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Apnoe

von

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One Fish, Two Fish

 

 

 

Menschen kommen und gehen wie Wellen. Nur die wenigsten in diesem unerschöpflichen auf und ab wirst du wahrnehmen und genauso wenig werden sie dich sehen oder sich an dich erinnern.

Einige legen tausende Kilometer zurück, ehe sie auf Land treffen, ziehen dann unbemerkt wie Geister an dir vorüber, ohne Notiz von dir zu nehmen und tauchen ab, noch ehe du Zeit hattest, einen Blick mit ihnen zu wechseln.

Viele sind so harmlos, dass sie nicht einmal ein Papierschiff umwerfen könnten, rollen sanft über dich hinweg, packen dich vorsichtig und heben dich einen Moment dem Himmel entgegen, nur um dich dann kurz danach achtlos hinter sich zu lassen und am Horizont zu verschwinden.

Andere sind so stark, dass sie mit Leichtigkeit haushohe Schiffe zum Kentern bringen. Sie reißen dich von den Füßen, verschlingen dich gierig mit schäumenden Klauen und lassen keine Spur deiner Existenz an der Oberfläche zurück. Die beiden Kuhlen im Sand, wo gerade noch deine Füße standen, werden von der nächsten Welle überdeckt und bald wird nicht einmal mehr das noch von dir übrig sein.

 

Bewegungslos sinkst du in dem Ozean aus Menschen dem undurchdringlichen Schwarz entgegen, ohne eine Ahnung zu haben, welche Turbulenzen über dir herrschen oder was dich unter dir erwartet. Du reckst dein Gesicht dem trüber werdenden Licht von oben entgegen, das wie ein schimmernder Vorhang im Takt der Gezeiten tanzt, bis dich auch der letzte Lichtstrahl nicht mehr erreicht.

Deine Instinkte musst du abstreifen wie zu klein gewordene Schuhe, sobald das Wasser über dir zusammenschlägt und sich der Himmel in ein Kaleidoskop aus farbigen Fragmenten verwandelt, die stetig ineinander fließen und wieder auseinander driften. Keine einzige Welle kann dir mehr was anhaben. Du vergisst, was oben war und was noch sein wird.

Sämtliche Muskeln müssen sich entspannen, auch wenn dein Kopf dir etwas anderes einzutrichtern versucht. Du musst stärker sein, als dein Kopf. Stärker als jede Zelle deines Körpers, der dich innerlich vor Angst schreiend zurück an die Wasseroberfläche zwingen will.

Dein Brustkorb scheint unter dem Druck platzen zu wollen, dein Mund ist kurz davor, sich endlich zu öffnen und diesen einen tiefen Luftzug zu nehmen. Nur einen einzigen – er wäre dein sicherer Tod.

Hab Vertrauen. Du willst ja nicht sterben, richtig?

Die Panik vergeht und an ihre Stelle tritt Euphorie. Deine restlichen Sinne passen sich deiner kargen Umgebung an und alles, was du noch bist, ist unwichtig.

Umarmt von Myriaden Molekülen gleitest du schwerelos dahin wie ein Astronaut. Winzige Sterne aus Luft tänzeln über dir in die Höhe und ein endloses Universum in Mitternachtsblau umschlingt dich sacht. Du denkst an diese eine Welle, die dich mit sich gerissen hat in diese neue, dunkle und stille Welt, und du bist froh, dass diese Welle unter all den Milliarden Menschen ausgerechnet dich ausgewählt hat.

Der letzte Flecken Licht über dir wird kleiner und kleiner, bis nur noch absolute Dunkelheit herrscht.

 

 

Mit einem verhaltenen Seufzen klappte der Deckel der Box zu. Das Innere der unscheinbaren Kiste versank wieder im gewohnten lichtlosen Schwarz, in dem sie, was wusste er wie lange schon, vor sich hingeträumt hatte, ehe er vor wenigen Minuten den Deckel mit dem aufgedruckten Kreuz angehoben und einen ersten zögernden Lichtstrahl hineingelassen hatte.

Wie lange hatte die Kiste wohl schon unbemerkt unter dem Beifahrersitz seines Dienstwagens gelegen, wo er sie vor wenigen Sekunden wieder enttäuscht hinbefördert hatte? Wer sie dort versteckt hatte, war klar. Aber warum? Und was sollte diese Anweisung, sich um den Inhalt zu kümmern?

Die Antwort darauf würde ihm der Verantwortliche in dieser Welt jedenfalls schuldig bleiben, was Alvaro, wenn er ehrlich war, bedauerte. Die letzten Wochen waren die Hölle gewesen. Für alle.

Das zerdrückte Zigarettenpäckchen bekam noch ein paar Dellen mehr, als er es aus der Mittelkonsole fischte und sich eines der Tabakröllchen zwischen die Lippen klemmte. Das Glühen des aufflammenden Feuerzeugs spiegelte sich ein seinen abwesenden Augen wider, die auf irgendeinen Punkt in der Ferne gerichtet waren, wo sich graue Wolken zu Ungetümen auftürmten. Der scharfe Geruch verbrennenden Tabaks füllte den Innenraum des Wagens und trübte ein wenig den Blick nach draußen. Der erste Zug aus der Zigarette kratzte in seiner Kehle, aus der ein verhaltenes Husten drang.

 

Wie ein Entdecker hatte er sich gefühlt, als er mit immer stärker werdendem Kribbeln im Bauch die Kiste angestarrt und darüber nachgedacht hatte, welche Folgen das Öffnen haben würde. Schließlich war es eine Art Vermächtnis von seinem Chef. Auch wenn er noch nicht wusste, was er damit anfangen sollte, war es etwas mehr als persönliches.

Eine geschlagene dreiviertel Stunde hatte sich Alvaro den Kopf darüber zerbrochen und sich ausgemalt, was wohl so wichtiges in der Box war, dass sein Boss so ein Gewese darum gemacht hatte. Jetzt fiel es ihm schwer, die Enttäuschung über seine Entdeckung in Anführungszeichen zurückzuhalten.

Schaut her, was der große Columbus entdeckt hat. Einen Taschenkalender, und-

Unwirsch drückte er die halbgerauchte Zigarette im überfüllten Aschenbecher aus, wobei ein paar alte Zigarettenstummel in die Mittelkonsole fielen. Er hatte definitiv zu viel geraucht für heute. Seine Brust fühlte sich eng und schwer an wie bis oben hin mit Wasser gefüllt.

Der Griff der Handbremse bohrte sich in seine Rippen, als er sich wieder zum Beifahrersitz hinüber beugte und das unspektakuläre Teil zum zweiten Mal an diesem Tag darunter hervorzog.

 

Der Deckel flog auf und der letzte Staub, der die Kiste mit einer feinen Schicht bedeckt hatte, wirbelte im bedrohlichen orange-grauen Unlicht des aufziehenden Gewitters umher – ja, ja, er könnte ruhig öfter staubsaugen, Botschaft angekommen. Kein Wunder, dass man ausgerechnet sein Auto dazu auserkoren hatte, etwas zu verstecken...

Ratlos sah Alvaro auf den Inhalt seiner Schatzkiste hinab.

Einen, nein, zwei zerfledderte Taschenkalender, einen Schlüssel, ein paar Münzen- "Und ein verdammtes Schiebe-Puzzle!", erklärte er seinem gebannt lauschenden, fiktiven Publikum.

Nichts, was man normalerweise in einem Erste-Hilfe-Kasten vermuten würde.

Selbst wenn er die Box vorher gefunden hätte, hätte er sich nichts dabei gedacht und sie vielleicht höchstens in den Kofferraum gelegt. Nur Leute, die Knöpfe in Keksdosen sammelten, kamen auch auf die absurde Idee, Krimskrams in Erste-Hilfe-Kästen zu verstauen. Aber sein Boss?

"Fehlt ja nur noch ein ausgelaufener Kugelschreiber...", schloss Alvaro seinen Monolog vorwurfsvoll ab. Er nahm das etwa Handtellergroße Puzzlespiel aus der Kiste und betrachtete es sich von alle Seiten.

Das Magische Quadrat war das einzige in der Kiste, das wenigstens ein bisschen den Eindruck erweckte, interessant zu sein. Das aufgeklebte Motiv war an den Kanten bereits so stark abgewetzt, dass sich Alvaro erneut fragte, wie lange diese Box schon im Auto lag. Klar war, jemand musste das kleine Spielzeug heiß und innig geliebt und ziemlich viel Zeit damit totgeschlagen haben. Und mit jemand meinte er garantiert nicht seinen Chef.

 

Gedankenverloren schob Alvaro eines der wirren Plättchen an die leere Stelle und betrachtete sich sein Werk, das sich nicht viel verändert hatte. Alles war so dermaßen heillos verschoben, dass man nicht einmal eine Ahnung davon bekam, was das ursprüngliche Motiv darstellen sollte. Einen winzigen Moment dachte er darüber nach, die 24 Plättchen aus dem Rahmen zu brechen und ohne diese Begrenzung neu zusammenzusetzen.

Das dünne Plastikplättchen knirschte leise, als er es vorsichtig aus dem Rahmen zu biegen versuchte. Noch ein paar Millimeter und das widerspenstige Ding – zerbrach. Das scharf schallende Geräusch, mit dem das Plastikquadrat in mehrere Einzelteile zersplitterte, ließ Alvaro erschrocken zusammenzucken. In der gebannten Ruhe seines Wagens hatte es wie ein Schuss geklungen. Atemlos lauschte er nun in Stille, die lediglich von seinem in den Ohren dröhnenden Puls übertönt wurde, der sich nur langsam wieder auf Normalgeschwindigkeit begab.
 

Gott, so langsam verlor er den Verstand. Alvaro stieß die Luft durch die Nase aus und grinste hilflos sein fahles Spiegelbild vor sich in der Windschutzscheibe an. In den Wolken zuckten entfernte Blitze und ein dichter grauer Vorhang aus Regen schob sich vor den Horizont, der dahinter zu zerfließen schien.

Das Puzzle mit den nun 28 Teilen flog samt Splittern raschelnd in seine Behausung zurück. Und gerade als er den Kasten wieder an seinen Platz verfrachten wollte, wo er von ihm aus auch die nächsten tausend Jahre bleiben konnte, flammte das Display seines Smartphones im Takt des eingehenden Anrufs auf.

 

"Ja?", meldete sich Alvaro möglichst neutral.

"Sie haben uns vergessen!", entgegnete ihm eine etwas pikiert klingende Stimme grußlos, die den gespielt vorwurfsvollen Ton allerdings nicht lange durchhielt und bei der letzten Silbe in einem Kichern endete.

Er sah auf die Uhr an seinem Handgelenk. Shit.

"Du machst ihm Angst", flötete es prompt aus dem Hintergrund. Wo Ding 1 war, war Ding 2 nicht weit...

Alvaro verdrehte die Augen.

Die erste Stimme, die zur Tochter seines Chefs gehörte, befahl ihrem nervigen, dazwischen quatschenden Bruder, seine Klappe zu halten, so lange sie am Telefonieren war, was der sich natürlich nicht einfach so bieten ließ. Ein kurzes Gerangel kam auf, doch irgendwann hatte Ding 1 ihren Bruder wieder unter Kontrolle, der jetzt etwas weiter entfernt vor sich hin jammerte.

"Könnten wir bitte-bitte-bitte noch in der Stadt anhalten?" Eine kleine Pause entstand, in der Ding 1 wohl wieder einfiel, was hier die wirklich wichtige Frage war. "Wo sind Sie denn?"

Alvaro lachte tonlos auf. Er war versucht, dem ungeduldigen Stimmchen die Wahrheit zu sagen. "Euer Daddy hat mir eine Kiste mit Müll hinterlassen, die er vergessen hat, zur Tonne zu bringen, und was ich jetzt für ihn erledigen soll."

Okay, so herzlos war er jetzt auch wieder nicht.

"Ich bin gleich da", beschränkte sich Alvaro auf das Nötigste und legte auf, ohne auf die Bestätigung vom anderen Ende zu warten. Er startete seinen Wagen und machte sich auf den Weg zu seinem eigentlichen Job, der – Überraschung! – nicht daraus bestand, den Müll von seinem Chef zu entsorgen, sondern dessen Brut durch die Gegend zu kutschieren, was im Großen und Ganzen allerdings auch keinen Unterschied machte.

 

 

Während Ding 1 und Ding 2 unter ohrenbetäubendem Lärm durch den Eingangsbereich der Villa stürmten, um den Rest ihrer scheinbar unerschöpflichen Energie im Garten auszulassen, steuerte Alvaro seelenruhig auf den Wintergarten zu, der am gegenüberliegenden Ende der großen Halle lag.

Kein Wunder, dass man ihm immer die Gören aufdrückte, damit er sie möglichst weit von zu Hause weg brachte. Mittlerweile hatte er vollstes Verständnis für die Eltern von Hänsel und Gretel...
 

"Guten Abend", begrüßte Alvaro die bleiche Frau mit den schmalen Schultern, die in dem Rattansessel, in dem sie saß, wie eine zu große Puppe wirkte. Dass sie hier unten in dem sonnendurchfluteten Raum mit den unzähligen Pflanzen saß, war immerhin ein riesiger Fortschritt seit dem unschönen Tod ihres Mannes. Davor war sie kaum aus ihrem Schlafzimmer gekommen. Seit der Beerdigung vor zwei Wochen hatte er sie nicht mehr zu Gesicht bekommen. Ihre ohnehin schon spärliche Kommunikation hatte sich in dieser Zeit auf kurze Anrufe und überbrachte Nachrichten beschränkt.

"Ich mache für heute Feierabend", erklärte Alvaro und wich den traurigen Blicken aus, die bei seinen Worten kurz über ihn strichen, um sich dann wieder auf die tobenden Kinder im Garten zu konzentrieren, die gerade den Gartenschlauch entdeckt hatten, den einer der Gärtner vergessen hatte. Ein Schwall Wasser traf prasselnd auf die deckenhohen Fenster, begleitet von fröhlichem Kinderlachen. In weniger als einer Stunde war Regen gemeldet, aber wer war er schon, dass er hier den Lehrer für die Gören spielen würde...
 

"Ja, machen Sie Feierabend, Alvaro, den haben Sie sich verdient." Das Lächeln, das dem Satz folgte, war kaum zu erkennen. Ein leichtes Zucken in den Mundwinkeln, mehr war es nicht, und so schnell verschwunden, wie eine Windböe.

"Wir waren in der Autowaschanlage", schrie Ding 2 durch die offenstehende Tür, die vom Wintergarten aus auf die Terrasse führte. "Und wir durften sogar im Auto sitzen bleiben!"

Weil er dann für sieben Minuten seine Ruhe gehabt hatte, fügte Alvaro in Gedanken hinzu. Er sah zur Frau seines Chefs hinüber, die sich eine dünne Decke über die angezogenen Beine gelegt hatte. Es war Mitte Juli – alles andere als kalt, sollte man meinen.

"Sie haben sicher noch Hunger, oder?"

Die Frage war so leise, dass Alvaro sie bei dem Krach, den die Kinder im Garten veranstalteten, beinahe überhört hätte. "Nein, danke, wir haben unterwegs gegessen."

Wieder erschien für einen Sekundenbruchteil dieses minimale Lächeln. "Sie sind zu nachsichtig mit den Beiden."

"Es hatte sich angeboten." Sie hatte seine Anwesenheit bereits wieder ausgeblendet. Alvaro räusperte sich leise. "Wenn Sie mich noch brauchen-"

"Nein, nein, gehen Sie nur und ruhen Sie sich aus. Ich brauche Sie erst morgen früh wieder."

"Gute Nacht." Alvaro wandte sich um und verließ mit langen Schritten den Wintergarten, ehe wieder diese furchtbar traurigen Blicke über ihn strichen. Unter dem Arm trug er die Kiste aus dem Auto, in deren Inneren das zerbrochene Magische Quadrat im Takt seiner eiligen Schritte raschelte.

 



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