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Breaking Bad News

von

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»Scheiße«, zischte Tsunade und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.

Sakura, die diese Reaktion ihrer Mentorin erst zwei Mal gesehen hatte, wusste sofort, dass irgendetwas gerade komplett schief lief.

»Ruf sofort Shizune an. Wir brauchen sie hier.«

Es dauerte einen Moment, bis Sakura die Worte verarbeitete. Shizune war die Oberärztin der Kinderkrebsstadtion. Wofür brauchten sie Shizune, wenn es sich hierbei um eine Fraktur des rechten Arms und den Verdacht auf ein Schädel-Hirn-Trauma handelte?

»Tsunade?«

»Schau dir die Bilder an.« Sie ging einen Schritt zur Seite und gab Sakura so die Gelegenheit, die Röntgenbilder des verletzten Mädchens genauer zu betrachten. Ihre Augen glitten über die schwarz weißen Aufnahmen und blieben schließlich an einer hellen Stelle stehen.

»Oh nein«, flüsterte sie und drehte sich zu ihrer Mentorin.

»Es ist nur eine CT-Aufnahme, darum kann ich es nicht mit hundert Prozent sagen, aber ich denke das Mädchen hatte nicht deshalb eine so niedrige Punktzahl bei der Glasgow-Koma-Skala, weil sie eine Hirnblutung oder andere schwerwiegende Verletzungen hat. Ich bin mir sicher, sie sie hat diese Symptome, weil der Tumor sich Platz verschafft.«

Sakura wurde schlecht. Das Mädchen, Mirai, war neun Jahre alt. Sie hatte heute mit ein paar Freundinnen nach der Schule den Nachmittag auf dem Spielplatz verbracht und war einfach nur vom Klettergerüst gefallen. So ungünstig zwar, dass sie es geschafft hatte, sich den Unterarm zu brechen, aber das war eine Verletzung, die bald verheilen würde. Kein komplizierter Bruch - es wäre also nicht einmal eine Operation nötig gewesen.

»Deshalb benötige ich Shizune hier.«

Sakura fiel erst jetzt auf, dass sie in eine Starre verfallen war. Tsunades schroffer Tonfall ließ sie daraus erwachen und sie drehte sich um.

»Natürlich.« Nach einer knappen Verbeugung, eilte sie aus dem Raum und lief zum Schwesternzimmer.

»Shizune aus der Kinderkrebsstation soll herkommen. Sofort.«

Es befand sich nur eine Schwester im Zimmer, die bei Sakuras Stimme vom Bildschirm aufgesehen hatte. Ihr Blick wurde ernst und sie nickte.

»Welcher Raum?«

»Drei.«
 

Es waren nur fünfzehn Minuten bis Shizune bei ihnen eintraf, doch für Sakura fühlte es sich wie eine halbe Ewigkeit an.

Sie hatte in ihren drei Monaten in der Notaufnahme schon vieles gesehen. Fehlende Gliedmaßen, sterbende und verstorbene Menschen jeden Alters, trauernde Angehörige. Aber das Wissen, dass einem kleinen Mädchen eine so lebensverändernde Nachricht bevorstand, war etwas völlig neues.

Sie schämte sich für die Dankbarkeit, die sie empfand, als ihr bewusst geworden war, dass diese Botschaft nicht durch sie, sondern durch Shizune übermittelt werden musste.

Aber allein bei dem Gedanken daran, diesem aufgeweckten Mädchen, das trotz des gebrochenen Arms die reine Lebenslust ausgestrahlt hatte, in die Augen zu schauen und ihr mitzuteilen, dass sich nun alles ändern würde, drehte ihr den Magen um.

»Wir müssen noch ein MRT machen, aber ich bin mir sehr sicher, dass das ein Tumor ist. Ob gutartig oder bösartig kann ich allerdings nicht sagen.« Shizune drehte sich von den Aufnahmen weg und musterte Sakura einen Moment, bevor sie sich an Tsunade wandte.

»Ich würde sie und ihre Angehörigen gerne in dein Büro holen. Ich denke für die Befunde, die wir bisher haben, benötige ich noch etwa eine halbe Stunde Zeit. Wäre das in Ordnung?«

»Selbstverständlich. Einen anderen ruhigen Raum kann ich dir sowieso nicht anbieten.«

»Danke.«

Tsunade nickte knapp und drehte ihren Kopf anschließend zu Sakura, die aktuell an nichts anderes als an Mirais großen Rehaugen denken konnte und die Sorge ihrer Mutter. Ihnen war natürlich nicht bewusst gewesen, dass noch etwas viel schlimmeres bevorstand.

»Sakura, du begleitest Shizune. Das Mädchen hat dir innerhalb weniger Sekunden vertraut und auf ihre Mutter hattest du ebenfalls eine beruhigende Wirkung. Ich gebe die Info ans Pflegepersonal weiter, damit sie das Mädchen und ihre Mutter zu euch bringen.«

Mit diesen Worten verschwand Tsunade aus dem Raum.

Es fehlte nicht viel und Sakuras Gesichtszüge wären ihr entglitten. Stattdessen verkrampfte sie sich, ballte ihre Hände hinter ihrem Rücken zusammen und schwieg.

Sie hatte das Gefühl, jeden Moment umzukippen.

Man sollte denken, sie sei gefasster auf das, was nun vor ihr lag. Irgendwann würde sie diese Gespräche alleine führen müssen. Das hier war keine Ausnahmesituation. Täglich wurden bei Kindern Krebs diagnostiziert, der ihnen mitgeteilt werden musste.

Sie sollte es besser aufnehmen können.

»Mach dir keine Gedanken. Ich werde das Reden übernehmen. Und glaub mir, auch für mich ist es jedes Mal schwer. Wir sind auch nur Menschen.« Shizune lächelte sie aufmunternd an, aber Sakura nahm diese Geste kaum wahr. Sie versuchte stattdessen, sich wenigstens auf die Worte zu konzentrieren, um sich an dieser Offenheit zu klammern.

Es half ein wenig, aber nicht genug.
 

Tsunades Büro war nicht groß, aber sie hatte eine Fensterfront, die den Raum tagsüber auf natürliche Weise erhellte. Es befand sich im Erdgeschoss, wodurch man einen guten Blick auf den angrenzenden Park hatte und wenn, wie heute, die Fenster gekippt waren, konnte man sogar den Duft der Blumen, die außen an gepflanzt waren, riechen.

Anders als in den meisten anderen Räumen roch es hier also nicht nach Desinfektionsmittel und außer dem alten, grauen Laminatboden, erinnerte wenig daran, dass man sich in einem Krankenhaus befand. Es hätte ein Büro in jedem Gebäude der Stadt sein können und Sakura empfand diesen Gedanken als beruhigend.

Es war in ihren Augen der perfekte Ort für die Übermittlung schlechter Neuigkeiten - wenn es so etwas wie einen perfekten Ort dafür gab.

Tsunade war es sogar gelungen in die rechte hintere Ecke zwei Sessel und einen kleinen Glastisch zu stellen. Auf einem der beiden Sessel saß Shizune, während Sakura sich den Schreibtischstuhl herangezogen hatte. Aufgrund ihrer Anspannung, der Furcht und Nervosität hatte sie es allerdings nicht lange darauf ausgehalten und lief nun im Raum auf und ab. Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum und verfluchte sich dafür, dass sie sich wünschte, ganz weit weg zu sein.

»Sakura«, sagte Shizune irgendwann. Sie war ruhig, aber bestimmt in ihrem Ton, was Sakura dazu bewegte, stehen zu bleiben.

»Du machst es nicht einfacher für uns alle, wenn du so unruhig bist. Ich weiß, es ist schwer, aber atme tief durch und setzt dich bitte.«

Sakura war niemand, der auf den Mund gefallen war und ihr fielen innerhalb einer halben Sekunden drei pfeffrige Antworten auf Shizunes Anweisung ein. Allerdings dauerte es nur eine halbe Sekunde länger, um sich ins Bewusstsein zu rufen, wo sie sich befand und warum Shizune sie darum bat.

Alle Unsicherheiten, die sie als Ärztin ausstrahlte, gingen auf die Patienten und ihre Angehörigen über. Also setzte sie sich und versuchte sich auf ihre Atmung zu konzentrieren.

»Dir sind die Eckpunkte für breaking bad news im Kopf?«

»Ja«, antwortete Sakura sofort. Sie kannte sie auswendig. Sie waren eine Erleichterung, um strukturiert ein solches Gespräch führen zu können. Sie wollte doch nicht ...?

»Aber ich denke, ich ...« Shizune hob den Arm und Sakura verstummte.

»Keine Angst. Es wäre unverantwortlich dich dieses Gespräch führen zu lassen. Aber vielleicht hilft es dir, wenn du währenddessen daran denkst und schaust, ob ich alles relevante anspreche und mich an die Eckpunkte halte. Wollen wir damit gleich anfangen?«

Sakura war für diesen Vorschlag dankbar. Es gab für sie kaum etwas entspannenderes als in Stresssituationen nach ihrem Wissen gefragt zu werden. So war ihr Gehirn beschäftigt und sie konnte sich nicht zu viele Gedanken machen und in Emotionen verstricken.

»Zunächst benötigen wir das richtige Setting. Die Uhrzeit können wir in diesem Fall kaum beeinflussen, aber zu unserem Glück ist es erst früher Abend. Es wird also genügend Personal anwesend sein, sollten nach dem Gespräch noch Fragen auftauchen - und du bist heute ebenfalls bis spätabends noch im Dienst.

Wir haben soweit alle Befunde, auch wenn ein MRT erst noch durchgeführt werden wird. Allerdings benötigen wir dieses Gespräch, um eben genau solche weiteren Maßnahmen durchsprechen zu können. Tsunades Raum ist atmosphärisch der beste, den wir haben. Ich habe das Telefon umgeleitet und das Pflegepersonal weiß, dass sie nicht stören dürfen. Außerdem ...« Sakura stockte. »Haben wir Taschentücher hier?«

»Sehr gut. Tsunade hat immer welche im Schrank.« Sakura verstand. Sie stand auf, ging zum Schrank, der sich auf der gegenüberliegenden Seite befand und holte zwei Packungen Taschentücher heraus.

Nachdem sie sich wieder gesetzt hatte, bedeutete Shizune ihr fortzufahren.

»Tsunade hat dafür gesorgt, dass eine vertraute Ärztin anwesend ist. Ich. Normalerweise würde auch ich das Gespräch führen, aber da ich noch in meiner Assistenzzeit bin und du sie in Zukunft wahrscheinlich betreuen wirst, sollte es auch in Ordnung sein, dass du das übernimmst.«

Sakura merkte es selbst nicht wirklich, aber sie beruhigte sich von Wort zu Wort etwas mehr.

»Genau. Noch etwas?«

»Ja. Du hast dir eine halbe Stunde geben lassen, um dich in die Akte einzulesen. Die Patientin ist erst neun und ihre Akte war dünn, also sollte das ausreichend Zeit gewesen sein, um dir ein vernünftiges Bild über sie und ihr Krankheitsbild zu verschaffen.«

Es sollte Sakura erschrecken wie nüchtern sie über ein neunjähriges Mädchen sprach, das über einen Hirntumor informiert werden würde, aber in diesem Moment war sie in ihrem Element und nicht mehr im Stadium der Schockstarre. Ihr waren die Auswirkungen gerade nur theoretisch bewusst.

Als es allerdings an der Tür klopfte und Shizune aufstand, war alles wieder da. Die Anspannung verschlimmerte sich wieder, ihre Handinnenflächen wurden feucht und ihr wurde schlecht.

»Aufstehen und tief durchatmen«, flüsterte Shizune ihr zu. Sakura tat wie ihr geheißen und erhob sich ebenfalls.

»Da wären wir. Ich hoffe, die Fahrt mit dem Rollstuhl hat dir Spaß gemacht.« Es war ein junger Pfleger, der Mirai in den Raum fuhr. Sie strahlte ihn über beide Ohren an und nickte. »Aber die Kurven hättest du ruhig etwas schneller fahren können.«

»Nicht doch!«, widersprach ihre Mutter sofort. »Du hast dir den Arm gebrochen und warst kurzzeitig bewusstlos. Momentan gibt es nichts schnelles um dich herum.«

»Pffft.« Mirai pustete beleidigt die Luft aus ihrem Mund und wahrscheinlich hätte sie auch ihre Arme verschränkt, würde der Gips sie nicht daran hindern.

Okay, Sakura musste sich dringend die wichtigsten Eckpunkte ins Gedächtnis rufen, sonst würde sie dieses Gespräch emotional nicht überstehen. Setting, Einarbeitung waren erledigt. Was folgte als nächstes? Was war wichtig? Woran mussten sie noch denken?

Shizune neben ihr, setzte sich in Bewegung und ging auf Mirai und ihre Mutter zu. Sie ging in die Hocke als sie vor dem Rollstuhl ankam.

»Hallo. Ich bin Shizune. Und dein Name ist?«

»Mirai Sarutobi«, sagte das Mädchen voller Stolz. Es war genau der gleiche Tonfall, den sie bei ihrer Vorstellung bei Sakura genutzt hatte. Sie schien viel von ihrem eigenen Namen zu halten. Woran das wohl lag?

»Freut mich, Mirai Sarutobi. Und wie heißt deine Mama?« Shizunes Blick schweifte nun zur Frau, die in einem ähnlichen Alter wie sie selbst sein musste. Sie hatte, wie ihre Tochter, braune wellige Haare. Ihre Augen wirkten in diesem Licht beinahe rot und es war nicht nur Sorge, die sich darin widerspiegelte - es war Vorsicht. Sie war auf der Hut.

Natürlich. Es war nicht normal, dass man wegen eines gebrochenen Arms und dem Verdacht auf eine Gehirnerschütterung in ein privates Büro gebeten wurde. Normalerweise erhielt man in der Notaufnahme einen erste Behandlung und den Befund und wurde anschließend in die Fachabteilung weitergeschoben.

Sie wusste bereits jetzt, dass etwas nicht stimmte.

»Mein Name ist Kurenai Sarutobi. Freut mich.«

»Ebenfalls.« Anschließend wandte Shizune sich wieder zu Mirai und sagte: »Ich denke, wir können Kiba nun wegschicken oder? Sakura kann ab jetzt die Führung über deinen Rollstuhl übernehmen.«

Mirai überlegte einen Moment. Drehte sich zu Kiba und dann zu Sakura, bevor sie nickte.

Sakura benötigte einen Augenblick, um sich selbst dazu zubringen, loszulaufen. Doch dann hatte sie den kleinen Raum schneller durchquert als ihr lieb war.

»Hallo Mirai.« Sakura versuchte verbissen, sich nicht anmerken zu lassen, wie schmerzlich das hier für sie war. Sie musste es schaffen Ruhe auszustrahlen. Die ganze Situation würde noch schwer genug werden. Und sie war immerhin nur die Assistenzärztin.

»Hallo Sakura. Du musst noch dringend auf meinem Gips unterschreiben!« Mirai strahlte sie an, aber aus der Nähe konnte Sakura dunkle Schatten erkennen.

Das Mädchen benötigte dringend Ruhe. Doch statt sie ihr zu geben, mussten sie ihr nun mitteilen, dass sie vielleicht für eine lange Zeit keine richtige Ruhe mehr finden würde.

Sakura schluckte schwer.

Shizune und Frau Sarutobi setzten sich erst auf die Sessel, als Sakura Mirai vor dem Glastisch zum Stehen gebracht hatte und die Bremse am Rollstuhl einrasten ließ. Sie selbst ging wieder zum Schreibtischstuhl.

»Gibt es Komplikationen?«, begann Frau Sarutobi sofort und ihr Gesichtsausdruck verunsicherte Sakura enorm. Sie wirkte besorgt, aber entschlossen, beinahe verbissen und das war etwas, mit dem Sakura nicht gerechnet hätte.

»Der Bruch selbst birgt keine Komplikationen. Wie Sie sehen haben wir uns für die konservative Methode des Gipses entschieden, da der Knochen nach dem Bruch sofort wieder zurückgesprungen ist.«

»Aber für diese Mitteilung hätten Sie uns nicht hierher gebeten.«

»Das stimmt. Leider haben wir im Zuge unserer Untersuchung etwas gefunden, das uns Sorge bereitet.«

Shizune wartete einen Moment, ob Frau Sarutobi oder ihre Tochter etwas sagten. Mirai schaute zwar ernster als zuvor, aber Sakura war sich sicher, dass es hauptsächlich wegen der angespannten Stimmung im Raum war und nicht, weil sie bereits genau erfasst hatte, worauf dieses Gespräch hinauslaufen würde.

Weder Tochter noch Mutter sagten etwas und so fuhr Shizune fort: »Wir haben eine Stelle auf den Bildern des CTs entdeckt, bei der wir davon ausgehen müssen, dass es sich um einen Tumor handelt.«

Breaking bad news. Jetzt war es raus. Die Kernbotschaft des Gesprächs schwebte nicht mehr nur als unheilbringende Botschaft über ihnen, sondern war auf den Boden gefallen und explodiert. Sakura hatte gehofft, es würde leichter werden, nachdem sie diesen Punkt durchbrochen hatten, aber tatsächlich fühlte es sich eher wie das Gegenteil an.

Mirai neigte verwirrt ihren Kopf zur Seite und ihre Mutter presste ihre Lippen aufeinander, während sie nach der unverletzten Hand ihrer Tochter griff. Sie suchte Sakuras Blick als wollte sie sicher gehen, dass es sich hierbei nicht um einen schlechten Scherz handelte. Doch mehr tat sie nicht.

Sakura hatte vorher nicht einschätzen können, wie Frau Sarutobi reagieren würde, doch diese Reaktion überraschte sie dennoch.

Niemand sagte etwas und Sakura wusste, dass Shizune ihren Gegenüber Zeit gab, um die Kernbotschaft zu verarbeiten und herauszufinden, wie sie diese aufnahmen. Aus den Augenwinkeln fixierte Sakura bereits die Taschentücher, sollte ein Zusammenbruch zeitverzögert einsetzen.

»Also Krebs?«, fragte Frau Sarutobi schließlich. Ihre Unterlippe zitterte ein wenig, aber ihre Stimme war fest.

»Das wissen wir noch nicht. Ob der Tumor gutartig oder bösartig ist, können wir erst durch weitere Untersuchungen herausfinden.«

»Aber Sie sind sich sicher, dass es ein Tumor ist.« Es war keine Frage, Shizune antwortete dennoch darauf: »Ja.«

Erneut folgte eine Stille und Sakura verspürte das Bedürfnis, etwas zu sagen. Es fühlte sich von Sekunde zu Sekunde erdrückender an.

Shizune war es schließlich, die das Schweigen brach. »Mirai, weißt du, was ein Tumor ist?«

Das Mädchen schaute einen Augenblick unsicher zu ihrer Mutter, die ihre Lippen nun fest aufeinander presste, um das Zittern zu unterbinden.

»... nein«, sagte sie schließlich. »Aber ... ich denke, etwas schlechtes?«

»Es kann etwas sehr schlimmes sein, ja. Ob und wie schlimm, werden wir noch herausfinden müssen. Ein Tumor ist etwas, dass in deinem Körper wächst, obwohl es dort nicht wachsen sollte. Es nimmt also Platz weg, den deine Organe benötigen oder versucht in sie einzudringen, obwohl sie ihn nicht haben möchten.«

Mirai blickte erneut zu ihrer Mutter, der nun Tränen in den Augen standen. Sie hatte diese lange unterdrücken können, wahrscheinlich um ihre Tochter nicht zu verunsichern. Aber es war eine grauenhafte Diagnose, die vielleicht tödlich endete. Da war es doch nur normal, als Mutter die Fassung zu verlieren?

»Und wenn wir das nicht schaffen? Muss ich dann sterben? So wie Papa?«

Sakuras Augen weiteten sich und sie konnte nicht anders als zu Shizune zu blicken, um herauszufinden, wie sie auf diese Frage reagierte.

»Ist ...«, Shizune räusperte sich, »ist dein Papa an einem Tumor verstorben?« Offensichtlich rang auch sie um Fassung.

»Nein. Mein Mann war Feuerwehrmann. Er starb bei einem Einsatz. Noch vor Mirais Geburt.«

Oh nein. War diese Familie nicht schon genug gestraft worden in ihrem Leben? Sakuras Hand wanderte zu ihrem Oberkörper hoch und drückte sich gegen ihr Oberteil. Sie schluckte schwer. Es war beinahe unmöglich, nicht jeden Augenblick selbst zu weinen.

»Ich verstehe. Das tut mir sehr leid.« Shizune wandte sich wieder an Mirai und fuhr fort: »Ich möchte dich nicht anlügen. Also ja, leider besteht die Möglichkeit, dass ein Tumor zum Tod führen kann. Umso wichtiger ist es aber, dass wir schnell herausfinden, um welche Art von Tumor es sich handelt. Und darüber möchte ich mit dir und deiner Mutter sprechen.«

»Kann man dieses blöde Ding nicht einfach rausschneiden?«, hakte Mirai nach. »Mir macht eine Operation überhaupt nichts aus. Wirklich nicht!«

Ihre Mutter neben ihr gluckste ein wenig, als wollte sie lachen, erlaubt es sich aber nicht, weil sie genau wusste, was gegebenenfalls noch auf ihre Tochter zukommen würde.

»Rausschneiden ist natürlich eine Möglichkeit. Soweit sind wir aber noch nicht. Zunächst folgen noch ein paar Untersuchungen und wenn wir von diesen die Ergebnisse haben, können wir besser entscheiden, was getan werden muss.«

Mirais Augenbrauen zogen sich zusammen als würde sie überlegen, was es wohl für Möglichkeiten gab.

»Ich weiß, es sind viele Fragen, die gerade im Kopf herumschwirren, aber auf die meisten können wir zum aktuellen Zeitpunkt leider noch keine Antwort geben. Nur Möglichkeiten nennen. Ich möchte aber deshalb gerne so schnell wie möglich ein MRT durchführen, um den Tumor besser sehen zu können. Außerdem werden wir eine Probe des Tumors entnehmen, um sie im Labor untersuchen zu lassen. Wenn das auch in eurem Sinne ist.«

»Natürlich«, sagte Frau Sarutobi, während Mirai gleichzeitig fragte: »Ist Sakura auch dabei?«

Mirais große Augen waren plötzlich auf sie gerichtet und Sakura spürte, wie sich ein Klos in ihrem Hals bildete.

»Wenn ... wenn du möchtest, natürlich. Wir stehen dir und deiner Mama selbstverständlich zur Seite und unterstützten euch.«

»Vielen Dank«, antwortete Frau Sarutobi und Mirai strahlte Sakura regelrecht an. Es war suspekt wie weder Mutter noch Tochter auch nur annähernd so welterschütternd reagierten wie Sakura erwartet hatte.

Entweder waren beide ungemein stark oder würden erst später realisieren, um was es in diesem Gespräch gerade ging. Sie hoffte auf ersteres.

Shizune fuhr währenddessen bereits fort. »Bei Fragen könnt ihr euch jederzeit an mich wenden. Die Kinderkrebsstation ist im Erdgeschoss in Gebäude B. Dort wartet auch bereits ein Zimmer auf Mirai. Nur, wie bereits gesagt, auf vieles können wir aktuell noch keine genaue Auskunft geben.«

»Vielen Dank. Ich denke, Mirai braucht jetzt erst mal etwas Ruhe.« Wie auf Kommando musste Mirai gähnen. Ihre Mutter lächelte sie mitfühlend an und man konnte die Liebe, die sie für ihre Tochter empfand beinahe anfassen. Es dauerte nur einen Augenblick, bevor sie sich wieder an Shizune wandte und fragte: »Vielleicht hätten Sie später aber noch zehn Minuten für mich?«

»Selbstverständlich. Sobald Mirai gut in ihrem Zimmer angekommen ist, kommen Sie gern in mein Büro. Bis dahin werde ich mit den entsprechenden Abteilungen noch mal sprechen und die Untersuchungstermine bestätigen lassen.«

»Herzlichen Dank.«

Sakura erinnerte sich plötzlich wieder daran, dass sie vollkommen vergessen hatte, darauf zu achten, ob Shizune alles relevante ansprach und sich an die Eckpunkte hielt. Doch durch die Art wie Frau Sarutobi gerade Shizune ansah, wusste Sakura, dass diese so gut wie alles richtig gemacht haben musste.

»Bevor wir uns in die Station begeben, noch ein Hinweis«, sagte Shizune plötzlich und Sakura erinnerte sich an den letzten Punkt: mit etwas positivem abschließen.

»Auch wenn wir noch keine genauen Aussagen über den Tumor treffen können, die meisten Gehirntumore, die im Kindesalter auftreten, lassen sich operativ gut entfernen. Und darauf hoffen wir natürlich auch bei diesem. Dann kann er nämlich einfach rausgeschnitten werden.« Shizune lächelte Mirai zu, die kurz, aber heftig, nickte.

»Au«, flüsterte sie und hielt sich den Kopf.

»Schnelle Kopfbewegungen sind allerdings streng verboten. Es besteht aufgrund deines Sturzes immer noch die Möglichkeit, dass du eine leichte Gehirnerschütterung hast. Darum werden wir dich jetzt in dein Zimmer bringen und du dich ausruhen.« Sakura hatte begonnen zu sprechen, ohne es zu merken.

Erst als sie feststellte, dass alle Blicke auf sie gerichtet waren, wurde es ihr bewusst. Und dann war es auch noch der gleiche Ton, mit dem sie ihre beiden besten Freunde seit der Kindheit immer zurechtwies. Sie wurde ein wenig rot.

»Mirai kann leider kaum fünf Minuten ruhig sitzen bleiben. Das wird also schwer«, erwiderte Frau Sarutobi und strich ihrer Tochter liebevoll übers Haar.

»Ich bin mir sicher, sie bekommt das hin«, antwortete Sakura - dankbar, dass ihre kleine Standpauke nicht böse aufgefasst worden war.

»Dann, würde ich sagen, bringen wir Mirai mal auf ihr Zimmer«, schloss Shizune das Gespräch und erhob sich.
 

Es dauerte beinahe eine halbe Stunde, bis Mirai sie endlich gehen ließ. Dem Mädchen fielen noch zig Fragen über Tumore ein und trotz ihres Redeschwalls merkte man ihr die Angst, die in ihr herauf kroch, deutlich an. Shizune und Sakura nahmen sich extra viel Zeit, um ihr möglichst viel von dieser Angst zu nehmen, aber die Diagnose war zu ernst, um sie herunterzuspielen.

Als ihre Mutter schließlich ein Machtwort sprach - hauptsächlich deshalb, weil Mirai zwischen den Fragen ständig gähnen musste - legte sie sich endlich hin und war innerhalb weniger Sekunden eingeschlafen.

Sakura und Shizune gingen nun durch die Abteilung und zu Shizunes Büro, da sie sich in fünfzehn Minuten nochmals mit Frau Sarutobi treffen wollte.

»Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass Mirai sich den Arm gebrochen hat und wegen Verdacht auf ein Schädel-Hirn-Trauma in die Notaufnahme musste, erhält sie auch noch so eine Diagnose«, seufzte Sakura, als sie sicher war, dass sie sich außer Hörweite befanden.

»Ich weiß, was du meinst, aber du musst das anders sehen: ohne diesen Unfall wäre der Tumor vielleicht nicht so schnell entdeckt worden. Vielleicht wird sich später sogar herausstellen, dass genau das es war, was ihr das Leben gerettet hat.«

Sakura wusste, was Shizune ihr damit sagen wollte. Manchmal steckte selbst in der schlimmsten Botschaft noch etwas positives. Hier waren es Zeitpunkt und Umstände.

»Außerdem sind sie stark. Beide. Und das ist die beste Voraussetzung, die du in einer solchen Situation haben kannst.«

»Aber eine Garantie ist es nicht.«

»Nein, das stimmt. Aber besser als sich gleich aufzugeben. Und immerhin besteht eine nicht mal so kleine Chance, dass es sich um ein pilozytisches Astrozytom handelt. Dann war es Glück im Unglück.«

Sakura schwieg.

»Hat die innere Checkliste eigentlich geholfen?«, fragte Shizune, als sie schließlich vor ihrer Bürotür ankamen.

»Nein. Ich hab es versucht, aber in dem Moment, als Mirai in den Raum geschoben wurde, war mein Hirn wie leergefegt.«

Sakura wusste nicht, ob es etwas gutes oder schlechtes war, dass sie die innere Distanz nicht hatte aufrecht erhalten können. Sie war ein Mensch, aber auch eine angehende Ärztin, die in ihrem Leben noch viele solcher Gespräche führen würde.

»Verstehe. Ich denke, du solltest Pause machen. Ruf deinen Partner an oder deine Eltern. Jemandem, bei dem du keine Angst hast, offen über deine Gefühle zu sprechen. Oder hol dir einen Kaffee und setz dich in den Park.«

»Danke, aber ich brauche keine Pause. Ich werde wieder in die Notaufnahme gehen. Arbeit lenkt mich am besten ab.«

Shizune musterte sie einen Moment und Sakura sah, dass sie ihre nächsten Worte genau überdachte, bevor sie sie aussprach: »Du machst deine Arbeit gut. Ich bin mir sicher, dass aus dir eine großartige Ärztin wird. Nur, um dein Potenzial vollständig ausschöpfen zu können, unterdrücke deine Gefühle nicht. Sie kommen sowieso irgendwann hoch.«

Sakuras Mund öffnete sich. Trotz der Warnung, handelte es sich für sie um ein großes Kompliment und sie wusste überhaupt nicht, was sie dazu sagen sollte.

»Ich ...«, begann sie deshalb und brach wieder ab. Schließlich sagte sie nur: »Versprochen.«

Shizune wirkte zufrieden.

»Dann wünsche ich dir noch eine ruhige Schicht und wenn wir dich hier brauchen, piepse ich dich an.«

Sakura nickte und begab sich zurück zur Notaufnahme.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Runaan
2020-09-01T19:37:42+00:00 01.09.2020 21:37
Ich bin ein wenig sprachlos nach dieser Fanfic, deshalb fällt mein Kommentar vielleicht etwas kurz aus. Ich wollte nur zu aller erst, sagen, dass das ein gutes Zeichen ist -das hier ist ein sehr ernstes Thema und ich finde, du hast es wirklich gut beschrieben. Lesen wollte ich die FF eigentlich an dem Tag, als du sie hochgestellt hast, aber ich muss erstmal ein bisschen Mut fassen, weil mir sowas immer sehr nahe geht.

Ich finde du hast die Bedrohlichkeit der Situation wunderbar umgesetzt. Als Leser kann man sehr gut mit Sakura mitfühlen, für mich war da wirklich eine große Anspannung drin - und ich habe Sakura so dafür bewundert, wie sie sich beruhigt hat und ihr Bestes gegeben hat. In dieser Art hat sie nicht nur eine beruhigende Wirkung auf Mirai sondern auf den Leser selbst, wenn das irgendwie Sinn macht? Zumindest hat sie mir in der Art, wie du es geschrieben hast, auch geholfen weiterzulesen und ruhig zu bleiben und das finde ich richtig toll von dir.

Auch Sakura hier als Beobachterin argieren zu lassen finde ich richtig gut, weil du dadurch Shizunes Kompetenz gut herausbringt. Sakura fasst für den Leser alles zusammen ,was einem wohl selbst auch durch den Kopf geht doch Shizunes Dialog wird als Kontrast dazu noch um einiges gefasster? Und doch hast du dann die Stelle, wo Sakura gemerkt ,dass auch Shizune mit der Fassung ringt. Die Figuren kommen alle sehr menschlich rüber - auch Mirai fand ich sehr gelungen, die als Kind vielleicht nicht die gesamte Situation 100% versteht, doch mehr als man zuerst erwartet.

Ich bin wie gesagt ein bisschen sprachlos über das Ganze - deine Geschichte ist etwas, was einem ein bisschen auf der Seele liegen bleibt aber das finde ich gut daran. So sehr, wie ich in meinen Gedanken daran dachte, dass ich diesen OS gerne lesen möchte, wird er mich denke ich auch in meinem Kopf eine Weile begleiten.

Gute Gedanken zu dir,

Runaan


Antwort von:  Goetterspeise
11.09.2020 08:44
Hallö :)

vielen Dank für deinen Kommentar! Und entschuldige die verspätete Antwort.
Ich finde ihn übrigens überhaupt nicht kurz und freue mich einfach sehr darüber, dass mir die Umsetzung dieses doch sehr schweren Themas gut gelungen zu sein scheint. Ebenso wie Sakuras Gefühlswelt und allgemein die Darstellung der Charaktere und ihre vergebenen Rollen.
Ich finde gerade das Verhalten und ihre Gefühle immer sehr schwer zu beschreiben, auch wenn man vielleicht selbst ganz genau weiß wie man sie agieren und reagieren lassen möchte.

Ich hoffe, die Gedanken, die dich begleiten, belasten dich nicht (über Dinge nachdenken ist ja nicht automatisch etwas negatives).

Vielen Dank nochmals für die lieben Worte und ein schönes Wochenende :)
Von:  SarahSunshine
2020-09-01T18:41:51+00:00 01.09.2020 20:41
Hallo Goetterspeise,

ich danke dir vielmals für die Einsendung deiner Geschichte bei meinem Wettbewerb "Eine Botschaft überbringen".


Du hast dir ein sehr heikles Thema ausgesucht, aber es meiner Meinung nach mit den perfekten Charakteren umgesetzt. Ich finde es schön, dass Sakura hier als Assistenzärztin sowieso noch Erfahrungen sammeln muss und dass Shizune als Mentorin eine großartige Stütze ist.

Die Wahl der Figuren hat mir gut gefallen, die Wahl der Botschaft ebenso. Sowohl Mirai als auch Kurenai hast du hier gut getroffen. Dass du auch den Tod von Asuma noch einmal aufgegriffen hat, hat das ganze natürlich noch emotionaler gemacht. Auf der anderen Seite finde ich es großartig wie nüchtern und sachlich Sakura versucht, das Vorgehen zu brachten und, wie du das Vorgehen „Breaking Bad News“ erklärt hast. Ich denke, es passt sehr gut wie Sakura sich selbst eine kleine Checkliste im Kopf macht, um die einzelnen Schritte möglichst gut abzuarbeiten.

Das einzige, was ich etwas komisch fand, war dass die Ärzte sich immer mit Vornamen vorgestellt haben.


Insgesamt hat mir deine Geschichte am besten gefallen. Aus diesem Grund: herzlichen Glückwunsch zum ersten Platz :)

Antwort von:  Goetterspeise
11.09.2020 08:29
Hey,
entschuldige die späte Antwort, bin aktuell sehr wenig online.

Ich freue mich sehr, dass dich meine Geschichte so überzeugt hat. :)
Wie du schon sagst ist es ein heikles Thema und ich war mir sehr unsicher, ob ich es vernünftig aufarbeiten konnte oder ob es zu viel bzw. zu wenig sei (oder ähnliches).
Die Figuren sind mir tatsächlich beim Schreiben so zugeflogen - musste mir also kaum Gedanken machen, wen ich neben Sakura einsetzen will, weils einfach automatisch kam. Umso mehr freut es mich, dass es für dich auch die perfekte Wahl war und dass ich sie gut getroffen habe. :)

Das mit den Namen ist eigentlich einfach: Shizune hat keinen Nachnamen, ich mag es nicht, welche zu erfinden und nachdem sie sich bei einem Kind vorgestellt haben, fand ichs eigentlich ganz passend, nur die Vornamen zu belassen - da es in meinen Augen sowohl zu Sakura als auch Shizune passt. (Eine direkte Vorstellung an Kurenai hab ich versucht aus diesem Grund zu vermeiden, scheint nicht gelungen zu sein).

Herzlichen Dank für den ersten Platz und liebe Grüße :)


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