte.

 

 

Das einzige, was Alvaro ein paar Tage später wusste, war, dass er an diesem Ort, zu dem ihn die Koordinaten hingeführt hatten, garantiert nichts mit dem Magischen Quadrat aus der Kiste anfangen konnte. Und dazu musste man auch kein Genie sein. Aber er hatte ein paar Fragen...

Den Kopf in den Nacken gelegt sah er staunend zu dem blinkenden Gebilde über sich, das an der Fassade des etwas zu knallig gestrichenen Hauses angebracht war. Ein wirklich, wirklich riesiger nackter Busen blinkte abwechselnd in Neongelb, Pink und Blau, und genau darüber, wobei die mittleren Buchstaben in das Dekolleté flossen, stand "The Gorge", die Schlucht.

Scheinbar hatte er die Koordinaten doch falsch geraten. Oder er war hier richtig. Eins von beidem. Und er würde es nur wissen, wenn er es überprüfte.
 

Möglichst gefasst schritt Alvaro auf die offenstehende Tür des Hauses zu, aus der laute Musik und Stimmengewirr schallte. Seine Hand tastete ein letztes Mal nach dem Schlüssel, den er als einziges aus der Kiste mitgenommen hatte, und nach dem Holster, das sich gut verborgen unter seinem Sakko befand.

 

 

 

 

 



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