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Deine Tränen auf meiner Wange

Meine einzige Freiheit
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Nach fast 10 Jahren habe ich mal wieder in den Ordner auch meiner Festplatte mit meinen Geschichten geschaut. Mein Leben hat sich natürlich sehr verändert in den Jahren und ich muss zugeben, dass ich  teilweise vergessen habe, welche Worte noch auf meiner Festplatte schlummern und darauf warten, veröffentlicht zu werden. Es ist komisch, Geschichten zu lesen die man selbst einst geschrieben hat und an die man sich gar nicht wirklich erinnern kann. Andererseits ist es auch schön, da man sie dann mit anderen Augen liest und noch einmal richtig intensiv erleben kann.
Bereits nachdem ich das 1. Kapitel dieser Geschichte gelesen hatte, war klar dass ich sie auf jeden Fall veröffentlichen muss und ich hoffe, dass es den ein oder anderen gibt, der noch Interesse an meinen Geschichten hat. Und falls es sogar, nach so langer Zeit, noch irgend ein bestehendes Abonnenten gibt und du dich jetzt angesprochen fühlst, weil du bereits meine alten Geschichten kennst, dann würde ich mich freuen, wenn du mir einen kurzen Gruß da lässt. Wie stark hat sich dein Leben verändert?
Aber natürlich freue ich mich auch über jeden neuen Leser unheimlich und heiße euch herzlich Willkommen! :)
Und eins muss ich noch sagen: auch wenn mein Leben und meine Prioritäten heute anders sind, so sind diese Geschichten doch immer noch ein Teil von mir. Und die Charaktere, die ich darin einst zum Leben erweckt habe, liegen mir noch immer sehr am Herzen. Ich würde mich also freuen, wenn ihr sie kennenlernen wollt.

Nachtrag: eigentlich hieß die Geschichte „Meine einzige Freiheit“, aber nachdem ich jetzt noch mal gelesen habe, passt das nicht mehr 100%, weshalb ich sie jetzt doch noch mal umbenannt habe und der alte Titel nur noch als Untertitel fungieren soll ;) Komplett anzeigen

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Dein neues Leben mit mir

Es begab sich zu einer Zeit, da noch Könige regierte und Kerzen die Räume erhellten, dass der junge Prinz Lucius seinen dreizehnten Geburtstag feierte. Das Fest wurde in Saus und Braus begangen, mit Wein und Schank für die Alten, mit viel Musik, einem Festmahl und allerlei Geschenken. Er bekam alles, was er sich nur hätte wünschen können, doch das Strahlen eines Kindergesichtes war zwischen all den fröhlichen, erwachsenen Gästen nicht auszumachen. Es sei jedoch fraglich, ob dies jemand bemerkte, wie sehr sie ihn auch betrachteten; und gerade seine Eltern, das Königspaar, sahen es nicht, als sie ihm sein letztes Geschenk vorführten. 

Es war am Abend, nachdem alle Gäste gegangen waren. Zunächst sah Lucius nur den Jungen vor sich stehen; sie waren des gleichen Alters, was er nicht ahnte, denn der andere Junge war einen Kopf kleiner als er, schmächtiger und senkte den Blick, als Lucius ihn ansehen wollte. 

„Was ist das?“, fragte das Geburtstagskind und rümpfte die Nase. Er kannte kaum Kinder; fast nie hatte er etwas mit ihnen zu tun, und in diesem Moment missfiel ihm der gesenkte Blick des Jungen. 

„Dein letztes Geschenk“, lächelte der König und schob den Jungen näher an seinen Sohn heran. „Das ist Xaves. Er wird dir ab heute bei allem helfen, dich bedienen und dir jeden Wunsch von den Augen ablesen.“

Lucius starrte seinen Vater an, seine Mutter, dann wieder das andere Kind. Noch immer hatte der den Blick gesenkt; Lucius’ Hand fuhr vor und schob das Kinn in die Höhe. Er sah die roten Augenringe und rümpfte die Nase noch mehr. Erst blickten die Augen an ihm vorbei, doch als er fester griff, drehten sie sich. Sie waren blau und glänzten; das Ängstliche in dem Blick war nicht zu übersehen. 

„Du machst alles, was ich sage?“, fragte Lucius aber fast gelangweilt und musterte den anderen Jungen weiter von oben bis unten. 

Dieser nickte, ganz langsam und so gut es gegen Lucius’ Hand ging. 

„Hast du auch eine Stimme?“

„Ja… ja, mein Herr“, krächzte er also, mit einer hellen, fast lieblichen Stimme, nicht eindeutig die eines Jungen. 

Doch Lucius genügte es. Er ließ das Kind los und sah nun wieder seine Eltern an. 

„In Ordnung“, war sein Dank und die beiden nickten, lächelten und entfernten sich, wohl mit dem Gedanken, ihrem Kind eine Freude gemacht zu haben. 

Zurück blieben die beiden sich fremden und so unterschiedlichen Jungen, von denen der eine schon wieder den Blick gesenkt hatte. Der Prinz musterte ihn einen Augenblick lang und sagte dann bloß, er solle ihm die Geschenke zusammen räumen. Schweigend tat der neugeborene Diener dies, während Lucius ihn nicht aus den Augen ließ. Er war sich noch nicht sicher, was er von diesem neuen Lebewesen in seiner Umgebung halten sollte. Irgendetwas missfiel ihm gewaltig, doch er dachte zu wenig darüber nach, als dass es ihm eingefallen wäre. Er war es nicht anders gewohnt.

Die nächste Überraschung, mit der er nichts anfangen konnte, traf Lucius später, als sie sein Schlafgemach betraten. Xaves folgte ihm mit dem immer noch gesenktem Blick und den geröteten Augen. Er hatte kein Wort mehr gesprochen und das störte Lucius sehr, nicht aber so sehr wie die Tatsache, dass plötzlich in der hintersten Ecke seines Zimmers ein winziges Bett stand. 

„Was ist das?“, deutete er darauf und sah sich um. 

Außer ihnen beiden stand noch das Dienstmädchen Liz vor ihm, welches ihn kannte, seit er den Windeln entsprungen war. Sie hielt die Idee des Dienerjungen nicht einmal für besonders schlecht. Es konnte dem Prinzen nur gut tun, Umgang mit einem gleichaltrigen zu pflegen, so dachte sie. Doch Xaves' traurige Miene ließ das gute Gefühl nicht gänzlich hervordringen, denn sie mochte kaum daran denken, welchen Grund es hatte, dass gerade dieser Junge nun hier war; und zu alle dem reagierte Lucius so kalt auf den Jungen, der im Moment einfach nur Wärme gebrauchen würde… doch was sollte man anderes in einer solchen Situation erwarten? Von einem Prinzen, der in diese Welt und dieses Umfeld geboren worden war? Sie arbeitete schon zu lange hier, als dass sie mit etwas anderem gerechnet hätte…

„Dort schläft er“, sprach sie nun also vorsichtig, da er fragte, rechnete fast mit einem Ausbruch ihres jungen Herrn. Sie wusste um sein Temperament nur zu gut. 

Tatsächlich aber begann der Prinz nicht zu schreien, doch packte er Xaves, riss ihn zu sich herum. 

„Du schläfst hier?“, betonte er das letzte Wort stark und fixierte den bleichen Jungen. 

Dieser nickte bloß, bis er den scharfen Gesichtsausdruck in den braunen Augen sah. 

„Ja mein Herr“, stotterte er und wollte den Blick drehen, was Lucius nicht zuließ, indem er erneut das Kinn packte. Die Furcht, die der Junge ohnehin seit zwei Tagen im Herzen trug, wurde nur größer mit jedem weiteren Moment. 

„Wieso?“

„Damit… damit ich euch… jederzeit behilflich sein kann…“

Seine Augen waren noch immer gerötet und sein Gesicht verzog sich merkwürdig, die Stimme klang schwer. Lucius stieß ihn von sich. 

„Liz!“, knurrte er „Lass mich allein. Ich will jetzt schlafen.“

Die junge Frau, welche mit 14 den Prinzen als Baby gefüttert und gewickelt hatte, verbeugte sich tief und verließ rückwärts den Raum. Am liebsten würde sie dem jungen Herrn sagen, dass er das alles von einer anderen Seite sehen sollte, doch natürlich sprach sie dies nicht zu ihm, sondern schloss leise die Tür, während Lucius wieder sein neustes Objekt fixierte. 

Er wusste noch immer nicht, was er eigentlich davon halten sollte. Etwas im Gesicht des Jungen gefiel ihm nicht und zudem sollte er nun mit diesem Wesen sein Zimmer teilen. Was dachten sich seine Eltern bloß dabei? 

„Hilf mir“, knurrte er schließlich und ließ sich auf sein großes, weiches Bett nieder. 

Er streckte die Füße von sich und der Junge kroch heran, um ihm die Schuhe zu öffnen, die Hose, das Hemd über den Kopf zu ziehen. Er faltete es fein säuberlich, doch seine Finger zitterten dabei. Lucius musterte ihn genau, sah jedes unerwünschte Zucken und rümpfte die Nase darüber. Anders als seine Eltern mochte er es nicht sonderlich, wenn man Angst vor ihm hatte. 

Entkleidet, ließ er sich von Xaves ein Bad einlassen. Er mochte es auch nicht, wie der Junge mit gesenktem Blick mucksmäuschenstill daneben stand, während er selbst sich in den Schaum gleiten ließ, also befahl er Xaves, ein Lied zu singen, was dieser nur sehr schwer über die Lippen brachte. Dennoch bemerkte Lucius, dass es eine schöne Stimme war, die er da hörte, zumindest, als sie nach einigen Zeilen weniger angstvoll zitterte. 

„Das musst du lernen“, murrte er dennoch und entstieg dem Bad wieder mit Xaves’ Hilfe, der ihn, ohne den Befehl dazu erhalten zu haben, abtrocknete. Ein Luxus, dem Lucius durchaus etwas abgewinnen konnte. 

Er zog sich selbst an, dann traten sie wieder in das geräumige Schlafgemach, in dessen Ecke Xaves’ winziges Bett fast unterging. 

„Geh schlafen“, befahl Lucius mit einem Blick darauf und er selbst trat an sein übergroßes Federbett heran. 

Erst als er lag aber löschte Xaves das Licht und Lucius hörte, wie er unter die Decke schlüpfte. Er selbst starrte in die Dunkelheit und versuchte noch immer darüber zu entscheiden, ob ihm dies Wesen gefiel oder nicht. Wie mochte es sein, einen ganz eigenen Diener zu haben? 

Obwohl er gar nicht das Gefühl gehabt hatte, müde zu sein, so glitt Lucius doch schnell mit seinen Gedanken weit fort. Der Tag lief noch mal vor seinem geistigen Auge ab und fast schon wäre er darüber eingeschlafen, als er mit einem Mal ein unbekanntes Geräusch vernahm. Er setzte sich im Bett auf, wobei seine schwere Decke laut raschelte; das Geräusch verstummte sofort. Sogleich dachte er, es wäre bloß Einbildung gewesen, also sank er zurück, zog die Decke unters Kinn und wollte erneut Richtung Schlaf gleiten, als er es erneut vernahm. Dieses Mal lauschte er ohne eine Bewegung und schnell erkannte er es auch, selbst wenn es ganz leise und stockend war. Er runzelte die Stirn und fragte sich, was den Jungen dazu trieb, zu weinen. Und waren seine Augen etwa daher so rot gewesen? 

Dieser Gedanke hielt den Prinzen nun doch ein wenig wach, da es ihm nicht gefiel, das Schluchzen zu hören. Er kam sich fast hilflos vor, auch wenn er es nie derartig benannt hätte. Er bekam nun die traurigen, gesenkten Augen nicht mehr aus seinem Kopf heraus, konnte kaum aufhören, an sie zu denken und fühlte den eigenen, trockenen Mund, der zu ungeübt war, nun etwas zu sagen. Letztendlich aber schlief er über das Weinen Xaves' hinweg ein; mit keinen Träumen in der Nacht. 

~ * ~

Am nächsten Tag verdrängte Lucius die Minuten in der Nacht und übte sich stattdessen bereits darin, Xaves Befehle zu geben. Vieles, das sonst Liz für ihn tat, trug er nun dem Jungen auf. Er hatte beschlossen, dass er nur eine Person ständig um sich haben wollte, beide würden ihm auf Dauer zu viel werden. 

Bereits beim Mittagessen, welches er wie gewöhnlich mit seinen Eltern, dem König und der Königin, einnahm, wusste er, dass er dem Geschenk durchaus etwas abgewinnen konnte. Besser als alle anderen, erklärte er, während der hellblonde Xaves mit gesenktem Blick neben ihm stand. Das Magenknurren des Jungen fiel Lucius erst auf, als er selbst fast mit dem Essen fertig war. Nun erst erinnerte er sich, dass er Xaves über sein eigenes Frühstück hinweg direkt zum Aufräumen getrieben hatte. Selbst gegessen hatte der Junge bisher nichts. 

Ein komisch unbekanntes Gefühl nistete sich in Lucius ein, ähnlich dem in der Nacht, welches er zu verdrängen versucht hatte, und als seine Eltern ihn verlassen hatten, schob er Xaves seinen Teller hin. Nur ein paar kalte Kartoffeln und ein winziges Stückchen Fleisch lagen noch darauf, welches er gerne noch gegessen hätte, aus irgendeinem Grund hatte er es aber nicht mehr heruntergebracht. 

Xaves aß gierig und Lucius beobachtete ihn dabei. Er sah, dass die Augen des Jungen noch immer rot waren und erinnerte sich nur noch deutlicher an das Schluchzen in der Nacht. Sein Mund aber fühlte sich wie zugeklebt, als er danach fragen wollte. 

Der restliche Tag verging mit allerlei unwichtigen Kleinigkeiten, die dem Prinzen kaum Freude bereiteten. Er schaffte es nur schlecht, nicht immer wieder seinen Diener zu beobachten, dessen Augen anzustarren und sich zu fragen, was sie bloß in diese Traurigkeit trieb. Er machte sich nie derartige Gedanken, weshalb er sie nicht verstand und sie ihn störten. Einen Ausweg aus dieser Situation aber sah er noch nicht, dafür war sie einfach noch viel zu neu. 

Während des Abendessens erlaubte Lucius Xaves in die Küche zu gehen, um dort etwas zu essen. Er selbst war schweigsam und entsann sich darüber, was ihn störte, wenn er zurück dachte an den nun fast vergangenen Tag. Die Antwort fiel für ihn zunächst sehr einfach aus. 

„Du musst mit mir sprechen“, befahl er also, als er später mit Xaves zurück zum Schlafgemach ging. 

„Ja mein Herr“, stotterte die liebliche Stimme und Lucius zog die Nase kraus. 

„Ich meine richtig!“

„Aber… über was denn?“, fragte der Junge ganz leise, als sei er sich nicht sicher, ob er es durfte. 

„Ich weiß nicht. Über das, was dir gerade einfällt, verstehst du?“ Lucius aber verstand selbst nicht genau, was er eigentlich damit erreichen wollte. 

Xaves hingegen nickte, schwieg aber weiter und sie betraten das große Zimmer. 

Lucius nahm wieder ein Bad und ließ Xaves singen, da seine Ansprache noch keine Früchte trug und Xaves kontinuierlich weiter schwieg. Unzufrieden schlüpfte der Prinz ins Bett und schnell konnte er wieder dem unterdrückten Schluchzen lauschen, das die Dunkelheit durchdrang. Es krampfte sich in seinen Magen, es gefiel ihm nicht. 

~ * ~

Es vergingen weitere, sehr ähnliche Tage. Xaves sprach nur die nötigsten Worte, kaum brachte er Sätze zustande, wenn er nicht zuvor etwas gefragt worden war. Lucius gefiel es Tag für Tag weniger, da auch das Schluchzen in der Nacht einfach nicht verstummen wollte. Mit jeder weiteren Stunde, die er in die traurigen Augen blickte, drängten ihn die Fragen mehr. Was war mit dem Jungen, dass er so unglücklich war? Weshalb sprach der Junge nicht mit ihm? Und was sollte er selbst machen? 

Immer unbekannter wurde dem Prinzen die neue Situation, in die er nicht hinein wachsen konnte. Er war immer ein einsames Kind gewesen, ohne Spielgefährten und ohne Leute, mit denen er Gespräche führen konnte. Er kannte es bloß durch die Eltern oder durch Liz, die es hin und wieder versuchte, mit ihm etwas länger zu sprechen, doch selbst hatte er selten etwas derartiges initiiert. Nun aber war es an der Zeit, das spürte er selbst, wusste jedoch nicht, wie man so etwas tat. Zudem kam, dass er nicht den Einruck hatte, dass der junge Diener überhaupt an diesem Ort, in seiner Nähe sein wollte; das machte es nicht gerade einfach für den unerfahrenen Prinzen. 

Eines Abends im Bett, es war bereits mehr als eine Woche vergangen, seit der Junge mit ihm das Zimmer teilte, drang wieder das Schluchzen an seine Ohren, das nie verstummte und sich des Morgens in den Augen abzeichnete. Wie die Nächte zuvor krallte Lucius seine Finger in die Decke und drängte seine Lider hinunter. Er versuchte, es nicht zu hören, doch es gelang nicht; es war ihm noch nie gelungen; mehr noch, es schmerzte ihn mit jedem Mal mehr, dass er es hörte. Wieso konnte Xaves nicht einfach lachen und fröhlich sein? Das hätte Lucius um ein vielfaches besser gefallen. 

„Xaves!“, stieß er das Wort in die Dunkelheit, ehe er selbst überhaupt begriff, dass er zu seiner Sprache gefunden hatte. Das Schluchzen aber verstummte sofort. 

„Ja, mein Herr?“, kam es schließlich extrem leise. 

Zunächst wusste Lucius nichts zu sagen. Er verkrampfte die Finger weiter und war fast schon gewillt, über die Sache hinwegzugehen und einfach nichts zu sagen, als ihm das Herz riet, es nicht zu tun. Er spürte irgendwo in sich drin, dass er nun etwas sagen müsste; es konnte auf diese Weise einfach nicht weiter gehen. 

„Weshalb weinst du?“, fragte er also und war selbst überrascht, wie unsicher er klang.

Xaves antwortete nicht; das verunsicherte den Prinzen nur noch mehr. 

„Ich hab dich gefragt-“

„Meine Eltern...“

„Deine Eltern? Was ist mit ihnen?“

„Sie… wurden umgebracht.“ 

Nun konnte Xaves das Schluchzen nicht mehr aus der Stimme verbannen und Lucius war der Atem genommen. 

„Von wem?“, kratzte es aus seinem Hals heraus. Er wollte nicht fragen; in Wahrheit bekam er die Frage kaum über die Lippen. 

„Das… kann ich euch… nicht sagen.“

Lucius richtete sich blitzschnell im Bett auf. Nur sehr schemenhaft konnte er das kleine Bett des Jungen am anderen Ende des Raumes ausmachen. 

„Sag es mir!“, forderte er. Er hasste Geheimnisse, zumindest dann, wenn man sie vor ihm verbarg. Nicht einmal schöne Geheimnisse gefielen ihm; er hatte nie gelernt, wie man mit ihnen umging.  Zudem machte ihm diese Situation Angst.

„Sie…“ Die Stimme Xaves’ zitterte deutlich, er schluchzte ununterbrochen. „Sie… haben etwas kaputt gemacht… und… und der verehrte König… er hat sie… sie sind…“ Die Stimme brach ihm und Lucius verstand sofort. Ein eiskaltes Gefühl durchlief seinen Körper. Er spürte, wie er selbst den Kopf in beide Richtungen stieß. 

„Genug jetzt“, befahl er. „Schlaf!“

Auch er selbst legte sich wieder hin, aber die Kälte in seinem Körper ließ ihn nicht ruhig werden. Dann ertönte das Schluchzen wieder verborgen in der Dunkelheit und er presste die Hände auf die Ohren. Lange noch lag er wach und versuchte sich auszumalen, was geschehen sein musste, dass sein Vater so etwas tat. Doch letztendlich wusste er auch, dass es dazu nicht besonders viel brauchte. 

Ihm wurde schlecht bei dem Gedanken, dass so etwas zu diesem Geschenk geführt hatte.

Dein Lachen hinter meinem Rücken

Am nächsten Tag ging es Lucius nicht gut. Er hatte kaum geschlafen und er war nicht bereit, zu essen. Er schob sein Frühstück Xaves hin, doch auch der nahm nur zwei Bissen und blieb mit gesenktem Kopf stehen. Aus den Augenwinkeln musterte Lucius ihn und fragte sich, um an nichts anderes zu denken, wann die Augenringe endlich vergehen würden.

„Kannst du reiten?“, fiel es ihm da plötzlich ein. Er war schon seit Tagen nicht mehr hinunter am Stall gewesen; plötzlich merkte er, wie sehr er es vermisste, und dass es ihm gut tun würde. Vielleicht nicht nur ihm…

„Mein Herr?“

„Nenn mich nicht so!“, zischte er. „Ich will wissen, ob du reiten kannst.“

Bereits malten sich in Lucius’ Kopf Bilder, wie sie beide die Wiesen entlang sausen würden. Xaves hingegen sah ihn leicht verwundert an, schüttelte dann endlich den Kopf, fast beschämt.

„Nein. Ich habe noch nie auf einem Pferd gesessen.“

Lucius seufzte, die Bilder verschwanden sofort.

„Hast du Angst vor ihnen?“, fragte er ohne Wertung.

„Ich… denke nicht.“

„Dann komm mit!“

Lucius stand sofort auf und zog sich übereilt an. Er ertrug den Moment in dem plötzlich sehr kleinen Zimmer nicht noch viel länger; es verlangte ihn nach einer anderen Luft. Also marschierte er schnell hinaus und Xaves folgte ihm bis in den Stall. Vor einem schwarzen Hengst blieben die beiden stehen.

„Das ist Calvaro“, erklärte Lucius hier. „Ich habe ihn, seit seiner Geburt.“

Lucius trat durch das Gatter und als er Calvaro die Hand hinhielt, schnaubte dieser und berührte sie liebevoll mit der Schnauze.

„Komm her“, forderte Lucius Xaves auf, der nur sehr zaghaft in die Box trat. Lucius hielt ihm eine Karotte hin. „Die isst er gerne. Gib sie ihm.“

Xaves’ Hand zitterte stark, als er sie dem riesigen, pechschwarzen Tier entgegenhielt, neben dem er noch viel kleiner wirkte als er ohnehin war. Calvaro aber kannte keine Scheu, streckte den Kopf vor und nahm die Karotte entgegen. Vorsichtig, denn er war ein sanftes Tier, und doch so schnell, dass Xaves zusammenzuckte. Lucius grinste.

„Keine Angst, er ist ganz lieb.“ Zärtlich streichelte er die Blesse des kauenden Tieres und flüsterte ihm etwas ins Ohr, das Xaves nicht verstand, schmiegte sich an den starken Hals.

„Willst du auch eins haben?“, sprach Lucius plötzlich, ohne dass er selbst darüber nachgedacht hätte.

„Was?“ Xaves zuckte zusammen, da er sich wohl in die Betrachtung verloren hatte.

„Ein Pferd.“

Der Junge machte große, überraschte Augen; ein Ausdruck, der sein Gesicht derart fremd wirken ließ, dass Lucius spürte, wie er selbst lächelte. Bisher hatte er nur zwei Ausdrücke auf dem Gesicht des Jungen gesehen; Furcht und Trauer. Dieser hier gefiel ihm um ein Vielfaches mehr und er spürte, wie sich ein wenig Anspannung in ihm verlor.

„Aber ich… das darf ich doch nicht… ich…“

„Wenn ich es sage!“

Wieder fuhr Lucius über Calvaros Blesse, trat dann an Xaves vorbei und befahl diesem, die Box zu schließen, nachdem sie sie verlassen hatten. Er ging die Boxen ab und blieb schließlich bei einer jungen Stute stehen. Ein weiß-graues Tier mit einer wunderschönen Maserung.

„Das ist Filena“, erklärte er.

Xaves blieb mit noch immer großen Augen vor der Box stehen; es war deutlich zu sehen, dass er sich nicht sicher war, ob Lucius scherzte. Dies wiederum gefiel Lucius und er deutete mit dem Kopf in Filenas Richtung.

„Na komm… geh zu ihr, streichle sie…“

„Aber…“

„Sie gehört jetzt dir, du musst sie kennenlernen.“

„Mir…“, wiederholte Xaves ehrfürchtig und seine unruhigen Hände öffneten das Gatter zaghaft.

Lucius lehnte sich gegen eine Wand und beobachtete, wie Xaves in die Box trat. Die Stute beäugte ihn und es war deutlich, dass der Junge sich kaum traute, ihr näher zu kommen. Er schielte zu Lucius hinüber und wagte sich einen weiteren Schritt vor, streckte sogar die Hand dabei aus. Es schien fast, als habe Filena darauf gewartet, denn ihr Kopf stieß der Hand entgegen und ihre warme Schnauze drückte sich gegen die kleinen Finger. Xaves, der zunächst zusammengezuckt war, ließ es geschehen und bewegte sie dann sogar ein wenig. Als er die weiche Blesse hinauf glitt, erschien fast ein Lächeln auf den Lippen.

Es war dieser Moment, in dem Lucius glaubte, die Kälte der Nacht endlich abgeschüttelt zu haben. Er grinste, während er der Annäherung zusah, und wusste, dass er eine gute Idee gehabt hatte. Nun musste er nur noch seinen Vater davon überzeugen, dass es okay war, wenn ein Diener sein eigenes Pferd besaß.
 

Tatsächlich sprach Lucius schon beim Mittagessen das Thema an, während Xaves in der Küche aß. Wie erwartete rümpfte auch seine Mutter die Nase, mischte sich aber nicht ein. Der König verstand zunächst nicht, weshalb Xaves nicht immer irgendein verfügbares Pferd nehmen könnte, doch Lucius versicherte ihm immer wieder, dass es besser sei, wenn das Tier sich richtig an ihn gewöhnen könnte.

„Ich möchte doch ausreiten“, erklärte er, „und wenn die Tiere dann bockig sind, weil sie ihn noch nicht kennen, geht das nicht.“

„Und welches hast du ausgesucht?“

„Filena.“

Sein Vater knurrte; auch damit hatte Lucius gerechnet. Er wusste, dass Filena aus einer besonders guten Züchtung hervorgegangen war und ein besonderes Pferd war; gutmütig, ruhig und sanft. Nicht zuletzt diese Punkte waren es aber gewesen, weshalb er gerade sie gewählt hatte.

„Kann es nicht ein anderes sein?“

„Bitte Vater.“ Lucius setzte mit Absicht einen geübten Blick auf, dem seine Eltern kaum widerstehen konnten. Auch heute gewann er das Spiel genau damit.

„Meinetwegen“, knurrte der König und stand auf. „Aber wehe er verdirbt sie mir.“

„Wird er nicht!“, versprach Lucius und triumphierte. Dann schlang er das Essen in sich hinein, bereits mit den Gedanken wieder im Stall; heute Nachmittag würde er Xaves zeigen, wie man in den Sattel stieg.
 

Es zeigte sich sofort, dass es tatsächlich gut gewesen war, gerade Filena auszusuchen. Xaves hatte große Ehrfurcht vor den riesigen Tieren und es war schwer, ihn dazu zu überreden, direkt am ersten Tag auf einen solch hohen Rücken zu steigen. Er stellte sich ein wenig ungeschickt dabei an, riss dem gutmütigen Tier aus Versehen an der Mähne, doch sie schlug nur den Kopf zurück, blieb ansonsten vollkommen ruhig stehen.

Als Xaves endlich auf ihr thronte, war ihm anzusehen, dass er einfach nur erleichtert war, sicher am Ziel angekommen zu sein. Hinab kommen war eine andere Etappe.
 

Lucius lächelte noch darüber, als die beiden Jungen bereits zu Bett gegangen waren. Er hatte Spaß an diesem Tag gehabt, das musste er zugeben. Er hatte viel gelacht und Xaves war ein klein wenig gesprächiger geworden, auch wenn der Prinz ihm immer wieder die Worte aus der Nase ziehen musste. Er hatte dennoch Freude daran gehabt, die Stute mit ihrem neuen Herren zu beobachten, während er selbst Calvaro striegelte. Der Sonnenschein über ihnen hatte sein übriges dazu getan; selten hatte Lucius die Wärme als so angenehm wahrgenommen.

Auch jetzt spürte Lucius sie noch, doch wurde sie bereits im nächsten Augenblick von einer Kälte ergriffen, welche er den Tag über vergessen hatte. Das Schluchzen, welches er nur zu gut vernahm, ließ ihm das Lächeln von seinen Lippen und die Wärme aus den Gliedern weichen. Es wirkt stärker als an den vorherigen Abenden.

Langsam richtete er sich ein wenig auf. In der Dunkelheit konnte er viel zu schlecht etwas erkennen; stattdessen lauschte er auf das wiederkehrende, klägliche Geräusch.

Tatsächlich hatte Lucius, seit sie bei den Pferden gestanden hatte, nicht ein Mal mehr daran gedacht, was Xaves in der Nacht zuvor zu ihm gesagt hatte. Er hatte den Gedanken verdrängt, dass Xaves, bevor er zu seinem Geschenk geworden war, Eltern gehabt hatte… ein eigenes Bett und Zuhause; doch nun drängte sich dies in seine Sinne. Xaves war bestimmt kein Diener gewesen, sondern ein normales Kind; doch ehrlich gesagt wusste Lucius nicht einmal, was es bedeutete, ein normales Kind zu sein.

Er schluckte und es fiel ihm schwer, den Mund zu öffnen; doch er hatte das Bedürfnis, etwas zu sagen; irgendwas, das dem weinenden Jungen vielleicht gut tun könnte.

„War es nicht schön heute?“, fragte er schließlich leise in die Dunkelheit, weil er sich schlecht fühlte, weil ihm noch viel kälter wurde.

„Doch.“ Der junge Diener versuchte schon wieder, sein Weinen zu verbergen.

„Aber warum… weinst du dann?“ Lucius ertrug es wirklich nicht gut; den Tag über hatte Xaves’ Stimme ihm viel besser gefallen.

Es blieb still für wenige Minuten, in denen Lucius sich davor zurück hielt, die Frage drängend erneut zu stellen. Er verkrampfte seine Finger in seiner Decke, die ihn noch immer nicht zu wärmen schien.

„Ich vermisse sie“, kam es dann flüsternd. „Von so was wie heute… würde ich ihnen gerne… erzählen…“

Nun fror Lucius richtig; er spürte die Gänsehaut, welche sich über seinen Körper legte.

„Mir ist kalt“, erklärte er.

Xaves ging nicht darauf ein, schluchzte nun aber weiter, weil er es nicht mehr unterdrücken konnte.

„Mir ist kalt!“, sagte Lucius nun also lauter und richtete sich etwas weiter auf.

„Soll ich euch… noch eine Deck-“

„Nein!“ Er fuhr ihn forsch an. „Komm her!“, befahl er dann.

Er wusste nicht, wie er es sonst hätte sagen können, doch es half. Xaves sprang sofort auf, die Schritte kamen auf ihn zu. Vor dem Bett konnte Lucius das bleiche Gesicht erkennen; es glänzte vor Tränen.

„Ja Herr?“, sprach die von Trauer gezeichnete Stimme.

Lucius rümpfte die Nase aufgrund der Ansprache, sagte aber dieses Mal nichts dazu, sondern streckte die Hand aus und merkte, dass er selbst leicht zitterte. Er fand damit Xaves’ Arm und zog ihn zu sich.

„Du bist warm“, erklärte er und er hob die Decke an.

Er spürte sofort, wie Xaves’ Körper sich verzog. Der Kopf zuckte suchend herum, der Junge schien zu überlegen und etwas sagen zu wollen. Doch dann, ohne dass er einen einzigen Ton von sich gegeben hatte, senkte sich die Matratze und er krabbelte zu ihm heran.

Kaum lag der Junge, da schlang Lucius auch schon seine Arme um den schmalen, bebenden Körper. Er war gar nicht wirklich warm, eigentlich war er ebenso von einer Gänsehaut überzogen wie Lucius selbst. Doch darüber dachte der Prinz nicht nach. Er verbarg seine Nase in den blonden Haaren und hielt den Körper fest. Er wusste nicht einmal, wieso er dies eigentlich tat oder was ihn dazu gebracht hatte.

Das Zittern ließ langsam nach, dafür fing Xaves wieder das Weinen an.

Lucius fühlte sich hilflos, da er nicht wusste, was er noch tun könnte. Plötzlich war das Schluchzen unerträglich laut in seinen Ohren.

Schwach erinnerte er sich daran, was Liz getan hatte, wenn er als kleiner Junge geweint hatte. Also versuchte er es nun genauso und streichelte das Haar des Jungen, doch auch das brachte keine Linderung. Mehr wusste er nicht zu tun und so suchte er nach Worten, nach irgendetwas, das er vielleicht sagen könnte. Er konnte das Gefühl, welches Xaves haben musste, nicht wirklich nachvollziehen, aber er versuchte sich irgendwie in die Richtung zu bewegen.

„Sie sehen dich“, fiel es ihm dann mit einem Mal ein und sofort erschien es ihm, dass es passen, gar stimmen könnte. „Sie können dich sehen und wissen, dass du heute ein Pferd bekommen hast.“

Er glitt etwas hinab, so dass ihre Gesichter auf gleicher Höhe waren. Er erkannte Xaves zwar als solchen, nicht aber den Ausdruck seiner Züge.

„Verstehst du?“, flüsterte er. „Sie sehen, wenn du lachst und wenn du weinst… und wahrscheinlich gefällt es ihnen besser, wenn du mehr fröhlich als traurig bist.“

Nach einer Weile nickte Xaves, wenn auch ganz zaghaft, was Lucius nur spürte, weil seine Hand noch immer in den blonden Haaren lag.

„Morgen…“, kam es mit zitternder Stimme. „Gehen wir morgen wieder… zu ihr?“

„Ja.“ Lucius merkte, dass er selbst lächelte und dann zog er Xaves wieder an sich. Mittlerweile waren ihre beiden Körper wärmer geworden, hatten sich einander angepasst. Er schmiegte sein Gesicht gegen das des Jungen und spürte die Nässe. Er flüsterte: „Ab morgen bringe ich dir das Reiten bei.“
 

~ * ~
 

Nachdem die beiden Jungen irgendwann Ruhe und Schlaf gefunden hatten, umgeben von wirren Träumen, aber auch von einer bisher unbekannten Wärme, brach der Morgen viel zu schnell über sie herein. Wohl um Xaves nicht zu lange ins Gesicht blicken zu müssen, sprang Lucius sofort aus dem Bett, als sie beide erwacht waren. Er holte seine Reitkleidung aus dem Schrank und warf auch Xaves welche hin. Er selbst war aus dieser bereits herausgewachsen; Xaves schien sie zu passen und der Junge fühlte sich darin, als habe er eine der edelsten Roben angelegt. Einen vergleichbar weichen Stoff hatte er noch nie auf der Haut getragen.

Das Frühstück, welches Liz brachte, teilte Lucius aufgeregt mit Xaves, um ihn schnell zum Aufbruch zu treiben. Die Treppen hinab rennend, kamen sie an einer Reihe Bediensteter vorbei, welche die beiden Jungen mit großen Augen musterten. Selten hatten sie ihren Prinzen derartig munter erlebt.

Erst als die beiden im Stall angekommen waren, keuchend und doch lachend, warf Lucius einen Blick auf den blonden Jungen. Und er verstand sofort, weshalb alle, eingeschlossen Liz, so merkwürdig geschaut hatten. Die silbernen Knöpfe an der samtblauen Jacke glänzten mit den Augen um die Wette; die dunkle Lederhose wirkte, als sei sie extra für diese Beine geschneidert worden; das blonde Haar wellte sich auf die verzierten Schultern hinab. Xaves sah wahrhaftig nicht wie ein Diener aus; für einen Moment hätte er als Lucius’ Bruder durchgehen können. Lucius musste grinsen, als er dies dachte, doch gleichfalls verwirrte der Gedanke ihn auch, also deutete er schnell auf Filenas Box.

„Zuerst musst du sie striegeln“, erklärte er und trat einen Schritt näher. „Normalerweise machen das die Diener, aber sie wird sich besser an dich gewöhnen, wenn du es selbst machst.“

Er drückte Xaves eine Bürste in die Hand und schob den Jungen vorwärts. Selbst blieb er an der Boxentür stehen, während Xaves zögernd den Abstand überwand und die Bürste auf das Fell setzte. Filena ließ es gerne mit sich geschehen, sie schnaubte fast genießerisch und gegen Ende schubste sie Xaves mit ihrer Schnauze nieder. Doch dieser lachte darüber, stand wieder auf und liebkoste die Blesse des Tieres. Lucius konnte die Augen nicht von ihnen nehmen.
 

Gemeinsam misteten die beiden Jungen die Boxen von Filena und Calvaro aus, nachdem sie die Tiere auf die Koppel geführt hatten. Schweigend taten sie diese Arbeit, eine der wenigen, welche Lucius auch sonst ab und an ohne dienliche Hilfe tat. Er mochte es, sich um Calvaro zu kümmern; der schwarze Hengst hing an ihm und das wollte er nicht hergeben, indem er ihn zu oft der Obhut anderer überließ. Außerdem, so zu zweit, machte die Arbeit fast Spaß. Das schien auch Xaves so zu empfinden, zumindest wirkte es so, denn er trug nicht seinen üblichen Ausdruck auf dem Gesicht, sondern war konzentriert mit dem Stroh am Gange. Gleichzeitig wurde Lucius auch klar, dass er ja eigentlich gar nicht wusste, was Xaves’ üblicher Gesichtsausdruck war, und er beschloss, noch viele mehr herauszufinden. Er hatte keine Lust darauf, die roten Augen und die Furcht zu Gesicht zu bekommen.

Nachdem sie mit den Boxen fertig waren, gab es Mittagessen. Schweigend trennten sie sich an der Küche und Lucius begab sich zu seinen Eltern. Diesen wollte er von seinem gestrigen Tag erzählen, davon, dass Filena Xaves bereits zu akzeptieren schien, doch das Königspaar wollte nichts davon hören, sondern ging eigenen Gesprächen nach. Also schlang Lucius sein Essen herunter und sprang vom Stuhl, sobald er den letzten Bissen zu sich genommen hatte. Flink war er bei der Küche angekommen und zum ersten Mal, seit er denken konnte, betrat er diese.

Zunächst bemerkte niemand den Prinzen, dieser hingegen sah sofort ein ganz spezielles Lachen. Xaves’ Gesicht trug es; seine Lippen waren fröhlich verzogen und seine Augen glänzten vor Freude, strahlten gar. Mit dieser Erkenntnis und einem komischen Magendrücken machte der Prinz einen Schritt nach vorne und stieß dabei unabsichtlich gegen einen Topf. Sogleich zog er damit alle Aufmerksamkeit auf sich. Augenblicklich wurde es still und die Bediensteten, welche mit ihren Schüsseln auf dem Schoß um einen winzigen Tisch verteilt saßen, sahen ihn erschrocken an. Xaves saß mitten unter ihnen und selbst sein Gesicht zeigte nun Spuren des Schrecks; keine Spur der vorherigen Freude war geblieben.

Liz war die erste, die sich fing und aufsprang, den Prinzen fragte, ob er etwas benötigte, suchte, brauchte. Er aber schüttelte bloß den Kopf und konnte seine Augen nicht von Xaves nehmen. Es schmerzte ihn, ohne dass er dies hätte benennen können, dass er dies Lachen zuvor noch nicht gesehen hatte. Dass er ja eigentlich noch keine zehn Tage mit dem Jungen verbracht hatte, schien ihm dabei unwichtig.

„Bist du fertig?“, fragte er also den Blonden, obwohl er genau sah, dass in dessen Schüssel noch Reste waren. Doch sein Diener reagierte sofort, sprang auf und stellte die Schüssel weg. Lucius drehte sich um und verließ die Küche so schnell, wie er sie betreten hatte.

„Mein Herr!“ Xaves folgte ihm flink. „Seid ihr wütend auf mich?“

„Nein.“ Lucius marschierte weiter, ohne ihn anzusehen.

„Aber ihr-“

„Nein, hab ich gesagt!“ Er fauchte und der Junge neben ihm zuckte zusammen.

Schweigend begaben sie sich zu den Ställen.

Wut war nicht das richtige Wort… aber welches dann?
 

Filena und Calvaro schienen die Stimmung, in der die beiden Jungen sich befanden, zu spüren. Sie bockten, als sie zurück in die Boxen geführt werden sollten; Filena war unruhiger als am Vortag, als Xaves versuchte, aufzusteigen. Also brach Lucius die Versuche ab und beschloss, dass sie aufhören sollten, da er selbst keine Lust mehr auf Reiten hatte.

Sie gingen zurück in die Residenz ohne einander anzusehen. Ohnehin trafen ihre Blicke sich den gesamten Nachmittag über nicht ein einziges Mal. Die ein oder andere Sache ließ der Prinz seinen Diener machen oder bringen, doch die beiden beäugten sich bei alle dem nur sehr spärlich und kühl, nur von der Seite und verstohlen. Das war noch nicht mal Lucius’ Absicht, doch er konnte nicht darum herum, immer wieder an dem Moment zu denken, in dem er die Küche noch unbemerkt durchschritten hatte. Sie hatten gelacht; Xaves hatte gelacht, und was hatte er nun schon wieder für einen Ausdruck auf dem Gesicht? Furchtsam mit roten Augen. Das gefiel dem jungen Prinzen ganz und gar nicht. Doch er fand auch keine Worte, mit denen er dem Gefühl in seinem Inneren einen Namen hätte geben können.

Die Stimmung hielt an, bis sie ins Bett gingen; selbst während er badete, befahl Lucius Xaves nicht, für ihn zu singen, sondern er starrte mürrisch auf die Schaumberge. Unter der Decke nun fror er fürchterlich und lauschte dabei in die Dunkelheit, versuchte auszumachen, ob er ein Schluchzen hörte. Da war keines in dieser Nacht und das gefiel ihm ebenso wenig. Er wusste nicht wieso, aber er hätte es gerne als Vorwand genommen, um mit Xaves zu reden. So aber lag er nun wach und fand keinen Schlaf. Stattdessen fragte er sich, was eigentlich mit ihm los war; er hatte bisher so wenig mit Jungen in seinem eigenen Alter zu tun gehabt, er wusste nicht viel darüber, wie man mit ihnen umging oder mit ihnen redete. Vielleicht lag es daran, dass er Xaves so genau beobachtete, bei allem was dieser tat. Vielleicht wollte er sehen, was andere Jungen in seinem Alter taten. Dass sie lachten, wie Xaves es getan hatte, das kam ihm fremd vor. Und ihm wurde klar, irgendwann, viel, viel später in dieser Nacht, dass er selbst vielleicht noch nie derartig gelacht hatte.

Wie ich mich durch dich verändere

Als Lucius am nächsten Morgen erwachte, schrak er auf, da er sofort die Gestalt an seinem Bett entdeckte. Xaves war gegen einen der Pfosten gesunken und schlief dort, die dünnen Arme um den eigenen Körper geschlungen und schwer zitternd. Sofort richtete Lucius sich auf und weckte das andere Kind.

„Was machst du hier?“, fuhr er ihn an und zog ihn sofort zu sich unter die Decke.

Ihre Körper berührten einander und er erschauderte unter der Kälte des anderen.

„Ich… wollte schauen… ob du… noch wütend bist…“, zitterte die Stimme des Jungen, ebenso wie der ganze Körper.

Obwohl es ihm selbst aufgrund der Kälte widerstrebte, hielt Lucius ihn näher an sich gedrängt.

„Ob ich wütend bin?“, fragte er nun.

Xaves nickte bloß.

„Wieso sollte ich wütend sein?“

Fast hatte er das Gefühl, welches ihn die halbe Nacht hindurch verfolgt hatte, selbst schon wieder vergessen; ausgelöscht durch den Anblick des zitternden, schlafenden Jungen.

„Ich weiß nicht, aber gestern warst du wütend auf mich.“ Die Stimme klang nun traurig und Lucius spürte, wie Xaves’ Finger an seiner Brust bebten.

„Gestern“, sagte er dann, „aber heute nicht mehr.“

„Nein?“

„Nein.“

Er beschloss für sich selbst, dass es so war, während er seine Nase in Xaves’ Haaren vergrub. Sie rochen gut, der Junge hatte gestern auch ein schnelles Bad genommen.

Lucius wollte eigentlich noch etwas sagen, doch es fiel ihm schon nicht mehr ein. Außerdem war er noch gar nicht wirklich wach und spürte das Gähnen, das ihn verließ. Dann horchte er und merkte, dass Xaves schon wieder eingeschlafen war, nah an Lucius’ Brust gedrückt. Er lächelte und beschloss, es ihm gleich zu tun, nicht ahnend, dass der Junge die halbe Nacht schlaflos an seinem Bett gewacht hatte.
 

Lucius und Xaves erwachten wieder, als Liz das Frühstück brachte. Sie schaute ein wenig verwundert, als sie die beiden im selben Bett vorfand, hatte ihren Blick aber sofort wieder unter Kontrolle. Etwas mehr hatte sie heute auf den Teller gefüllt, hatte sie doch bereits gemerkt, dass Lucius seinen Diener mitessen ließ. So schnell hatte sie damit nicht gerechnet, doch die Richtung der Entwicklung gefiel ihr in ihren Anfängen. Nur das Teilen des Bettes, damit hatte sie ganz sicher nie gerechnet; sie wusste nicht, was sie davon halten sollte.

Als Liz wieder gegangen war, zog Lucius das Tablett näher heran. Die beiden Jungen aßen schweigend und ein wenig war es Lucius unangenehm, dass Liz sie so gesehen hatte. Er hoffte bloß, dass sie nicht darüber sprechen würde, denn er war sich sicher, dass es der König gar nicht gut heißen würde, wenn er es erführe. Außerdem wusste Lucius nicht, wie er es dann erklären sollte, denn eigentlich wusste er selbst nicht, weshalb er es überhaupt zuließ. Andererseits musste er aber auch zugeben, dass er diese zwei Male, mit Xaves an seiner Seite, so gut geschlafen hatte wie kaum je zuvor.

Dem Diener allerdings gingen andere, wirrere Gedanken und Selbstvorwürfe im Kopf herum. Er schmeckte das Essen kaum und war froh, als dem Bett endlich entstiegen wurde. Er nahm sich vor, es nicht zu einer Wiederholung kommen zu lassen, wusste er doch zu genau, wie ungerne so etwas gesehen werden würde, und das war noch nett ausgedrückt. Er kannte seine Position und wusste, dass er sie nicht in diesem Maße ausreizen durfte.
 

Nach dem Frühstück gingen die Jungen wieder zu den Pferden und dieses Mal sprachen sie ein wenig, während sie die beiden striegelten. Lucius erzählte von einem lustigen Traum und Xaves lachte darüber, was dem Prinzen ausgesprochen gut gefiel. Dann schmiedeten sie Pläne, was sie machen würden, wenn Xaves erst einmal richtig reiten könnte; Lucius kannte viele Orte, welche er selbst schon erkundet hatte, mit Liz als Anhängsel, was nie wirklich nach seinem Geschmack gewesen war. Mit Xaves allerdings, da war sich der junge Prinz sicher, würde es viel mehr Spaß machen.

Erst beim Mittagessen verlor Lucius einen Teil seiner Fröhlichkeit wieder; da nämlich, als er daran dachte, wie am vergangenen Tag in der Küche gelacht worden war. Ob dies nun wohl auch wieder so war, während er selbst schweigend bei seinen ernsten Eltern saß? Bisher hatte ihn dies nie gestört, doch nun wurmte es ihn gewaltig, dass er seinem Vater nicht einfach irgendwas erzählen konnte; der König würde es nicht hören wollen und lachen würde er erst recht nicht. Also beendete Lucius das Essen schnell und ging zur Küche. Zu seiner Überraschung wartete Xaves schon davor auf ihn und grinste ihm entgegen. Das bedrückte Gefühl schwand sofort, als sei es nie in ihm gewesen.
 

An diesem Nachmittag hatten die beiden Jungen eine Menge Spaß. Filena machte die ersten Schritte mit Xaves auf dem Rücken, dieser klammerte sich ängstlich an die Zügel und Lucius sah dem Schauspiel amüsiert zu. Irgendwann schwang er sich auf Calvaros Rücken hinauf und ritt im großen Bogen um die beiden herum. Es war anders, als wenn er sonst mit Liz ausgeritten war; dann war es ihm immer darum gegangen, möglichst schnell irgendwo hin zu galoppieren, doch das schien nun nicht wichtig. Heute sollte Xaves ein wenig Gefühl für den Sattel bekommen und es machte Spaß, ihm dabei zuzusehen, wie sein Gesicht neben der Furcht mit der Zeit immer größere Freude zeigte.

Am Ende mochten die beiden Jungen sich kaum von den Tieren trennen und lachten noch, als sie das Schlafgemach betraten, in dem das Abendessen bereits auf sie wartete. Grinsend schlangen sie es herunter und fachsimpelten über die Pferde, soweit Xaves dabei mittlerweile zumindest schon mitmachen konnte.

Abschließend half Xaves Lucius beim entkleiden und durch ihre Gespräche abgelenkt, half Lucius ohne nachzudenken Xaves aus seinem Hemd, das vom Schweiß des Tages an ihm klebte; das Bad, welches der junge Diener zuvor erhitzt hatte, schäumte ihnen begierig zu. Lucius ließ sich hineingleiten, während Xaves sich am Wannenrand nieder ließ, nur noch eine Unterhose tragend. Diese Konstellation gefiel dem Prinzen jedoch nur einen kurzen Moment lang und er wartete, bis Xaves von alleine zu singen begann, um ihn überraschend zu greifen und zu sich in die Wanne zu ziehen. Der blonde Junge tauchte unter und kam prustend zurück an die Oberfläche. Sein erschrockenes Gesicht verwandelte sich in Lachen und er zögerte kaum, sondern stürzte sich auf den Prinzen und drückte diesen ins Wasser hinunter. Sie tollten und Schaumwolken flogen durch den Raum, während dieser von Kinderlachen erfüllt wurde. Es war vielleicht das allererste Mal, dass Lucius auf diese Weise lachte, dass er von flinken Händen gekitzelt und überlistet wurde, dass er überhaupt ein einfaches, johlendes Kind war. Hätte ihn irgendwer so gesehen, sie alle hätten wohl nicht gewusst, ob sie ihren Augen und Ohren trauen durften.

Später fielen die beiden Kinder erschöpft, nur notdürftig abgetrocknet und nackt nebeneinander in Lucius’ Bett. Es gab keine Rede darüber und auch Xaves verschwendete nicht mal einen Gedanken daran, was er sich am Morgen noch vorgenommen hatte, sondern sie kuschelten sich noch immer kichernd unter die dicke Federdecke, nahe beieinander und von der Müdigkeit schnell übermannt. In dieser Nacht würden sie herrlich schlafen und aufregend träumen, beide von ihnen.
 

~ * ~
 

Der nächste Tag lief ähnlich ab und der danach und auch der darauf folgende. Nach einem fröhlichen Frühstück ging es in den Stall, selbst wenn es regnete. Sie kümmerten sich kleinlichst um ihre beiden Tiere, nahmen dann und wann auch noch einige der anderen Pferde mit auf die Koppel.

Xaves lernte schnell; bereits nach zwei Wochen konnte er sich bei leichtem Galopp einigermaßen im Sattel halten, wenn es auch für Wettrennen oder ähnliches noch viel zu früh war.

Lucius hatte eine ausgesprochene Freude dabei, Xaves zuzusehen. Das Bild des Jungen auf dem Rücken des mächtigen Tieres gefiel ihm und er genoss jede Minute, die sie in der freien Luft verbrachten.

Am Abend dann, wenn sie dreckig und aufgeregt vom Tag zurück ins Gemach kamen, badeten die beiden Jungen fast immer zusammen, lachten dabei viel und fielen anschließend zusammen in das größere der beiden Bett, in das bequeme, weiche und zusammen so wunderschön warme.
 

Nach ein paar Tagen hatte er Xaves verboten, ihn mit „Herr“ anzusprechen oder anders demütig. Zwar hatten ihn Liz und alle anderen immer so genannt, aber aus Xaves’ Mund heraus klangen die Worte falsch. Ja, man hatte ihm einen Diener geschenkt, aber das hieß noch lange nicht, dass Lucius ihn auch so sah. Für ihn war Xaves der erste Spielgefährte in seinem Alter, den er je gehabt hatte. Das führte auch dazu, dass er immer öfter vergaß, wer er selbst war, wozu er erzogen worden war und was man von ihm erwartete und was nicht. Ganz von alleine übernahm er andere, neue Arbeiten, half Xaves sogar immer öfter das Zimmer aufzuräumen oder das Bett zu richten. Erst hatte dieser versucht, ihn davon abzuhalten, aber Lucius war es einfach so unangenehm, Xaves für sich arbeiten zu sehen, dass es für ihn ganz selbstverständlich wurde, selbst etwas zu tun.

Und auch andere Dinge wurden schnell selbstverständlich. So wurde Xaves’ Bett schon bald gar nicht mehr angerührt, mittlerweile stapelten sich Kleider darauf, welche Lucius zu groß waren, Xaves aber wie angegossen passten. Erst fühlte der junge Diener sich unwohl in der neuen Pracht, doch Lucius’ Verhalten half ihm schnell, dies Unbehagen abzulegen und er genoss es, die weichen Stoffe zu trage; bald schon sah man ihn gar nicht mehr in der üblichen Hausmode der Bediensteten. Natürlich war es nicht zuletzt deshalb schwer zu übersehen, dass der junge Diener einen besonderen Stellenwert eingenommen hatte; wann immer er an der Seite des Prinzen war, strahlte er oder wirkte zumindest zufrieden; er arbeitet kaum und verbrachte Tag um Tag auf dem Rücken eines quasi eigenen Pferdes.

Von den anderen Bediensteten missgönnten ihm dies nur ein paar einzelne, die jüngsten, und auch sie nur irgendwo verborgen im Herzen; denn eigentlich freuten sie sich alle, dass der Junge zu einem solchen Leben gefunden hatte. An seinem ersten Tag hatten sie ihn noch so bitterlich weinen sehen, anschließend angeschrieen durch den König, er solle es nicht wagen, vor dem Prinzen ein solches Gesicht zu zeigen. Nun aber waren die Tränen getrocknet und der Junge war einfach ein Kind, das hier und da mit anfasste, half und sogar das Kochen lernen wollte.

Doch fast mehr noch freuten sie sich, die Veränderungen an ihrem Prinzen zu bemerken, zumindest jene, die sie mitbekamen. Jeder wusste doch, wie einsam der Junge immer gewesen war; umso schöner war es, dass er nun ständig strahlte und gut gelaunt war, auch mal ein paar freundliche Worte mit ihnen wechselte und neugierig Dinge herausfinden wollte, die ihn sonst nicht interessiert hatten

So kam es immer häufiger vor, dass Lucius die Küche betrat. Meistens nach der Mittagszeit, welches bald die einzige Zeit war, in der sich die beiden Jungen freiwillig voneinander lösten. Lucius wusste genau, dass sein Vater es nie dulden würde, einen der Diener am selben Tisch sitzen zu haben, daher trennten sie sich an, manchmal in der Küche voneinander, nur um sich bald darauf wieder in Empfang zu nehmen und über das Essen zu reden, welches natürlich bei dem Prinzen üppiger und ausgefallener gewesen war, aber dennoch nicht immer dessen Geschmack entsprach. Dann streckte Xaves Lucius lachend die Zunge raus und sie jagten einander lachend durch die großen Hallen, an den Augen der belustigten Leute vorbei, weiter hinaus bis zum Stall, um bald gar die Koppel hinter sich zu lassen.
 

Für das Königspaar wäre es sicher schwer, die Veränderung an ihrem Sohn nicht zu erkennen, gar zu übersehen. Er war immer sehr schweigsam gewesen, ruhig, schwer zufrieden zu stellen. Nun aber genügte es ihm, mit diesem Diener zu spielen und sein Lachen schallte vom Garten oftmals an ihre Fenster heran. Es war nicht zu bezweifeln, dass die Eheleute dies mit Sorgenfalten auf der Stirn mit ansahen. Wie hätten sie es auch gutheißen können, dass der wohlerzogene Prinz mit einem dahergelaufenen Burschen spielte? Und doch taten sie gleichsam nichts dagegen, denn hatten nicht sie ihm diesen Jungen geschenkt? Und zudem wussten sie auch, dass sie ihm ihn nicht so einfach entreißen könnten; vermutlich würde Lucius das niemals verzeihen, denn die Wut dieses Kindes konnte tief reichen.

So also wurde das Thema nie zur Sprache gebracht, totgeschwiegen und von den Eltern mit Sorge betrachtet. Wann immer es ging, nahmen sie ihren Sohn mit zu gesellschaftlichen Anlässen, welche er schon immer gehasst hatte, nun aber noch um vieles mehr verabscheute. In diesen Momenten war es die wohlerzogene Liz, welche die Familie begleitete, nicht der blonde Bursche, der stattdessen alleine zurück blieb und den Tag alleine im Stall verbrachte, oder in der Küche bei der alten Köchin Calia, welche immer ein schützendes Auge auf ihn hatte.

Es war schwer zu sagen, wie sehr die beiden Jungen einander an solchen Tagen wirklich vermissten oder wie sehr sie aneinander hingen. Vielleicht hätte man es mit Brüderschaft beschreiben können, hätte es nicht so einen merkwürdigen Klang, wenn man bedachte, dass der eine noch immer ein Prinz war und dem anderen die Eltern vom König genommen worden waren. Dies war ein Punkt, über den die beiden Kinder nie sprachen. Lucius war zu jung, um Xaves zu diesem Thema Trost spenden zu können; überhaupt tat es dem blonden Jungen gut, nicht zu viel darüber zu reden oder nachzudenken. Nur ab und an sank eine Träne in sein Kissen, wenn er nachts neben Lucius lag und durch das große Fenster den Sternenhimmel sah und in Gedanken mit seinen Eltern sprach, ihnen vom Tag erzählte. Dann aber kuschelte er sich näher an den warmen Körper des Prinzen heran und fand mit dessen Nähe bald in einen beruhigenden Schlaf hinein.
 

~ * ~
 

Und so vergingen die Tage, die Wochen, die Monate. Sie zogen an ihnen vorbei, nicht unbemerkt, sondern einfach zu schnell.

Bald schon verbrachten sie viele Tage damit, auszureiten, selbst wenn es ihnen nie gestattet wurde, eine ganze Nacht wegzubleiben. Sie erkundeten die Gegenden, welche Lucius Xaves hatte zeigen wollen, und sie sahen noch so viele weitere, unbekannte Orte. Die Welt schien sich vor ihnen zu erstrecken, auch wenn Lucius manchmal dachte, dass er eigentlich gar nicht wusste, wie die Welt eigentlich aussah. Er kannte die Natur in der Umgebung, einen halben Tagesritt entfernt; er kannte viele Residenzen, Paläste, Anwesen und die Wege, die außerhalb der Kutsche vorbeizogen. Doch er kannte nicht die kleinen Dörfer, die Märkte, Schauplätze, von denen Xaves ihm berichtete. Und so merkte er immer mehr, wie wenig er doch eigentlich wusste und wie viel mehr Xaves zu berichten hatte. Manchmal machte ihn das fast etwas traurig, doch meistens hörte er gespannt und neugierig zu, stellte Fragen und lachte über Kleinigkeiten, die ihm fremd erschienen. Er lernte auf diese Weise nicht nur noch viel mehr unbekannte Ort kennen, sondern schloss auch den anderen Jungen, der alles in so prächtigen Farben erzählen konnte, immer mehr in sein Herz. Währenddessen trugen Filena und Calvaro sie über die Wiesen, welche ihre Blüte verloren, von Schnee bedeckt wurden und dann den neuen Frühling begrüßten.
 

Schnell war auf diese Weise ein ganzes Jahr vergangen und Lucius konnte es kaum fassen, als er eines Morgens erwachte und Xaves ihn bereits von der anderen Seite des Bettes angrinste.

„Herzlichen Glückwunsch!“, fiel ihm der blonde Junge um den Hals und sie schmiegten sich eine Sekunde noch leicht verschlafen aneinander.

Selbst wenn Lucius schon seit Tagen wusste, dass es bald so weit war, konnte er nun doch nicht fassen, dass tatsächlich ein ganzes Jahr mit Xaves vergangen war. Er konnte sich kaum noch daran erinnern, was er zuvor gemacht hatte. Wie hatte er gelebt, ohne das Lachen dieses Jungen? War er wirklich jeden Tag für sich alleine gewesen? Überfüllt mit Unmengen von Spielsachen und doch ohne einen einzigen Freund?

Dieser Gedanke war vielleicht zu alt für seine 14 Jahre, und dennoch hielt er ihn im Kopf, während er Xaves von sich drückte und sie einander in die Augen sahen. Und auch der Kuss passte nicht zu ihrem Alter, doch Lucius war von irgendeiner Macht gepackt worden und dachte gar nicht darüber nach, bevor er es tat.

Die Lippen hatten einander kaum berührt, als die beiden Jungen auch schon voneinander zurück wichen. Plötzlich wurde ihnen ihre Nacktheit des längst vergangenen, abendlichen Bades bewusst und Xaves sprang als erster aus dem Bett, um sich anzukleiden.

Im selben Moment klopfte es an der Tür und Liz trat hindurch, mit einem feierlichen Lächeln auf den Lippen und einem Tablett, beladen mit allen Dingen, die Lucius gerne mochte.

Der aber hatte kaum Augen für sie, als sie ihn flüchtig und fast scheu umarmte, ihm gratulierte und ihm die Feinheiten präsentieren wollte. Er konnte nur Xaves mit den Augen folgen, der sich daran gemacht hatte, das Zimmer aufzuräumen. Noch immer glaubte der Prinz, das Gefühl der Lippen zu spüren.

„Ja, ja“, erwiderte er ungeduldig als Liz ihm sagte, dass seine Eltern in einer Stunde auf ihn warten würden.

Heute würde es bereits am Vormittag einen Empfang geben, viele Gäste und entfernte Familienmitglieder waren geladen; alles Leute, mit denen Lucius noch nie etwas hatte anfangen können, nach diesem veränderndem Jahr wohl aber noch viel weniger.

Liz legte ihm schöne Kleider aufs Bett, welche er anziehen sollte, dann verließ sie endlich den Raum. Xaves war mittlerweile im Bad angekommen; Lucius rief ihn zu sich, sobald sich die Tür durch Liz von außen schloss.

Xaves zitterte ganz leicht, als er vor dem Bett stand, steif und nur mit einer leichten Hose bekleidet. Unsicherheit stand ihm im Gesicht und Lucius vergaß die Entschuldigung, die er eigentlich hatte aussprechen wollen. Stattdessen, selbst wohl hochrot auf den Wangen, deutete er auf das Tablett und forderte den Jungen auf, sich zu ihm zu setzen.

„Wir wollen es uns gut gehen lassen!“, erklärte er feierlich, während er auch sah, wie das Gesicht des Blonden sich aufhellte. Hatte dieser Angst gehabt, etwas Falsches getan zu haben? Lucius begriff es nicht, aber dafür war er vermutlich wirklich noch zu jung.

So also krabbelte Xaves ins Bett zurück und gemeinsam machten sie sich über die Früchte her, die schön angerichtet eben genau darauf warteten. Nun begannen sie auch wieder zu lachen und das Zittern aus Xaves’ Körper verschwand spätestens in dem Moment, als er und Lucius sich um die letzte Beere stritten. Natürlich bekam sie der Prinz, aber Xaves lachte und stopfte sich selbst ein Stück Apfel in den Mund. Der Blick Lucius’ war mittlerweile auf den Kleidern hängen geblieben. Die gute Stimmung wich von ihm.

„Ich hab keine Lust“, schluckte er die zerkaute Beere hinunter und deutete auf das verzierte Kleidungsstück. „Mein Junge! Wie geht es dir? Oh, bist du groß geworden! Wie ich es hasse!“

Xaves lachte bloß.

„Wie wäre es, wenn wir uns einfach die Pferde schnappen und verschwinden?“

„Und wohin?“

„Egal! Einfach nur weit weg!“ Lucius breitete die Arme aus, stellte sich Orte vor, die er nur von Xaves‘ Erzählungen kannte. „Und erst morgen kommen wir zurück, wenn alles vorbei ist!“

Er meinte es ernst, zumindest so ernst, wie man so etwas mit 14 nun mal ernst meinen konnte. Er grinste entschlossen und malte es sich bereits in den schönsten Farben aus; Xaves jedoch brachte die Gedanken zum Erliegen, als er den Kopf schüttelte.

„Warum nicht?“, fragte Lucius enttäuscht.

„Weil ich dann Ärger bekomme.“

„Du?“ Der Prinz war verwirrt. „Es ist doch meine Idee! Ich hab-“

„Aber ich habe dich dazu angestiftet.“ Plötzlich sah Xaves ihn traurig an, mit komischen Augen.

„Hast du gar nicht!“

„Doch, das werden sie sagen. Ich bin schuld daran…“

„Aber-“

Es klopfte; wieder war es Liz. Dieses Mal wollte Lucius sie am liebsten anschreien, Xaves sprang aber sofort aus dem Bett und übergab ihr das Tablett.

„Er kommt gleich runter“, erklärte er und als die Tür sich geschlossen hatte, wirkte er sehr ernst. „Komm schon, zieh dich an.“

Auch Xaves ging zu seinem eigentlichen Bett und kramte sich etwas von ganz unten hervor. Erst als er es trug, erkannte Lucius, dass es die Kleidung der Bediensteten war. Mittlerweile war sie ein bisschen zu klein.

„Aber-“

„Nein, es ist schon richtig so.“ Xaves lächelte und zog Lucius aus dem Bett. „Zieh dich endlich an, deine Eltern warten.“

Der Prinz also tat, wie ihm sein Diener befohlen hatte, wenn auch sehr widerwillig. Er hätte noch nicht einmal sagen können, was ihm so sehr missfiel, aber irgendwie war er sauer auf Xaves. Sauer, weil dieser sich dermaßen gekleidet hatte; sauer, weil er den Spaß des Weglaufens nicht mitmachen wollte; sauer, weil sie nicht länger zusammen im Bett bleiben konnten. Doch er sagte nichts davon und als er fertig war, frisch gewaschen und gekämmt, schob Xaves ihn aus dem Zimmer heraus.

„Freu dich einfach, sie sind alle wegen dir hier!“

Mein und dein Tag

Sein Geburtstag war kein Alptraum, aber als schön empfand Lucius ihn auch nicht. Wie erwartet kamen viele Verwandte und sagten ihm, wie groß er doch bereits geworden sei. Das ein oder andere Mal musste er es sich verkneifen, ihnen zu sagen, dass sie dafür aber entsetzlich alt geworden waren; innerlich lachte er darüber und wollte diesen Spaß so gerne mit Xaves teilen. Dieser jedoch war an diesem Tag abweisend wie selten. Er bediente Lucius gut, keine Frage, aber er sah ihn selten an, lächelte nie. Vielleicht zerbrach das dem Prinzen am meisten den Kopf, und den Kuss hatte er daher schon wieder vollkommen vergessen. Auf diese Weise brachte er beides wenigstens nicht miteinander in Verbindung, auch wenn es genau dies war, was Xaves dazu veranlasste, sich derart zu verhalten. Der junge Diener wusste sehr wohl, dass damit etwas passiert war, das nicht zu ihnen gehören sollte; er kannte die Regeln des Spiels. Lucius hingegen ahnte von ihnen nichts und nahm sich bloß vor, morgen mit seinem Freund wieder auszureiten und viel Spaß zu haben.
 

Natürlich bekam Lucius unendlich viele Geschenke, große, kleine, monströse. Er setzte das glückliche Gesicht auf, welches man von ihm erwartete, doch ebenso wie in den Jahren zuvor bedeuteten ihm die Sachen nichts. Er würde mit ihnen spielen, sie nutzen… doch waren es alles nur steife Dinge und erst jetzt, ein Jahr später, wurde ihm klar, dass Xaves das beste Geschenk gewesen war, das man ihm hatte machen können. Er wusste aber mittlerweile auch, dass es falsch war, den Diener überhaupt als Geschenk zu betrachten. Er war ein Junge wie er, der eigentlich frei sein sollte; dennoch wollte Lucius gar nicht erst darüber nachdenken, dass Xaves nicht da sein könnte. Also lenkte er sich mit anderen Gedanken ab; zum Beispiel wurde ihm bewusst, dass er Xaves noch nie etwas geschenkt hatte. Natürlich, Filena könnte man als Geschenk bezeichnen, oder vielleicht die Kleider, die er ihm gab, doch ein wirkliches Geschenk hatte Xaves nie von ihm erhalten. Nicht mal an seinem Geburtstag, denn Lucius fiel erschrocken auf, dass sie ein Jahr miteinander verbracht hatten, ohne diesen Tag überhaupt zu erwähnen. Wann hatte Xaves Geburtstag? Lucius wusste es nicht und den restlichen Tag konnte er kaum an etwas anderes denken.

So verging der förmliche Teil des Tages irgendwie und als die letzten Gäste mit dem Königspaar verschwunden waren und Lucius’ Anwesenheit nicht mehr erwartet wurde, begann dieser, Xaves zu suchen. Schon seit einiger Zeit hatte er den Jungen nicht mehr gesehen; in der Küche fragte er nach ihm und Calia riet, bei den Pferden nachzuschauen.
 

Xaves hatte sich irgendwann, als es später geworden und Lucius gerade in ein Gespräch mit einer Tante verwickelt gewesen war, in der Box von Filena verborgen. Das große Tier hatte sich nach einer Weile zu ihm auf den Boden gelegt und er drückte sich an ihren Bauch heran, streichelte die Nüstern.

Lucius hörte er nicht kommen, zumindest zeigte er nicht, ob er es tat. Daher blieb der Prinz einen Moment versteckt stehen und beobachtete Tier und Mensch in ihrer Zweisamkeit. Ein trauriges Gefühl ergriff ihn dabei, selbst wenn er nicht verstand, woher dies kam. Vielleicht aus Xaves’ Augen, denn sie waren es, die tieftraurig wirkten.

„Xaves“, trat Lucius leise an die Box heran; der Name drang nur schwer über seine Lippen.

Sowohl Filena als auch der Junge zuckten hoch, suchten ihn mit den Augen. Filena fand ihn wohl zuerst, sie legte den Kopf wieder nieder. Xaves jedoch richtete sich auf und versuchte ein Lächeln.

„Was ist los?“ Lucius kam in die Box hinein und glitt in all den prachtvollen Kleidern, die er trug, zu dem anderen Jungen ins Stroh hinab. „Wieso bist du traurig?“

„Bin ich nicht“, erklärte Xaves und wollte wegschauen, doch Lucius packte sein Kinn, so wie er es seit dem ersten Tag nicht mehr getan hatte. Fast war er grob dabei, doch er ertrug es nicht, dass Xaves ihm weiter ausweichen wollte.

„Was ist los mit dir?“, fragte er wieder.

Doch Xaves schüttelte bloß den Kopf, befreite sich und stand auf. Er klopfte sich kurz die Kleider ab, streichelte noch einmal Filenas Blesse und dann ließ er die Box hinter sich. Auch Lucius war sogleich auf den Beinen; ein Stück weiter hielt er Xaves fest. Langsam wurde er wütend; verzweifelt verstand er diese Situation einfach nicht.

„Sag mir sofort was-“

„Ich bin dein Diener!“, platzte Xaves heraus und schlug die Hand weg. Er wich zurück und wollte laufen, doch letztendlich verbarg er bloß sein Gesicht hinter einem Arm.

„Das weiß ich.“ Lucius drückte den Arm hinab. „Aber es ist doch-“

„Ich bin dein Diener!“, zischte Xaves dieselben Worte ein weiteres Mal. Nun plötzlich standen ihm Tränen in den Augen und Lucius verstand sie nicht.

„Xaves, was ist denn bloß-“

„Du hast mich geküsst!“

Sie waren wie ein Schlag ins Gesicht, diese Worte. Lucius fuhr bei ihnen zusammen und errötete schlagartig bis zum Haaransatz. Er hatte den Vorfall des Morgens vollkommen vergessen; doch Xaves schien er zu quälen. Damit hatte Lucius nicht gerechnet.

„Na und? Ich meine-“

„Na und? Ich bin dein Diener, verdammt noch mal!“

„Nein!“, schrie Lucius nun plötzlich. Er fuhr vor und griff grob nach dem zitternden Körper. „Nein, hörst du? Sag das nicht! Du bist mein Freund! Okay? Ist das klar? Du bist mein bester Freund!“

„Und dein einziger…“ Xaves’ Stimme brach.

„Ja, na und? Du bist der einzige Mensch, der mir wichtig ist!“

Was es war, an diesen Worten, das Xaves nun in Lucius’ Armen zusammenbrechen ließ, war dem Prinzen nicht klar, aber er hatte sehr viel Mühe damit, den Körper zu stützen, während dieser sich an ihn klammerte und fürchterlich bebte. Das Schluchzen zerriss die Luft, die Tränen durchtränkten sein Hemd, und alles, was er in diesem Augenblick tun konnte, war, den anderen Jungen festzuhalten. Zu mehr verstand er sich nicht, immerhin hatte er keinen Schimmer, was hier gerade vor sich ging.
 

Zum Glück war es Calia, die die beiden später im Stall fand. Sie saßen auf dem kalten Steinfußboden vor den Boxen und hielten sich aneinander fest; Xaves war mittlerweile eingeschlafen, Lucius dämmerte vor sich hin.

„Was ist denn los?“, fragte die alte Köchin sanft und hob ihren schlafenden Schützling auf ihre Arme.

„Ich weiß es nicht“, erhob auch der Prinz sich nun. Er spürte, dass seine Beine eingeschlafen waren und er kaum einen Schritt gehen konnte. Außerdem fror er fürchterlich.

„Na komm, ihr solltet ins Bett gehen.“

Lucius nickte bloß und folgte der Frau, welche behutsam Xaves trug. Dessen Hand hing schlaff herab und am liebsten hätte Lucius nach ihr gegriffen, stattdessen starrte er sie nur an, wie sie sanft baumelte.

Im Schlafgemach wurden sie von der besorgten Liz empfangen, die erleichtert war, als sie den Prinzen wohlauf entdeckte. Sie fragte nach einem Bad, doch er schüttelte den Kopf und zog sich die Kleider vom Leib. Calia schien ein wenig verwirrt, als sie das überfüllte Bett Xaves’ sah, doch Liz erklärte ihr, den Jungen in des Prinzen Bett zu legen. Dies schien die alte Frau nur noch mehr zu verwirren, doch sie tat es und dann gingen sie hinaus, da Lucius erklärte, er wolle nun alleine sein.

Zunächst aber, nachdem sie es waren, schlug er die Decke wieder zurück. Auf sein Hetzen hin hatte Calia Xaves in seiner Dienstrobe belassen. Lucius spürte einen namenlosen Schmerz in seinem Körper, wie er den schlafenden Jungen in diesen Kleidern liegen sah; es gefiel ihm nicht, es sah so falsch aus. Also zog er ihm vorsichtig die Kleider vom Leib. Es war schwer, denn er hatte noch nie zuvor versucht, einen schlafenden Körper zu entkleiden; er hatte es sich nicht derart schwierig vorgestellt. Doch aufgeben wollte er auch nicht und bei der Hose angekommen, war er fast schon froh, als Xaves die Augen aufschlug.

Zunächst lief ein erschrockenes Zucken durch den kalten Körper, doch schnell verstand der Junge, wo er sich befand und beäugte stattdessen Lucius. Dieser grinste ihn vom Bettende aus an, ein Hosenbein unbeholfen in der Hand.

Es war deutlich, dass Xaves sogleich protestieren wollte, doch Lucius schüttelte bestimmt den Kopf.

„Du kannst so nicht schlafen“, erklärte er und zog wieder an der Hose.

Xaves half ihm nun widerwillig und schnell waren sie fertig, der Junge bis auf die Unterhose entkleidet. Nun zog Lucius sofort die Decke über sie und schlang die Arme um den Körper seines Freundes. Der wehrte sich nicht, aber er schmiegte sich auch nicht an ihn, wie er es sonst oft tat. Stattdessen wirkte er steif und unbeweglich.

Am liebsten hätte Lucius wieder gefragt, was denn bloß los sei, denn er hatte es noch immer nicht begriffen, doch stattdessen fiel ihm eine andere Frage ein, welche er doch eigentlich den ganzen Tag so brennend auf der Seele gehabt hatte.

„Wann hast du Geburtstag?“, sprach er sie nun aus.

Ein kurzes Zucken im schmalen Körper.

„Morgen“, kam es dann; es klang stumpf.

Lucius fuhr zusammen. Er hatte wohl mit allem gerechnet, doch nicht mit dieser Offenbarung.

„Ist das dein Ernst?“

„Ja.“

„Aber dann hattest du… letztes Jahr…“

„Ja.“

„Warum hast du nichts gesagt?“

„Weil ich nur ein Diener bin.“

Lucius ließ ein Knurren hören bei diesen Worten, schüttelte den Kopf.

„Ich sagte doch-“

„Hör auf“, unterbrach Xaves mit fester Stimme. „Selbst wenn ich für dich ein Freund bin… für deine Eltern, für alle anderen bin ich nur dein Diener. So wie Liz und Calia es auch sind…“

„Aber…“ Lucius setzte zu einem erneuten Protestversuch an, verstummte dann aber, da ihm augenblicklich bewusst wurde, dass es zumindest eine Ähnlichkeit gab: Er hatte tatsächlich keine Ahnung, wann die beiden Frauen ihren Geburtstag feierten. Sie hatten es nie für nötig gehalten, es zu erwähnen, und selbstverständlich hatte er selbst nie gefragt. Ebenso hatte er auch Xaves bis heute nicht gefragt. Ihm wurde eiskalt bei diesem Gedanken.

„Was wünschst du dir?“, brach er nun hervor, da es ihm unangenehm war, seine Erkenntnis zuzugeben.

„Nichts.“

„Aber du musst doch-“

In dem Moment glitt Xaves näher an ihn heran, schmiegte sich endlich gegen ihn.

„Alles, was du mir geben kannst, habe ich schon.“ Sein Atem kitzelte Lucius’ Brust und die Finger pressten sich gegen seinen Rücken. Diese Nähe tat so gut.

„Aber irgendetwas-“

„Vor einem Jahr hätte ich meine Freiheit gewollt, doch heute will ich sie nicht mehr.“

Lucius fühlte sich schlecht bei der Erkenntnis, die ihm diese Worte brachten, daher erwiderte er nichts darauf, dafür fiel ihm etwas anderes ein.

„Wenn du dir je etwas wünschst“, sprach er zögernd, „sagst du es mir dann? Ich werde es dir schenken!“

„Wirst du?“

„Ja. Versprochen.“

„In Ordnung.“

Xaves schmiegte sich noch näher und sein Gähnen stieß Lucius gegen den Hals. Der sog den Geruch von Xaves’ Haaren ein, der ihm so vertraut wie sein eigener war. Er atmete tief in die weichen Strähnen hinein und merkte, wie die Ruhe irgendwo in ihn zurückkehrte;

„Lass uns schlafen“, flüsterte er und tatsächlich hatte die Nacht sie beide schnell mit sich genommen.
 

~ * ~
 

Den nächsten Tag, Xaves’ Geburtstag, begann Lucius sehr früh. Er verließ das Bett, während der Junge noch schlief, und wollte Liz und Calia davon erzählen. Er war erschüttert, dass die beiden schon über den Geburtstag bescheid wussten; sie hatten schon ihre kleinen Pläne geschmiedet. Einen Moment lang bedrückte dies den Prinzen wieder, da er spürte, dass es noch mehr wichtige Dinge gab, die Xaves und er nicht teilten, doch schnell warf er diese Gedanken fürs erste von sich und beschloss stattdessen, den beiden Frauen zu helfen. Zum ersten Mal nahm er nun also an den Planungen für einen Geburtstag teil; er fand es erstaunlich, was die Leute alles bedachten, obwohl sie nur etwas sehr Kleines planten. Lucius hätte es gerne größer gestaltet, doch er wusste auch, dass seine Eltern es nicht erlauben würden. Also entschied er sich dazu, heute Nachmittag mit Xaves ganz weit weg zu reiten, nur sie zwei, und auch wenn sie dies oft taten, heute wünschte er sich noch mehr als sonst, Xaves auf einer riesigen Blumenwiese befreit lachen zu sehen. Sie würden mit aller Kraft die Schwärze der letzten Nacht von sich schütteln.
 

Alles mit Calia abgesprochen, huschte er wieder zu seinem Schlafgemach hinauf. Er hoffte, dass Xaves noch immer schlief, doch der Junge empfing ihn mit offenen Augen. Er hatte schon wieder begonnen, aufzuräumen. Lucius zog ihn vom Schrank zurück in seine Arme.

„Herzlichen Glückwunsch!“, sagte er hier und presste den Körper, der noch immer schmächtiger als sein eigener war, dafür aber um einiges stärker, an sich.

Xaves schien sich zu freuen, zumindest verriet dies seine Stimme, als er sich bedankte.

„Hast du jetzt einen Wunsch?“ Lucius sah ihn erwartungsvoll an.

„Nein.“

Lucius verdrehte die Augen. „Komm mit!“

Er zog den Jungen mit sich. Hand in Hand rannten sie die Treppen hinab, Xaves stolperte dabei beinahe und Lucius fing ihn lachend auf. Dann liefen sie weiter und obwohl es gar kein so langer Weg war, kamen sie prustend bei der Küche an. Lucius schob den Blonden durch die Tür und sofort begann das Lied, welches schon lange geplant gewesen war. In der Mitte des Raums, auf einer notdürftig hergerichteten Tafel, standen Unmengen an Schüsseln und ein paar kleine Geschenke lagen dazwischen. Xaves stiegen Tränen der Rührung in die Augen, das sah Lucius, als er ihn von der Seite betrachtete, und es freut ihn sehr. So voller Liebe war für ihn noch nie gesungen worden, doch er beneidete Xaves nicht, sondern er freute sich und wünschte, sein Freund könnte diesen Augenblick noch einen Moment länger genießen.

Doch das ging nicht, denn der Tag der Bediensteten musste weitergehen. Nur Liz und Calia hatten ihre Aufgaben ein wenig verteilt, so dass sie sich an den Seiten der kleinen Tafel niederlassen konnten. Lucius blieb neben Xaves stehen, der sich zögernd auf den Schemel setzte. Der Junge schielte zu Lucius hinauf, doch als dieser nur grinste, schien er beruhigt zu sein.

Es waren wirklich keine besonderen Geschenke, die Xaves auspackte, doch er freute sich über jedes einzelne mehr als Lucius sich je über seine gefreut hatte. Außerdem genoss er die Frühstücksspeisen, welche in den Schüsseln auf ihn warteten, und welche er auch Lucius probieren ließ. Dieser kostete sie fröhlich und hatte gleichzeitig ein komisches Gefühl, weil keines der Päckchen von ihm gewesen war. Aber was hätte er dem Jungen schenken können? Er wusste es wirklich nicht. Er hatte noch nie ein Geschenk gemacht; er wusste gar nicht richtig wie das ging.

So also genoss er einfach die fröhliche Stimmung in der Küche, bis seine Mutter ihn rufen ließ und er sofort wusste, dass irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Aus dem Grunde wollte er auch zunächst nicht zu ihr gehen. Er ergriff Xaves’ Hand und hielt sie fest; der Junge sah ihm in die Augen und lächelte. Da verspürte Lucius mit einem Mal ein unheimliches Bedürfnis danach, Xaves hier und jetzt zu küssen. Es verwirrte ihn dermaßen, dass er die Hand zurück riss und aufsprang. Schnellen Schrittes entfernte er sich mit hochroten Wangen. So war er gar nicht wirklich bereit dazu, seinen Eltern unter die Augen zu treten.
 

„Was ist heute in der Küche los?“, wollte die Königin wissen, als er dann schließlich doch vor ihr stand. Sie musterte ihn mit scharfen Augen und ihm fielen die Unterschiede zu dem Blick auf, den Calia gestern noch Xaves geschenkt hatte. Der Blick hatte ihm besser gefallen.

„Xaves hat Geburtstag“, erklärte er nun einfach stur. „Wir feiern.“ In seinem Bauch wirbelte noch immer das merkwürdige Gefühl herum, welches er soeben Xaves gegenüber empfunden hatte. Er konnte sich nicht wirklich auf etwas anderes konzentrieren.

„Ihr… feiert?“ Der König verschluckte sich fast an seinem Frühstück und prustete empört los.

„Junge, das geht nicht! Ihr könnt doch nicht-“

„Doch!“, fauchte Lucius ihn an, was er schon lange nicht mehr getan hatte. Gerade konnte er sich jedoch nur sehr schwer zu irgendwas kontrollieren. „Wir können! Nur heute, das hat er verdient, immerhin hast du seine Eltern umgebracht!“

Es war mit einem Schlag so still im Raum, dass man wohl einen einzelnen Halm Stroh hätte fallen hören können. Von einer zur anderen Sekunde lief der König vor Wut rot an, doch auch Lucius sah nicht minder wütend aus. Er hatte den Ausspruch gemacht, ohne darüber nachgedacht zu haben, doch mit einem Mal wurde ihm klar, dass er die Worte schon lange einmal hatte sagen wollen. Er hatte den Vorwurf schon seit Monaten auf der Zunge getragen.

„Raus!“, donnerte der König im nächsten Augenblick und seine Stimme klang bedrohend, wie vielleicht noch nie zuvor. „Ich will dich heute nicht mehr sehen!“

„Nichts lieber als das!“

Und damit machte Lucius auf dem Absatz kehrt und stampfte durch die großen Türen hinfort. Die Wut, welche er im Herzen trug, hätte er nicht greifen können. Zu mächtig war sie und das, obwohl ihm nicht klar gewesen war, dass sie überhaupt existiert hatte.

Um eine Ecke herum stieß er mit Xaves zusammen. Der sah sofort, dass etwas nicht in Ordnung war, doch Lucius wollte nicht darüber sprechen.

„Lass uns ausreiten“, sagte er stattdessen und lief weiter.

Xaves folgte dem Prinzen nur schnell, verwirrt durch die Wut, welche er in den Augen lodern sah. Er verspürte das Bedürfnis, nach der bebenden Hand zu greifen und ihn zu beruhigen, aber er glaubte auch, dass es nun besser war, Lucius einfach wütend sein zu lassen; Xaves wusste ja nicht, was vorgefallen war und vermutlich war es gut, dass er es nicht wusste, denn sonst hätte er sich noch größere Vorwürfe gemacht als die, welche ohnehin bereits seit Minuten durch ihn zogen. Er wusste doch sehr wohl, dass sein Geburtstag vom Prinzen nicht gefeiert werden sollte; dennoch konnte er nicht darum herum, ein wenig Glück im Herzen zu spüren und seinen Eltern zuzuflüstern, dass er froh war, an diesem Tag bei diesem Jungen sein zu können; in diesem Moment würde er alles dafür tun, also folgte er nun auch einfach, ohne Fragen zu stellen.

Lucius’ Weg führte zunächst in die Küche, aus der er einen Korb mit Essen holte, welchen er schon am Morgen bei Calia bestellt hatte, dann zogen die beiden sich schnell um und sattelten Minuten später bereits die Pferde. Lucius war froh, als er endlich auf Calvaros Rücken steigen konnte und schnell trieb er ihn zum Galopp. Der Wind, der ihm nur Sekunden später kalt um die Ohren blies, tat dem Prinzen gut und er trieb das Tier immer schneller an, so dass Filena kaum Schritt halten konnte. Erst bei der wunderbaren Blumenwiese hielten sie an und Lucius fiel hinab ins Gras. Hier brüllte er, keine Worte, sondern einfach viele Laute heraus; seine Wut, der Xaves nur zuhören, sie aber nicht verstehen konnte. Aber er ließ den Prinzen schreien, dem dies gut zu tun schien und nur Minuten später richtete sich der aufgebrachte Junge auch schon grinsend auf, als sei nichts geschehen.

„So!“, sagte er und streckte die Arme zu Xaves hinauf. „Komm her! Jetzt haben wir einen wunderschönen Tag!“
 

Es wurde wirklich ein wunderschöner Tag, an dem beide Jungen ihre Gedanken nicht mehr um unschöne Dinge kreisen ließen. Sie lachten die ganze Zeit und genossen die Sonnenstrahlen wie nie zuvor. Alle Laster warfen sie von sich und waren einfach zwei ganze normale Junge, zwei Freunde, wie sie enger nicht hätten sein können. Am Abend dann schliefen die erschöpft, doch glücklich im Arm des anderen ein.

Liz war es, die anschließend in das Zimmer schlich und die größte Unordnung beseitigte, den leeren Korb mitnahm und zuletzt Stirn runzelnd einen besorgten Blick auf die schlafenden Körper warf. Sie dachte daran, wie gut es war, dass das Königspaar die Gemächer des Prinzen nie betrat, denn auch wenn Lucius sicher glaubte, die Situation ganz einfach erklären zu können, so wäre ihm dies nicht möglich gewesen. Denn auch ohne die beiden Kinder so eng verbunden zu sehen, planten die Eltern bereits, Xaves ab sofort ein eigenes Zimmer zuzuweisen. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn sie diese so selbstverständlich aneinander geschmiegten Körper gesehen hätten.

Deine Distanz zu mir

Der Prinz traute seinen Ohren nicht, als er von den bereits beschlossenen Plänen erfuhr, und als sie ihm ein zweites Mal dargelegt wurden, explodierte er. Zwar war das Zimmer, welches nun Xaves’ werden sollte, gerade einmal durch den Flur von seinem eigenen getrennt, aber trotzdem wollte Lucius von so einer räumlichen Trennung einfach nichts hören. Von seinem Protest allerdings wollten die Eltern nichts hören, denn das Thema war schon besiegelt; alle Sachen, welche man irgendwie Xaves zusprach, wurden bereits im Augenblick des Gesprächs in das entsprechende Zimmer hinübergebracht.

Lucius schäumte vor Wut, während er hinauf stürmte und die Bediensteten zwischen den Räumen vorfand; einem schlug er ein Bündel Kleider aus den Händen und schrie ihn an, bis Xaves dazu kam und ihn mit sich zog.

„Lass es sein!“, sagte der junge Diener energisch. „Es hat keinen Zweck!“

„Aber sie können doch nicht einfach-“

„Doch, sie können.“ Die Freude des Vortages war aus Xaves’ Gesicht bereits vollends gewichen.

Lucius wollte weiter protestieren, doch Xaves hielt ihn davon ab, schüttelte sanft den Kopf und nahm ihn bei der Hand, dort, wo sie keiner sehen konnte.

„Es ist doch nur der Gang dazwischen“, lächelte er sanftmütig. „Und am Tag sind wir doch immer zusammen.“

„Am Tag?“ Lucius horchte auf. „Willst du etwa…“ Er machte große Augen und sprach nicht zu Ende. Verwirrt schüttelte er Xaves‘ Hand ab. Er sah seinem Freund in die Augen und spürte mit einem Mal eine riesige Enttäuschung; keine Wut mehr wie zuvor, sondern ein namenloser Schmerz.

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, dreht er sich um und lief davon. Erst bei Calvaro angekommen blieb er wieder stehen, öffnete die Box und führte den Hengst hinaus. Noch während er auf das sattellose Pferd aufstieg, hörte er Xaves rufen, doch es war ihm gleich und er trieb Calvaro zum Galopp. Schnell schon hörte er keine Stimmen mehr.
 

Lucius ritt nicht zur Wiese und auch sonst an keinen der üblichen Orte, da er nicht gefunden werden wollte. Irgendwo weit weg ließ er sich aus dem Sattel hinunter, zog seine Schuhe aus und vergrub seine Zehen im Sand. Er hatte das Bedürfnis, wie am Vortrag laut zu schreien, doch er fürchtete, dass Xaves in der Nähe sein könnte, ihn dann hörte und finden würde. Also biss er sich auf die Lippe und versuchte, das Gefühl zu verschlucken, den Ärger, die Wut, die Enttäuschung. Letzteres konnte er noch nicht mal genau benennen, auch wenn er tief in sich wusste, was der Grund dafür war: Selbst noch als er wütend das Zimmer der Eltern verlassen oder dem Bediensteten das Kleiderbündel aus der Hand geschlagen hatte, war er davon überzeugt gewesen, dass Xaves auch weiterhin nachts neben ihm liegen würde. Zwar machte es ihn rasend, dass seine Eltern dem Jungen ein eigenes Zimmer zusprachen, nur um Distanz zwischen ihnen zu schaffen, doch er hatte nicht geglaubt, dass Xaves sich an die räumliche Trennung hätte halten wollen. Nicht einen Augenblick hatte er selbst dies auch nur in Erwägung gezogen; Xaves hingegen schien es nicht sonderlich zu stören.

Lucius brüllte nun doch laut in die Bäume, da ihn seine Wut aufzufressen drohte. Vielleicht hoffte er sogar, Xaves würde ihn hören, doch wenn dem so war, dann kam er nicht zu ihm, denn bis zum Abend, bis es dunkel wurde und Lucius unerträglichen Hunger verspürte, blieb er mit Calvaro allein. Dann erst ritt er langsam zurück, keine Lust darauf, irgendwem unter die Augen zu treten, doch natürlich sah er schon von weiten Leuten, die nach ihm suchten. Auch sie entdeckten ihn schnell und Liz schloss ihn erleichtert in die Arme, als er in Calvaros Box endlich hinabstieg. Nur Xaves war nirgends zu sehen, was Lucius sehr schmerzte. Heimlich hatte er gehofft, der Junge würde in der leeren Box warten.

Traurig und noch enttäuschter als zuvor folgte er Liz hinein, welche ihm etwas zu essen warm machte. Trotz des Hungers hatte er nun keinen Appetit mehr und trieb sich nur ein paar Bissen hinunter. Nach Xaves fragt er nicht und der Junge tauchte auch nicht auf, selbst nicht, als Lucius vor seiner eigenen Zimmertüre stand und zu der anderen, geschlossenen hinübersah. Einen winzigen Moment lang verspürte er das unerträgliche Bedürfnis, hinüberzugehen, doch er zwang sich, es nicht zu tun. Er verkrampfte seinen Körper und unterdrückte die bittere Enttäuschung, auch wenn sie in schweren Worten dennoch aus ihm hervordrangen.

„Ich hasse dich!“, sprach hier der kindliche Trotz aus ihm und dann schlug er die eigene Tür hinter sich zu, nicht ahnend, dass die Worte zu laut gesprochen waren, um vom Holz der Tür aufgesogen zu werden. Dies gab sie gedämpft weiter und sie fanden Ohren, für welche sie nicht wirklich bestimmt gewesen waren. Hier hinterließen sie Schmerz und Trauer, Kälte und Einsamkeit, während es dem Prinzen indes die Tränen aus den Augen trieb und er sich alleine in seinem Bett vergrub. In dieser Nacht hatte er zum ersten Mal seit über einem Jahr wieder einen Albtraum.
 

Wie der gute Diener, der er sein sollte, klopfte Xaves am nächsten Morgen an die Tür des Prinzen. Er hatte minutenlang davorgestanden und das Holz betrachtet, mit sich gehadert, da er nicht glaubte, dass er es über sich bringen würde, Lucius zu sehen. Er hatte kaum geschlafen in der Nacht und sich schon lange nicht mehr so sehr nach seinen Eltern gesehnt. Er weinte viel und verfluchte sich dabei für jede einzelne Träne. Er wusste, was seine Pflichten waren, was er durfte und was er lassen sollte; er wusste, dass er nicht fühlen durfte, wie er es tat, und er wusste auch, dass er dennoch nichts daran ändern könnte.

Zudem durchdrangen die drei Worte der Bitterkeit seinen Geist immer wieder, er hatte sie die ganze Nacht in ihrer Kälte nicht abschütteln können, wie sehr er sich auch sagte, dass sie nicht so gemeint gewesen waren. Er hatte sich nicht davon überzeugen können, zu genau sah er noch den Blick vor sich, der sie meilenweit trennte, bevor Lucius weggerannt und den ganzen Tag nicht wieder aufgetaucht war. Xaves hatte ewig in Calvaros Box gewartet, bin ihn Liz überredet hatte, endlich reinzugehen. Nun bereute er dies sehr, obwohl er nicht wusste, ob es einen Unterschied gemacht hätte. Noch immer sah er vor sich, was in den sonst so liebevollen Augen geblitzt hatte und was es ihm jetzt so schwer machte, die Hand gegen das Holz zu erheben. Und dennoch tat er es, da er sich seiner Pflichten und den Befehlen besann.
 

Drinnen war der Prinz schon lange wach, als das leise, gar schüchterne Klopfen erklang. Er hatte seit geraumer Zeit durch das Fenster in den Himmel gestarrt, hatte sich gefragt, was nun wohl mit ihnen passieren würde. Er wusste keine Antwort, da er sich bisher sicher gewesen war, dass sie nichts trennen würde. Nun war es doch geschehen, durch eine winzige Kleinigkeit, die er doch nicht von sich schütteln konnte.

Als es klopfte, schloss der Prinz fix die Augen und stellte sich schlafend; er war noch zu keiner Entscheidung gekommen und wusste nicht, wie er diesen Tag beginnen sollte.

Lucius hörte die zaghaften Schritte, welche zu seinem Bett kamen; er spürte auch, wie sich die Matratze ein wenig bewegte und dann spürte er unerwartet die warme Hand auf seiner Schulter. Sein Zucken verriet deutlich, dass er schon wach gewesen war; Xaves wich sofort zurück.

„Guten Morgen“, flüsterte er und als Lucius ihn ansah, hatte der Junge den Kopf tief gesenkt. Nicht einmal seine Wimpern waren erkennbar.

Dem Prinzen blieb der Mund offenstehen; er brachte einfach keine Antwort zu Stande, zu sehr verletzte ihn dieser ergebene Anblick des Freundes. Noch schlimmer war allerdings, dass Xaves schon wieder die Robe der Bediensteten trug, ein Anblick, der Lucius einfach nur zuwider war.

Als keine Erwiderung kam, drehte Xaves sich um und ging zum Schrank. Er verbot sich selbst, sich traurig zu fühlen, holte Kleider heraus und half Lucius, der nur widerwillig aufstand, in sie hinein. Dabei sahen die beiden einander nicht an, doch kurz bevor Xaves sich wegdrehte, konnte Lucius erkennen, dass die blauen Augen gerötet waren. Auch etwas, das er seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen hatte; auch etwas, das ihn schmerzte. Instinktiv streckte er die Hand aus und wollte nach der des anderen greifen, doch bevor sie ihn berühren konnte, zog er sie auch schon wieder zurück. Er war doch sauer, fiel ihm ein, er war enttäuscht. Also stampfte der trotzige Junge ins Bad und schlug laut die Tür hinter sich zu. Er hinterließ einen bleichen Xaves, der sich seit einem Jahr nicht mehr so einsam gefühlt hatte.
 

Die beiden Jungen gingen einander den ganzen Tag über mehr oder minder aus dem Weg, obwohl sie doch die meiste Zeit beieinander waren. Sie sahen sich nicht an, berührten sich nicht, und lediglich der Prinz sagte dann und wann ein paar Worte, um seinem Diener Anweisungen zu geben; eine weitere Sache, welche seit so langer Zeit nicht mehr vorgekommen war. Xaves, natürlich, tat all das, was von ihm verlangt wurde, ohne sich ein einziges Mal dazu zu äußern. Welchen Ausdruck er dabei auf dem Gesicht trug, konnte Lucius nie erkennen, da der Junge ihm seinen Rücken bei jeder Gelegenheit zudrehte. Dies führte nur dazu, dass er ihm etwas Neues auftrug, immer in der Hoffnung, irgendwelche Reaktionen zu erhalten; doch sie blieben aus, stur, den ganzen Tag lang.

Am Abend hatte Lucius das Bedürfnis, Calia zu fragen, wie es Xaves wohl ginge, doch als er vor ihre stand, war er zu stolz; ebenso wie er zu stolz war, den Jungen selbst zu fragen. Er war an einen Punkt gelangt, an dem er es nicht einsah, weshalb er den ersten Schritt gehen sollte. Also ließ er sich zum ersten Mal seit einer langen Zeit wieder alleine ins Badewasser nieder und befahl Xaves, für ihn zu singen, da er die Stille nicht ertragen konnte. Die Stimme aber, die er hörte, machte es nur noch schwerer; sie war emotionslos und Lucius schloss die Augen, denn er wollte weinen; es kostete ihn alle Mühe, es nicht zu tun. Hätte er bloß den Kopf gedreht und Xaves in diesem Augenblick ins Gesicht gesehen, so hätte er dort dieselben Tränen wiederfinden können.

Das Bad beendet, stieg Lucius nur zögernd ins Bett hinein. Mehr als eine Sekunde lang hatte er das Bedürfnis, die Decke zu heben, so dass der andere Junge darunter kriechen könnte, doch da war Xaves schon an der Tür, wünschte eine gute Nacht und ließ ihn allein. Und so war die Not nur noch größer, nicht in Tränen auszubrechen, und Lucius verfluchte seine Eltern, Xaves, sich selbst. Der Schlaf übermannte ihn irgendwann zwischendrin, während eine Türe weiter verbotene Tränen ins Kissen flossen.
 

~ * ~
 

Es ging weiter, so, auf diese Weise, jeden Tag von da an. Morgens schlich Xaves sich in des Prinzen Zimmer hinein und fast jedes Mal war Lucius schon wach, wenn die Tür sich leise öffnete. Mit der Zeit lernte er, nicht mehr zusammenzuzucken, wenn die Hand des Jungen ihn zärtlich berührte. Dann streichelte sie sanft seine Wange oder fand seine Haare; meist war sie warm und die Berührung war unglaublich angenehm. Und so sehnte Lucius jeden Morgen den Moment herbei, in dem die Matratze sich senken würde und Xaves ihm sanft über die Schulter strich, oder über die Stirn dann und wann, manchmal das Ohr und selten eine Augenbraue. Jedes Mal hatte er dann das Bedürfnis, diese Hand zu ergreifen, festzuhalten, den Jungen zu sich unter die Decke zu holen; doch er widerstand dem Drang mit jedem Tag erneut, denn sein Stolz wuchs, mit jedem Tag mehr.

Abgesehen von dieser morgendlichen Begegnung, welche sie beide als eine Art Rettungsanker nutzten, um nicht vollends verrückt zu werden, berührten sich die beiden Jungen nur dann noch, wenn es um das An- und Auskleiden ging. Eigentlich wollte Lucius sich hier gar nicht helfen lassen, doch gleichzeitig konnte er Xaves auf diese Weise nahe sein; das wollte er doch noch immer so sehr.

Irgendwann wurde Lucius bewusst, dass er wieder ebenso einsam war wie vor seinem 13. Geburtstag, vor Xaves‘ Ankunft. Wie hatte er es damals bloß ertragen, so alleine zu sein?

Das, was in ihm vorging, sprach der Prinz natürlich nie aus, sondern versuchte stattdessen in den winzigen Momenten einen Blick zu erhaschen aus den blauen Augen, denn auch dies war selten geworden, sehr, sehr selten. Wenn der Junge ihn aber ansah, waren die Augen gerötet, übermüdet, traurig. Aus ihnen sprach das, was er selbst spürte, und dennoch schlang sich Stolz und Trotz immer weiter um ihn herum.

Sie ritten immer noch gemeinsam aus, wenn auch nicht so oft wie zuvor und oft weit auseinander. Schweigend im Stall alleine striegelten sie ihre Pferde oder misteten die Boxen aus. Lucius versuchte dann immer der Stimme zu lauschen, welche sanft mit Filena sprach, doch selten verstand er auch nur ein Wort. Alleine aber das unverkennbare Flüstern zu hören, tat ihm irgendwo ganz innen gut, denn er vermisste die Stimme, die er kaum noch hörte; morgens beim Wecken vielleicht oder im kurzen Gespräch mit einem anderen Bediensteten, doch vergleichbar mit früher war dies nichts; es gab so viele Tonfälle, welche er bereits wieder vollkommen vergessen hatte, egal wie sehr er sich daran zu klammern versuchte. Mehr aber noch vermisste er das Lachen, welches ihm immer weiter entglitt. Er kannte den Klang kaum noch und es schmerzte ihn, wenn er daran dachte, dass Xaves nun wohl nur noch mit seinesgleichen in der Küche lachte. Es fehlte ihm so sehr, doch er wagte nicht, dies auszusprechen.

Mit jedem neuen Tag, der anbrach, quälte Lucius die Frage mehr, weshalb Xaves nicht einfach zu ihm kam, mit ihm sprach wie früher. Wieso sagte der Junge nicht einfach, dass es ihm leid tat? Dann würde Lucius ihn umarmen und festhalten und vielleicht nie wieder loslassen. Natürlich würde er ihm verzeihen und er würde ihm sagen, wie sehr er ihn vermisst hatte. So sehr wünschte er es sich; dass es aber vielleicht gar nichts gab, wofür Xaves sich hätte entschuldigen können, darüber dachte er in seiner Jugend nicht nach. Auch nicht darüber, dass seine unbedachten, trotzigen Worte, welche nie für das Ohr des Jungen bestimmt gewesen waren, dieses wohlmöglich dennoch erreicht hatten. Seinen kindlichen Ausspruch, welchen er doch nicht einen Augenblick lang so gemeint und mittlerweile bereits vollkommen vergessen hatte; niemals hätte er gedacht, dass gerade er der Grund dafür war, dass Xaves eben das tat, was er tat: nichts.
 

Es wurde Winter und die eisige Stimmung zwischen den Kindern hielt an. An den besonders eisigen Tagen übertrug sie sich auf die meisten Gestalten der Residenz; sie alle konnten den jungen Prinzen nicht leiden sehen, wussten jedoch auch, dass sie nichts daran hätten ändern können. Besonders Liz und Calia machte die Situation zu schaffen; beide Frauen hatten das Bedürfnis, zu helfen, zu vermitteln, doch jeglicher Versuch, den sie starteten, wurde sofort im Keim erstickt, war er nun an Lucius oder an Xaves gewandt.

Auch das Königspaar bemerkte natürlich die gereizte, traurige Stimmung zwischen den Jungen, doch ihnen war sie nur rechtens. Das Band, welches sie nicht hatten sehen wollen, schien zerrissen und statt ihm zu helfen, verschlossen sie die Augen davor, wie sehr ihr Sohn litt.

Dieser quälte sich Nacht um Nacht im Bett damit, dass er nicht einschlafen konnte. Erst hatte er gedacht, dass es irgendwann einmal vergehen würde, doch dem war nicht so; er fand einfach keinen Schlaf, wünschte sich den warmen Körper herbei, an den er sich schmiegen konnte, und fror schließlich in wirren Träumen die ganze Nacht hindurch.

Irgendwann, ein paar Tage nach Anbruch des neuen Jahres, war wieder eine dieser Nächte, die endlos zu dauern schienen. Nur die Sterne schenkten ihm eine gewisse Beruhigung, doch nicht genug, um ihn in den Schlaf zu wiegen. Also stand er auf, irgendwann, schlüpfte nur in ein Hemd hinein und verließ sein Zimmer leise. Die Treppen hinab fand er im Dunkeln und als er ins Freie trat, empfing ihn der leuchtende Schnee. Lucius glitt mit den nackten Füßen hinein und erschauderte sogleich; nicht aber so arg, um zurück zu weichen, sondern nur so sehr, dass er seinen Körper genau spüren konnte; etwas, dass er seit Wochen vermisste.

Bereits bitterlich zitternd setzte er nun die Füße voreinander und trieb sie durch den Schnee. Erst spürte er noch, wie dieser unter seinen Zehen schmolz, doch bald funktionierte dies nicht mehr. Dann hob er etwas Schnee mit den Händen auf und ließ ihn in den Fingern zu Wasser werden. Sein Blick glitt zum klaren Sternenhimmel hinauf und er fragte sich, noch irgendwo bei Sinnen, was er hier eigentlich tat. Doch es brachte ihn nicht dazu, umzukehren, sondern er ging weiter, bis zum Stall hin.

Der kalte Stein unter seinen Füßen fühlte sich wärmer an als der Schnee und war fast ein Genuss. Langsam schlich er, mit der Hand an der Wand entlang, durch den dunklen Gang und wusste nur zu gut, dass er bereits die Box Calvaros hinter sich gelassen hatte. Er öffnete stattdessen die Verriegelung von Filenas Box und trat hier auf das Stroh, das unter seinen Füßen warm knisterte.

Die Stute empfing ihn mit einem fragenden Schnauben, er griff vorsichtig nach ihrer Schnauze und drückte dann seinen Kopf gegen ihre Blesse. Ihre Wärme drang sofort in ihn hinein und das Pferd musste spüren, wie kalt dem Kind war, denn es sank hinab auf den Boden und ließ zu, dass der Prinz sich gegen den warmen Bauch kauerte, den Hals unentwegt streichelte und hier zu weinen begann. Im Gegensatz zu Xaves hatte er bereits seit langer Zeit keine Tränen mehr vergossen; sie hätten alles nur so viel wahrer gemacht.

Obwohl Filena warm war, gar heiß, fror Lucius noch immer und zitterte stark, denn durch die offene Stalltür trat der nächtliche Winterwind auch hier an ihn heran. Die Tränen brannten auf seiner Haut und er blies seinen eigenen heißen Atem gegen das geduldige Tier. Zärtlich begann er, die Mähne zu kraulen und dann sprach er auf die Stute ein.

„Was erzählt er dir?“, fragte er traurig. „Schimpft er über mich? Sagt er, dass er weg will?... Hm?“

Er drückte sein Gesicht gegen das des Tieres und wünschte, es könne ihm diese Fragen beantworten; und auch wenn er wusste, dass dies nicht ging, so stellte er doch weitere. Ob Xaves böse auf ihn sei, ob er ihn nun hassen würde, bereute, hier zu sein. Ob es vielleicht besser wäre, wenn er einfach verschwände, damit seine Eltern für den Jungen nichts mehr zu tun hätten und ihn in die Freiheit schicken würden.

„Wäre das besser?“, fragte er traurig und die Kälte griff einmal mehr nach ihm. „Soll ich verschwinden?“

Wie du mich wärmst

Als Lucius erwachte, war er nicht mehr im Stall, lag nicht mehr im Stroh neben Filena. Erschrocken fuhr er in die Höhe, erkannte sein eigenes Zimmer jedoch sofort. Also war es nur ein Traum gewesen, dachte er, und er sank zurück in die Kissen, nicht sicher, ob er das als gut ansehen sollte. Er wollte sich, da er nun fror wie zuvor im Stall, in sich zusammenrollen, als er auf etwas Warmes in seinem Weg stieß. Sofort riss er nun wieder die Augen auf und da lag Xaves vor ihm, bei ihm, direkt neben ihm. Ganz instinktiv wich er zurück und diese Bewegung war es wohl, die den anderen Jungen erwachen ließ. Dieser blinzelte schläfrig, so wie er es früher immer getan hatte, doch dann lächelte er nicht wie zuvor, sondern wich selbst ein Stück rückwärts, legte die Stirn in tiefe Falten.

„Entschuldige“, flüsterte er und senkte den Blick.

Er wollte schon zurückweichen und es war klar, dass er das Bett verlassen würde, doch Lucius trieb sich noch im letzten Moment dazu, nach der Hand zu greifen, welche er seit langer Zeit nicht mehr berührt hatte. Nun, da er sie hielt, umklammerte er sie gar, bereit, sie, wenn nötig, nie mehr loszulassen. Er hatte nicht realisiert, wie sehr er diese Berührung tatsächlich vermisst hatte; nun schien alleine sie seinen gesamten Körper mit Wärme zu erfüllen.

Die Finger des Dieners aber verweilten trotz der festen Berührung steif. Noch immer war er bereit dazu, aus dem Bett zu flüchten; sein Verstand kam der plötzlichen Veränderung nicht hinterher. Ganz zaghaft hob er den Blick, um in die Augen des Prinzen zu sehen, doch er konnte sie nicht erkennen, da sie ihre Hände betrachteten.

„Was machst du hier?“, krächzte Lucius schließlich, als er sich endlich fähig dazu fühlte, doch er erkannte, dass es kaum seine eigene Stimme war. Er musste husten und das schmerzte ihm höllisch im Hals. Sofort griff Xaves vorwärts und drängte ihm die Decke um die Schultern, zumindest so gut es ging, denn noch immer ließ der Prinz die Hand nicht los.

Die Frage hingegen beantwortete Xaves nicht, nun, da sie sich wieder näher waren und sich in die Augen blickten. Lucius stellte sie erneut, ruhiger, leiser. Es tat wieder weh, doch das war nicht wichtig. Er umklammerte die Hand fester.

„Du bist raus gegangen“, flüsterte Xaves schließlich. „Erst dachte ich, du gehst nur zur Küche, aber dann bist du nicht zurückgekommen… ich… ich hab’ mir Sorgen gemacht… und dann waren da Spuren im Schnee… Calia und ich… wir haben dich… du warst bei Filena… Ich…“

Auf einmal zitterte der Körper stark, das schöne Gesicht verzog sich schmerzlich; dies erschreckte Lucius sehr. Er griff die Hand nochmals fester, nun mit beiden Händen, während er sich klar wurde, dass es doch kein Traum gewesen war. Zu deutlich war die Angst in den Augen Xaves’ erkennbar, welcher seinen Prinzen zitternd im Stroh gefunden hatte.

„Calia…. hat dich… hochgebracht…“, bebten die Lippen des Jungen nun, „aber du bist nicht… du hast gefroren… immer noch… immer stärker… und ich… darum hab’ ich…“

Er zog an seiner Hand, doch Lucius ließ sie nicht los.

„Darum bist du hier?“, fragte er stattdessen mit schmerzender Stimme.

Der Diener nickte seinem Prinzen zögernd zu. Wie sehr hatte er sich hier an ihn geklammert, um ihn wenigstens etwas wärmen zu können.

„Menschen sind warm… daher dachte ich… ich meine…“

Lucius’ Arme griffen vor, ehe er dies selbst überhaupt wirklich begriff. Und er zog den bebenden Körper an sich heran, der sich sofort versteifte in seinen Armen.

„Was… tust du da?“, stemmte der Junge sich gegen Lucius’ Brust.

„Menschen sind warm, sagtest du doch.“ Der Prinz vergrub seine Nase in dem blonden Haar. Er hatte den Geruch vermisst; erst jetzt wurde ihm klar, wie sehr überhaupt. So tief er konnte sog er ihn nun in sich hinein.

„Ja?“

„Und ich friere“, erklärte Lucius, tiefer einatmend. „Ich friere schon seit Monaten.“

Es war, als würde in diesem Moment das Eis um sie herum brechen, in ihnen drinnen. Xaves’ Arme drängten nun ebenfalls vor und wie zwei Ertrinkende umgriffen sie einander mit einem Mal, hielten sich fest, vergruben ihre Finger im Haar des anderen, in dessen Rücken, an dessen Körper. Und sie weinten, beide jetzt, als sei es ihnen plötzlich möglich, den Schmerz zu teilen. Xaves schluchzte heftig; ihm waren noch immer Tränen übrig, die aus den Augen quellen konnten; die Trauer war doch keinen Tag von ihm gewichen.

Die beiden Jungen begriffen nur langsam die Verzweiflung des anderen, je heftiger sie sich festhielten. Sie hatten bloß die eigene gespürte, jeden Tag und jede Minute, doch nie hatten sie gewusst, wie es im anderen Herzen zugegangen war. Sie hätten es nicht einmal ahnen können, doch nun ergriff sie die Wahrheit und so fanden sich ihre Hände unter der wärmenden Decke; sie hielten einander fest, streiften die Haut, als sei sie ihnen fremd geworden. Sie berührten das Gesicht des anderen und die erhöhte Körpertemperatur Lucius’ schien auf Xaves überzugehen, während sie vermisste Ecken und Kanten erneut erkundeten, während sie die Augen ineinander versenkten und während ihre Lippen sich fanden, ganz instinktiv und selbstverständlich.

Kaum war dies jedoch tatsächlich passiert, riss einer der Jungen die Augen auf. Und er stieß den anderen von sich; schnell und überschwänglich, erschrocken und keuchend. Er fuhr zurück im Bett, verließ dieses und verbeugte sich tief davor, noch immer oder wieder Tränen auf den Wangen, da er sich sicher war, in diesem Augenblick den größten Fehler seines Lebens begangen zu haben.

Lucius aber war verwirrt, als er Xaves so sah, als er ihn nicht mehr mit den Händen greifen konnte, seine Lippen sich aber doch wärmend erinnerten, dass es wirklich geschehen war. Er erinnerte sich auch an den lange vergangenen Moment in der Küche, als er eben dies hatte tun wollen, oder an den winzigen Augenblick am Morgen seines Geburtstages, als sie einander bereits einmal derartig berührt hatten. Und er begriff in diesem Moment, dass es etwas war, das er sich schon lange gewünscht hatte. Wieso also erzitterte Xaves nun vor ihm, es war doch kein Fehler gewesen. Was trieb den Jungen nun von ihm fort?

„Xaves…“, rutschte er näher an die Bettkante heran.

Der blonde Junge wich sofort noch weiter zurück, verbeugte sich noch tiefer und zitterte wie Espenlaub.

„Es… es tut… mir leid!“, stotterte er und weinte schrecklich. „Das war… ich wollte nicht…“

Lucius aber stieg nun auch aus dem Bett heraus und streckte die Arme nach dem Körper. Der, die Berührung spürend, wehrte sich und kämpfte; und der Junge bettelte noch immer um Vergebung, sagte, dass er es nicht hatte tun wollen, dass es ein Fehler gewesen sei.

„War es nicht“, sagte Lucius nun endlich und hielt Xaves’ Gesicht mit beiden Händen vor das eigene. „Verstehst du? Du hast nichts falsch gemacht!“

Und dann küsste er den Jungen, fest und gierig, wenn gleich auch unbeholfen, da er nicht wusste, wie man so etwas tat. Er hatte es nie üben können, nie wirklich gesehen, und auch eigentlich nie erdacht, doch das war ihm gleich in diesem Moment, denn jetzt wollte er es einfach tun. Und es war ein unbeschreibliches Gefühl, als der andere Körper nachgab und zeigte, dass er genau diese Art der unbekannten Zuneigung auch immer hatte geben wollen.
 

Mitten in ihrem ersten richtigen Kuss war Lucius von einem Hustenanfall geschüttelt worden. Sofort war Xaves zurückgewichen, erschrocken dieses Mal aus anderem Grund. Er drängte den Prinzen rückwärts, bis dieser das Bett spüren konnte. Er legte den kranken Jungen hinein und wollte dann weg vom Bett, als eine Hand ihn hielt.

„Bleib…“, sagte Lucius schwach. Er begriff kaum selbst woher die plötzliche Erschöpfung kam.

„Ich bin gleich zurück, ich hol nur einen Lappen.“

„Ver… sprochen?“

„Ja.“ Sanft streichelte er dabei Lucius‘ Handrücken. „Versprochen.“

Erleichtert ließ dessen Hand ihn los und er zog dem Prinzen die Decke wieder über die Schultern. Dann huschte er ins Bad, erhitzte schnell eine kleine Menge Wasser und brachte diese in einer Schüssel mit einem Lappen zurück zum Bett. Vorsichtig kroch er unter die Decke, denn Lucius war bereits wieder eingeschlafen. Dennoch fuhr er ihm vorsichtig mit dem warmen Lappen über das Gesicht, den Hals, die Arme, welche kalt verschwitzt waren vor Anstrengung der Krankheit. Dann stellte er die Schüssel beiseite und glitt selbst wieder unter die Decke, kroch so nahe wie möglich an den erschöpften Körper heran und legte ihm einen Arm über die Brust. Im gleichen Moment schien Lucius dies zu spüren, denn er ergriff die Hand und hielt sie fest. Xaves’ Herz schlug fester und er verbarg sein Gesicht in den dunklen Haaren des Prinzen, verbarg hier Erleichterung und Freude. Kaum konnte er jetzt schon begreifen, was zuvor geschehen war, doch er wusste, dass er es nicht ertragen würde, wenn er morgen aus diesem Traum erwachte.
 

Als Lucius dieses Mal wach wurde, spürte er Xaves’ Körper direkt bei sich. Er lächelte und drehte sich ein wenig, zog sich näher und atmete tief den Geruch ein, den er so lange hatte entbehren müssen. Er hatte ihn bereits vergessen, stellte er nun fest; es war unglaublich, wie gut er nun seinem Herzen tat.

Die blonden Haare streichelte er sanft und er kämpfte mit der Müdigkeit, da er nicht wieder einschlafen, sondern diesen Moment, diese Nähe noch etwas weiter begreifen wollte. Und dann erwachte Xaves’ neben ihm und das erste, was Lucius in den Sinn kam, war die warmen Lippen zu küssen. Also tat er eben dies und sie schmiegten sich näher aneinander, gefangen in einem vollkommenen Moment der Einigkeit.

Der Moment jedoch verweilte nicht lange, da es bald schon an der Tür klopfte und die Jungen sich trennten. Xaves wollte sogar ganz vor ihm zurückweichen, doch Lucius hielt ihn bei sich fest, während Liz hineinkam und sich nach dem Empfinden des Prinzen erkundigen wollte. Der jungen Frau stockte einen Moment lang der Atem, als sie die Jungen so nah beieinander sah. Ein Teil in ihr freute sich, wusste sie doch, wie die beiden einander vermisst hatten, doch der Verstand sagte ihr auch, dass sie nicht gut war, diese Nähe. Sie führte in eine Richtung, die nicht einmal erdacht werden durfte.

„Es geht mir gut“, lächelte dann aber der Prinz ihr zu. Zwar erkannte man an seiner Stimme, dass es zumindest gesundheitlich nicht wirklich der Wahrheit entsprach, doch sie wusste auch, dass er diesen Ausspruch in eine andere Richtung tätigte. Also verschluckte sie die Worte, welche sie einen winzigen Moment lang erdacht hatte, und beschloss, die Jungen zumindest heute auf diese Weise beieinander liegen zu lassen. Sie erkannte in den Augen Lucius’, dass er genau das nun benötigte; wie hätte ausgerechnet sie es ihm nehmen können?

„Ihr solltet heute im Bett bleiben“, sprach sie also, an ihren Prinzen gerichtet, der daraufhin breit grinste und Xaves noch etwas näher an sich zog.

„Werden wir.“

Liz seufzte einmal, da die Stimme des Verstandes ihr doch nicht ganz entgleiten wollte, drehte sich dann aber um.

„Ich hole das Frühstück“, erklärte sie und verschwand, um zunächst die eigenen Gedanken wieder in den Griff zu bekommen.

Die Tür geschlossen sahen die beiden Jungen einander an.

„Ich… sollte ihr helfen“, erklärte Xaves zaghaft und wollte sich aus dem Griff des Prinzen befreien.

„Du kannst einen Kranken doch nicht so alleine lassen…“, sagte dieser jedoch nur und schmiegte seinen Kopf an die warme Brust. „Du musst den ganzen Tag bei mir bleiben.“

„Ich muss?“ Man hörte das Grinsen in der Stimme; es war Balsam für Lucius’ Seele. „Und wenn ich das freiwillig tue?“

„Das wäre noch viel schöner“, lächelte der Prinz und schloss nun die Augen. Er war zufrieden, glücklich und so schlief er auch schnell wieder ein, bevor Liz mit dem Essen zurück war.
 

Das Tablett stand noch immer unangetastet da, als Lucius das nächste Mal die Augen öffnete. Er konnte den Herzschlag Xaves’ spüren und schmiegte sich näher an den warmen Körper.

„Möchtest du etwas essen?“, kam es leise.

Er nickte schwach und beobachtete Xaves’ Finger, wie sie nach einer Frucht griffen. Er spürte den angenehmen Saft auf der Zunge, doch sein Hals kratzte, als er schluckte. Dann küsste er zärtlich Xaves’ Brust, was diesen zu erschrecken schien, denn die nächste Frucht fiel auf die Bettdecke. Schnell hob Lucius sie auf und griff mit den Zähnen danach, richtete sich auf und hielt das süße Obst dem hochroten Gesicht des Dieners hin. Dieser tastete zaghaft, doch dann nahm er die Hälfte entgegen, als Lucius weiter drängte und sie einander erneut gierig küssten. Lächelnd trennten sie sich bald wieder und Lucius spürte, dass ihm das Herz in der Brust sprang.

„Ich habe dich vermisst“, flüsterte er mit kratziger Stimme und verlor sich in den blauen Augen.

Xaves hingegen spürte mit einem Mal eine Frage auf der Zunge, welche er lange nicht hatte stellen können. Er hatte es nie verstanden und nun, da er die Gefühle und Sehnsucht des Prinzen spürte, verstand er es noch weniger.

„Weshalb bist du weggegangen?“, fragte er nun also.

Zunächst dachte er, er würde sich vielleicht erklären müssen, doch der andere Junge wusste sofort, welchen Moment Xaves meinte; wie hätte er es nicht wissen können, es war der Augenblick gewesen, in dem er Xaves’ Hand losgelassen und sie sich getrennt hatten.

„Das war… weil…“

Es fiel ihm schwer, die richtigen Worte zu finden. Wenn er nun an den Moment, Monate zuvor, zurückdachte, verstand er sogar, wie kindisch er sich verhalten hatte.

Hätten sie doch bloß damals miteinander geredet…

„Dein eigenes Zimmer…“, begann er schließlich nochmals anders, „es schien dich nicht… sehr zu stören, nachts nicht… hier zu sein…“

Es war ihm peinlich, hatte er doch heute in den blauen Augen gesehen, dass seine Annahme falsch gewesen war. Es musste Xaves damals ähnlich wie ihm ergangen sein, nachdem sie es erfahren hatten; wie hatte er nur einen Augenblick lang etwas anderes annehmen können?

„Es hat mich gestört!“, sprach Xaves nun aus und umgriff das Gesicht des Prinzen. „Aber sie wollten es so und…“

„Es ist egal was sie wollen!“ Lucius fuhr vor, auch wenn sein Kopf dabei dröhnte. Er küsste Xaves. „Verstehst du? Mir ist es egal!“

„Und du hasst mich nicht?“

„Was?“ Lucius schrak zurück. „Was sagst du denn da?“

„Das hast du gesagt… an dem Abend… du hast…“

Lucius hatte es tatsächlich vergessen. Wie hätte er auch nach so langer Zeit noch daran denken sollen, wo es doch nur ein trotziger Ausspruch gewesen war, nicht eine Sekunde lang ernst gemeint. Nun aber erinnerte er sich und es erschreckte ihn zutiefst, dass Xaves ihn gehört hatte. War letztendlich nun etwa er ganz alleine schuld gewesen? Lucius wurde bleicher als er es aufgrund der Krankheit ohnehin schon war. Nun schüttelte er heftig den Kopf und blickte Xaves so tief in die Augen wie er es konnte.

„Ich hasse dich nicht!“, sagte er mit überzeugender Stimme, die ihm fast brach, da Sprechen noch immer schmerzte. „Wirklich! Das war nicht so gemeint, nicht eine Sekunde lang! Bist du etwa deshalb-“

„Ich dachte, du würdest mich vielleicht nicht mehr in deiner Nähe haben wollen.“

Die Augen waren traurig, auch wenn sie wohl nicht die Trauer zeigten, die der Junge monatelang gespürt hatte; nun boten sie nur ein blasses Abbild davon, doch auch so schnitt es Lucius ins Herz.

„Es tut mir leid!“, stieß er hervor. „Ich wusste das nicht! Und ich war zu stolz… darum bin ich nicht… ich bin-“

Eine Beere hinderte ihn am Sprechen. Lächelnd, mit feuchten Augen drückte Xaves ihm diese gegen die Lippen bis er sie schließlich annahm.

„Es ist vorbei“, flüsterte Xaves zärtlich. „Jetzt bin ich wieder bei dir.“

„Lass mich nie mehr allein!“ Lucius klammerte sich an ihn.

„Werde ich nicht.“ Und so versprach Xaves es ihm, obwohl er irgendwo tief innen drin wusste, dass er das nicht konnte, nicht durfte oder sollte. Doch in diesem Augenblick war es egal; sie waren endlich wieder beisammen und konnten sich nicht vorstellen, dass sie etwas anderes je wieder zulassen würden.

Zwischen uns die Hitze

Wenn man nur die Augen weit genug aufsperrte, konnte man deutlich sehen, was sich zwischen den beiden Jungen geändert hatte. Es war nicht der Punkt, dass sie plötzlich wieder miteinander sprachen, dass man Xaves wieder lachen hören konnte, er wieder hübschere Kleidung trug oder dass sie fast jeden Tag miteinander ausritten; es war auch nicht die Tatsache, dass Lucius nun wieder fröhlicher war, dass er keine Augenringe mehr umher trug oder des Nachts nur aus dem einen Zimmer Stimmen und Lachen zu hören waren. Dies alles waren nicht die Anzeichen dafür, die man hätte deuten können, wenn man nur hingesehen hätte. Sie alleine hätten auch eine Freundschaft sein können, etwas rein Platonisches zwischen zwei Jungen… dass es jedoch mehr war, das erkannte fast jeder in der großen Residenz, wenn er die beiden Jungen nur einmal miteinander sah; nein, eigentlich schon in dem Augenblick, in dem sie nur über den anderen sprachen.

Es war etwas in ihren Augen, das sie verriet. Man konnte es nicht mit Glitzern oder Strahlen bezeichnen, mit keinen solch banalen, gar greifbaren Worten, und doch war es deutlich sichtbar. Sie sahen sich mit dieser Intensität an und sie strahlten sie aus, wann immer der andere auch nur in den Gedanken vorkam.

Selbst an den Tagen, die sie nicht miteinander verbringen konnten, da Lucius mit seinen Eltern unterwegs war und konnte Liz, welche ihn begleitete, es fast greifen, wie der junge Prinz sich nach seinem Freund sehnte. Und Calia beobachtete dann stirnrunzelnd ihren Schützling, der ihr fleißig half und immer mehr lernte, während er doch die meiste Zeit mit den Gedanken woanders war.

Die Einsamkeit, welche sie monatelang umgarnt hatte, war vollkommen einer vertrauten, heftigen Zuneigung gewichen.

Und das bemerkten nicht nur die zwei Frauen, sondern auch so viele andere auf der Residenz, wie die Küchenhilfe am glücklichen Lachen der Jungs oder der alte Stallmeister an ihren liebevollen Neckereien. Sie alle schüttelten die Köpfe, obgleich es doch schön war, das Strahlen auf den Kindergesichtern zu sehen. Sie alle wussten doch auch, dass es nicht gut ausgehen würde, wenn nur zwei bestimmte Personen einmal richtig hinsehen würden.

Doch gerade diesen beiden Menschen, dem Königspaar nämlich, blieb es verborgen, auf lange, lange Zeit. Noch nie waren sie gut darin gewesen, ihren Sohn zu beobachten, selbst wenn sie ihm mit den Augen folgten. Immer noch glaubten sie, dass ihm wertvolle Geschenke das wichtigste seien, dass er große Anlässe ebenso liebte wie sie. Sie waren gut darin, sich selbst zu belügen, und so profitierte letztendlich eben der missachtete Junge davon, da seine Eltern nicht sahen, welch Band die beiden Jungen aneinander fesselte.
 

Diese beiden Jungen natürlich waren sich über ihre Offensichtlichkeit nicht im Klaren. Zwar wussten sie, dass sie nur innerhalb des Zimmers oder weit weg auf der Wiese auf diese spezielle Weise einander nahe sein sollten, doch war dies Wissen kein wirklicher Gedanke sondern purer Instinkt. Sie begriffen nicht, dass es ihnen aus den Augen schien, dass sie einander anders betrachteten als zuvor, und dass man fast blind oder einfach nur ignorant sein musste, um es nicht zu erkennen. Doch es war auch gut so, dass sie es nicht begriffen, denn nur so konnten sie frei sein, ohne Sorgen; nur so konnten sie jeden Augenblick genießen und sich freuen, einander zu haben.

Schnell schon war klar gewesen, dass Xaves’ Zimmer nun nur noch Requisite sein würde. Alle wichtigen Sachen brachten sie hinüber in Lucius’ Schlafgemach. Es war logisch für sie, dass sie sich nun auch nachts nicht mehr trennen würden; jetzt erst recht nicht mehr, nicht eine Sekunde länger als nötig. Und so begannen sie schnell, diese Momente unter der Decke nicht nur zum erschöpften Einschlafen zu nutzen, sondern für unzählige Küsse, dann und wann für harmlose Berührungen. Wenn es dunkel um sie wurde, fanden sich noch lange ihre Lippen und Hände und sie genossen diese Augenblicke, summten sich gegenseitig ins Ohr oder lachten, wenn des einen Atem den anderen im Nacken kitzelte.

Es waren schöne, kindliche Augenblicke, die sie auf diese Weise teilten, doch die Zeit blieb nicht stehen, kroch weiter, unaufhörlich an ihnen vorbei. Sie wurden älter, erfahrener, wussten immer besser, was dem anderen gefiel, wie er gerne berührt wurde. Und natürliche Instinkte erwachten, intensive Gefühle, die sie doch voreinander lange versuchten, zu verbergen. Es war ihnen peinlich, wenn ihr Körper reagierte, sie sprachen nicht darüber und versuchten in solchen Momenten an andere Dinge zu denken, während doch in Ihrem Inneren etwas brannte und es sie nur noch mehr nach dem anderen sehnten.

Lucius war es, irgendwann, der das Thema nicht mehr länger totschweigen konnte. Es waren Monate vergangen seit ihrem ersten richtigen Kuss und in nur wenigen Tagen würden sie beide 15 Jahre alt werden. Xaves hatte noch immer keinen Wunsch geäußert und so suchte Lucius nach Ideen, wie er ihn an jenem Tag zum Strahlen bringen könnte, während er andere Gedanken verdrängte. Auch so an jenem dunklen Abend, an dem er seinem Freund in den Armen lag und er wieder einmal deutlich spürte, wie ihm heißer wurde, immer stärker. Er versuchte, sich ein Geschenk auszudenken, doch es gelang ihm schlecht, denn er merkte, während Xaves seinen Nacken kraulte, dass er sich schon bald würde abwenden müssen, wenn er wollte, dass der andere Junge die Reaktion nicht bemerkte.

Lucius hatte keine Ahnung, dass es etwas vollkommen Natürliches war, das er da spürte. Sie beide wussten das nicht, hatte es ihnen doch nie irgendwer erklärt. Daher hatte es ihnen beiden für sich Angst gemacht, als es zum ersten Mal passierte, und es wurde ihnen vor sich selbst peinlicher mit jedem Mal. Doch andererseits widerstrebte es Lucius ungemein, sich immer wieder wegzudrehen, vorzugeben zu schlafen, wenn er doch die Minuten gerade so genoss. Auch kam es vor, wenn sie gerade auf der Wiese waren, wo sie zuvor noch rumgetollt hatten, oder in der Wanne, der er schnell entstieg, um ihre Nähe zu trennen. Er hasste es, denn er spürte auch, dass es eigentlich etwas war, das er mit diesem Jungen teilen wollte; mit diesem Menschen, der ihm so wichtig war. Er spürte, dass eben dieser der eigentliche Grund der Reaktion des eigenen Körpers war; er spürte es nicht nur, es war zu deutlich, um es zu übersehen. Also begann er sich zu fragen, ob auch bei Xaves derartiges geschah, wenn dieser sich manchmal plötzlich wegdrehte oder ihn einfach zu schnell aus der Wanne fliehen ließ. Vielleicht erging es seinem Freund ähnlich und auch er wusste nur nicht, wie er damit umgehen sollte. Vielleicht mussten sie sich gar nicht ihrer schämen.

Lucius hielt sich an jenem Abend genau an diesem Gedanken fest und versuchte, sich auszumalen, was geschehen könnte, wenn er das Thema zur Sprache brächte. Ihm wurde nur wärmer bei dem Gedanken und all das war ihm peinlich, doch er begriff auch, dass er sich nicht mehr lange mit möglichen Geburtstagsgeschenken ablenken könnte. Er wusste, dass er endlich seine Stimme finden musste.

Dennoch, auch mit diesem Gedanken, drehte Lucius sich weg, als er die Übermacht der Hitze spürte, die mittlerweile seinen gesamten Körper durchlief und besonders eine Gegend umspielte. Xaves’ Hand glitt aus seinen Haaren fort und Lucius kniff die Lider hinab. Er hätte nun einfach versuchen können zu schlafen, wie er es bereits so viele Nächte zuvor getan hatte, doch er wusste auch, dass es ihm ebenso schwer gelingen würde wie in all diesen Nächten zuvor. Zudem gefiel ihm der Gedanke nicht, sich zu verstecken, vor dem anderen Jungen zu flüchten. Sie hatten einander gesagt, dass sie immer ehrlich sein wollten, wieso waren sie es also nicht? Wieso war er nicht ehrlich und gestand, dass es da etwas gab, das er nicht verstand; etwas, bei dem er aus unerfindlichem Grund spürte, das er es teilen wollte. Also öffnete Lucius schließlich den Mund, wenn auch der Name seines Freundes nur sehr zaghaft aus ihm hervor drang als habe er ihn nie zuvor gesagt.

„Ja?“ Xaves’ Stimme klang überrascht, doch auch, wenn man das bei einem so kleinen Wort überhaupt sagen konnte, auf gewisse Weise nervös.

„Mir… ist heiß…“ Dem Prinzen versagte fast die Stimme und er hatte das Bedürfnis, sich unter der Decke zu verkriechen. Er glühte mittlerweile wohl puterrot vor lauter Scham.

„Mir auch“, kam es aber bloß leise in sein Ohr hinein.

Er schüttelte den Kopf. Xaves verstand nicht, aber wie sollte er auch? Vielleicht war es ja doch etwas Unnormales.

„Nein!“, sagte er fest und mit jedem bisschen Mut, den er finden konnte. „Das meine ich nicht. Mir ist-“

In diesem Moment war es, dass Xaves näher rückte, und als Lucius’ Hände von denen des anderen Jungen umgriffen wurden und der Körper sich an ihn drückte, spürte er noch etwas anderes, was ihm den Atem stocken ließ.

„Ich weiß… was du meinst…“

Xaves’ Stimme war unglaublich dünn und extrem nervös, doch sie war direkt an Lucius’ Ohr und streifte ihm eine Gänsehaut über den Körper hinweg, während er noch immer mit aufgerissenen Augen dalag und ihm das Herz noch lauter schlug als zuvor. Heißer Atem trieb ihm die Nackenhaare in die Höhe.

„Xaves… das…“ Ihm selbst brach nun die Stimme und er führte eine Hand des Freundes an seine Lippen heran, drückte sie dagegen und suchte nach irgendwelchen Worten.

„Es macht mir Angst“, sprach Xaves jedoch zuerst.

Lucius fuhr herum, fast im selben Augenblick, weil er nun das Gesicht sehen wollte, das diese Offenbarung machte. Und es überraschte ihn, dass er darin das erkennen konnte, was er auch selbst verspürte. Sie waren sich so gleich, das es erschrecken könnte; ihn jedoch beruhigte es ungemein.

Seine Finger bebten leicht, als er eine blonde Haarsträhne nach hinten schob und die blauen Augen nur schwer in der Dunkelheit des Sonnenuntergangs halten konnte. Dann schob er sich vor und küsste die Lippen, welche er so sehr begehrte, und als sie ihn trafen, merkte er, dass sie noch heißer waren als sonst; der Kuss war um so Vieles intensiver.

„Mir auch“, gab er nun endlich zu, als sie sich getrennt hatten und ihre Augen nur Millimeter vor denen des anderen hingen.

Gleichzeitig spürten sie wohl beide die Spannung ihrer Körper und das unbekannte Verlangen, welches ins Freie treten wollte. Vielleicht weil aber Lucius es gewesen war, der die Sprache in diese Richtung gedrängt hatte, war es nun Xaves, der als erstes den nächsten Schritt zu gehen wagte.

Seine Hand war unbeholfen, als sie hinab glitt, nicht genau wusste, wie und wo sie eigentlich berühren sollte. Und so traf sie durch den Stoff etwas zu stark das, was Lucius so unendlich peinlich war. Diesem entwich ein Stöhnen und er zuckte schwer zusammen, was er selbst kaum begriff. Erschrocken rissen sie beide die Augen auf. Xaves wollte zurückweichen, doch Lucius hielt ihn fest.

„Nein“, keuchte er und drängte sich plötzlich näher, aus purem Instinkt heraus. „Das ist… schön…“, sagte er, bevor er es selbst richtig begriffen hatte.

Xaves sah ihn an mit glänzenden, schüchternen Augen. Er schien etwas zu suchen und als er es gefunden hatte, lächelte er ein winziges bisschen, wagte es dann erneut und streckte die Finger sanft unter der Bettdecke aus. Er versuchte sich zu überlegen, was er sich für eine Berührung wünschte, wenn er diese Hitze spürte, also versuchte er nun, dies zu geben.

Wieder wollte Lucius aufstöhnen, doch er biss sich auf die Lippe, um es nicht zu tun. Er kniff die Lider hinunter, während er genau jeden Millimeter der Fingerspitzen spüren konnte. Sie waren heiß auf seiner empfindlichen Haut, besonders, nachdem Xaves die Unterhose zögernd hinab geschoben hatte.

Mitten in einer vorsichtig tastenden Bewegung war es, dass Lucius ebenfalls die Finger streckte. Zögernd tastete er hinab, entfernte den lästigen Stoff und es nahm ihm für einen Moment den Atem, als er diese neue Gegend zum allerersten Mal erkundete.

In der nächsten Sekunde aber keuchten sie beide, als Xaves den Körper etwas vor bewegte, als ihre Körper sich trafen und Hitze zu Hitze überging. Es war ein neues, unbekanntes Spiel, was sie dort trieben, vorsichtig reibend mit Bewegungen des Körpers, tastend mit den Händen. Und es kam ihnen unendlich vor, während sie langsam ungestümer wurden. Dabei ging es sehr schnell vorbei; ehe sie es überhaupt begriffen, krallten sie sich bereits aneinander und konnten viele Laute nicht mehr hinter den Lippen verbergen, wie sehr sie es auch versuchten. Sie stöhnten und keuchten, während die Körper von etwas geschüttelt wurden, von dem sie nicht wussten, nicht verstanden, was es war. Nur dass es schön und unbeschreiblich intim, sowie etwas ganz besonderes war, das begriffen sie noch im selben Augenblick, in dem es auch endete.

Die Sekunden danach klammerten sich die beiden Jungen noch aneinander. Sie saugten die Luft in sich hinein und versuchten jeder für sich zu begreifen, was soeben mit ihnen geschehen war. Dann bewegten sie sich leicht und im selben Moment spürten sie plötzlich, dass irgendetwas an ihnen klebte.

Xaves wich als erstes zurück, weil er sich sehr erschrak und dachte, einen Fehler gemacht zu haben. Er wollte aus dem Bett, doch Lucius hielt ihn fest, sah ihm in die Augen und bat ihn mit diesen, nicht zu gehen. Wie würden sie sich begegnen können, wenn sie einander in diesem Augenblick verließen? Xaves’ Blick entspannte sich zumindest ein kleines bisschen; dann schlug er die Decke von ihren Körpern zurück und deckte dabei die milchig weißen Überbleibsel auf.

Sie sahen sich an und sie sprachen nicht darüber. Xaves zog Lucius aus dem Bett hinaus ins Bad, hier in die Wanne.

Mitten in der Nacht nahmen die beiden Jungen nun also ein schweigendes Bad, beide ihren Gedanken nachhängend, die sich doch um dasselbe drehten. Sie hielten sich schweigend fest und beide glühten sie im Gesicht, trauten sich nicht zu sprechen. Xaves wechselte danach das Laken und knüllte das alte in eine Ecke; dann kroch er mit Lucius wieder unter die Bettdecke, sie drückten sich aneinander und fanden doch beide lange keinen Schlaf. Es war ihnen peinlich, sie wussten nicht genau, wie sie sich ansehen sollten, am nächsten Morgen; doch gleichzeitig, ganz unterbewusst, hatte es sie beide nur noch näher zueinander gebracht.
 

Liz weckte die beiden Jungen am nächsten Morgen. Mittlerweile klopfte sie an und wartete anschließend auf eine Erwiderung, bevor sie durch die Tür trat. Lucius hatte diese Veränderung irgendwann wahrgenommenen und nicht weiter darüber nachgedacht.

An diesem Morgen, nach dem Klopfen, hielt er noch immer den halb schlafenden Xaves in den Armen; er selbst war bereits seit geraumer Zeit wach gewesen. Liz trat hinein und lächelte leicht. Sie kannte die Nähe der beiden Jungen bereits, den Unterschied zum Morgen zuvor konnte sie durch dieses Bild nicht ausmachen. Ohne weitere Gedanken stellte sie das große Frühstückstablett am Fußende ab und wollte gerade wieder hinaus gehen, als sie im selben Augenblick das Bettlacken entdeckte, welches in eine Ecke gestopft war, in die es nicht gehörte. Noch ehe es auch nur einer der Jungen begriff, ehe sie überhaupt darauf hätten reagieren können, hatte Liz das Laken schon hervor geholt. Der Stoff breitete sich aus und auf seiner dunklen Farbe waren die Flecken erschreckend genau zu sehen.

Xaves verbarg sich augenblicklich unter der Decke, Lucius fauchte Liz an, loszulassen, und die junge Frau wurde kreidebleich. Wie alle anderen in dieser Residenz, ausgenommen des Königspaars, hatte sie unterbewusst darauf gewartet, eines Tages etwas dergleichen zu erfahren, doch es wäre ihr recht gewesen, wenn dies noch ein paar Monate, gar Jahre auf sich hätte warten lassen. Bloße Vermutungen konnte man beiseite schieben, Tatsachen würden nur schwer zu verdrängen oder verbergen sein.

Statt dem Befehl des Prinzen nachzugehen, faltete sie das Lacken zusammen, mit gerunzelter Stirn, die verriet, dass sie nachdachte. Dann ging sie zur Tür und schloss den Spalt, den sie aufgelassen hatte. Lucius sah sie wütend an, Xaves lugte unter der Decke hervor, ängstlicher als sein Freund. Er wusste, dass er hier nur der Bedienstete war, wenn es um die offizielle Rangordnung ging; er hatte hier nicht viel zu sagen. Andererseits hatte er sich noch nie vor Liz gefürchtet; ebenso wie Lucius mochte er sie, die sie seit geraumer Zeit mit einem immer dicker werdenden Babybauch herumlief. Heute hatte er dennoch zum ersten Mal auf gewisse Weise Angst vor ihr.

„Was willst du noch?“, fauchte Lucius.

Doch Liz ließ sich nicht davon beirren, sondern schob das Tablett beiseite und setzte sich stattdessen auf diese Stelle des Bettes. Sie sah den jungen Prinzen an und versuchte, die eigenen Gedanken zu ordnen. Hätte man sie in diesem Augenblick gefragt, warum sie sich zuständig fühlte, weshalb sie glaubte, nun mit den Jungen ein Gespräch führen zu müssen, so hätte sie wohl mit den Schultern gezuckt und gesagt, dass sie es eigentlich gar nicht wisse. Aber vielleicht war sie in all den Jahren, die sie hier arbeitete, so etwas wie die große Schwester des Prinzen geworden; obwohl sie seine Dienerin war, gab es Momente, in denen der Junge zu ihr aufgesehen hatte und er bat sie um Rat, dann und wann, wenn er selbst keinen mehr wusste. Er war früher, als er noch jünger und weniger stolz gewesen war, mit Fragen, Wünschen und mit manchen Problemen zu ihr gekommen. Wie könnte sie sich also dieses Mal nicht seiner annehmen? Liz nämlich wusste, dass es niemanden sonst gab, mit dem der Prinz oder Xaves über diese Sache hätte reden können. Niemand würde es ihnen erklären und sie würden alleine gelassen; im Herzen wusste sie, dass sie es so nicht ablaufen lassen konnte, den Jungen zuliebe, die nichts für die Welt oder Konvention konnten, in der sie lebten.

Also räusperte sie sich nun, den wütenden Blick, den Lucius ihr schenkte, ignorierend und zu gut verstehend.

„Wann ist das zum ersten Mal passiert?“, fragte sie endlich und es kostete sie mehr Mühe, dies auszusprechen, als sie angenommen hätte.

Sie strich unbewusst über das gefaltete Laken hinweg, während keiner der Jungen einen Ton hinaus brachte. Sanft lächelte sie also, sich klar darüber, wie unangenehm es den beiden Jungen sein musste. Xaves war noch immer nicht unter der Decke hervorgekommen und der Prinz funkelte sie weiterhin wütend an. Sie wog ihre Worte genau ab, hatte sie doch nicht vor, zu sagen, dass es falsch war, was sie da taten. Das wollte sie sich nicht anmaßen, obwohl sie genau wusste, dass es stimmte; es war jedoch nicht an ihr, über die Gefühle der Jungen zu richten.

Schließlich zog sie vorsichtig an der Decke, so dass Xaves aufgedeckt wurde. Aus irgendeinem Grund hielt Lucius sie nicht davon ab.

„Hört mir zu“, sprach sie mit beruhigender Stimme und sah zwischen ihnen herum. „Ihr dürft es niemandem sagen.“

Eigentlich hatte sie weniger ernst beginnen wollen, doch war ihr auch klar, dass es die wichtigste Sache war, die sie ihnen zu sagen hatte. Auch die Jungen begriffen dies, denn das Funkeln aus den Augen des Prinzen verschwand, stattdessen sah er sie fragend an, ebenso wie Xaves es tat.

Liz beantwortete die unausgesprochene Frage nicht, da sie nicht wusste, wie sie es hätte tun sollen, ohne zu werten; also ging sie lieber auf die Sache an sich ein, denn sie glaubte schon, dass beide nicht verstanden oder gar wussten, was dies eigentlich für eine Sache zwischen ihnen war. Woher auch?

„Es ist nichts Schlimmes“, sagte sie also und sah abwechselnd hin und her. „Wenn man in euer Alter kommt, ist es etwas das ganz Normales...“

Beide runzelten nun die Stirn, während sie auch noch immer dunkelrot waren, bis hin zu den Ohren.

„Aber… wieso passiert das?“, fragte Xaves nun endlich. Die Frage war ihm peinlich, aber er wusste nicht, wann er sonst eine Antwort darauf bekommen konnte. Schon so lange hatte er sie doch mit sich herum getragen.

„Das passiert…“ Liz zögerte einen Moment, nicht sicher, wie viel sie sagen durfte. „Es passiert, wenn man einen Menschen sehr, sehr gerne mag“, fand sie dann, so hoffte sie, die richtigen Worte. „Das ist eine ganz natürliche Reaktion des Körpers, wenn man gerne… von jemandem berührt wird.“

Nun wurde auch Liz rot, denn sie kam sich komisch vor, mit den beiden darüber zu sprechen, die so viel jünger waren und von denen sie einen sogar gewickelt hatte. Es war befremdlich, dass dieser Junge nun so groß geworden war, dass er auf diese Weise für jemand anderen empfand. In ihren Augen war er doch wirklich viel eher ihr kleiner Bruder, doch nun war er unter ihren Blicken ganz von alleine zu einem jungen Mann geworden.

„Also… ist es okay?“, presste Lucius hervor, dem die Frage wohl noch schwerer fiel als Xaves seine zuvor.

„Ja.“ Sie nickte schwerfällig, da es stimmte. An sich begingen sie keinen Fehler, lediglich ihre Konstellation oder Herkunft war nicht die, wie sie sein sollte. Doch noch immer wollte sie genau das auf keinen Fall aussprechen. Sie wusste, dass die Jungen vermutlich daran zerbrechen würden, wenn sie einander nicht hätten, wie könnte sie sie also voneinander trennen? Würde dies nicht ohnehin schon viel zu früh geschehen?

Der Gedanke schmerzte und Liz verdrängte ihn, indem sie nun aufstand und das Gespräch damit beendete. Sie stellte das Tablett zurück und erklärte, dass sie das Laken zum Waschen geben würde. Dann, mit einem letzten Blick auf die beiden so unschuldig aussehenden Jungen, verließ sie das Schlafgemach; lächelnd, um ihnen die Scham noch etwas weiter zu nehmen. Kaum hatte sich aber die Tür hinter ihr geschlossen, brach sie draußen auf dem Flur in leise Tränen aus. Es schnitt ihr ins Herz, die Gewissheit der Gefühle, welche die beiden Jungen umgab, denn sie wusste doch zu genau, dass es sie auf diese Weise einfach nicht geben durfte. Und dass irgendwann alles kaputt gehen würde.

Wie kurz bevor es stand, ahnte sie nicht.

Unsere berauschende, verbotene Nähe

Nachdem Liz gegangen war, blieben die Jungen noch eine Weile bewegungslos im Bett sitzen. Xaves war der erste, der es schaffte, sich zu rühren und das Tablett an sie heranzuziehen. Hier wiederum war es Lucius, der als erstes einen Bissen hinunterbrachte.

„Wenn man jemanden sehr mag…“, drang es ihm über die Lippen.

Xaves jedoch, zu sehr in seine eigenen Gedanken vertieft, verstand ihn nicht gleich, sah ihn fragend an.

„Was?“

Der Prinz erwiderte den Blick seines Freundes und küsste ihn erst, bevor er sich traute, die Worte zu sprechen:

„Ich mag dich sehr“, drangen sie flüsternd hervor und lösten aus, dass beide Jungen erneut so rot wurden, wie die schönsten Beeren auf dem Teller vor ihnen.

„Ich dich auch“, flüsterte Xaves und schmiegte sich nahe an den anderen Jungen heran. Er wusste schon, dass es falsch war, dass er dies aussprach, aber er konnte einfach nichts daran ändern.
 

Die Beiden aßen nur ein winziges Bisschen von dem, was Liz ihnen gebracht hatte. Der wirkliche Appetit fehlte ihnen an diesem Morgen, auch wenn sie sich eigentlich ziemlich wohl in ihrer Haut fühlten. Nur dass Liz es herausgefunden hatte, war ihnen peinlich, doch sie sprachen nicht darüber, um es nicht zu thematisieren.

Stattdessen ritten sie aus. Schnell und mit der Nase hoch in der frischen Luft, den Duft des Grases in sich aufnehmend und die Sonnenstrahlen genießend. Hier erst fuhr ihnen das Glück der Nacht wirklich in den Bauch und als sie sich jauchzend auf der Blumenwiese wälzten, wusste sie nun auch mit Worten zu sagen, dass sie die Nacht nur noch enger verbunden hatte. Hier küssten sie sich ausgiebig und schraken nicht mehr vor der Reaktion des eigenen Körpers zurück. Hier warfen sie die Kleider von sich und wälzten sich liebevoll im Gras herum, während ihre Hände und Körper, ein klein wenig mutiger als in der Nacht zuvor, den jeweils anderen zum Stöhnen brachten.
 

Mit dreckigen Haaren und teilweise zerschundener Kleidung kehrten sie am Abend zurück, ließen sich in der Küche das Abendessen schmecken, und bekamen dabei nicht mit, wie sich Liz und Calia über ihre Köpfe hinweg besorgt wissende Blicke zuwarfen. Die Jüngere hatte es nicht lange ausgehalten, das Geheimnis alleine auf dem Herzen zu tragen, und Calia hatte gespürt, dass etwas nicht stimmte, als ihr ältester Schützling in die Küche getrottet kam. Doch sie hatte nicht mit dem gerechnet, was Liz ihr erzählen würde und so hatte die Köchin den restlichen Tag damit verbracht, wieder und wieder den Kopf zu schütteln, traurig und besorgt, mit nicht einer einzigen Idee, wie sich dies zum Guten wenden könnte.
 

Das Geheimnis jedoch blieb nicht bei Liz und Calia alleine. Zwar sprachen sie beide nicht weiter darüber, auch nicht mehr miteinander, doch waren die Jungen noch offensichtlicher als zuvor. So sah man sie dann und wann auf der Treppe oder im Stall küssen, sah sie an der Hand des anderen herumlaufen oder sich eng umarmen, wenn sie an etwas Freude hatten. Es war schnell für jeden in der Residenz klar, dass nun noch weitere Schritte sie zueinander geführt hatten, und bald schon trug in ihrer Gegenwart fast jeder den Blick im Gesicht, wie Liz und Calia ihn kaum noch ablegen konnten. Hier und da wurde über die Sache gemunkelt, darüber, was wohl schon alles geschehen war oder darüber, was passieren würde, wenn das Königspaar es erführe. Letzteres, so waren sich aber alle einig, wäre definitiv der Untergang. So also schwiegen sie beharrlich in den wichtigen Situationen und versuchten, sich nirgends etwas anmerken zu lassen. Keiner wollte schuld daran sein, dass das Königspaar es erführe.

Dabei stellt sich natürlich die Frage, weshalb auch jetzt noch König und Königin nicht erkannten, was mit den beiden Jungen los war. Man mag es sich so erklären, dass für sie ihr Sohn etwas vollkommen Reines war. Sie hatten immer versucht, ihn nach ihrem Perfektionismus zu erziehen, daher verschwendeten sie wohl keinen Gedanken daran, dass sich irgendetwas in eine vollkommen andere Richtung entwickeln könnte, als sie es geplant hatten. Man mag es ignorant, verbohrt nennen, und vermutlich war es das auch, doch man mag auch verstehen, weshalb die Eltern die Augen davor verschlossen und das, was sie nicht sehen wollten, einfach nicht wahrnahmen.

So kann man es ihnen auch nicht verdenken, dass sie Pläne schmiedeten, betreffend der Zukunft, die ihr Sohn beginnen würde. Viele Namen wurden angedacht, Familien und Bündnisse. Es fanden sich Termine und Gespräche wurden geführt. Und sie dachten wirklich, dass es etwas war, was gute für ihren Jungen sein würde.
 

Von alle dem allerdings bekam der junge Prinz lange nichts mit. Sein Geburtstag ging dahin, ebenso der Xaves’, und der Sommer kam so schnell, wie er auch wieder ins Land zog. Die Abende wurden kürzer, die Nächte länger und die Jungen hatten mittlerweile viele Dinge über einander gelernt, über dies neue Etwas, das bald gar nicht mehr so neu war, aber doch immer wieder aufregend, immer wieder aufs neue Besonders. Sie lehrten einander die Lust, lehrten das Begehren und das gierige Verlangen nach einem anderen Körper; und je weiter die Tage vergingen und je näher der Herbst kam, desto experimentierfreudiger wurden sie. Und so kam es in einer Nacht, dass es Xaves war, der schrie, vor Lust, aber auch vor Schmerzen. Sie hatten oft davon gesprochen, es sich aber nie wirklich gewagt. Sie wussten nicht, ob es ging, doch sie wollten auch niemanden danach fragen, auch Liz nicht, obwohl diese ihnen sicher hätte helfen können. Auch ihr wollten sie dieses Thema nicht preis geben, welches sie so lange herumtrugen und überlegten, und welches doch irgendwann an sie herantrat, als die Lust sie überkam und sie sich in die Augen sahen und dabei spürte, dass es nun so weit war, dass sie bereit waren und sich auf diese Weise erkunden wollten.

Xaves also schrie und bog sich. Er hatte Schmerzen erwartet, doch nicht auf diese Weise diesen quälenden Druck. Auch Lucius war erschrocken, während sein Freund sich unter ihm wand. Er wollte es sofort beenden, aufhören und ihn tröstend in die Arme schließen, die Tränen wegküssen, doch ließ der blonde Junge dies nicht zu, verlangte mehr, auch wenn ihm das Salz aus den Augen floss.

Lucius fühlte sich hilflos und versuchte, den anderen mit sanfteren Berührungen zu beruhigen. Er strich ihm über den Rücken, küsste die Schulterblätter, während er weiter vor drang und das Schreien erstickend wurde. Er ertrug es kaum und war nun wirklich bereit, aufzuhören, alleine, weil er glaubte, dass sie einen riesigen Fehler begingen und dies definitiv nicht so gedacht war; doch eben in dem Moment, als er sich zurückziehen wollte, um endlich die Qual zu beenden, verstummte Xaves’ Schreien unter ihm.

Er sprach den Namen seines Liebsten, beugte sich vor, fand das Gesicht. Die Augen blinzelten und das Gesicht verzog sich, doch dann spürte er, wie der Körper unter ihm sich zu bewegen begann und sich ihm entgegen drückte, statt vor ihm zu weichen.

„Beweg dich“, flüsterte Xaves schwach und seine Finger zitterten, doch seine Augen zeigten, dass er es wirklich wollte.

Lucius, dem zuvor schon längst selbst Tränen über die Wangen gelaufen waren, tat es also und zog sich zurück, drückte dann wieder vor. Wieder ein Schrei, doch dann, nach einigen wenigen Malen erkannte er den Unterschied in diesen Schreien. Er erkannte, dass in ihnen etwas mitschwang. Er bemerkte, dass die Lust, welche sie noch vor diesem Versuch so drängend empfunden hatten, nun aus den Schreien zu sprechen begann. Es war, als habe ihm jemand einen Stein vom Herzen genommen, so froh war er nun, da er mit den Händen nach vorne griff, Xaves küsste, innig und liebevoll, sowie seine Hände bekanntere Gegenden fanden.
 

Noch immer war Xaves’ Gesicht feucht von Tränen, als sie beide sich wieder etwas voneinander trennten, als er sich in den Armen seines Liebsten drehte und ihre Arme sich umschlangen. Sie küssten sich lange und liebevoll, müde und erschöpft. Der Schweiß ihrer Körper verband sich, ebenso wie die streichelnden Berührungen, mit denen Lucius begann.

„Hat es sehr wehgetan?“, fragte er schließlich. Er war sich nicht sicher, ob er das fragen durfte, aber er würde nicht schlafen können, ohne es zu wissen.

„Ja“, kam es leise zurück und Xaves umfing ihn noch fester. „Aber es war auch schön“, hauchte er ihm ins Ohr. „Gegen Ende war es irgendwie toll.“

„Ja?“ Lucius fragte ängstlich, ein wenig unsicher darüber, ob sein Freund dies nur sagte, weil er ihn glücklich machen wollte.

Doch Xaves’ nickte an seinem Hals und küsste diesen und wiederholte, dass es ihm gefallen hatte.

„Wir können es wieder tun“, setzte er hinterher. „In ein paar Tagen vielleicht, wenn du willst…“

„Wir müssen nicht-“

„Doch.“ Er unterbrach ihn und drängte sich etwas weg, um in die braunen Augen sehen zu können. „Doch, ich will es“, sagte er hier, „weil ich dir dann nahe sein kann, wie nie zuvor. Dann sind wir eins, verstehst du?“

„Das sind wir sowieso!“, sprach Lucius schnell und strich ihm fest durchs Haar.

„Ja, aber dann noch mehr. Dann gehörst du wirklich nur mir alleine, für einen winzigen Moment lang…“

Und der Junge ließ keinen Protest zu, auch wenn er wusste, dass Lucius nur gesagt hätte, dass sie ohnehin einander gehörten; denn er wusste es besser als der Prinz. Er kannte die Regeln dieses Lebens und wusste, dass, auch wenn er nur bedachte, was ihre Positionen waren, sie einfach nicht zueinander gehörten: nicht für die restliche Welt. Doch für einen Moment lang wollte er dies dennoch vergessen und glauben, dass es immer so sein würde.

Und während die beiden in ihren Gefühlen zueinander vollkommen versanken, so tief, dass es vielleicht nie wieder ein Zurück geben würde, saß viele Zimmer weiter ein Elternpaar zusammen, die von alle dem nichts ahnten, und sich bald dazu entschließen würden, dem Sohn von der wichtigen, neuen Entscheidung in Kenntnis zu setzen.
 

Es geschah ein paar Wochen später beim Mittagessen, während Lucius mit seinen Gedanken eigentlich vollkommen woanders war. Mittlerweile schien der Winter anzubrechen und er freute sich, bald mit Xaves im Schnee ausreiten zu können. Dann war es kalt und sie könnten auf keiner Wiese tollen, und doch gab der Winter eine so wunderbare Atmosphäre von sich, die der Prinz unbedingt mit seinem Diener teilen wollte. Den letzten Winter, immerhin, hatten sie mehr schweigend verbracht; so vieles wollte er nun nachholen.

Dass seine Eltern ihm etwas Wichtiges zu sagen hätten, überraschte den Jungen nicht sonderlich. Sie kündigten es oft so an, wenn es auf irgendwelche gesellschaftlichen Anlässe ging oder bald wichtige Gäste im Haus erwartet wurden. So überraschte ihn bloß, wie merkwürdig forschend seine Mutter ihn ansah, bis er endlich das Besteck auf den Teller legte.

Sie hatte schon damit gerechnet, dass er sich aufregen würde. Mit ihrem Gatten hatte sie genauestens besprochen, wie sie es ihm sagen würde, mit welchem Wortlaut. Eigentlich hatten sie alles durchgeplant und rechneten nur mit wenig kindlicher Wut; dass ihr Sohn allerdings aufspringen würde mit einem lauten „Niemals!“ auf den Lippen, und dann vor ihnen stand, als würde jeden Moment die Welt untergehen; nun ja, damit hatten König und Königin nicht gerechnet.

Noch während er dort stand, mit geballten Fäusten und bereit dazu, gleich in die Luft zu gehen, fraß sich die Neuigkeit durch alle Räume, auch bis zur Küche hinein.

„Der Prinz soll heiraten!“, hieß es hier, obwohl doch am Esstisch bloß von einer ihm bald vorzustellenden, potentiellen Braut die Rede gewesen war.

Liz, Calia und auch alle anderen schraken zusammen. Sie rechneten damit, dass der Junge in ihrer Mitte sofort erschrocken zusammenbrechen würde, vielleicht weinen, eventuell schreien, obwohl das nicht seine Art war. Sie waren nahezu gefasst darauf, doch dass er vollkommen still sitzen blieb, das überraschte sie wohl alle am meisten. Blicke wurden gewechselt, flüsternd Vermutungen angestellt, dort, wo Xaves es nicht hören konnte, während man darauf wartete, was geschehen würde. Der Junge allerdings schob bloß seinen Teller von sich, erklärte, dass er keinen Hunger mehr habe und dass er nun Filena striegeln gehen würde.

Wie erstarrt blieb ein jeder zurück und der Junge lief schweigend, aber mit erhobenem Kopf den Weg zum Stall hin. Dort sattelte er Filena, stieg auf und galoppiert einsam in den kalten Tag hinein, ohne sich umzusehen.

Oben im Esssaal brach indes der Sturm los.

Unser geteilter Schmerz

„Das kann nicht euer Ernst sein!“, brüllte Lucius seine Eltern an.

Vor Wut hatte er bereits den fast vollen Teller und zwei Schüsseln vom Tisch gefegt, was zwei Dienstmädchen schüchtern aufwischten, während seine fuchtelnden Hände nach dem nächsten Gegenstand suchten, den sie zertrümmern konnten.

„Aber Lucius, du musst doch-“

„Nein!“, schrie er und stieß eine Vase herunter, welche klirrend zerbarst. „Niemals! Das könnt ihr mir nicht befehlen!“

„Du kannst sie doch wenigstens mal-“

„Ich will sie aber nicht sehen, nicht kennenlernen! Ich habe keine Lust darauf! Ich brauche sie nicht!“

Seine Stimme überschlug sich fast bei den schnellen Worten, die er von sich stieß. Und er warf ihnen noch viele weitere an den Kopf; dass sie immer alles über seinen Kopf hinweg entschieden; dass er ein eigener Mensch sei, nicht ihr Eigentum.

„Ich habe auch etwas in meinem Leben zu entscheiden und das werde ich nicht tun!“

Und dann stürmte der Prinz hinaus, warf dabei noch zwei Vasen und im Flur einen Kronleuchter um. Er brüllte wütend und seine Füße gruben sich fast in den Boden, während er der Küche unweigerlich näher kam. Hier waren die Diskussionen schon im vollen Gange, doch als er durch die Tür brach, verstummten sie sofort.

„Wo ist Xaves?“ Er war noch immer wutentbrannt.

Nur Calia wagte es, einen Schritt auf ihn zuzumachen.

„Lucius. So beruhigt euch-“

„Wo ist Xaves?“, schrie er ihr nun direkt ins Gesicht.

„Ich-“

„Sag es mir!“

Sie zögerte, doch dann sagte sie ihm, dass der Junge zum Stall hatte gehen wollen. Ohne noch einen Augenblick länger zu warten, machte Lucius auf dem Absatz kehrt.

Zurück blieben die schockierten Bediensteten, welche noch immer über die Ruhe Xaves’ ratschlagten und sich nun kaum ausmalen wollten, was geschähe, wenn dieser mit dem wütenden Lucius zusammenprallen würde. Es tat ihnen allen im Herzen weh, alleine daran zu denken, was sich abspielen könnte, wie ihr Prinz irgendwann vermutlich weinen würde statt schreien. Und dabei hatten sie es alle gewusst. Irgendwann hatte es so kommen müssen, man hatte nur gehofft, dass es einfach noch ein wenig länger bis dahin gedauert hätte.
 

Gewusst hatte es auch Xaves. Nach einem schnellen Ritt, der ihn weit fortgebracht hatte von der Residenz, wo ihn keiner mehr sehen oder hören konnte, ließ er die Tränen endlich zu. Es waren eisige Tränen, die ihm über die Wangen flossen, während sein gesamter Körper vor Kälte zitterte. Hier draußen schrie er vor Schmerzen, welche er im Herzen vernahm; hier draußen ließ er, der ruhige Junge, seinen Gefühlen freien Lauf. Denn auch er hatte gehofft, dass es noch ein wenig länger so weitergehen würde, wie bisher. Er wollte den Traum noch etwas weiter leben, nicht so bald aufgeben müssen. Doch nun war es bereits soweit und er wusste, dass ihm nur eine einzige Wahl blieb.

Wieso bloß konnte die Welt sich nicht in die andere Richtung drehen?
 

Als Lucius beim Stall ankam, war Filenas Box schon lange kalt. Sofort sattelte er Calvaro und ließ sich vom Stallknecht sagen, in welche Richtung Xaves geritten war. Hier preschte er nun lang, auch wenn er schon bald nicht mehr wusste, ob er nach irgendwo biegen sollte. Er hoffte bloß, nicht vollkommen verkehrt zu reiten; er wollte seinen Freund unbedingt finden.

Dass dieser die Neuigkeit schon wusste, war ihm auf dem Weg zum Stall klar geworden. Da nämlich hatte er zwei Dienstmädchen miteinander reden hören, ohne dass sie ihn sahen. Alle wussten es schon und Xaves war abgehauen. Der Schmerz in Lucius wurde immer größer und das kam nicht durch die Kälte.

Je weiter er ritt, desto mehr verlor er die Kraft. Er schrie nach Xaves und begann zu weinen, als dieser ihm nirgends antwortete. Die Verzweiflung ergriff sein Herz und er verstand nicht, warum der Junge ohne ihn verschwunden war. Er brauchte ihn doch in diesem Moment, um zu wissen, dass er nicht alleine war. Denn genauso fühlte er sich gerade.
 

Xaves hörte die Schreie irgendwann, auch wie sie näher kamen. Er sprang wieder auf Filena und wollte die Stute erneut zum Galopp treiben, als ihm jeglicher Muskel versagte und die Stimme seines Freundes sich in ihn bohrte, schmerzhaft, so ungeheuer grausam.

Und dann antwortete er, mit schwacher Stimme, nicht besonders laut. Doch da nichts um sie herum Geräusche machte außer Calvaros Hufe, hörte Lucius ihn, kam näher und bald schon konnten die beiden Liebenden sich Auge in Auge blicken.

Xaves brach es das Herz, wie er Lucius so sah. Tränennass war dessen Gesicht, verzweifelt, schmerzverzerrt. Und als der Prinz dann auch noch vom Calvaros Rücken sprang und ihn leise bat, abzusteigen, verspürte er nochmals das Bedürfnis, einfach nur weg zu reiten, so weit weg, dass sie niemals wieder zurückkommen könnten.

Doch er wusste, dass er dies seinem Freund nicht antun konnte. Und so zwang er sich und glitt hinunter, dort direkt in die Arme hinein, an die er sich klammerte, hielt und in denen er sich zum ersten Mal nicht geborgen fühlen wollte. Doch nicht er war es hier, der weinte; das tat Lucius, als er vor Erleichterung kaum wusste, was er sagen wollte. Es tat so gut, Xaves wieder zu halten, und die Wut in seinem Herzen schmerzte ihn so sehr.

„Ich werde das nicht tun!“, erklärte er irgendwann, nachdem die beiden auf den kahlen, kalten Boden hinab gesunken waren. „Ich will sie nicht kennenlernen! Niemals!“

Xaves schwieg und reagierte nicht. Er wusste es besser, wusste, wie es irgendwann kommen würde. Er konnte es nur noch nicht aussprechen; selbst wollte er es noch nicht hören.

Erst in dem Augenblick, als Lucius’ Stimme entschlossener wurde und der Prinz verkündete, er würde seinen Eltern sagen, mit wem er zusammen war; erst in dem Augenblick stieß Xaves seinen Liebsten von sich und schüttelte heftig den Kopf.

„Das darfst du nicht!“, schrie er.

Lucius war erschüttert. Er traute seinen Ohren kaum, konnte den Blick kaum begreifen, der ihn traf. Was sagte Xaves da? Was meinte er? Wie konnte er bloß…?

„Aber… Xaves! Wir sind doch-“

„Nein!“ Nun weinte der Junge doch. „Es geht nicht! Versteh doch! Du musst sie heiraten. Du musst-“

Noch nie hatte Lucius Xaves geschlagen, er hatte noch nicht mal einen Augenblick jemals daran gedacht, doch in dieser einen Sekunde, dort, auf dem kahlen Feld, rutschte ihm die Hand aus und es schien, als würde das laute Klatschen sogleich von überall herum widerhallen.

„Kein Wort mehr!“, brüllte er und sprang auf. „Ich will das nicht hören! Nichts davon, verstehst du?“

„Aber Lucius…“

„Nein!“

Auch Xaves stand auf, streckte die Arme aus. Lucius wich weit zurück, stieß gegen Calvaro. Hier erreichte sein Freund ihn und zog ihn an sich. Der wehrte sich, doch nur halbherzig, denn sein Herz schmerzte und er verstand diese paradoxe Situation nicht.

Aus welchem Traum würde er gleich erwachen?

Er wollte weiter protestieren, doch Xaves küsste ihn, sanft, vorsichtig, mit vielen Tränen.

„Versteh doch“, sagte er dann. „Ich bin bloß dein Diener. Ich kann nicht deine Frau sein, irgendwann deine Königin… du brauchst eine Braut… mich brauchst du nicht…“

„Doch, natürlich tue ich das!“

Lucius weinte bitterlich, aber er schrie nun nicht mehr, da ihn die Kraft verließ. Er klammerte sich an den Jungen und ließ sich von ihm halten. Er fühlte sich schwach in diesem Moment und vielleicht war er das auch, doch gleichzeitig wusste er auch, dass er nicht so schnell aufgeben würde. Er würde nicht heiraten, er würde es ihnen sagen… er würde…
 

Die ganze Residenz war in Aufruhr bis sie endlich ihren Prinzen auf seinem schwarzen Pferd entdeckten. Er hielt sich nur schwer auf dem Rücken, ein paar Male hatte er das Bedürfnis gehabt, sich einfach fallen zu lassen. Natürlich hatte er es nicht getan; stattdessen hatte er die meiste Zeit Xaves beobachtet, der mit steifem Körper neben ihm ritt und kein Wort mehr sprach. Selbst als Lucius versuchte, das Thema erneut aufzugreifen, ging sein Freund nicht darauf ein. Also hatte er aufgegeben und wieder den Wunsch gehabt, sich fallen zu lassen.

Am Stall wurden sie von Liz empfangen. Zuerst schloss sie Lucius in die Arme, dann sah sie sich nach Xaves um, der geknickt von seinem Pferd stieg.

„Xaves, du-“

Er schüttelte den Kopf und ging an ihnen vorbei. Noch nie war ihr sein Rücken derartig schmal vorgekommen, der Junge noch nie so zerbrechlich. Dann merkte sie, dass Lucius in ihren Armen wie ein nasser Sack wurde und begriff, dass die Erschöpfung über ihn gesiegt hatte.
 

Der Prinz wurde ins Bett gelegt, an der Tür stand dabei Xaves und beobachtete Liz, wie sie sich um ihn kümmerte. Sie zog ihm die Kleider aus und säuberte seine Arme, sein Gesicht mit einem Lappen. Xaves wusste, das dies eigentlich seine Aufgabe war, doch er konnte sich nicht einen Millimeter rühren.

Als Liz fertig war, stand sie auf. Erst jetzt bemerkte sie ihn im Türrahmen, er aber sah das Mitleid in ihren Augen sofort.

„Willst du zu ihm?“, fragte sie sanft.

Er schüttelte bloß den Kopf, senkte diesen und fühlte sich so unglaublich schwach.

„Er wird traurig sein, wenn er aufwacht und du nicht da bist…“

Xaves wusste das, deshalb nickte er nur. Dann drehte er sich um und ging hinüber in sein Zimmer. Er wusste, dass er sich daran gewöhnen musste; wieso also nicht gleich damit anfangen.

Die Kleider von sich geschleudert krabbelte er in das Bett, welches er seit einer Ewigkeit nicht mehr benutzt hatte. Es war härter als das des Prinzen; außerdem erschien es ihm viel kälter.

Er vergrub sein Gesicht im Kissen als er hörte, wie jemand den Raum betrat.

„Xaves…“, setzte Liz sich zu ihm aufs Bett und er spürte ihre Hand auf seinem Rücken.

Er krümmte diesen, wollte die Berührung abschütteln, doch so leicht ließ sie sich nicht beirren. Sie streichelte ihn weiter und es trieb ihm wie schon viel zu oft an diesem Tag die Tränen in die Augen.

„Ich wusste, dass es passieren würde“, stieß er gegen das Kissen, drehte sich dann schwungvoll um und warf sich in ihre Arme. „Ich wusste es… aber ich will es nicht!“

Liz aber nickte nur und strich ihm durchs Haar, ganz ruhig und gleichmäßig, während Xaves redete und immer wieder sagte, dass er es nicht wollte.

„Das ist nicht fair!“

Nun seufzte Liz und drückte ihn etwas näher an sich heran. Das Baby aus ihrem Bauch war vor zwei Monaten entbunden worden. Heute hatte sie die ganze Zeit nur bei ihrem kleinen Mädchen sein wollen, doch als sie mitbekam, was geschehen war, als sie dann noch hörte, dass die beiden Jungen verschwunden seien, hatte es sie nicht mehr still gehalten. Und nun war sie froh darüber, hier zu sein; sie war froh, dass Xaves ihr vertraute und sich an sie klammern konnte.

„Wann kommt sie?“, fragte der schluchzende Junge irgendwann, doch sie konnte ihm keine Antwort darauf geben. Er nahm dies zur Kenntnis und wurde ruhiger, obwohl der Schmerz immer weiter wuchs. Langsam hatte er keine Kraft mehr, zu kämpfen, und dann schlief er ein.
 

Liz blieb noch lange bei den Jungen sitzen, obwohl es sie auch verlangte, nach Lucius zu sehen. Doch Xaves klammerte sich so sehr an sie heran, dass sie es nicht wagte, seine Arme zu lösen. Dann aber trat ihr zweites Sorgenkind von alleine in ihr Blickfeld; die traurigen, müden Augen sahen sie leer an.

„Er schläft“, flüsterte sie leise.

Lucius nickte bloß, schleppte sich auf seinen schwachen Beinen zum Bett heran und krabbelte dann ganz selbstverständlich hinein. Noch nie hatte er hier geschlafen, doch das Kissen fand sich ganz von alleine. Liz verstand und hob den schlafenden Jungen hoch, legte ihn direkt neben seinem Freund wieder ab. Der schlang sofort die Arme um ihn und vergrub sein Gesicht in den blonden Haaren. Ihr brach es zum schon so vielten Male das Herz, während sie zurück trat, das Licht löschte und die beiden in der Dunkelheit des kommenden Winters alleine ließ.
 

Lucius fand im fremden Bett lange keinen Schlaf mehr. Er lauschte auf den ungleichmäßigen Atem seines Freundes, während er selbst die Augen hinunterdrückte und versuchte, an gar nichts zu denken. Natürlich, mit den Ereignissen des Tages im Kopf, gelang dieses Vorhaben überhaupt nicht. Ständig wieder hörte er die Worte seines Vaters in den Ohren und er wollte immer wieder instinktiv den Kopf schütteln; und dann hörte er wieder Xaves’ Worte, welche ihn nur noch mehr zerrissen.

„Wie könnte ich das zulassen“, flüsterte er in den Raum hinein. „Ich will dich nicht verlieren…“

Doch wirklich ein Ausweg fiel ihm nicht ein. Er wusste, dass seine Eltern es niemals zulassen würden, dass er mit einem Diener zusammen war. Sie würden ausflippen und wer weiß, welche Strafe auf sie beide zukommen würde.

Doch was konnte er tun, außer die Wahrheit zu sagen?

Welche Wahl, welche Möglichkeit hatte er?
 

Der Prinz schlief ein über diese Gedanken hinweg und als sein Diener viel später, als die Dunkelheit bereits lange über ihnen lag, aufwachte und einen Körper an sich spürte, dachte er zunächst an Liz. Doch sofort danach erkannte er den bekannten Geruch, dann den Atem, den er schon so oft gelauscht hatte. Sein Verstand sagte ihm, dass das hier falsch war, dass er sofort aus dem Bett springen wollte, doch er gab ihm nicht nach, diesem schrecklichen Gefühl, sondern dem anderen, der Wärme, welche sein Herz umfing. Und so drückte er sich näher an den schlafenden Körper heran, lauschte dem vertrauten Herzschlag und dachte ebenso wie dieser zuvor an das, was ab nun auf die zukommen würde.

Was konnte er schon tun, außer einfach abzuwarten?

Kälte zwischen unseren Herzen

Vom Morgengrauen wollten beide Jungen nichts wissen. Sie erwachten fast zur selben Zeit und gruben sich tiefer unter die Decke, klammerten sich aneinander und versuchten wieder, Schlaf zu finden. Es gelang nicht, denn geschlafen hatten sie schon genug, und zudem quälten sie die Gedanken viel zu arg.

Lucius griff nach Xaves’ Hand und berührte sie sanft mit den Lippen. Er wollte dem Jungen sagen, dass er ihn nie loslassen würde, doch die Worte wollten ihm nicht über die Lippen dringen. Stattdessen schwieg er einfach und sie sahen sich an, mit einer Trauer im Blick, die sie beide noch nicht erfahren hatten.

Um diese zu vergessen, begannen sie sich zu küssen und merkten sofort, wie gut dies als Ablenkung tat. Schnell wurden ihre Berührungen intensiver und sie schafften es schließlich, wenigstens für kurze Momente der gemeinsam Ekstase und Sehnsucht, nicht mehr an ihre Sorgen zu denken.
 

Anschließend waren sie erneut eingeschlafen, eng miteinander verwoben, und wurden schließlich von Liz geweckt, welche das Frühstück ausnahmsweise in dieses Zimmer brachte. Es fiel heute sehr spärlich aus, denn sie hatte richtig gedacht: die Jungen hatten überhaupt keinen Hunger.

„Soll ich euch sonst etwas bringen?“, fragte Liz daher und stellte das Tablett auf einer Kommode nahe dem Bett ab.

Lucius schüttelte den Kopf, während er Xaves näher an sich zog, falls irgends möglich. Er plante, den gesamten Tag über dieses Bett nicht mehr zu verlassen.

Doch das musste er tun, ziemlich bald schon, als Liz erneut kam, mit noch besorgtem Blick als zuvor.

„Eure Mutter will euch sehen“, erklärte sie.

„Wann?“

„So bald wie möglich.“

Lucius nickte und sie ging wieder. Er presste die Lippen auf Xaves’, damit er nicht wieder anfangen würde, zu schreien.
 

Der Weg zum Arbeitsgemach der Mutter fiel ihm ausgesprochen schwer. Xaves hatte nicht mitkommen wollen, doch Lucius bat ihn mit flehendem Blick so lange, bis der Junge endlich resignierend nickte. Also schlichen sie nun gemeinsam den Gang entlang und Lucius spürte, wie er sich mit jedem Schritt kleiner fühlte. Er schämte sich vor Xaves, dass er noch immer keine Lösung des Problems im Sinn hatte. Dabei hatte er auch noch immer nicht vor, das Geplante geschehen zu lassen.

An der Türe trennten sie sich. Am liebsten hätte Lucius seinen Freund geküsst, zwang sich aber, es hier nicht zu tun. Es waren zu viele Augen um ihn herum; er wusste ja nicht, dass sie bereits alle seit langer Zeit die Wahrheit erkannt hatten.

Er schlich durch die Tür, welche hinter ihm schwer ins Schloss fiel. Seine Mutter saß hinter ihrem riesigen Schreibtisch und lächelte ihn an. Er kam nicht drum herum, zu denken, wie kühl sie auf ihn wirkte.

„Was willst du?“, blieb er trotzig wie das Kind, welches er auf gewisse Weise ja immer noch war, mitten im Raum stehen.

„Mit dir reden, setz dich doch bitte.“

„Nein.“

„Lucius, setzt dich!“ Es kam scharf und bestimmt und er setzte sich endlich ihr gegenüber. Das kühle Lächeln gefror noch mehr.

„Und jetzt?“

Sie überhörte absichtlich den trotzigen Ton und war wieder nur froh, dass ihr Gatte nicht bei ihr war. Der König war bereits wutentbrannt überall herumgetobt und hatte alle möglichen Drohungen und Flüche ausgesprochen. Wenn in diese Wut hinein nun noch die Wut des Sohnes fließen würde, ginge er vermutlich irgendjemandem an die Gurgel.

Also hatte sie zu ihrem Ehemann gesagt, dass sie gerne diesen Moment alleine mit Lucius sein würde, alleine mit ihm sprechen. Sie glaubte, dass es etwas bringen würde, etwas Mutterliebe zu zeigen, damit er ruhiger wurde, sich vielleicht umstimmen ließe. Das Problem, welches sie dabei leider nicht sah, war, dass sie nie gelernt hatte, wie echte Mutterliebe aussah. Wie also könnte sie sie geben?
 

Das Gespräch, welches nun in diesem Zimmer geführt wurde, lief entsprechend sachlich ab, nicht wie zwischen Mutter und Sohn. Fast ähnelte es einer Verhandlung, zumindest wenn Lucius auch etwas hätte vorweisen können, um seine Mutter zu bestechen. So aber fragte sie ihn schließlich lediglich, ob er das Mädchen wirklich nicht heiraten wollte.

„Nein!“, war die Antwort. „Und auch keine andere!“

Sie überhörte den zweiten Teil geflissentlich und nickte ruhig.

„Nunja, vielleicht bist du auch einfach noch zu jung…“

Er wollte protestieren, doch sie brachte ihn mit einer Bewegung zum Schweigen.

„Ich werde mit deinem Vater reden, vielleicht warten wird noch ein Jahr… vielleicht, bis du siebzehn bist… das wäre doch ein gutes Heiratsalter, nicht wahr?“

Wieder wollte er sie anfahren, doch auch dieses Mal brach sie ihn ab, sagte, dass das Gespräch damit beendet sei. Ohne einen Funken mütterlicher Liebe gespürt zu haben, verließ Lucius also den Raum und begriff noch kaum, was er gehört hatte.

Erst als er nach Xaves’ Hand griff und den Jungen mit sich zog, als er den Wortlaut wieder gab und die Worte bedachte, erst da wurde ihm klar, was es wirklich bedeutete. Und dort, als gerade niemand in Sicht war, mitten auf einer riesigen Treppe griff er sich den Freund und küsste ihn stürmisch, überschwänglich, verlangend. Er jauchzte und sagte, dass er nun erst recht nicht mehr heiraten würde. Sie hatten einmal nachgegeben, sie würden es wieder tun. Er glaubte fest daran; Xaves wusste es besser.
 

~ * ~
 

In den kommenden Wochen kühlten die Temperaturen ab und während Lucius das wahrnahm, musste er auch erkennen, dass auch etwas anderes immer Kälter wurde; seine Beziehung zu Xaves veränderte sich zusammen mit der Jahreszeit.

Man hätte nicht genau benennen können, woran dies lag, es war wohl der große Schrecken, den sie beide bekommen hatten, der sie nun nicht mehr so unbeschwert zusammenkommen ließ. Sie schienen nicht mehr die Jungen zu sein, welche sich im Sommer liebend auf der Wiese getollt hatten; sie lachten nun viel weniger und auch wenn sie weiterhin die meiste Zeit beisammen waren, konnte jeder beobachten, dass sie irgendetwas auseinander trieb.

Auch die Jungen selbst erkannten dies deutlich, beide für sich, auch wenn sie nicht darüber zu sprechen wagten. Lucius machte es Angst, da er noch immer daran festhielt, dass er Xaves nicht verlieren wollte; dieser hingegen redete sich immer wieder ein, dass es gut so war. Auf diese Weise würden sie ihre Zeit miteinander haben, welche begrenzt war und irgendwann vergehen würde; und je weiter sie bis dahin voneinander wegtreiben würden, desto leichter würde ihnen auch die Trennung fallen. So weit reichte zumindest die Theorie, doch Xaves wusste schon, dass es in Wirklichkeit nicht so einfach sein würde, für sie beiden nicht.

Vielleicht hatten die beiden Jungen auch die Hoffnung, dass die Beziehung zusammen mit dem Frühling wieder neu entkeimen würde, doch die ersten Knospen sprossen und sie sprachen kaum noch lange miteinander, selbst wenn noch immer Abend für Abend im Arm des anderen lagen.

Viel Zeit verbrachten sie in dieser Zeit einzeln mit ihren Pferden. Das war schon einmal so gewesen, damals, nach Xaves’ Zimmerwechsel, und ähnlich wie damals versuchte Lucius auch dieses Mal die Worte zu hören, die sein Freund der Stute ins Ohr flüsterte. Er verstand sie alle nicht und war unendlich traurig, dass Filena viel besser wissen musste, was in Xaves vor ging.
 

Doch soweit sie auf psychischer Ebene auseinander drifteten, soweit wuchsen sie auf der physischen zueinander. Wahrscheinlich war es für die beiden Jungen die einzige Möglichkeit, sich noch wirklich beieinander fallen zu lassen oder ihre Gefühle zu zeigen. Aus dem Grunde küssten sie sich viel, oft, fast überall. Sie genossen diese Liebkosungen sehr und streichelten einander gerne, berührten sich leidenschaftlich und trieben sich gegenseitig zum Höhepunkt. Doch jedes Mal, sobald es vorbei war, schien die Luft um sie herum viel zu schnell abzukühlen und zusammen ihre Herzen.

Lucius beschloss irgendwann für sich selbst, dass er nicht mehr darüber nachdenken wollte. Sein Geburtstag ging zwischen ihnen leise vorbei, ebenso der Xaves’. An dessen Abend lagen sie wieder beieinander im Bett und hielten sich nur an den Händen gefangen. Jeder starrte in seine eigene Welt, verschwand in seinen eigenen Gedanken, bis der Prinz den Kopf drehte und seinen Liebsten ansah. Er beobachtete ihn gar und spürte wie ihm das Herz schmerzte. Letztes Jahr noch hatte er geglaubt, alles in den blauen Augen lesen zu können, nun sah er in ihnen nichts mehr. Sie schienen irgendwo an einen unendlich weit entfernten Ort zu starren, den Lucius nicht sehen konnte, egal wie weit er danach suchte.

Die Erkenntnis schmerzte ihn so sehr, dass er sich fester an die Hände des Freundes krallte und er schluchzte trocken, kämpfte mit seinem Herzen. Nun erst sah Xaves ihn direkt an und sein Blick war leer, irgendetwas fehlte ihm in den Augen.

Sanft dennoch streckte er die Hand aus, berührte damit die Wange des Prinzen, der sich an sie presste und dem Tränen ins Laken sickerten.

„Wo bist du?“, brachte Lucius hervor und hielt die Lippen gegen die Hand. „Wieso gehst du an einen Ort, zu dem ich dir nicht folgen kann?“

Er schluchzte und Xaves konnte nichts weiter, als ihn in die Arme zu schließen und fest an sich zu drücken.

„Ich bin bei dir“, flüsterte er sanft und küsste das dunkle Haar. Er selbst zwang sich, nun nicht zu weinen.

„Und dennoch bist du nicht hier“, krallte Lucius seine Hände in des Jungen Rücken. „Ich spüre dich nicht.“

Daraufhin drückte Xaves ihn von sich und küsste ihn fest, ließ die Zunge in den warmen Mund wandern und ließ Leidenschaft sie umfangen. Auch Lucius wurde von ihr ergriffen und irgendwann drehte er sich so, dass Xaves unter ihm lag, dass er ihn in die Kissen drückte und seine Tränen auf das andere Gesicht hinab tropften. Er beendete den Kuss und sah seinen Freund an, berührte diesen im Gesicht und schüttelte den Kopf.

„Ich spüre dich bei mir… aber aus mir gehst du fort…“

Xaves schüttelte den Kopf, griff hinauf in die dunklen Haare und zog ihn zu sich. Er küsste ihn fester und glitt dann mit den Lippen zum Ohr hinüber.

„Ich werde immer in dir sein, immer, verstehst du? Ich lasse dich nie ganz alleine…“

Lucius’ Weinen wurde stärker und er wollte seinem Liebsten so gerne Glauben schenken, doch irgendetwas riss sein Herz entzwei, mit jeder Sekunde etwas weiter.

„Warum verändern wir uns?“, drang es über seine Lippen hinweg. „Warum passiert das mit uns?“

„Weil es nicht sein darf.“ Das war die einfache Antwort, welche Xaves sich selbst immer wieder gab, seit diesem einen Vorwintertag. Er glaubte mittlerweile daran und es erklärte für ihn alles, so ungern er es sehen wollte. Gleichzeitig führte es aber wohl auch dazu, dass sie sich tatsächlich noch viel leichter voneinander entfernten.

Es war ein Teufelskreis und sie drehten sich immer weiter darin herum.
 

In jener Nacht ließen die beiden Jungen ihre Trauer und Wut am anderen Körper aus. Sie packten fest zu und krallten sich ineinander, bissen sich so in die Haut, dass es schmerzte, wenn es auch nicht riss, und drängten ihre Körper in immer heftigeren Stößen zusammen. Sie verbanden sich auf diese Weise, doch eben diese Bedeutung des Aktes ging dabei verloren. Nun half er ihnen alleine dabei, für eine Sekunde weniger Schmerzen zu spüren und weniger zu weinen, sondern zu stöhnen und wenigstens einen kleinen, ganz winzigen Moment lang gedankenlos im Arm des anderen liegen zu können.

Zu schnell jedoch verließ sie der Moment wieder und so kühlte der Schweiß ihre Körper, während sie noch immer die Hände des anderen nicht loslassen wollten und irgendwie in den Schlaf glitten, der schon lange nicht mehr erholsam für sie schien.
 

Die Wochen zogen dahin und die beiden Jungen begannen häufiger, sich wegen Kleinigkeiten in den Haaren zu liegen. Mal ging es um die Pferde, dann ums Essen, letztendlich nur um irgendwelche Kleider. Es waren wirklich nur Lappalien, über die sie früher vielleicht gelacht hätten, doch nun hörte man oft erboste Schreie aus ihren Zimmern kommen.

Liz, die all das schon seit dem Winter mit Sorge verfolgte, konnte es kaum noch mit ansehen oder -hören. Sie wiegte ihr Baby in ihren Armen und wünschte sich, den beiden auf irgendeine Weise zu helfen. Doch ihr fiel nichts ein, genauso wenig wie die gutmütige Köchin Calia einen Rat wusste. Auch sie spürte die immer weiter wachsende Distanz zwischen den Jungen und obwohl ihr der Verstand sagte, dass es nur gut so war, konnte sie ihr Gefühl doch nicht betrügen. Sie wusste, was die beiden einander bedeuteten und sie war sich sicher, dass die Gefühle sich nie geändert hatten, sondern vielleicht heute nur noch stärker existierten. Doch neben ihnen gab es auch eine Angst, welche stärker schien. Sie hieß Trennung, Verlust, Alleine sein… also trieben die Jungen sich gegenseitig und selbst weiter zur Erfüllung dieser Angst hin. Nur damit sie den Zeitpunkt selbst bestimmen könnten. Denn irgendwann würde es soweit sein, dieser Gedanke regierte in ihnen beiden.

Was uns verbindet und trennt

Es war ein warmer Sommerabend, an dem Lucius alleine von einem Ausritt zurückkam. In der letzten Zeit passierte es öfter, dass sie alleine unterwegs waren, vielleicht um ihre Gedanken zu sortieren oder um sich irgendwo selbst wieder zu finden. Lucius ritt dann oft zu der Stelle hin, an der er Xaves vor Monaten gefunden hatte. Hier kauerte er sich an einem Baum nieder und versuchte, den Moment wieder und wieder zu durchleben. Es schmerzte ihn höllisch, wenn er die Worte wieder hörte, wenn er den Blick wieder sah, den Abschied in den blauen Augen, selbst wenn deutlich zu sehen gewesen war, dass der Junge es auch nicht wollte. Dennoch war der Ausdruck da gewesen und es war grausam schwer, sich daran zu erinnern. Lucius fragte sich, ob er irgendeinen Fehler begangen hatte, aber er kam auf keinen einzigen. Nur seine Herkunft war falsch, nur da lag ihr Problem begraben. Er war ein Prinz, Xaves aber ein normaler Junge. Wenn sie dies beide wären, ob sie dann zusammen sein könnten?

Er war auch an diesem Sommerabend zu keinem Ergebnis gelangt, da der Gedanke unweigerlich damit einherging, dass er in dem Falle, ein ganz normaler Junge zu sein, Xaves wahrscheinlich niemals begegnet wäre. Und so ritt er mit diesem erdrückenden Gefühl auf den Stall zu, stieg von Calvaro hinab und führte diesen in seine Box. Hier den Hengst trocken reibend, vernahm er ein Stück weiter entfernt eine Melodie. Sie war ihm bekannt, war es doch das Lied, welches er früher immer von Xaves hatte gesungen bekommen wollen. Zögernd schlich er sich an die Box Filenas heran, obwohl er sich eigentlich sicher war, dass Xaves ihn und Calvaro ohnehin gehört hatte.

Der blonde Junge aber summte immer weiter, während er mit der Bürste über das Fell der Stute fuhr, die sichtlich diese Liebkosungen genoss. Lucius lehnte sich gegen das offene Gatter und beobachtete seinen Freund dabei, während die Melodie immer weiter an sein Herz heran trat.

Eine unglaubliche Melancholie ergriff von ihm Besitz. Dann verstummte das Summen mit einem Mal.

„Am ersten Tag habe ich dich gehasst“, traten stattdessen Worte an ihre Stelle; sie wogten schwer zu Lucius hinüber.

Der trat nun endlich neben Xaves an Filena heran. Er antwortete nicht, denn er glaubte, dass es besser war; scheinbar wollte Xaves einfach sprechen.

„Das war, weil dein Vater meine Eltern hat umbringen lassen und mich danach als deinen Diener einstellte… daher glaubte ich, dass ich dich hassen müsste… und ich habe geweint in der ersten Nacht.“

„Ich weiß.“ Lucius’ Herz tat weh bei dem Gedanken daran.

„Aber schon am nächsten Tag…“, fuhr Xaves fort, „hab ich angefangen… zu merken, dass ich dich eigentlich gar nicht hassen wollte… immerhin warst du das einzige Kind in diesem großen Haus… und Calia sagte mir, dass du niemanden hattest, mit dem du spielen konntest. Also hatte ich Mitleid…“

Lucius runzelte die Stirn. Hass und Mitleid, nicht gerade die schönsten Gefühle, doch ihm tat es trotzdem gut, das zu hören, irgendwie. Seit langem sprachen sie überhaupt wieder über Gefühle.

„Und dann habe ich angefangen, dich zu mögen… du warst nett zu mir und ich hatte dich gern… außerdem lag ich so gerne nachts bei dir im Bett und habe dich atmen gehört. Es beruhigte mich immer so sehr…“

„Beruhigte?“ Lucius betonte die Vergangenheit in dem Wort.

„Ja.“ Nun ließ Xaves die Bürste endlich fallen und drehte sich um. „Es hat sich alles verändert“, drang der Schmerz aus seiner Stimme hervor. „Wir haben uns verändert.“

„Aber weshalb?“, flüsterte Lucius die Frage, welche sie sich beide stellten, hervor.

„Ich weiß es nicht. Dabei liebe ich dich.“

Xaves’ Augen glühten in dem Moment und Lucius’ Herz schrie. Das mag daran liegen, da diese Worte noch nie zwischen ihnen gesagt worden waren. Sie hatten sie gedacht, aber nie gesprochen; nun aber hingen sie in der Luft und verbanden sie beide auf einmal so stark miteinander wie nie zuvor.

„Ich liebe dich auch“, riss Lucius den Jungen an sein Herz heran. Er vergrub seine Lippen bei dessen Ohr und küsste es. „So sehr“, hauchte er hinein.

Und Xaves nickte „Ich weiß“.

Er küsste ihn sanft, griff ihm in die Kleider und drängte ihn zu Boden. Sehr schnell fanden sie einander, mit der nackten Haut und mit einer Leidenschaft, welche sie verloren hatten, in den vergangenen Wochen. Nun aber loderte sie auf, hitziger als sonst, wärmer und erfüllender. Sie umgriffen sich fest und küssten sich oft, lange, gierig. Sie flüsterten sich so viele liebende Worte in die Ohren, die sie lange nur erdacht hatten, und sie spürten, wie die Kälte um sie herum, in ihnen drin, sich auflöste, ganz langsam, mit jeder Berührung und mit jedem Wort, dass sie sich sagten. Es war als würden sie wieder eins werden nach so langer Zeit; zumindest für einige viel zu kurze Minuten konnten sie genau das spüren, bis plötzlich ein spitzer Schrei sie auseinander riss. Ein unverkennbarer Laut, welchen auf dieser Residenz nur eine einzige Person zu Stande brachte. Sie beide erkannten es sofort und es war bereits zu spät, als sie nach ihren Kleidern griffen und aufsprangen, um alles zu bestreiten. Die Königin hatte sie bereits gesehen. Und ihre Lage war eindeutig gewesen.
 

Es war Xaves, der sofort begriff, was passiert war; er war es auch, der aufsprang und sich verbeugte und sagte, dass es nicht so sei wie es aussah.

„Was?“, konnte Lucius da nur flüstern und starrte zwischen seinem Freund und seiner Mutter hin und her. „Was sagst du da?“

Doch die Frau hatte keine Augen für ihren Sohn sondern prüfte mit kaltem Blick den anderen Jungen, der noch immer den Kopf vor ihr senkte.

„Ich war es!“, sagte dieser immer wieder. „Es ist meine Schuld, er wollte es nicht!“

„Xaves! Das ist nicht-“ Nun sprang auch Lucius auf, doch ehe er weit sprechen konnte, schüttelte Xaves heftig den Kopf.

„Doch!“, schrie er nun fast. „So hören Sie doch, es war meine Schuld!“

Die Königin war noch immer schreckensbleich und wusste nichts mit dieser Situation anzufangen. Das was sie gesehen hatte, schien ihr so unwirklich und doch war es passiert, das wusste sie; sie konnte nur nicht damit umgehen.

Mitten im Betteln und Bitten Xaves’, man möge ihn bestrafen, nicht aber Lucius, drehte sie sich einfach um und ging. Ihr Blick war starr und die Pferdebürste, welche sie sich eigentlich für ihre Stute genommen hatte, fiel ihr irgendwo auf dem Weg aus der Hand. Ihre Schritte trieben sie einfach immer weiter, zurück zur Residenz, eine Treppe hinauf, in ihr Arbeitszimmer hinein. Niemand wusste was für ein Jähzorn in ihr brodeln konnte. Nur der König kannte diese Seite seiner Frau, nur er wusste, dass sie ebenso wie bisweilen ihr Sohn von Zerstörungswut gepackt wurde, wenn sie sauer war. Und sauer, das war sie, in diesem Moment. Sie konnte ihre Wut nicht greifen, da ihr Kopf das Gesehene nur sehr schwer verarbeitete, doch sie schlug einen schönen Krug zu Scherben, weil ihr das Klirren gut tat, und sie fegte ihren gesamten Tisch leer. Noch viel mehr ging zu Bruch, doch es half ihr nicht. Letztendlich brach sie davor zusammen und in Tränen aus.

Wie hatte so etwas nur ihrem Sohn passieren können?
 

Die Jungen waren alleine im Stall zurückgeblieben und minutenlang, wie es schien, bewegte sich keiner vom Fleck. Xaves weinte jetzt und Lucius begriff, vielleicht ebenso wie seine Mutter, noch überhaupt nicht, was soeben geschehen war. Dann aber, in der nächsten Sekunde, fuhr er vor, riss Xaves herum und zwang diesen, ihm ins Gesicht zu sehen.

„Sag mal… spinnst du?“, schrie er so laut, dass Filena ihm mit der Schnauze gegen den Rücken stieß. Sie wollten ihren Herrn schützen, so schien es.

Xaves reagierte nicht, sah ihn nicht mal direkt an, und das machte Lucius nur noch rasender. Er fuhr in der Box herum, in ihm kämpfte irgendetwas, und er konnte nur schwer mit ansehen, wie Xaves in seine Kleider schlüpfte. Dann ließ der Junge ihn alleine.

„Sprich mit mir!“, brüllte Lucius ihm hinterher, aber ohne Kraft, ihn nochmals festzuhalten oder nachzulaufen. „Sprich mit mir!“

Xaves aber ging ungeachtet des Flehens seines Freundes. Er ertrugt Lucius’ Nähe gerade nicht länger, denn er wusste, dass an dieser Stelle nun alles ein Ende gefunden hatte. Wahrscheinlich auch sein Ende.
 

Liz war es, die den verzweifelten Prinzen bei Filena fand. Xaves hatte ihr gesagt, dass sie nach ihm sehen sollte; er hatte ihr mit blassem Gesicht aber nicht sagen wollen, was geschehen war. Doch es musste schrecklich sein, soviel hatten seine Augen verraten, und nun, da sie Lucius neben Filena gekauert fand, nackt und zitternd, wusste sie, dass es vielleicht noch viel schlimmer war, als sie zunächst angenommen hatte.

Sie wickelte eine Decke um ihn herum. Diese roch nach Pferd, aber sie war warm und er schmiegte sich in sie hinein; er ließ sich auch in Liz’ Arme ziehen.

„Was ist passiert?“, fragte sie ihn, doch er reagierte nicht darauf. „Was ist denn nur?“

Der Junge ließ sich nicht hochziehen, also blieb sie bei ihm sitzen, sah ihm zu, wie er ins Nichts starrte. Seine Lippen zitterten dabei und es schien, als würde er gerne weinen, könne es aber aus irgendeinem Grunde nicht.

Und dem war so. Lucius spürte es selbst, wie ihm die Wut, die Trauer im Körper brannte, doch irgendwas hielt sie in ihm zurück. Die Verzweiflung vielleicht, oder der Gedanke an Xaves’ Worte.

Weshalb hatte der Junge die Schuld auf sich geschoben?

Wieso war er ohne ein Wort gegangen?

Hatten sie nicht gerade wieder begonnen, miteinander zu sprechen, einander zu fühlen und zu verstehen?

Das alles war zu viel für Lucius’ Verstand. Er begriff es nicht. Zudem konnte er noch immer den Schrei der Mutter in den Ohren klingen hören. Sie hatte sie gesehen, in einer eindeutigen Lage, welche keine Missverständnisse zuließ. Und er wusste, dass das nichts Gutes bedeutete. Er wusste, dass sich nun etwas verändern würde; drastisch und vermutlich sehr schnell. Er konnte sich bloß nicht ausmalen, was es war.

Er wollte es sich nicht ausmalen.
 

Irgendwann schaffte Liz es doch, den Jungen rein zu bringen. Er fror fürchterlich und sie ließ ihm ein Bad ein, blieb daneben sitzen, damit er nicht im Schaum versank. Er aber war steif und bewegungslos in der Wanne und starrte noch immer vor sich hin. Ihm war das alles zu viel; er hatte keine Ahnung, wie es nun weitergehen könnte.

„Sie hat uns gesehen“, flüsterte er irgendwann.

Liz verstand ihn nicht, da sie nicht darauf vorbereitet gewesen war, dass er so plötzlich sprechen würde. Also fragte sie nach und in dem Moment drehte er den Kopf zu ihr. Verzweifelte Augen blickten in ihre.

„Mutter… sie hat uns gesehen.“

Natürlich wusste Liz nicht, in welch prekärer Situation genau die beiden Jungen erwischt worden waren, doch andererseits konnte sie es sich denken, hatte sie den Prinzen doch nackt vorgefunden. Dementsprechend wurde sie nun blass wie er und schloss den geöffneten Mund, weil ihr nicht sofort etwas als Erwiderung einfiel.

„Was passiert denn jetzt?“, stellte Lucius die Frage endlich irgendwann, nachdem Liz noch immer nichts gesagt hatte. Seine Augen schienen mit jeder Sekunde mehr nach Erlösung zu flehen.

„Ich weiß es nicht“, kam es ihr nur schwer über die Lippen und sie streckte die Finger aus, um sein Haar zu berühren.

Er zuckte zusammen, als sie es tat, blieb aber ruhig sitzen.

„Alles wird sich ändern, nicht wahr?“, flüsterte er dann und ihr blieb nichts anderes übrig, als zu nicken.

Deine Vernunft ist mein Verzweifeln

Mittlerweile hatte die Königin ihrem Gatten erzählt, was geschehen war. Dieser, nicht weniger erschüttert denn sie, brauchte einen Moment, bis er es überhaupt realisiert hatte, was soeben über ihre Lippen gedrungen war. Und dann sank er in seinen Sessel hinein, kreidebleich und nicht begreifend, wie so etwas schrecklich hatte passieren können.

„Der Diener sagt“, sie nutzte seinen Namen aus Abscheu nicht, „dass es seine Schuld sei.“

„Das muss es sein“, nickte der König abwesend und faltete die zitternden Hände. „Lucius würde niemals…“

Er sprach nicht zu Ende, sondern schüttelte nur den Kopf, um sich selbst zu bestätigen. Nein, niemals würde sein Sohn freiwillig etwas Derartiges tun. Dazu war er nicht erzogen worden!
 

Das Thema spross noch weiter durch die Residenz hindurch. Außer Liz wusste zwar niemand, was geschehen war, doch die Scherben in der Königin Gemach musste beseitigt werden und es war für alle ersichtlich, dass etwas vorgefallen war. Außerdem hatte man einen bleichen Xaves durch die Flure laufen sehen, bis er nicht in des Prinzen, sondern in seinem eigenen Zimmer verschwunden war. Das alleine war schon ungewöhnlich genug. Irgendetwas war vorgefallen, doch niemand malte sich aus, wie schlimm es war.
 

Xaves hatte sich in seinem Bett zusammen gekrochen und war vollends verzweifelt. Immer wieder schüttelte er den Kopf und konnte immer noch nicht fassen, dass sie wirklich gesehen worden waren, genau in dem Moment, in dem alles wieder in eine bessere Richtung gegangen war.

Er hielt sich die Ohren zu, als er das von Lucius gesprochene „Ich liebe dich auch“ in seinen Erinnerungen hörte, doch es half nichts, schallte es doch wieder und wieder in seinem Kopf herum. Er hatte immer gesehnt, irgendwann diese Worte zu hören, obwohl er auch so gewusst hatte, dass die Gefühle existierten; doch nun wäre er froh, wenn sie nie in diesem Stall hervorgedrungen wären.

Mitten in diesen Qualen vernahm er, wie die Tür geöffnet wurde. Einerseits rechnete er mit dem Schlimmsten, andererseits dachte er, es könnte Lucius sein, vor ihm aber stand Liz mit mitleidigem Blick.

„Der Prinz möchte dich sehen“, sprach sie vorsichtig und ahnte schon, dass er sofort den Kopf schütteln würde.

Und dem war so, Xaves krampfte sich zusammen und verzog wie schmerzvoll das Gesicht.

„Ich kann nicht“, sagte er und sah sie flehend an. „Ich kann das jetzt nicht…“

„Aber du musst.“ Sie trat langsam zu ihm ans Bett heran, streckte die Hand nach ihm aus. Eindringlich sah sie ihn an, mit so viel Trauer in den Augen. „Vielleicht ist es das letzte Mal.“

Und da weinte er, als sie dies sagte. Er ließ zu, dass ihre Arme ihn umschlangen und er drückte sich gegen die schwesterliche Brust. Er schüttelte immer wieder den Kopf und wiederholte, dass er das nicht ertragen würde. Letztendlich jedoch wusste er, dass sie Recht hatte. Wenn er Lucius noch mal sehen wollte, war dies womöglich die letzte Möglichkeit dazu. Wer wusste schon, wie schnell das Königspaar ihn von hier verbannen ließ. Oder schlimmeres.
 

Lucius war noch immer wie erstarrt, lag regungslos in seinem Bett und starrte aus dem Fenster hinaus, als er zweierlei Schritte kommen hörte. Er drehte den Kopf und fuhr erleichtert in die Höhe, als er Xaves sah. Der allerdings hatte den Blick gesenkt und wirkte abwesend. Liz schob den Jungen ins Zimmer, verbeugte sich kurz und schloss dann die Tür von außen. Lucius sprang sofort aus dem Bett heraus und lief zu seinem Freund. Er schlang die Arme um den Körper und vergrub seine Nase im geliebten Duft des Haares.

„Ich lass nicht zu, dass sie uns trennen!“, flüsterte er energisch. „Ich werde das nicht zu-“

Er brach ab, da Hände sich gegen seine Brust stemmten. Xaves entfernte sich einen Schritt rückwärts. Nun hob er den Blick und seine blauen Augen schienen Lucius traurig entgegen.

„Das kannst du nicht“, sprach die flache Stimme. „Und das darfst du nicht.“

„Wie meinst du das?“ Lucius fuhr vor, doch Xaves wich nun zur Seite weg.

„Wir müssen sagen, dass ich es war. Ich bin schuld, ich habe dich verführt. Du kannst zu all dem nichts. Und es ist nur dieses eine Mal geschehen.“

Man merkte, das Xaves sich diese Worte zurechtgelegt hatte; auch Lucius merkte das und es machte ihn wütend.

„Aber es stimmt nicht!“, schrie er und griff nach seinem Liebsten. „Ich bin genauso schuldig! Ich werde dich nicht gehen lassen!“

„Aber das musst du.“ Xaves zog an seinen Armen. „Wenn du mich liebst, musst du das tun.“

„Ich verstehe dich nicht.“

„Du bist ein Prinz, Lucius. Du hast Pflichten und diese gehört dazu. Du kannst dem nicht entrinnen.“ Es klang bitter und endgültig.

„Aber-“

„Du kannst es nicht.“
 

Lucius hatte Xaves festhalten wollen. Er hatte ihn küssen, berühren, überzeugen wollen. Doch der Blonde wehrte sich gegen den Griff und auch gegen einen weiteren Blickkontakt. Er hatte gesagt, was er hatte sagen wollen; mehr würde er nicht ertragen.

Doch Lucius lief ihm hinterher, bis in das andere Zimmer hinein. Hier schrie er ihn an, hier begann er zu weinen und zu flehen.

„Das kann nicht dein Ernst sein!“, sagte er wieder und wieder, doch Xaves blieb stur.

„Es ist mein ernst“, sagte er nur. „Ich werde bald hier weg sein und du wirst weiter leben ohne mich.“

„Das kann ich nicht!“

„Du musst es, du hast gar keine Wahl.“

Xaves schien mit einem Mal so viel älter zu sein als er, so viel erwachsener, ernster, entschlossener. Vielleicht lag es daran, weil er schon seit Monaten, wenn nicht seit Jahren auf diesen Zeitpunkt gewartet hatte. Bereits zuvor hatte er sich selbst so weit gedrängt, diesen Schritt zu akzeptieren; nun also wäre es so weit. Er hatte sich geschworen, dass er den Prinzen nicht binden würde. Das durfte er nicht, nicht er als der Diener. Er musste ihn frei lassen, ihm vielleicht sogar Mut zu sprechen. Und das tat er, immer wieder, egal wie sehr es ihn selbst in Stücke riss.

„Du bist stark“, sagte er irgendwann, als Lucius am Boden zusammengesunken war, verzweifelt und erschöpft. Er ging in die Knie und berührte seinen Liebsten vorsichtig im Haar.

„Das bin ich nur mit dir“, flüsterte der Prinz, dem mittlerweile klar war, dass Xaves es ernst meinte. Er hatte es in den Augen gesehen, in dem entschlossenen Blick. Doch er begriff es nicht, er sah keinen Sinn darin.

„Warum kann ich nicht König werden mit dir an meiner Seite?“

„Weil das nicht geht. Du brauchst eine Königin, keinen Diener, erst recht keinen männlichen…“

„Ich will aber niemanden sonst.“

„Darauf kommt es nicht an.“

Es tat Xaves weh, ihn so zerrissen vor sich zu sehen. In dem Moment bereute er alles, was hier je geschehen war. Er bereute, dass er damals zu Lucius ans Bett gekommen war; bereute, dass sie sich des Nachts in den Armen hielten. Er bereute auch, dass er damals im Winter zu dem kranken, frierenden Prinzen ins Bett gekrochen war, um ihn zu wärmen, und er bereute den ersten richtigen Kuss, dass er sich nicht gewehrt hatte, als Lucius einen weiteren hinterher setzte. Sogar seine eigenen Gefühle bereute er; dass er sie zugelassen hatte; dass sie noch immer da waren. Wäre es nicht so, wäre es nie so weit gekommen. Vielleicht würden sie noch immer ab und an das Bett teilen, doch sie wären nur Freunde, die viel zusammen lachten und Spaß hatten, sie würden einander nicht begehren und er könnte immer an der Seite des Prinzen bleiben.

Er könnte für immer bei ihm sein.

Nun in diesem Augenblick erhob er sich, da diese Gedanken ihn unfähig machten, weiter hocken zu bleiben. Er lief im Zimmer herum und versuchte dem Prinzen Vorzüge einer Braut darzulegen. Lucius aber presste sich die Hände an die Ohren, schüttelte den Kopf wieder und wieder. Er wollte das alles nicht hören.

Letztendlich sah Xaves keinen anderen Ausweg mehr.

Er packte Lucius und riss ihn zu sich hoch; er zwang ihn, ihm ins Gesicht zu sehen, er fixierte die braunen Augen genau.

„Hör mir zu“, sprach er nun so deutlich er es konnte. „Wenn sie dich fragen, sagst du ihnen, dass es meine Schuld war, verstehst du?“

„Nein, i-“

„Doch, das wirst du! Auch wenn du es nicht tust, ich werde bald nicht mehr hier sein, und dann hast du nicht nur mich verloren, sondern auch deine Eltern! Also musst du es sagen.“

„Das kann ic-“

„Hör endlich auf damit!“ Nun schrie Xaves. „Du kannst es, du musst es und dir wirst es!“ Er schob den Prinzen zurück zur Tür und sprach Worte, die ihn selbst zerrissen: „Wir hatten unsere Zeit, aber sie ist nun vorbei.“

Und damit stieß er ihn raus und schlug die Tür zu, lehnte sich dagegen und war so froh, der Stärkere von ihnen beiden zu sein. Er begann augenblicklich zu weinen und er hörte das Weinen auf dem Flur. Er hielt sich die Ohren zu und versuchte, nicht mehr zu denken. Dass der Prinz draußen von zwei Bediensteten geholt wurde, das bekam er auf diese Weise nicht mehr mit. Er merkte nur, dass es irgendwann still geworden war und da er dachte, dass Lucius aufgegeben hatte, verzweifelte er nun nur um ein Vielfaches mehr. Und so hoffte er fast, dass sie ihn bald holen würden. Denn ab hier war es ihm egal, was nun mit ihn passieren würde. Ein Leben ohne Lucius wollte er nicht führen, also war es gleich, wie es nun für ihn weitergehen würde.
 

Lucius wehrte sich, doch gegen die beiden starken Männer hatte er keine Chance, vor allen nicht in seinem Zustand. Er wurde zu seinen Eltern gebracht und dort in einen Stuhl gesetzt. Er wollte aufspringen, doch man hielt ihn fest. Und dann sah er das verzerrte, wütende Gesicht des Vaters.

Zunächst hielt der König eine Art Ansprache. Sie war nicht feierlich, sondern drohend. Er sagte, dass er, egal was heute herauskommen würde, Xaves wegbringen lassen würde.

„Nie wieder wird man ein Haar von ihm sehen!“, waren seine Worte, welche Lucius bis ins Mark gefrieren ließen.

„Aber ich habe-“

„Er ist schuldig, so oder so!“, donnerte der Vater auf ihn hinab.

„Aber-“

„Schweig!“

Fast schien der Kronleuchter über ihnen zu erzittern, so laut und finster war das einfache Wort. Und es ließ Lucius tatsächlich schweigen. Doch er schüttelte den Kopf, immer wieder. Er musste daran denken, was mit Xaves’ Eltern geschehen war, nur weil sie etwas kaputtgemacht hatten; er wollte es sich nicht ausmalen, was man ihrem Sohn antun würde.

Und all das war seine Schuld!

Als man Lucius endlich fragte, ob er etwas zu dieser Sache zu sagen habe, schwieg er beharrlich weiter. In seinem Kopf spukte Xaves herum, wie er ihm sagte, dass er ihm die Schuld zuschieben sollte. Doch das konnte Lucius nicht, es würde nur erst recht den Tod seines Liebsten bedeuten. Aber auch sich selbst konnte er die Schuld nicht geben, denn sein Vater hatte mit noch viel mehr gedroht.

„Du wirst es dir nie verzeihen!“, waren die vagen Worte, doch sie genügten, um Lucius schweigen zu lassen.

Und so ging dieser grausame Moment über ihn dahin, ohne dass er irgendeinen Ausweg zu finden vermochte.
 

Nachdem das Königspaar ihn entlassen hatte, wurde er in sein Gemach gebracht. Und hier wurde er eingeschlossen, während er mitbekam, wie Xaves aus dem gegenüberliegenden Raum geholt wurde. Er schrie und stieß sich gegen seine Tür, doch es bracht nichts, und so konnte er nur ahnen, was nun geschehen würde.

Seine Ahnungen waren schlimm, grausam und er bereute augenblicklich, nicht alles versucht zu haben, um Xaves’ Leben irgendwie zu retten. Doch nun war es zu spät. Er fühlte sich schwach, verloren und endlos allein wie noch nie in seinem Leben.

Mit dir am Ende im Dunkeln

Lucius schätzte seine Eltern tatsächlich grausamer ein, als sie es in Wirklichkeit waren. Freilich hatten sie eine Weile über das Schicksal des Dienerjungen beraten, doch an dessen Tod hatten sie nur sehr kurz gedacht. Verbannung war es, worauf es hinaus lief; dabei war es egal, was er ihnen sagen würde.

Und Xaves, zu allem Überfluss, kooperierte. Er sagte, was er zuvor Lucius eingetrichtert hatte. Alles seine Schuld, er habe den Prinzen verführt, dieser könne nichts dafür.

Der Junge wirkte sehr gefasst in diesem Moment, das fand Liz, die nur schwer an sich halten konnte, nicht loszuweinen, wie schon zuvor, als sie dem Verhör Lucius’ beigewohnt hatte. Sie wusste um die Liebe der beiden und wusste, wie schrecklich es für sie sein würde, getrennt zu sein. Selbst wenn sie sich in den letzten Monaten voneinander entfernt hatten, so waren sie im Herzen verbunden geblieben. Was würde geschehen, wenn man dies Band nun endgültig durchtrennte?

Und so reifte ein Plan in der jungen Frau, während das Königspaar noch von Verbannung sprach. Sobald sie es konnte, verließ sie die Richterstätte und ging zu Calia hinüber, denn sie war sich sicher, die gutherzige Köchin würde alles tun, um die beiden Jungen glücklich zu wissen.
 

Der junge, verzweifelte Prinz verbrachte Ewigkeiten auf dem Boden an die Tür gelehnt. Er konnte sich nicht davon wegbewegen, in der Hoffnung, er möge Xaves Schritte draußen hören, obwohl er wusste, dass dies nie wieder der Fall sein würde.

Waren sie nicht am Morgen noch zusammen in seinem Bett aufgewacht? Es hatte Distanz zwischen ihnen geherrscht, dieser merkwürdigen Art, wie sie in den letzten Monaten schleichend entstanden war, aber sie hatten einander doch berührt und waren sich nahe gewesen. Tag für Tag hatten sie es geschafft, die Finsternis zumindest auf Abstand zu halten, doch dann war sie nun doch über ihnen zusammengebrochen. Ausgerechnet in dem Moment, als sie einander endlich wieder verstanden hatten.

Lucius vergrub das Gesicht tiefer in den Händen und verfluchte sein Leben.

Warum musste er als Prinz geboren worden sein? Warum konnte er nicht ein ganz normaler Junge sein? Stattdessen hatte er nun ein Leben vor sich, dass er nie hatte führen wollen. Früher war ihm egal gewesen, wozu er bestimmt war; vielleicht war er damals auch zu jung, um sich darüber Gedanken zu machen. Doch seit Xaves in sein Leben getreten war, hatte sich alles verändert. Er hatte sich verändert und er konnte sich nicht vorstellen, wie aus ihm je wieder der gleichgültige Junge von früher werden sollte.

Er wollte schreien, doch mittlerweile war alle Kraft verschwunden. Er sah in die Dunkelheit seiner Hände und wollte sich nicht fragen, was wohl gerade mit Xaves geschah. Dennoch konnte er im Grunde an nichts anderes mehr denken. Ob sein Freund überhaupt noch atmete? Würde er je erfahren, was mit ihm geschehen war?
 

Irgendwann nickte er dort am Boden ein, frierend und erschöpft. Er glitt in wirre Träume hinein und erst ein Flüstern weckte ihn, eine leise Stimme durch die Tür hindurch.

Er erkannte Liz’ Stimme sofort und fuhr herum.

„Was ist mit Xaves?“, wollte er wissen. „Ist er…“ Er konnte nicht mal die Frage zu Ende aussprechen.

„Ihm geht es gut“, beruhigte Liz ihn. „Er ist im Keller.“

„Was passiert mit ihm?“ Die Erleichterung raubte ihm fast die Stimme.

„Sie bringen ihn fort. Morgen.“

Lucius sprang augenblicklich auf.

„Bring mich zu ihm“, bat er durch das Holz hindurch. „Ich muss ihn sehen!“

Liz zögerte nicht, als sie dies hörte. Sie hatte bereits damit gerechnet, der Schlüssel war schon lange in der Tasche ihrer Schürze gewesen. Sie schloss also die Tür auf und ließ den Prinzen aus seinem goldenen Gefängnis. Anschließend öffnete sie noch ein Fenster und schloss die Tür von außen wieder ab.
 

Lucius war noch nicht oft in den Keller hinab gestiegen. Er wusste, dass es hier viele kleine Räume gab; sie alle waren dunkel, düster und hatten ihn immer geängstigt. Heute jedoch fürchtete er sich vor anderen Dingen mehr, suchte die Schwärze mit den Augen ab und war verwundert, dass jede Wache, die sie passierten, den Kopf zu Boden neigte, ohne ihn sehen zu wollen.

Am Ende eines Ganges schloss Liz eine Tür auf zu einem winzigen, aber durch Kerzenlicht gewärmten Raum. Ein kleines Strohbett stand darin und darauf kauerte ein Junge, welcher erschrocken die Augen aufriss, als er den Prinzen sah.

„Was machst du denn hier?“, zischte er und wich an die Wand zurück; Lucius Hände fanden ihn dennoch und er war so froh, als Xaves die Berührung sofort erwiderte. Sie klammerten sich aneinander wie Ertrinkende.

„Ich komm dich holen“, sagte Lucius und war fast selbst überrascht über seine Worte. Sie kamen aus ihm wie selbstverständlich, er hatte sie nicht geplant oder durchdacht.

„Aber das geht nicht! Ich-“

„Nein!“, unterbrach Lucius ihn und befahl dann barsch: „Jetzt hörst du mir zu! Ich liebe dich, verstehst du?“ Er lehnte dann doch sanft seine Stirn gegen die andere. „Und deshalb werde ich nicht zusehen, wie sie dich fortbringen. Ich kann nicht ohne dich sein!“

„Aber auch nicht mit mir“, drängte Xaves schmerzvoll hervor.

„Doch. Doch das geht, irgendwie geht es.“ Langsam verstand er, was ihr letzter Ausweg war. „Weit weg von hier. Irgendwie wird es funktionieren. Nicht wahr?“ Dabei sah er nun Liz an, die im Türrahmen stand und die beiden traurig beobachtete. „Nicht wahr, Liz? Wir können fort von hier?“
 

Die junge Frau war auch darauf vorbereitet gewesen. In den letzten Stunden, seit Xaves hier hinunter gebracht worden war, hatte sie etwas getan, dass sie gut und gerne ihren Job kosten könnte, käme es je heraus, wenn nicht noch mehr als das. Doch sie hatte es dennoch getan, mit der Hilfe und dem Wissen vieler anderer, da sie sich schuldig fühlte. Schuldig, weil sie schon Jahre zuvor erkannt hatte, worauf die Jungen hinsteuerten. Sie hatte es geschehen lassen, obwohl sie wusste, dass es nicht so sein durfte. Sie hatte die Augen verschlossen und versucht, es zu ignorieren, und somit die beiden nur weiter in ihr Unglück laufen lassen. Sie hätte schon damals, als sie sie zum ersten Mal gemeinsam im Bett liegen sah, etwas tun müssen. Wenn sie mit der Information zum Königspaar gegangen wäre, hätte man die Jungen damals schon getrennt. Lucius hätte es vielleicht schade gefunden, aber schnell vergessen. Und Xaves wäre vermutlich an einen befreundeten Hof gebracht worden, um dort zu arbeiten. Es wäre okay gewesen, die Jungen wären daran nicht zerbrochen und die paar gemeinsamen Tage hätte ihr Leben kaum verändert… doch jetzt, Jahre später, war es einfach undenkbar, dass sie nicht zusammensein sollten.

Sie hatte Calia wie immer in der Küche vorgefunden, doch nie war die alte Frau, ihre Mentorin, so bleich gewesen wie an diesem Tag. Sie hatte geweint, das sah man deutlich, und verzweifelt fragte sie nach Xaves. Liz hatte sie mit sich gezogen in die Speisekammer und ihr dort ihren Plan verraten, der eintreten würde, wenn der Prinz danach fragte. Und beide waren sich einig, dass er es definitiv tun würde.

Deshalb war sie nun nicht überrascht sondern erleichtert, dass sie einen Ausweg bieten konnte. Und so zog sie den anderen Schlüssel hervor, den sie bei sich trug, und führte die Jungen hinaus. Hinaus aus dem kleinen Raum und hinaus aus dem Keller, durch eine unscheinbare Tür, die im Dunkeln lag und seit Jahren nicht benutzt worden war. Den Wachen nickte sie im Vorbeigehen zu; jeder von ihnen wusste, was es später zu tun galt.
 

Xaves fuhr das Quietschen der eisernen Tür in Mark und Bein und er war sich sicher, dass die Wachen sofort kommen und sie aufhalten würden. Er klammerte sich an Lucius Hand und blieb wie angewurzelt stehen, nun überzeugt davon, dass er bald seine Eltern wiedersehen würde. Zu seiner Überraschung aber blieb es still hinter ihnen und dann merkte er, wie Liz ihn sanft am Arm berührte.

„Keine Angst“, flüsterte sie. „Aber wir sollten uns beeilen. Für euch zählt jede Minute.“

Kaum hatte sie ausgesprochen, wurde er mitgezogen. Lucius ging entschlossen die Treppe hinauf und Xaves konnte nur folgen, zu überrumpelt von der ganzen Situation. Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Minuten zuvor noch hatte seine Welt in Scherben gelegen und er hatte keine Zukunft für sich gesehen… und jetzt? Jetzt tat sich eine Möglichkeit auf, an die er seit Jahren nicht mehr gedacht hatte. Genau genommen nicht mehr, seit er zum ersten Mal im Arm des Prinzen eingeschlafen war.

Er klammerte sich fester an dessen Hand und wagte kaum, die Freude in seinem Herzen zuzulassen. Sollte es etwa noch eine andere Zukunft für ihn geben? Eine Zukunft zusammen mit dem Menschen, den er mehr als alles auf der Welt liebte?
 

Als sie bei Calvaro und Filena ankamen, war der Stall in die nächtliche Dunkelheit getaucht, wie Lucius es erwartet hatte. Anders als erwartet, waren aber beide Tiere gesattelt und neben Filena wartete jemand, der sofort die Arme ausstreckte. Doch dies war nicht für ihn bestimmt, wusste er schon bevor Xaves seine Hand losließ.

Sein Freund versank in den Armen der Köchin und trotz seiner angespannten Stimmung konnte Lucius ein Lächeln nicht unterdrücken. Er wusste, wie wichtig Calia für Xaves war, und auch wenn er immer insgeheim etwas neidisch gewesen war, dass er selbst nie so eine fast mütterliche Zuneigung hatte kennenlernen dürfen, erfüllte es ihn nun mit einem warme Gefühl, die beiden in ihrer letzten Umarmung zu sehen.

Er drehte sich um und ging zurück zu Calvaros Box. Schritte folgten ihm.

„Danke“, sprach er leise, während er Liz nicht ansehen konnte und stattdessen in die Taschen schaute, welche dem Tier umgebunden waren.

Als sie jedoch nichts erwiderte, sah er sich doch zu ihr um. Im wenigen Mondlicht, das in den Stall fiel, konnte er ihr Gesicht kaum erkennen. Umso mehr überraschten ihn die Worte.

„Es tut mir leid“, sagte die junge Frau, welche für ihn vor Xaves immer die wichtigste von allen Personen an der Residenz gewesen war. Zwar waren ihm Gefühle der Zuneigung damals fremd gewesen, doch Liz war seit er denken konnte an seiner Seite gewesen und hatte ihn immer unterstützt. Wie hätte er sie nicht in sein Herz schließen können?

„Was tut dir leid?“, fragte er, da er es nicht verstand.

„Alles“, sprach sie vorsichtig. „Ich habe nichts getan, um das alles zu verhindern.“

„Was für ein Quatsch!“, sagte er da und musste an sich halten, nicht laut zu werden. „Nichts muss dir leid tun, denn genau das hier ist es, was ich will!“

„Bist du dir sicher?“ Es war nicht Liz, die diese Frage stellte, sondern Xaves, der nun ebenfalls in die Box trat. Auf dem Gang hinter ihm sah man das helle Fell von Filena schimmern. „Verschwinden? In Ungnade fallen? Ein Niemand sein? Nie wieder die Möglichkeit haben, zurückzukehren?“

Die Worte ließen Lucius lächeln, denn die Fragen machten ihm keine Angst. Viel mehr noch, er merkte, wie überaus bereit er sich fühlte.

„Ja“, sagte er aus tiefster Überzeugung. „Du hast mir früher oft erzählt, wie das Leben außerhalb dieses Hauses aussieht. Ich fand es immer spannend und ich möchte es kennenlernen.“

„Es ist nicht spannend“, widersprach Xaves energisch. „Es ist meistens nicht einfach und wir werden es besonders schwer haben, weil wir noch so jung sind. Das Leben da draußen kann sehr hart sein und grausam. Es-“

„Grausamer als hier weiter ein Leben zu leben, das meine Eltern bestimmen, ohne dich an meiner Seite?“, fiel Lucius ihm ins Wort.

Daraufhin wusste Xaves nichts zu erwidern, denn nur ein leises „Lucius…“ verließ seine Lippen.

„Willst du nicht bei mir sein?“, fragte der Prinz also und hatte einen kurzen Augenblick lang tatsächlich Angst vor der Antwort.

„Doch!“, kam es jedoch sogleich, vollkommen erschrocken. „Aber-“

„Liebst du mich?“, unterbrach er sofort den Protest.

„Natürlich!“

„Na siehst du!“ Er drehte er sich um und griff nach Calvaros Zügeln. Der Hengst schnaubte, als habe er nur darauf gewartet. „Das ist das Wichtigste, alles andere wird sich finden.“

Er führte Calvaro zum Ausgang der Box und lächelte Liz dabei zu, die es sogleich erwiderte. Xaves musste zur Seite weichen, um dem großen Tier Platz zu machen, und als die Jungen sich gegenüber standen, konnte Lucius die geliebten Augen glänzten sehen. Er streckte die Hand aus und Xaves’ Wange schmiegte sich sogleich dagegen.

Lucius wusste, dass die Zeit drängte, aber er hatte noch eine wichtige Frage.

„Du hast dir von mir nie etwas zum Geburtstag gewünscht oder sonst irgendwann…“, sprach er nun sanft. „Dabei musst du doch Wünsche haben?“

Xaves schien die Frage deutlich zu überraschen. Er senkte den Blick, Lucius konnte nicht ausmachen, wohin der Junge sah.

„Habe ich auch… einen einzigen“, sprach sein Freund dann langsam und griff nun Lucius’ freie Hand. „Aber das hast du mir immer schon gegeben …“

„Was ist es?“ Lucius tat der Druck der Berührung gut. Überhaupt ging es ihm gerade irgendwie gut, denn er sah schon sein neues, freies Leben vor sich.

„Freiheit“, kam es dann ganz leise und Xaves sprach damit das Wort aus, das Lucius soeben selbst im Sinn hatte. Der Blick wurde wieder gehoben, der Griff nun klammernd. „Die habe ich mir immer gewünscht… Aber schnell habe ich gemerkt, dass es für mich nur noch eine Freiheit gibt, die ich will: mit dir zusammen sein zu dürfen. Dann ist es egal wo ich bin.“

Lucius spürte das Lächeln auf den eigenen Lippen und als er sich vorbeugte und Xaves küsste, merkte er auch dessen Lächeln.

„Auch du bist meine einzige Freiheit“, sprach er, als der Kuss endete. „Und deshalb lass uns endlich hier verschwinden!“

„Und dann?“

„Dann…“ Lucius drückte noch einmal die geliebte Hand, bevor er sich umdrehte und auf Calvaros Rücken kletterte. „Dann werde ich nur noch ein einfacher Junge sein. Du zeigst mir, wie das wirkliche Leben funktioniert, mit allen Stolpersteinen und Herausforderungen...“ Er musste grinsen bei diesem spannenden Gedanken, während er Xaves beobachtete, wie dieser in den Sattel stieg. „Wir reiten immer vorwärts und schauen nie mehr zurück!“

Mein wahres Märchen

Manchmal frage ich mich, wie wahr eine solche Geschichte klingen mag. Ich erzähle sie, manchmal ausführlich, manchmal in Kurzfassung. Ich sehe ungläubige und lächelnde Gesichter dann, Trauer und Spannung. Am Ende frage ich immer, was meine Zuhörer glauben, was aus den beiden Jungen, dem Prinzen und seinem Diener, geworden ist. Meistens sind sie sich alle einig: Sie sind glücklich geworden, sagen die Leute dann, denn sie wollen daran glauben, dass ein jedes Märchen glücklich endet, so wie sie hoffen, dass auch das wahre Leben glücklich verläuft. Nur wenige schütteln an dieser Stelle ergeben die Köpfe und sagen, dass die beiden Jungen nicht haben entkommen können. Sie sind gebunden an ihr Schicksal, dem konnten sie nicht entfliegen. Und ich sehe in den Augen die Verzagtheit ihrer eigenen Leben.

Ich erzähle nie mehr von der Geschichte, weil ich mir denke, dass es schöner ist, wenn jeder sich selbst ausmalen kann, was fortan passiert ist. Und als Abschluss habe ich absichtlich einen der hoffnungsvollen Momente gewählt, statt die vielen schwierigen, harten Zeiten, von denen ich noch erzählen könnte. Aber ich hoffe, dass so manch einer meiner Zuhörer Lucius und Xaves dann auf Filena und Calvaro davon reiten sieht und selbst mit einem Lächeln nach Hause geht. Oder die beiden gehen einfach Hand in Hand in den Sonnenaufgang hinein, wie einmal ein kleines Mädchen lächelnd zu mir sagte. Vielleicht aber, in manchen Vorstellungen, besteigt doch nach Jahren Lucius als neuer König den Thron, an seiner Seite eine Königin und in seinem Gesicht noch immer nie verblassende Spuren eines vergangen Lebens.

All das mag den Menschen im Kopf herumgehen, wenn sie diese Geschichte gehört haben und ich ihnen sage, dass ich an eben dieser Stelle enden werde. Dann schauen sie meist traurig und enttäuscht, doch ich lächle nur, stehe auf und verlasse meine Zuhörer in dem Wissen, dass sie den Abend in ihren Vorstellungen verbringen werden.

Dann wandere ich durch die Nacht, manchmal frierend durch winterliche Kälte, dann wieder die frische Sommerluft genießend. Ich strecke den Kopf in den Himmel und sehe die Sterne an, in ihrer endlosen Weite. Dann und wann gleitet eine Träne über meine Wange hinweg, manchmal aber lächle ich auch, während die Füße mich weiter treiben, bis hin zu meinem Nachtlager, welches morgen schon wieder woanders sein wird, an einem noch fremden Ort, den es zu erkunden gilt.

Für heute angekommen lasse ich mich nieder, gähne und atme das wirkliche Leben in mich hinein, während ich eine Hand spüre, die nach meiner sucht und sie wie selbstverständlich findet. Lippen sind es dann, die mich zärtlich begrüßen und müde Augen, welche sanft zu mir blicken. Ich küsse die warmen Lippen und nehme die vertraute Nähe in mir auf. Manchmal erzählen wir einander von unserem Tag, doch manchmal schweigen wir auch einfach und sinken gemeinsam in unsere Träume über.

Während ich so daliege, frage ich mich manchmal, bevor ich einschlafe, ob ich je jemandem sagen werde, wie der wirkliche Name des Prinzen war; wie sich der Diener nannte und was sie taten, nach diesen letzten Augenblicken im Stall. Wo und wer sie heute sind.

Und du fragst mich dann, wie oft ich unsere Geschichte wohl noch erzählen werde, bevor ich das Gefühl habe, endlich mit der Vergangenheit abschließen zu können. Doch dabei vergisst du, dass nichts Schlimmes dabei ist, zurückzudenken. Denn nur unsere Vergangenheit macht uns zu denen, die wir heute sind. Und ihr verdanken wir es, dass wir unseren wichtigsten Besitz Tag für Tag wirklich zu schätzen wissen: unsere gemeinsame Freiheit.
 

Ende
 

Geschrieben 12+13. September 2009

Überarbeitung Oktober 2020 – November 2021


Nachwort zu diesem Kapitel:
Hallo ihr lieben :)
Danke, dass ihr nun schon das dritte Kapitel gelesen habt! Ich würde mich wahnsinnig freuen, wenn ihr mich an euren Gedanken (ob gut oder schlecht), teilhaben lasst. Ich bin doch so neugierig, wie ihr meine beiden Schützlinge findet ;)
Ganz liebe Grüße
Stiffy Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Hallo ihr! Seid ihr da? Liest hier jemand mit? Oder poste ich quasi umsonst? Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich wünsche euch stillen Lesern allen weiter eine wunderschöne Adventszeit!! Ich hoffe, die Entwicklung der Geschichte gefällt euch weiterhin :) Kritik ist sonst gerne erwünscht ;) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Entschuldigt, dass das Kapitel so lange auf sich hat warten lassen... und entschuldigt meine folgenden Worte, aber ich bin wirklich ratlos...
Ich bin nicht sicher, ob ich mir überhaupt die Mühe machen muss, jedes Kapitel noch mal gründlich zu überarbeiten und mindestens drei Mal durchzulesen, bevor ich es endlich hochlade. Denn die wirklich wenigen Kommentare geben mir den Eindruck, dass hier eigentlich niemand die Geschichte verfolgt. Ich verstehe ja, dass es viele Leute gibt, die einfach nur lesen und dann zu was anderem über gehen, weil sie wichtiges zu tun haben... aber als Autor weiß man nicht, ob es überhaupt diese stillen Leser gibt - oder einfach gar keine. Ich möchte hiermit nicht nach positiven Kommentaren betteln, sondern einfach um Lebenszeichen bzw. Lesezeichen bitten ;) diese dürfen auch wirklich kritisch sein! Solange ich bloß weiß, ob ed irgendwen interessiert, was ich hier fabriziert habe oder ob es unnötige Lebenszeit ist, die ich vergeude, indem ich all das hier schreibe und hochlade :D Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Entschuldigt, dass ich es nicht geschafft habe, mein Versprechen zu halten und dieses Kapitel schon wieder viel zu lange auf sich hat warten lassen. Ich hoffe, dass es irgendwem da draußen auch jetzt noch Freude bereitet! Ich gelobe Besserung!! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich muss mich schon wieder entschuldigen, dass es so lange dauert und dann kommt nur dieses kurze Ende. Aber die letzten Wochen waren mit ner Menge Krankheiten (der Kita-Start hat es in sich :D) echt kein Zuckerschlecken. Aber wir sind alle gesund und heute wollte ich euch ENDLICH das Ende liefern. Ich hoffe, ich konnte euch mit dem Märchen ein wenig Freude bereiten!

Und als nächstes? Meine laaaange Geschichte wird wohl noch etwas brauchen, bis sie abgeschlossen ist. Zuletzt ist Kapitel 56 fertig geworden. Ich habe aber noch 2-3 andere alte Geschichten, die ich überarbeiten und veröffentlichten will, wenn es die Zeit erlaubt. Vielleicht habt ihr also Lust, irgendwann mal wieder bei mir vorbeizuschauen ;)

Danke fürs Lesen!! Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (24)
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Von:  Touki
2022-02-13T19:53:35+00:00 13.02.2022 20:53
Das Ende war richtig schön und ehrlich gesagt habe ich nicht damit gerechnet. Umso mehr habe ich mich gefreut. Vor allem für die Beiden *_*
Jetzt muss ein wenig Zeit vergehen und dann werde ich die FF bestimmt nochmal lesen. Dann lasse ich mir meist immer mehr Zeit und mir fallen noch andere Sachen auf die ich beim ersten Mal gar nicht so wahrgenommen habe. Ich hoffe auf jeden Fall das es dir und deiner Familie gut geht und ihr ein tolles neues Jahr 2o22 haben werdet. *___*
Von:  Evilsmile
2021-12-15T12:44:37+00:00 15.12.2021 13:44
Dieses Ende war ein Geniestreich!
Das allerbeste, das du den beiden gönnen konntest. (und beim Ende können Autoren soo viel falsch machen seufz)
Der Leser kann seine Fantasie bemühen, das ist wunderbar :) Ja ich denke mal, dass sie ihre Freiheit gut nutzen und wertschätzen werden. Ein gewagter Schritt von Lucius, lieber auf alles zu verzichten, anstatt Xaves zu verlieren. Das ist nichtmal in der heutigen Zeit selbstverständlich.
Schöne Geschichte, die Spaß gemacht hat zu lesen.

Dir und deiner Familie wünsche ich frohe Festtage und viel Kreativität im nächsten Jahr! Freu mich schon sehr auf deine nächsten Geschichten!

Evilsmile
Von:  Touki
2021-09-30T10:04:17+00:00 30.09.2021 12:04
Oh ich habe mich gestern Abend s gefreut, als ich gesehen habe, dass es ein neuesKapitel gibt. *_* Um ehrlich zu sein habe ich nicht mit dieser Wende gerechnet und ich bin mir auch noch unsicher, ob ich dem ganzen trauen kann. Irgendwie ist es zu einfach, weil alle mitspielen und ...ach ich weiß nicht. Immerhin ist die Geschichte noch nicht zu Ende und theoretisch kann noch alles passieren. Du machst es wirklich sehr spannend und ich freue mich schon darauf, wie es weiter gehen wird. <3
Von:  Touki
2021-08-30T17:50:25+00:00 30.08.2021 19:50
Hach ja, ich habe gestern Abend dein neues Kapitel gelesen und es war sooo traurig. Man kann beide Seiten so gut verstehen. Xaves will Lucius schützen, weil er keine wirklich Wahl hat und Lucius will Xaves schützen, weil er durch ihn das erste mal irgendwie richtig Leben konnte und er für ihn alles bedeutet. Es ist so unglaublich traurig und sehr bewegend und ich hoffe das Xaves keine schlimme Strafe bekommt, wobei es zu dieser Zeit eigentlich alles mögliche gab, was man sich heute gar nicht vorstellen möchte. x.x
Von:  Touki
2021-08-27T09:01:49+00:00 27.08.2021 11:01
Ich habe ja wirklich mit allem gerechnet aber nicht damit, dass die Mutter auftaucht. Gut sie hat zwar auch ein Pferd aber ich hätte nicht gedacht, dass sie dieses auch selbstständig pflegt und die Beiden in einer so intimen Situation vorfindet. Eigentlich möchte ich mir das gar nicht vorstellen, es ist ja schon furchtbar, wenn man die eigenen Eltern beim Sex erwischt :'D Oh man!

Ich hoffe das Liz irgendwie vermitteln kann aber ich glaube eher nicht und ich hoffe das Xaves keine schlimme Strafe bekommt, wobei ich auch ehrlich sagen muss, dass zu dieser Story irgendwie kein wirkliches Happy End passt. Eigetlich bin ich ein riesen Fan davon aber ich wüsste keines, außer das die Beiden abhauen und sich irgendwoe absetzen. Ansonsten glaube ich nicht, dass es irgendwie gut enden könnte oder wird aber ich lasse mich überraschen *-*
Antwort von:  Stiffy
29.08.2021 20:40
Ich muss noch mal ganz lieb DANKE sagen für all die lieben Kommentare und die damit verbundene Mühe!!
Langsam nähern wir uns dem Ende und ich bin sooo gespannt, was du sagen wirst :)
Viel Spaß beim neuen Kapitel!!
Antwort von:  Touki
02.09.2021 20:41
Sehr gerne! *-* und jaaa ich rechne irgendwie mit allem und wahrscheinlich kommt irgendwas, woran ich überhaupt nicht gedacht habe. Ich bin schon sehr gespannt was mit dem Beiden passiert. <3
Von:  Touki
2021-08-27T08:58:08+00:00 27.08.2021 10:58
Ach man, ich meine die Beiden haben jetzt zwar noch ein wenig Zeit aber ich glaube nicht, dass es wirklich hilfreich ist. Man denkt ja selbst immer, wenn etwas negatives kommt und man es weiß, das es noch eeeewig dauern wird aber ehe man sich versieht, ist Tag X da und alles ist irgendwie nicht schön. Ich glaube den Beiden geht es auch so, auch wenn Lucius immer noch die Hoffnung hat und nicht versteht, dass es sich höchstwahrscheinlich nicht ändern wird.
Xaves ist da schon etwas weiter aber er ist eben auch anders aufgewachsen und will sie Beide irgendwie schützen. Ich glaube egal was sie tun werden, es gibt nicht die eine gute Lösung die für alle passen würde. Dafür ist die Zeit in der es spielt einfach viel zu altertümlich :D
Von:  Touki
2021-08-26T06:23:13+00:00 26.08.2021 08:23
Die Lage ist echt kompliziert auch wenn die Beiden versuchen beieinander zu bleiben. Hach es ist so schwierig, irgendwie hoffe ich, dass es irgendwie ein Happy End gibt aber wiederum könnte ich mir vorstellen, das es so nicht sein wird. Oder es kommt wieder so ein fieser Epilog :D (nicht böse gemeint) Ich glaube ich rechne einfach mit allem und hoffe das Beste was man aus so einer Situation herausholen kann. :)
Von:  Touki
2021-08-26T06:19:33+00:00 26.08.2021 08:19
Erstmal zur Resonanz der Kapitel :) Ich glaube nicht das es an deinem Schreibstil oder dergleichen liegt. Das Cover finde ich auch passend, wobei ich das eh nebensächlich finde. Was mich immer anspricht ist der kurze Ausschnitt aus der FF. Wenn dieser mich nicht reizt, dann wird es schwierig. Meist schaue ich dann kurz rein aber nicht immer. Bei dir wusste ich, dass ich nicht enttäuscht werde aber man muss auch sagen, das alle heute sehr faul geworden sind. Jedenfalls wenn es nicht um die eigenen Sachen geht. Das ist mir auch auf anderen Plattformen aufgefallen.
Kommis schreiben bedeutet arbeit usw.. Das ist wie mit Podcast's. Die Leute geben sich so viel Mühe usw aber die meisten schreiben nichts dazu wie es ihnen gefallen hat, weil es Aufwand bedeutet. Ich habe das vor allem beim Cosplay gemerkt. Man wird nicht gewertschätzt, sondern es kam meist immer nur die Frage wann es neue Bilder oder ein neues Coasplay gibt :'D

Irgendwann macht das keinen Spaß mehr, das kann ich durchaus verstehen und es ist eben auch seine Freizeit die man dann opfert. Ich hoffe aber das du dich dadurch nicht entmutigen lässt. :) Ich habe eine Favo FF, da warte ich jetzt schon seit 4 oder 5 Jahren auf das neue Kapitel :'D und ich hoffe so sehr, dass sie irgendwann weiter schreibt, weil es auch noch eine sehr spannende Stelle ist. :)

So und nun zu diesem Kapitel. Es war klar, das es dazu kommen musste und meine erste Idee war, das Xaves durchaus bleiben kann. Bei GOT oder The Tudors gab es durchaus auch die ein oder andere Affäre aber ich glaube die Beiden sind einfach zu jung um das zu verstehen oder so weitsichtig zu denken. Sie sind gerade in ihrer Blase, die jetzt geplatzt ist. Lucius hat gelernt, dass wenn er etwas nicht, es auch nicht muss. Das ändert sich nun und nach 15 Jahren ist das durchaus kompliziert. Xaves hat es wohl schon immer geuwsst und versucht nun sich und Lucius vor größeren Unheil zu bewahren aber ich befürchte, dass das noch richtig nach hinten losgehen könnte. Ich bin auf jeden Fall schon sehr gespannt :D
Von:  Touki
2021-08-26T06:06:03+00:00 26.08.2021 08:06
Hach ja, es war ein wirklich schönes Kapitel und irgendwie denkt man an seine eigene Teenie Zeit zurück, die wohl äußerst peinlich war. Gut, heutzutag ist man nicht so extrem grün hinter den Ohren, wobei ich den Eindruck hatte, dass auch da Lucius den kürzeren zieht was sein Wissen über den eigenen Körper angeht. Ich finde es aber schön das Liz sie nochmal aufgeklärt hat und auch ihnen gesagt hat, dass es nicht falsch ist. Nur eben nicht erwünscht.
Sexszenen sind ja immer so eine Sache und es gibt durchaus FF's und Bücher, wo ich den Teil überspringe, wenn ich es ein zweites Mal lese, weil es irgendwie so übertrieben dargestellt ist und ein paar viele Seiten einnimmt. Das ist einfach nicht so mein Geschmack, weil ich finde das man es nicht unnötig ausreizen muss. Da ich es aber nicht anders kenne, aus deinen vorherigen FF's, war ich auch hier froh, das es einfach schön und sinnlich geschrieben war. :D
Von:  Touki
2021-08-25T19:31:52+00:00 25.08.2021 21:31
Ich freue mich das die Beiden wieder zueinander gefunden haben und sich auch endlich aussprechen konnten. Jedenfalls ein wenig, denn ich glaube das Xaves ihre Verbindung realistischer sieht und Lucius nur schützen möchte.
Lucius hingegen ist eben der Prinz und irgendwie habe ich das Gefühl das er nie so wirklich erzogen wurde oder besser gesagt ihm nie jemand erklärt hat wie die Welt nun einmal ist. Deswegen sind seine Forderungen recht naiv aber trotzdem liebenswert und er stellt er sich eben sehr einfach vor. 😊 Man kann es ihm auch gar nicht übel nehmen, denn woher soll er 3s auch wissen.
Übrigens erinnert er mich manchmal an Joffrey aus Game of Thrones 😁


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