Zum Inhalt der Seite

Die Ruhe in der Rebellion

für Coronet FW 21 - TvP / Die letzten Tage der Madge Undersee
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Die Ruhe in der Rebellion


 

Die Ruhe in der Rebellion

Die letzten Tage der Madge Udersee
 

Das Brummen kam näher und wuchs zu einem Dröhnen an. Schwer hingen die Wolken über unserem Distrikt, als seien sie Vorboten für das Unheil, das uns in wenigen Augenblicken ereilte.

Es war Kalkül, alles. Geplant bis ins letzte Detail. Der Tod aberhunderter Seelen war nichts im Vergleich der zur Schau gestellten Schmach eines gekränkten Mannes, der seine Macht und Stellung bedroht sah.

Wir würden sterben. Alle.

Kein Entkommen, kein Entrinnen.

Wer das Verderben kommen sah, war nicht schnell genug. Wohl niemandem würde die Flucht gelingen. Und jene, denen es gelang, sahen sich einer Wildnis ausgesetzt, dem Grenzland, jenem Ort, jenseits des Zauns, der unbekannt, furchterregend und fürchterlich erschien.
 

Sie hatte es gewagt. Mit ihrer störrischen Art, ihrem Aufbegehren, einer Naivität und einem Drang zur Rebellion.

Sie allein war Schuld an dem Verderben, das uns heimsuchte. Meine Bewunderung für dieses Mädchen, das tapfer, trotzig, wagemutig war, dem es jedoch an politischem Verständnis mangelte, schwand in jenem Moment, als die ersten Bomben fielen.

Man spielte mit ihr, nicht nur in der Arena, in den Spielen auf Leben und Tod. Die, sich sich als Verbündete zeigten, hatten sich einem ausgeklügelten Plan bedient, der uns jedoch keinerlei Hilfe mehr war.

Wir starben. Starben in einem Akt des Trotzes, der Wut und waghalsigen Übermutes.

Was gesehen sollte, geschah. Doch für mich, das blonde Mädchen, das einst seine Tante in den blutrünstigen Hungerspielen der Arena verlor, mit einem wankelmütigen, erschöpften Vater und einer Mutter, der der Tod der Schwester nach all den Jahren nicht abging, blieb nichts mehr, als dem Ende entgegenzusehen.

Keine Rettung. Kein Bitten, kein Betteln, kein Flehen.

Unsere Schreie blieben ungehört. Unser Dasein war nicht länger von Bedeutung. Wir waren nur ein weiteres Mahnmal, das errichtet wurde, um die Distrikte zusammenzupferchen und ihnen die Gedanken an aufständische Taten auszutreiben.

Wer nicht parierte, verlor. Seine Familie, seine Existenz, sein Leben.

Da vermochte auch eine Rebellin von nunmehr siebzehn Jahren nichts ändern.

Sollte es ihr gelingen, einen Sieg aus diesem Sumpf aus Korruption, Krieg, Vergeltung, Scham, Starrsinn und verletztem Stolz davonzutragen, dann wünschte ich ihr ein unbeschwertes Leben.
 

Der Morgen davor kleidete sich in leichten, kühlen Nieselregen. Als sich die schweren Wolken in der Ferne verloren, zeigte sich der Himmel in einem Reigen aus blassem Lila mit ein paar kleinen Tupfen rötlichem Orange. So lang ich denken kann, war Distrikt 12 von einem grauen, schmierigen Schleier aus Kohlestaub, Verdruss und Kraftlosigkeit bedeckt.

Vaters Stimme weckte mich. Immer war er es, der nach mir rief, denn Mutter hatte lang schon keine Worte mehr für mich. Immer, wenn sie die Migräne so fürchterlich ereilte, verharrte sie in ihrem Zimmer und ließ das Morfix seine Arbeit verrichten.

Vater nennt mich ihr kleines Wunder, denn wie es den beiden gelang, neues Leben hervorzubringen, erschloss sich mir an manchen Tagen nicht.

Immer hatte Mutter Schmerzen, nur noch selten sah ich sie lächeln, denn auch die Muskeln in ihrem Leib waren vom tauben Gefühl der Schwere erfüllt. Ich wagte mich kaum, ein Wort des Protestes, des Einhalts vorzubringen. Und es fiel mir mit jedem Tag schwerer, mich an heitere Augenblicke zu erinnern, die es dennoch, irgendwann einmal, in diesem Hause gab.

Mutter sieht mich nicht mehr an. Vater, dessen Blick traurig und erschöpft an mir haftet, sagte, es sei der Tatsache geschuldet, dass ich meiner Tante, Maysilee Donner so ähnlich sähe. Ich solle ihr nicht grollen, ihr nicht böse sein und ich versuche es. Wirklich.
 

An guten Tagen, die es trotz Mutters Anfällen gab, wagte sie sich, wenngleich auch vorsichtig und schleppend, in die Küche, ließ unsere Hausmädchen beiseitetreten und langte selbst nach Töpfen und Pfanne.

Heute war keiner dieser Tage. Und im Hinblick auf das, was uns bevorstand, denke ich, dass sie gut daran tat, im Bett zu bleiben.

Als ich mich auf den langen Flur hinauswagte, hielt ich, einem Impuls folgend, vor der Tür zu ihrem Schlafzimmer inne. Kurz zog ich in Erwägung, meine Finger nach dem kühlen Knauf auszustrecken, in den verdunkelten Raum zu schlüpfen, um mich in ihr Bett zu stehlen und mich an sie zu schmiegen, so, wie ich es vor langer Zeit tat. Damals konnte sie meine Anwesenheit ertragen, erkannte mich als ihr Kind, das nach Wärme und Halt suchend zu ihr kam.

Doch je älter ich wurde, desto distanzierter wurde sie. Ich sei ihr zu laut, zu übersprudelnd, wenn ich von der Schule nach Hause kam. Ich plappere zu viel, hätte ihr zu viel zu erzählen, dass ihr die Zusammenhänge abhanden kamen und ihr die Fäden verloren gingen.

Vater hatte nie die Hand erhoben, nicht einmal die Stimme, die laut und klangvoll meine Freude und meinen Eifer dämpften. Bis zu jenem Tag im späten Herbst. Wieder hatte sich meine Mutter ihrem schweren Kopf ergeben und ich war zu dumm und zu naiv zu glauben, ich brächte ihr Freude und ergab mich der Hoffnung ihrer wohlwollenden Zustimmung, was meine gute Note betraf. Doch ich irrte mich, erschrak, als Mutter mich wimmernd aus dem Zimmer befahl und Vater unter mahnenden Worten verkündete, ich solle mich bremsen, meine Heiterkeit und den Überfluss an Worten im Zaum halten.

Jener Nachmittag, der sich überraschend warm für den Monat Oktober zeigte, ließ meine Zunge verstummen. Nur noch selten brachte ich Worte hervor, wenn ich durch die Haustür trat. Ich schwieg, wenn Vater mich nach meinen Freunden fragte, denn je stiller ich wurde, desto weniger Bekanntschaften standen mir zur Seite. Die Kinder, die mich einst mit strahlenden Gesichtern empfingen, mieden mich. Unter den Kaufmannskindern war ich eine Außenseiterin. Und doch war ich nicht allein.

Auch Katniss Everdeen, deren Mutter zu früheren Zeiten gut mit meiner Mutter und Tante befreundet gewesen sein mochte, stand oft allein, mit dem Rücken an der grauen Wand des Schulgebäudes gelehnt, und starrte in die Ferne.

Sie – das Mädchen aus dem Saum und ich, die Tochter des Bürgermeisters. Das, was uns vereinte, war das Schweigen. Auch wenn ich mir sicher war, dass die meisten Kinder des Saums mich mit einer Abscheu betrachten, so versuchte ich dennoch freundlich zu ihnen zu sein.

Die wenigen Worte, die Katniss Everdeen und ich tauschten, waren mir dennoch lieb und teurer, als die Stille in unserem Haus.
 

Ich zählte mich zu jenen, wenigen Menschen, die Katniss vielleicht zu ihren engsten Vertrauten zählte. Neben ihrer Mutter, die einer Apotheker-Familie angehörte, jedoch nach dem Tod ihres Mannes in den Minen nicht weniger apathisch dahinvegetierte als meine Mutter, und ihrer kleinen Schwester Primrose, hatte sie einen Gefährten gefunden. Gale Hawthorne – dunkles Haar, blaue Augen, hochgewachsen – fiel den Mädchen auf und hinter vorgehaltener Hand tuschelten und schwärmten sie für diesen Jungen.

Auch wenn Gale nicht unansehnlich war, erklärte sich mir kaum die tiefe Verbundenheit zwischen ihm und Katniss. Ob es an der Gemeinsamkeit und Verschwiegenheit ihres Geheimnisses lag? Niemand verlor ein Wort über die gefährlichen Aktivitäten, der Jagd nach Tieren, jenseits des Zauns, der Distrikt 12 von der Wildnis trennte. Doch Vater nahm sich gern den wilden Erdbeeren und der Beute an, wann immer Katniss und Gale an der Hintertür zu unserem Hause auftauchten.

Kurz, bevor Katniss erneut in die Spiele geschickt wurde, hatte sie sich daran versucht, mir das Jagen mit Pfeil, Bogen und Speeren, aus Stöckern geschnitzt, beizubringen. Vergeblich.

Meine Angst vor dem, was vor uns lag, auch wenn uns Hasen und Rehe wohl nichts zuleide taten, war dennoch zu groß, als dass ich mich dem Mut bediente, mit ihr durch Büsche, Sträucher und Wiesen zu streifen.

Gale, abfällig schnaubend, beäugte unser Vorhaben mit genügend Abstand. Sehr wohl konnte ich ihm mit Worten beikommen, und doch machte er aus seiner Verachtung für mich und jenen, die wie meine Familie in der Stadt und nicht im Saum lebten, keinen Hehl.

Ihm schien die Freundschaft zwischen Katniss und mir vielleicht ebenso seltsam, wie suspekt.
 

Nur noch selten sah ich ihn auf dem Platz. Als auch sein Vater bei dem Unglück vor fünf Jahren in den Minen starb, war es an dem Jungen, die Familie zu versorgen. Vielleicht hatte ihn dieser Umstand hart und unnachgiebig werden lassen. Eine weitere Gemeinsamkeit beider, der Verlust der Väter. Doch ich wagte nicht, Katniss danach zu fragen.

Ich gestand mir ein, wie schwer es mir fiel, mir vorzustellen, wie das Leben im Saum mit all der Verantwortung und all dem Elend sein musste. Wie wäre es mir ergangen, wäre ich nicht die Tochter des Bürgermeisters, nicht die Tochter einer Frau, die von schwerer Krankheit und Anfällen geplagt wurde?

Vor der Vorstellung, wie es wäre, graut mir. Ich wäre bei Weitem nicht so stark, wie Katniss oder so scharfsinnig wie Gale. Doch darin liegt womöglich der Unterschied:

Ich brauche mir nicht den Kopf über solche Szenarien zerbrechen. Ich kenne nur dieses Leben, das ich führe, das ich meinen Eltern verdanke. Wäre ich im Saum geboren, wäre mir das Leben dort bekannt. Alles fügt sich, irgendwie.
 

Mein Blick glitt zum Fenster. Im Wohnzimmer unseres Hauses war es kühl und viel angenehmer als in meinem Zimmer. Der Wetterumschwung machte Mutter immer schon zu schaffen und auch wenn mich vor wenigen Minuten erst der Drang überkam, nach ihr zu sehen, gab ich ihm nicht nach.

Vater legte mir nahe, ein Mal am Tage nach ihr zu schauen. Heute habe ich noch nicht den Mut aufbringen können. Ich versuche mich an dieser täglichen Routine, doch es gelang mir nicht. Noch nicht. Es wäre zu früh. Vielleicht schleiche ich mich am Nachmittag zu ihr.

Unsere Hausmädchen Alva und Rhyanne riefen mich in die Küche zum Frühstück. Alva neigte den Kopf und erklärte mit sorgenvoller Miene, dass ich blass und ein wenig kränklich aussähe. Ich solle mir keine Gedanken machen und unseren Siegern nur weiterhin die Daumen halten.

Unsere Sieger?

Wieder richte ich meine Aufmerksamkeit den Fenstern zu. Draußen, in der Ferne, so weit entfernt, kämpft ein Mädchen um sein Leben. Die Spiele sollten uns Demut lehren, Achtsamkeit, Gehorsam und doch konnte eine Schlange nur so lang mit einem Stock bearbeitet, getriezt und gereizt werden, bis sie zubiss.

Und ein Biss jener Schlange war tödlich.
 

Die Ruhe vor dem Sturm. Auch uns war dieser Ausspruch ein Begriff. Die Stimmen der Vögel, so rar geworden, als litten sie mit Katniss Qual, verebbten so abrupt, wie das Hovercraft über Distrikt 12 auftauchte.

Dunkel war der Himmel, so finster, wie vor wenigen Stunden erst, als der leise Regen aus dem schweren Grau auf uns hinabfiel.

Erst war es ein leises Summen, dann schwoll und schwang es sich zu einem Brummen auf, denn aus einem Hovercraft wurden plötzlich unzählige. Ein Schwarm der Vernichtung hielt auf uns zu.

Bomben, ob wahllos oder gezielt abgeworfen, brachten den Boden zum Beben. Ich verlor den Halt, fiel auf die Knie und schürfte mir die Handflächen auf. Das Haus geriet ins Schlingern, Risse zogen sich über die Wände und die Gläser in den Vitrinen gingen zu Bruch. Teller, Tassen, all das Porzellan, fielen in Scherben wie Tropfen auf mich nieder. Ich rief nach Vater, doch niemand vernahm meine Stimme über den dröhnenden Lärm hinweg. Ein Knall, so laut, dass mir die Ohren zu platzen drohten. Ich verkroch mich in unter die Spüle in der Hoffnung, sicher zu sein.

Ein Luftholen, ein Schrecken, eine Sekunde, die das Dasein zerbersten lässt in Rauch und Feuerbrunst.

Wohl niemandem in Distrikt 12 war in diesem Augenblick bewusst, was dort, in der Arena, vor sich ging. Die Freigabe, zur Übertragung der Spiele für den heutigen Tag, war noch nicht erfolgt. Wir waren machtlos und standen der Willkür des Kapitols wehrlos gegenüber.

Ein weiteres Mahnmal, das erinnern und eindämmen sollte.
 

Hatte ich Wünsche?

Verspürte ich Sehnsucht?

Was war nur geschehen, dass uns dieses Ende geschrieben wurde?

Wäre ich doch nur dem Drang gefolgt und hätte nach Mutter gesehen.

Hätte ich Vater doch nur einen Guten-Morgen-Kuss auf die Wange gedrückt, noch ehe er sich in sein Arbeitszimmer zurückzog.

Eine Druckwelle überschwemmte die Stadt, zerrte sich über den Saum und Hob. Die Feuerwalze verzehrte alles Leben, das noch in unserem Distrikt übrig war.

Wir starben. Doch starben wir nicht in einem Akt der Rebellion.

Wir starben aus Wut und Überheblichkeit.

Wie viele Leben dieser erneute Krieg noch kostete? Ich vermag diese Frage nicht mehr zu beantworten. Doch vielleicht erinnerte sich jemand den armen Seelen, die geboren, gelebt und geliebt hatten. Und vielleicht steht auch mein Name in irgendeinem Buch oder auf irgendeiner Tafel geschrieben. Das Mädchen – die Tochter des Bürgermeisters, die nicht mehr wert war, als alle anderen.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Kerstin-san
2021-07-25T08:40:10+00:00 25.07.2021 10:40
Hallo,
 
uff, es ist lange her, dass ich die Bücher zu Panem gelesen habe, deswegen erinnere ich mich nicht mal an Madge, aber ich fand es sehr interessant mitzuerleben, wie sie in Distrikt 12 die Auswirkungen, von dem, was Katniss so tut, als sie sich gegen das Kapitol stellt, erlebt. Und generell ist es mir bisher auch noch nicht so oft untergekommen, dass man eine FF aus der Perspektive eines eigentlich schon Verstorbenen liest. Fand ich hier aber sehr passend und gut umgesetzt.
 
Ich finde es verständlich, dass Madge in so einem Moment kein Verständnis mehr für Katniss und ihre angezettelte Revolte hat, ganz gleich wie richtig ihr die ihr vielleicht auch vorher vorgekommen sein mag, weil Distrikt 12 eben kollektiv für Katniss' Taten bestraft wird und es ja nicht mal so ist, als gäbe es irgendwas (außer versuchen zu fliehen), was die Bewohner von Distrikt 12 tun könnten. Es ist kein Kampf, sondern einfach ein Abschlachten der hilflosen Bevölkerung. Und Katniss, für die das ja eigentlich eine Bestrafung sein sollte, ist ja nicht mal da.
 
Ich mochte auch die Rückblicke in Madges Kindheit, die zeigen, dass sie auch keine schöne Jugend hatte, wenn auch vielleicht aus anderen Gründen, als die meisten anderen Bewohner von Distrikt 12, weil sie ja immerhin in besseren Verhältnissen aufgewachsen ist.
 
Ach ja und nur um das mal generell festzuhalten: Ich finde deine Art, diese ganze Endzeitstimmung und Trostlosigkeit einzufangen, ganz stark. Ich weiß nicht, ob du schon mal sowas in die Richtung geschrieben hast, aber ich finde, dass du das hier echt super gemacht hast. Gerade die letzten paar Sätze fand ich ganz, ganz stark.
 
Liebe Grüße
Kerstin
Antwort von: irish_shamrock
25.07.2021 11:07
Hallo Kerstin,

Ich freue mich, wieder von dir zu lesen und bedanke mich für deine Worte <3.
Für mich ist es nicht das erste Mal, dass ich aus der Sicht eines Verstorbenen schreibe, dennoch freue ich mich, dass dir die Umsetzung zusagt :) (auch wenn dir Stimmung ziemlich beklommen und düster wirkt)

Es erleichtert mich, dass du den Text so interpretiert hast. Das Schreiben fiel mir aber alles andere als leicht, weil bei mir so gar keine Trostlosigkeit, kein Verdruss oder diese erschöpfende Endgültigkeit einstellen wollte.

Hab nochmals vielen, lieben Dank für deinen Kommentar :) ...

Liebe Grüße und einen schönen Restsonntag dir,
irish C:


Zurück