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Meeressturm

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Liebe Leser,

nach längerer Pause kommt nun endlich das nächste Kapitel! Ich hoffe es gefällt euch und ihr habt wieder Spaß beim Lesen. Dieses Mal hat das Kapitel etwas länger gedauert, weil ich nebenher noch an einer Wichtelaktion mitgemacht habe. Vielleicht habt ihr ja Interesse auch in diese FF zu schnuppern. Der lange Fall ist ebenfalls eine Panem FF mit Coriolanus Snow in der Hauptrolle (Achtung, Spoiler für Panem X!). Es würde mich riesig freuen :)
Ansonsten wünsche ich euch viel Freude mit diesem Kapitel und hoffentlich bis bald!
So long,
Coro Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Heute vor fünf Jahren habe ich mir für die Premiere von Mockingjay Part II in Berlin 13 Stunden lang den Hinter abgefroren - das ist für mich freudiger Anlass genug ein neues Kapitel hochzuladen! Kaum zu glauben, dass der letzte Film schon wieder fünf Jahre her ist, aber ich freue mich, dass ich nicht ganz alleine im Panem-Universum unterwegs bin :)
Vielen Dank, dass ihr da seid und mitlest! Ich hoffe ihr könnt euch mit dem neuen Kapitel etwas von den Geschehnissen in der echten Welt ablenken. Das Schreiben ist für mich auf jeden Fall eine willkommene Ablenkung im Moment.
So long
Coro Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hey – lange nicht voneinander gelesen! Es tut mir unendlich leid, dass dieses Kapitel so lange auf sich hat warten lassen. Ich hoffe, das hier liest überhaupt noch jemand …
Leider hat mich bei diesem Projekt eine fiese Schreibblockade erwischt. Seit Jahresanfang konnte ich nichts mehr schreiben, das in der Ich-Perspektive verfasst ist. Es ist einfach wie verhext. Aber jetzt hab ich mich endlich zusammengerissen und es geschafft, dieses Kapitel zu vollenden. Immerhin will ich Annies Reise auch weiterhin zu Ende erzählen und vielleicht ist ja noch jemand dabei. Falls ja – ich hoffe, das Kapitel gefällt dir und vielen Dank fürs Lesen! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Nicht wundern – ab diesem Kapitel habe ich mich dazu entschieden, auch in dieser Geschichte die deutschen Anführungszeichen durch die aus dem Buchdruck bekannten Guillemets zu ersetzen. Ich finde einfach, dass diese Zeichen angenehmer zu lesen sind, und da ich in all meinen anderen Geschichten seit geraumer Zeit nur diese Zeichen für wörtliche Rede nutze, ist es so einheitlicher. Die alten Kapitel werde ich dann bei Zeiten entsprechend überarbeiten. Komplett anzeigen

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Die Sieger

Guten Morgen meine Damen und Herren, raus aus den Federn! Es wartet ein weiterer wundervoller Tag in den 73. Hungerspielen auf uns! Fast zwei Wochen sind um und wir dürfen die letzten vier Tribute gerade dabei beobachten wie sie einander jagen. Falls Sie sich jetzt wundern was mit den anderen Tributen geschehen ist – es war eine ereignisreiche Nacht! Lassen Sie uns doch noch einmal die Highlights Revue passieren. So viel kann ich Ihnen schon einmal sagen: die Karten wurden neu gemischt, spätestens dann als unsere kleine Giftmischerin aus Distrikt neun mit unserer lieben Patricia Montague Schluss gemacht hat. Das dürfte Distrikt zwei hart treffen, denn damit verbleiben ihnen keine Tribute mehr, sehr schade! Dafür wird Distrikt vier sich freuen, gleich mit zwei Tributen auf den Sieg blicken zu können. Schauen wir uns doch noch einmal an was letzte Nacht alles passiert ist…“

 

Das allmorgendliche Frühstücksfernsehen plärrt unentwegt vor sich hin. Ein hektischer Caesar Flickerman lacht schrill während er die vergangenen Abendstunden für die Zuschauer zusammen fasst. Die Pflichtübertragung ist so leise wie möglich geschaltet doch trotzdem dringen die Worte durch das ganze Haus, aus dem Wohnzimmer in den Flur, die geschwungene Holztreppe hinauf und schließlich unter der geschlossenen Schlafzimmertür hindurch.

In dem Moment als ein furchtbarer Angstschrei erklingt öffne ich die Augen. Mein Nachthemd klebt mir kalt am Rücken und das Laken hat sich im Schlaf eng um meine Beine gewickelt. Reflexartig gräbt meine Hand sich tiefer in das Kopfkissen. Ich keuche und versuche eilig das Laken von mir zu streifen doch meine Hand zittert so sehr, dass ich mich nicht befreien kann. Unwillkürlich treten Tränen in meine Augen. Mit einem erstickten Keuchen sinke ich zurück auf das Bett, das Kopfkissen mit beiden Händen fest über den Kopf gedrückt. Ich will nicht schreien. Doch in meinem Kopf sind sie alle wieder da – die Erinnerungen. Unheilvoll öffnen sich die Tiefen meines Geistes und reißen mich in ihren Strudel. Irgendwie krümme ich mich zusammen obwohl das Laken in meine Haut einschneidet und mir das Kissen den Atem nimmt.

„Wollen wir doch mal sehen was dieser strahlende Sonnentag so für uns zu bieten hat“ tönt die blecherne Stimme Flickermans von unten herauf, „denn ich kann es schon fühlen, bald ist das Ende nah, vielleicht sogar heute!“

Mein Herz rast in der Brust. Es gab kein Ende, ich war der lebende Beweis dafür, dass das Ende erst der Anfang war. Dann knackt es einmal und die Übertragung bricht ab. Die Folter zum Morgen war vorbei. Die eintretende Stille wird von dem fernen Zwitschern der Vögel abgelöst. Langsam lichtet sich der Schleier böser Gedanken der mich fest im Griff hatte. Eine verschwitzte Hand zieht das Kissen vom Gesicht und erst jetzt sehe ich richtig mein Zimmer. Über mir erhebt sich der Baldachin meines ausladenden Himmelbetts. Die hellblauen Vorhänge vor dem Fenster sind ein Stück offen und lassen die Sonnenstrahlen ins Zimmer. Immer noch zitternd reiße ich das dünne Laken von meinen Beinen. Wackelig stolpere ich zum Fenster hinüber und öffne es weit. Eine angenehme Sommerbrise streicht mir über die schweißnasse Haut. Tief atme ich ein.

Unter meinem Fenster erstreckt sich die Weite von Distrikt vier. Zumindest die schöne Seite ist von hier aus sichtbar. Die ordentlichen Häuser der bessergestellten in den sanften Hügeln bieten einen herrlichen Ausblick im goldenen Licht der Morgensonne. Weit in der Ferne und vom Dunst verborgen liegen die ärmlicheren Slums die sich an die felsigere Seite der Küste drängen. Verheißungsvoll glitzert das Meer in der Ferne. Auf den tiefblauen Wellen schwimmen wie Käfer die Fischerboote. Fast wäre es idyllisch, doch die dunklen Pylone die in der Ferne aus dem Wasser ragen trüben diesen Eindruck. Zwischen ihnen sind Barrieren gespannt die jeden Gedanken an Flucht ersticken. Bevor mich ein neuerlicher Panikanfall überkommen kann lasse ich meinen Blick weiter wandern, in den Garten meines Siegerhauses.

Zwischen wilden Blumen und Büschen kniet Isla auf der Erde, ein buntes Tuch um die Haare geschlungen, und erntet einige von den Bohnen die wir vor einiger Zeit gesät haben. Sie ist eine muskulöse Erscheinung wie sie da zwischen den zarten Pflanzen kniet, doch sie kann ungeahnt sanft sein. Dank Jahren der Arbeit auf einem Hochseekutter ist sie rau und abgehärtet, aber ihre gutmütige Art hat sie sich behalten. Als könnte sie meinen Blick spüren dreht sie sich um und winkt mir mit einem Bündel Bohnen in der Hand zu. „Annie, du bist schon wach!“

Sie blinzelt gegen die Sonne während ihr kritischer Blick über mich gleitet. Ich versuche ein Lächeln, doch irgendwie rutscht es mir gleich wieder von den Lippen.

„Guten Morgen“, will ich rufen doch es gerät eher zu einem Flüstern. Aber Isla lässt sich nicht beirren und strahlt mich weiter an.

„Warte kurz, ich komme rein, dann können wir frühstücken.“

Ich tapse zu dem wuchtigen Holzschrank hinüber in dem ich meine Kleidung aufbewahre. Eilig kleide ich mich an. Je länger ich verweile desto eher gebe ich dem dunklen Raum in meinem Kopf Platz. Schon auf der Treppe nach unten binde ich schnell meine Haare in einen Dutt. Ein wunderbarer Duft dringt aus der Küche. Neugierig folge ich ihm. Isla steht am Ofen und löst gerade vorsichtig einen Leib frischgebackenen Brotes aus der Form. Auf der Theke liegen frisch gepflückte Kräuter und Bohnen. Ein himmlisches Potpourri an Düften beruhigt für den Moment meine Sinne.

Stumm mache ich mich daran Teller und Besteck für uns herzurichten während Isla das Brot in dicke Scheiben schneidet.

„Heute habe ich ein neues Rezept ausprobiert“, erzählt sie fröhlich, „vielleicht errätst du ja heute die Geheimzutat.“

Sie lacht herzlich, „aber ich glaube das ist gar nicht so einfach zu erraten.“

Ein warmes Gefühl breitet sich in meinem Bauch aus bei dem Klang ihres Lachens. Dies ist wohl einer der Gründe warum ich Isla so gerne um mich herum habe. Wo ihr Mann Trexler eher wortkarg ist, redet und lacht sie viel. Allein ihre Anwesenheit schafft es das ganze Haus mit Leben zu füllen. Jetzt wo die anderen Sieger als Mentoren für die Hungerspiele im Kapitol sind, sind wir die einzigen Verbliebenen im Dorf der Sieger. Allein schon deswegen lebt Isla im Moment so gut wie in meinem Haus. Keiner von uns fühlt sich in der Leere seines gewaltigen Hauses wohl. Isla besucht zwar oft die Waisen im Heim und hilft dort aus, doch zuhause ist sie einsam wenn Trex fort ist.

Wir essen die noch warmen Brotscheiben wie immer an dem ausladenden Tisch im Garten während dicke Bienen träge um uns summen. Es ist schwer sich in diesem Garten nicht auch nur ein Stück weit wie im Paradies zu füllen.

„Annie, was hältst du davon wenn wir neben den Kräutern noch einige Erdbeeren anpflanzen? Ich glaube der Boden dürfte genau richtig sein. Dann könnten wir Erdbeerkuchen backen.“

Abwesend blicke ich auf die chaotischen Beete. In den letzten drei Jahren hat jeder einzelne Sieger geholfen etwas in diesem Garten anzubauen. Ursprünglich war der Garten nicht mehr als ein Stück ordentlichen Rasens, doch Amber hatte die Idee gehabt ihn umzupflügen um etwas zu pflanzen. Mit Hilfe ihres grünen Daumens war aus der unangenehm perfekten Grasfläche ein wildes Durcheinander an Blumen, Obst und Kräutern erwachsen.

Mein Blick stoppt bei bei dem lila Flieder der eine Ecke des Gartens überschattet. Diesen habe ich in meinem ersten Frühling hier gemeinsam mit Finnick gepflanzt. Finnick. Ich spüre einen Stich in meinem Herzen und blicke schnell weg.

Eine warme Hand legt sich auf die meine und als ich aufsehe blickt Isla mich aus traurigen Augen an.

„Bald sind wir alle wieder vereint. Die ganze Familie.“

Ich nicke während meine Augen feucht werden.

„Die Erdbeeren sind eine gute Idee“, entgegne ich kaum hörbar.

Erfreut lächelt Isla mich an. „Ich hole nachher welche auf dem Markt! Möchtest du mitkommen und die besten Pflanzen aussuchen?“

Schnell schüttle ich den Kopf. Ich hasse die Stadt, besonders den lärmigen und überfüllten Markt. Und ich hasse wie die Menschen mich ansehen, als könnte ich ansteckend sein. Vermutlich haben sie Angst ich könnte wieder einen Anfall haben, denke ich düster, dabei hat niemand mehr Angst vor diesen Anfällen als ich selbst. Ich ertrage ihre Blicke nicht, das Tuscheln und die Gehässigkeiten. Lieber bleibe ich hier draußen, weit genug weg vom Fernseher. Mein Herz sinkt. Die Hungerspiele. Was haben sie vorhin gesagt? Vielleicht endet es bald. Mein Mund wird trocken. Finnick und die Anderen. Sie sind alle noch fort und leiden. Meine Hand mit der Brotscheibe fängt wieder an zu zittern. Hastig blicke ich wieder in den blühenden Garten.

Vor Schreck lasse ich mein Brot fallen, denn dort unter dem Flieder steht ein rothaariges Mädchen, den Blick auf meine Beete gerichtet. Sie scheint meinen Blick auf sich zu spüren, denn plötzlich schaut sie hoch. Ein spöttisches Grinsen auf dem Gesicht winkt sie mir zu.

„Schöne Pflanzen hast du da. Scheint so als wenn ihr euch gut um sie kümmert“, sagt sie, während ihre Hand über den Flieder streicht.

„Was willst du hier?“, krächze ich, mein Hals plötzlich ganz trocken.

Sie lacht glockenhell. „Schätzchen, ich bin hier weil du an mich gedacht hast.“

Mit einem Ruck reißt sie eine Traube Blüten vom Flieder ab. Ich springe auf. Mit einem Scheppern fällt mein Stuhl auf die Terrasse.

„Nicht, bitte nicht, lass ihn in Ruhe“, will ich rufen, doch es ist mehr ein Flüstern.

Die abgerissenen Blüten immer noch in der Hand lacht sie wieder.

„Du bist zu süß Annie. Ich verstehe einfach nicht wie ausgerechnet du die Arena überleben konntest.“

Isla blickt mit zusammengezogenen Brauen in Richtung des Flieders, mischt sich aber nicht ein. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals während ich versuche tapfer das Kinn zu recken um ihr entgegenzutreten. Doch das Gesicht des Mädchens wird plötzlich zornig. Hass flammt in ihren Augen auf als sie die Fliederblüten in ihrer Hand zerquetscht. Ihre roten Haare wehen in einer aufkommenden Briese hoch. Sie sieht aus wie eine Rachegöttin wie sie so dasteht, das flammend rote Haar wild im Wind und die Augen glühend wie Lava. Sie richtet einen Finger auf mich und schreit:

„Du hast mich getötet! Du hast mir den Sieg genommen! Du hast mir alles genommen!“

In einem schrecklichen Grinsen fletscht sie die Zähne. „Ich hätte die Siegerin sein sollen. Ich war stark und mutig während du nur – du nur ein Nichts warst!“

„Nein, nein… bitte nein“, schreie ich plötzlich aus voller Lunge, „ich habe das nicht gewollt! Ich habe das nicht gewollt! Lass mich einfach in Ruhe!“

Tränen strömen über meine Wangen. Ich versuche rückwärts zu stolpern, aber stattdessen fallen ich über den umgestürzten Stuhl unsanft auf den Boden. Panisch versuche ich aufzustehen, ohne, dass ein Muskel in meinem Körper mir gehorchen will. Die rothaarige kommt langsam über das Gras auf mich zu. Ich spüre förmlich wie ihr Blick allein mich verbrennt. Hilflos rolle ich mich zusammen, die Arme um meinen Kopf geschlungen. Ich schluchze wieder. Ich will nicht sterben und doch bin ich zu schwach um mich zu wehren. Ich kann sie nicht töten. Nicht noch einmal.

„Es tut mir so leid“, stoße ich hervor, „bitte… bitte…. Nicht….“

Ich versuche noch etwas zu sagen, doch die Luft will einfach nicht mehr in meine Lungen. Es fühlt sich an als wäre ich wieder in der gefluteten Arena, in dem Versuch meinen Kopf über Wasser zu halten um nicht zu ertrinken. Verzweifelt liege ich auf dem Boden. Wie aus weiter Ferne höre ich rasselnde Atemgeräusche, nicht sicher ob es von mir stammt. Eine Stimme dringt auf mich ein, doch ich presse meine Hände nur noch fester auf die Ohren. Ich kann es nicht weiter ertragen ihre Vorwürfe zu hören.

„Nein, bitte nicht, ich wollte das nieee“, bringe ich mit aller Kraft hervor, „Hilfe… hilfe, ich will nicht sterben! Finnick! Hilf mir!“

Als letztes spüre ich wie raue Hände mich in eine warme Umarmung ziehen, höre wie Worte gemurmelt werden die ich nicht verstehe, dann wird mir schwarz vor Augen.

 

***

 

In den sonnigen Straßen des Kapitols hört man fröhliche Gespräche und das Gelächter spielender Kinder, obwohl die Hitze bereits frühmorgens auf die Stadt drückt. Doch innerhalb des Hochhauses der Hungerspiele ist es dunkel. Getönte Fensterscheiben verdunkeln die Sicht nach draußen – und verbergen vor allem was drinnen vor sich geht. Der zwölf Stockwerk hohe Bau über dem unterirdischen Trainingscenter erhebt sich zwar weithin sichtbar in der Mitte des Kapitols, doch das Leben innerhalb ist abgeschieden von der Außenwelt. An allen Wänden des Raumes hängen übergroße Bildschirme, auf dem überwiegenden Teil wird aus verschiedenen Winkeln die Arena der Hungerspiele gezeigt. Auf den übrigen werden diverse Vitalfunktionen und andere Daten aufgezeichnet. Ein kränklich blaues Licht das von den Bildschirmen ausgeht beherrscht den Raum und lässt die zwei davor sitzenden Mentoren umso ausgezehrter wirken.

Für einen Moment löst Finnick seine Augen von der Szenerie der Arena. Geistesabwesend reibt er sich über das Gesicht. Die letzten Tage waren besonders nervenaufreibend gewesen. So sehr, dass er nicht einmal mehr weiß wann er zuletzt geschlafen hat. Mittlerweile sind es die siebten Hungerspiele für ihn als Mentor. Lediglich im ersten Jahr nach seinem Sieg hatte das Kapitol so etwas wie Gnade gekannt und ihn nicht verpflichtet. Doch seitdem saß er jedes Jahr wieder in dem Überwachungsraum, hilflos dabei zusehend wie die Kinder aus den Distrikten für eine sinnlose Sache starben. Wobei, gänzlich hilflos waren die Mentoren nicht, dachte er bitter. Sie durften ihre Tribute für eine Woche ausbilden, um Sponsorengelder betteln und versuchen Allianzen zu schmieden. Doch wenn er eines gelernt hatte, dann, dass die Hungerspiele sich nie vorherbestimmen lassen. Wettkalkulationen im Fernsehen schienen ein vergnüglicher Spaß für die breite Bevölkerung zu sein, doch nicht selten trotze ein Tribut allen Erwartungen. Zuweilen fühlte er sich als würde er Wasser treten, jeder Versuch das Überleben ihrer Schützlinge zu sichern zum Scheitern verdammt. Nur in einem Jahr hat er einen Sieg erlebt und der hat ihn fast alles gekostet. Sein Blickt schweift zu der dunklen Fensterfront. Es ist nur ein schmaler Streifen blau den er über den angrenzenden Prachtbauten erahnen kann, doch immerhin ist dies der einzige Ausblick auf etwas das nicht mit den Hungerspielen zu tun hat. Unausweichlich gleiten seine Gedanken fort von dem stickigen Raum. Fort zum Meer, nach Distrikt vier. In die idyllische kleine Siedlung der Sieger – zu Annie. Heute ist er seit 20 Tagen von zuhause weg. Wie immer wenn er an sie denkt mischen sich Freude und Traurigkeit in seiner Brust. In all der Schrecklichkeit der Spiele ist sie sein heller Lichtblick, die Aussicht darauf wieder an ihrer Seite sein zu können gibt ihm die Kraft weiter machen zu können. Doch jeden Tag den die Spiele länger gehen vermisst er sie mehr – hat er mehr Angst um sie, dass ihre Albträume sie wieder überwältigen könnten. Es ist ein schwacher Trost, dass er Isla an ihrer Seite weiß.

Doch solange bis es vorbei ist, ist er es den beiden Tributen aus Distrikt vier schuldig alles für sie zu geben. Es ist das Mindeste was er für sie tun kann. Dieses Jahr haben es beide Tribute wie durch ein Wunder geschafft so lange zu überleben. Fast zwei Wochen sind um und nur noch vier Kandidaten im Ring. Dies ist seiner Empfindung nach eine besondere Form der Hölle. Sollten Riven und Eric sich unabhängig von einander durchgeschlagen haben nur um jetzt im „Finale“ einander gegenüberzustehen?

Sein Blick fällt auf die Kameraübertragung von Riven. Das zierliche Mädchen kauert in der Ruine eines verfallenen Hauses, die Hände dicht an ein schwelendes Feuer gestreckt. Dicke Schneeflocken fallen auf die zerbrochenen Balken des Hauses um sie herum. Ein paar tiefe Kratzer bedecken ihre Wange, doch ansonsten scheint sie wohlauf. In ihrem grimmigen Blick liegt der Wille um jeden Preis zu überleben – zugleich mit einer tief verborgenen Reue sich jemals freiwillig gemeldet zu haben.

„Brot und Wasser an beide Tribute sind raus“, unterbricht Amber Finnicks Gedanken. Sie sitzt mit einem Tablet hinter Finnick an der anderen Seite des Raums, den Blick konzentriert auf die Bildschirme gerichtet. „Abwurf sollte in den nächsten Minuten erfolgen.“

Befriedigt legt sie das Tablet ab, streckt sich und dreht sich zu ihm herum.

„Die feinen Leute sind seit gestern Nacht so richtig in Spendierlaune gekommen. Da weiß man ja nicht mal ob man das noch alles ausgeben kann.“

Finnick seufzt.

„Vielleicht sollten wir ihnen noch ein paar Salben oder Gegengifte schicken, nur für den Fall der Fälle.“ Amber zieht nur eine Grimasse.

„Damit nachher beide noch die letzten Überlebenden sind?“, sie schüttelt den Kopf. „Ich sage es jetzt noch einmal, auch wenn du es nicht hören willst, aber wir sollten uns endlich auf einen Tribut festlegen. Einer von beiden wird es ohnehin nicht schaffen.“

Ihr Blick ist eindringlich auf Finnick gerichtet, der spürt wie sich etwas in ihm zusammenzieht. Er hasst diese Entscheidungen. Den Gedanken er könnte bestimmen wer es wert ist weiter zu leben. Leicht zornig hält er dagegen:

„Es wird immer die falsche Entscheidung sein, egal was passiert.“

Mit einem entnervten Seufzen wendet Amber sich von ihm ab. Sie sagt nichts weiter sondern schüttelt nur wieder den Kopf. Diese Diskussion haben sie beide schon viel zu oft geführt. Doch er kennt sie lange genug um auch die Anspannung in Ihren Schultern zu erkennen, die fest zusammengebissenen Zähne, die Sorgenfalte auf ihrer Stirn.

„Es ist nicht meine Entscheidung zu wählen.“

Das Thema scheint damit für sie beendet und sie tippt eilig wieder auf ihrem Tablet herum. „Nein“, denkt Finnick bei sich, „es ist nicht unsere Schuld einen Tribut auswählen zu müssen. Es sind die Spiele und ihre Regeln.“ Dennoch kann er nicht anders als sich schuldig zu fühlen.

Es ist nicht so als würde er eine Liste führen, doch jeder Name der verstorbenen Tribute aus den letzten sieben Jahren hat sich ihm eingebrannt.

Amylin, Flynn, Ephigenie, Titus, Carla, Matthew, Pon, Sia, Gavin, Ylvi und Sam.

Und einer von beiden Tributen auf den Bildschirmen um ihn herum wird in jedem Fall der Zwölfte auf der Liste. Es ist unausweichlich, dass sie sich entscheiden müssen, das weiß auch er tief in seinem Herzen. Mit einem bleiernen Gefühl in der Magengegend bewegt er einige Regler um den gegnerischen Tributen zu folgen.

Ein kleines Mädchen von gerade einmal 13 Jahren erscheint auf einem der Bildschirme, ihre schmutzigen blonden Haare nass vom Schneetreiben. Sie kauert in den kahlen Ästen eines großen Baums am Rande der zerstörten Stadt welche die diesjährige Arena bildet. Ihre Hände umklammern ein mehr schlecht als recht selbstgemachtes Blasrohr. Doch der erste Eindruck täuscht wie Finnick weiß, denn in den vergangen Tagen hat sie mit ihren vergifteten Pfeilen eine blutige Spur quer durch die Arena hinter sich gelassen. Auch jetzt scheint sie nur darauf zu warten einen der verbleibenden Tribute in einen Hinterhalt locken zu können.

Auf der anderen Hälfte des Bildschirms hingegen folgt die Kamera einem grobschlächtigen Jungen, bis an die Zähne bewaffnet mit Messern und einem Schwert. Er bahnt sich seinen Weg durch die Arena mit schweren Schritten, nicht einmal darauf bedacht leise zu sein. Er hält kurz an um sich zu einem schlammigen Fußabdruck herabzubeugen ehe er mit großen Schritten weiter durch die Ruinen stapft. Was er nicht weiß ist, dass diese kaum noch sichtbaren Spuren von dem Mädchen aus Distrikt elf stammen, welche erst bei Sonnenaufgang an den schleichenden Spuren ihrer Vergiftung gestorben ist. Finnick blickt auf die Übersichtskarte auf seinem Tablet auf dem jeder Tribut als leuchtender Punkt zu sehen ist. Im Moment bewegen sich alle mit einigermaßen Abstand zueinander, doch das wird nicht lange so bleiben. Am nächsten sind sich ihr Tribut Eric und der hünenhafte Junge aus Distrikt fünf. Mit wenigen Klicks lässt sich der Weg des Tributs vorausberechnen, sollte er weiter der zusehends verblassenden Spur folgen. Wie Finnick befürchtet ist die Gefahr groß, dass die Wege von ihm und Eric sich kreuzen werden.

Über die Schulter hinweg wirft er Amber einen unauffälligen Blick zu. Sie ist immer noch ihrem Tablet zugewandt, doch er bezweifelt, dass sie noch nichts von den Bewegungen der Tribute mitbekommen hat. Vermutlich ist diese Situation überhaupt erst der Grund für ihre Anspannung. Ein weiterer Blick auf die Uhr sagt ihm, dass es gleich neun Uhr ist.

„Ich sollte wohl besser schon einmal die anderen holen gehen zur Morgenbesprechung“, sagt er in die Stille hinein. Ohne den Blick zu heben nickt Amber.

„Bringst du mir einen Kaffee mit? Ich befürchte Schlaf bekomme ich erst mal keinen.“

„Klar. Ohne Milch und Zucker, schwarz wie deine Seele?“, fragt er neckisch.

Trocken lachend erwidert sie „Du kennst mich zu gut.“

 

***

 

Ich knie tief in der angenehm kühlen Erde meines Gartens. Die Sonne brennt vom Nachtmittagshimmel herab, doch ich merke die Hitze auf meinen Armen und Rücken kaum noch. In dem Beet vor mir liegt bereits eine ordentliche Reihe kleiner Erdbeerpflänzchen in der Erde. Ich steche das Schäufelchen neu in die Erde um ein weiteres Loch auszuheben. Behutsam hole ich ein weiteres Pflänzchen aus der Holzkiste neben mir und lege es in die Mulde. Die Wurzeln breite ich vorsichtig aus, ehe ich Erde darüber gebe. Sacht klopfe ich diese mit der Schaufel fest. Einen Moment halte ich inne um tief Luft zu holen. Es riecht angenehm nach frischer Erde und wachsendem Grün. Meine Brust schmerzt beim Atmen, doch der Schmerz erinnert mich auf eine tragische Art daran, dass ich immer noch am Leben bin. Ich vermeide es auf den Flieder zu schauen, selbst wenn ich weiß, dass Victoria nicht dort steht. Es ist wie Isla gesagt hat, sie ist tot, tot und begraben in Distrikt sieben. Sie kann mich nicht mehr verletzen. Nicht körperlich zumindest.

Auf den Knien rücke ich einige Zentimeter weiter das Beet entlang bevor ich ein neues Loch schaufle für das letzte Pflänzchen in der Kiste. Doch bevor ich es in das Loch heben kann stolpert Isla aus dem Haus, wo sie unsere frisch geernteten Bohnen für das Abendessen geschnippelt hat. Sie trägt noch immer ihre Schürze und trocknet sich mit einem Lappen die Hände. Ich schiebe mir den Strohhut in den Nacken um sie besser sehen zu können als sie eilig näher kommt.

„Annie“, sagt sie mit sorgenvoller Stimme, „es ist soweit, sie rufen uns alle zusammen auf den Festplatz. Die Friedenswächter kommen schon unten der Hügel herauf. Wir sollten uns besser schnell auf den Weg machen.“ Sie reicht mir eine von Jahren der harten Arbeit schwielige Hand und zieht mich mit einem Ruck auf die Füße. Meine Knie sind bereits weich bevor ich ganz stehe. Die Hungerspiele enden. Das Schäufelchen rutscht aus meiner schweißnassen Hand. Mit einem dumpfen Geräusch schlägt es auf der Erde auf. Ich schaue herab auf das einzelne kleine Erdbeerpflänzchen, doch Isla zieht mich bestimmt mit sich.

„Es tut mir so leid Annie, aber wir müssen uns beeilen. Ich will nicht, dass sie uns holen kommen.“ Sorge schwingt in ihrer Stimme mit. Sie legt mir einen Arm um die Schultern und führt mich in die Kühle des Hauses. Die angenehme Wärme lässt nach und plötzlich fühle ich mich eiskalt. Wie betäubt greife ich nach dem feuchten Lappen den Isla mir entgegenstreckt um mir die Erde von den Händen zu wischen. Gedanken rasen durch meinen Kopf, einer schneller als der andere.

Wir müssen wieder herunter zum Festplatz um uns das Finale anzusehen. Sie werden mich auf eine Bühne zerren. Ich werde wieder sehen müssen wie jemand stirbt. Und dann wird es vorbei sein. Die anderen werden zurück kommen. Finnick wird wieder hier sein.

Der Lappen in meinen Händen zittert als ich ihn auf den Esstisch lege. Isla ergreift meine Hand und drückt sie fest.

„Lass uns gehen. Ich bleib auch an deiner Seite. Es wird alles gut.“

Sie zieht mich in eine hastige Umarmung. „Ich werde da sein.“

Über ihre Schulter hinweg sehe ich wie sich ein Schatten in der Küche bewegt. Mit einem schmalen Grinsen im Gesicht lehnt sich Shine an den Türrahmen. Sie sagt nichts, also schließe ich schnell meine Augen und drücke mich fester an Isla. Diese scheint meine Verspannung zu bemerken, denn sie streicht mir beruhigend über den Rücken.

„Wer ist es?“, fragt sie mit fester Stimme.

„Shine.“

„Dann sage ich ihr lieber, dass sie hier nicht erwünscht ist. Für Geister ist kein Platz in unserem Haus!“

Islas Stimme scheint durch den Raum zu hallen und als ich es wage die Augen wieder zu öffnen ist Shine spurlos verschwunden. Natürlich. Sie ist nicht real. Froh, dass ich mich nicht in Krämpfen am Boden winde drücke ich Isla noch einmal an mich. Ich will nicht hinunter zu den Spielen, doch wenn wir nicht gehen werden ohnehin nur die Friedenswächter kommen um mich zu holen. Es ist das mindeste, dass ich jedes Jahr an den Veranstaltungen rund um die Hungerspiele teilnehmen muss. Das größte Glück ist schon, dass ich nicht als Mentorin in das Kapitol muss. Ich versuche es zu tun wie Mags es mir beigebracht hat: Stück für Stück meine Seele in Lagen dicker Watte zu wickeln, bis ich mich taub fühle. Wie sie das machen kann habe ich nie ganz verstanden, doch es funktioniert gut genug um wenigstens die schlimmsten Panikattacken die mich sonst unvorbereitet treffen zu verhindern. Mags hat mir einst gesagt, dass man sich viel besser schützen kann wenn man weiß was auf einen zukommt oder noch besser, sich schon das Schlimmste vorgestellt hat, denn dann könne einen nichts mehr so sehr verletzen und langsam beginne ich zu glauben, dass es stimmt. Schon zweimal habe ich es geschafft auf der Tribüne das Finale über mich ergehen zu lassen, da werde ich es auch heute schaffen – so versuche ich zumindest es mir einzureden. Vielleicht kann ich es nur mit genug Erfahrung wie Mags schaffen wieder so etwas wie ein normales Leben zu haben. Zumindest ist das der Hoffnungsschimmer in mir drinnen der mir hilft. Etwas anderes ist es allerdings wenn plötzlich Victoria in meinem Garten steht. Doch diesen Gedanken muss ich jetzt weit hinter die Lagen aus Watte zurückdrängen.

Nervös wische ich mir noch einmal über die Augen, dann eilen Isla und ich zur Tür, obwohl meine Knie mit Erde bedeckt sind und Isla noch ihre fleckige Kochschürze trägt. Auf dem Weg herab kommt uns auch schon ein Trupp aus vier Friedenswächtern entgegen die uns abholen sollen. Sie tragen ihre beste auf Hochglanz polierte Uniform, selbst die Gewehre blitzen wie an kaum einem anderen Tag. Sie gruppieren sich um uns herum und eskortieren uns so zu dem Festplatz auf dem große Leinwände aufgestellt sind. Die Bühne auf der vor beinahe drei Wochen schon die Ernte stattfand steht unterhalb der größten von ihnen. Bürgermeister Southshore und seine Familie sitzen bereits hübsch aufgereiht dort. Von überall strömen Menschen auf den Platz und drängen sich dicht an dicht. Auf Türmen rund um den Platz sind weitere Friedenswächter postiert die die Menge im Auge haben. Vor unserem kleinen Trupp weichen alle mit gesenktem Blick zurück als wären wir Ausgestoßene. Ich spüre , dass auch Islas Hand in meiner schwitzig wird, doch sie lässt sich nichts anmerken. Hoch erhobenen Hauptes schreitet sie auf die Bühne zu. Doch kurz bevor wir diese erreichen stoppt ein Wächter aus unserer Eskorte uns. An Isla gewandt sagt er barsch:

„Sie warten hier unten. Es ist unsere ausdrückliche Anweisung nur die Siegerin herzubringen“, wobei er mir einen verächtlichen Blick zuwirft. Isla greift meine Hand noch fester und richtet noch ein Stück weiter auf. Ihr Blick ist stählern als sie ihm einen Finger auf die polierte Brustplatte setzt.

„Ich gehe mit Annie auf diese Bühne. Davon wird mich auch kein Mann in einer Plastikrüstung von abhalten. Wir können jetzt entweder hier eine Szene machen und euch die Parade versauen oder ihr zieht euch jetzt zurück.“

Vielleicht ein wenig nervös lachen die Friedenswächter auf, doch keiner zieht sich zurück. Isla hält ihren Blick jedoch unverwandt auf jenen der sich ihr in den Weg gestellt hat.

„Hör zu, ich hab schon draußen auf dem Meer gewaltigen Stürmen getrotzt als ihr alle noch in euren Windeln lagt. Ich habe keine Angst vor euch. Am Ende des Tages seit auch ihr alle nur käufliche kleine Waschlappen die das Fitzelchen Macht auskosten wollen, dass ihnen geschenkt wurde. Zufälligerweise kenne ich Hauptmann Arden recht gut und ich würde behaupten, dass so ein Aufstand überhaupt nicht in seinem Interesse wäre.“

Ihre Augen funkeln als sie dem Friedenswächter noch einmal mit Nachdruck gegen die Brust stupst. Beunruhigt knülle ich den Saum meines Shirts in der freien Hand zusammen während ich mich mit der anderen an Isla klammere. Natürlich will ich nicht alleine auf die Bühne, doch noch weniger will ich mich mit den Friedenswächtern anlegen. Stoisch blicke ich auf das staubige Pflaster zu unseren Füßen. In meinem Gedanken höre ich das Echo von Mags die mir rät mich selbst zu schützen. Mental ziehe ich die Watte um mein Innerstes enger. Ich muss das hier einfach nur durchstehen.

Die Erwähnung seines Kommandanten scheint den Mann nachdenklich gemacht zu haben, denn er hält seinen Kameraden zurück als dieser ruckartig ausholt um Isla eine Ohrfeige zu verpassen. „Lass gut sein, sie ist die Schwester von Ardens Frau. Wir lassen sie einfach gehen. Ist sowieso egal ob die Verrückte da oben allein ist oder nicht, sie dreht sowieso durch. Wenn ihr jemand das Händchen tätschelt dann hält sie ja vielleicht noch fünf Minuten länger durch.“

Er lacht mitleidlos. Islas Augen werden schmal, aber sie sagt nichts weiter sondern rempelt ihn lediglich heftig mit der Schulter an ehe sie die Treppe zur Bühne erklimmt. Ich folge ihr mit gesenktem Kopf, das Gelächter der Friedenswächter in den Ohren. Die Beleidigungen sind nichts neues für mich. Mit aller Macht versuche ich sie aus meinen Gedanken zu drängen.

Oben auf der Bühne bleibt Isla an meiner Seite stehen als ich mich auf den verbleibenden Stuhl neben dem Bürgermeister sinken lasse. Er würdigt uns keines Blickes, so wie jedes Jahr. Es erscheint unter seiner Würde sich mit denen abzugeben die nicht im Kapitol sind um Ruhm und Ehre für den Distrikt zu erringen. Trotz der angestauten Hitze auf dem Platz ist mir noch immer kalt. Der Saum an meinem Shirt löst sich langsam auf da ich geistesabwesend an den Fäden zupfe. Ich löse den Blick nicht von meinen Fingernägel unter denen immer noch Erde klebt. Würde ich den Blick heben dann sähe ich ohnehin nur eine gesichtslose Masse deren Blick in Schockstarre an den Leinwänden klebte auf denen gerade das Siegel des Kapitols eingeblendet wird, der Hymne nach zu urteilen deren Anfangstöne gerade ertönten.

Southshore neben mir erhebt sich und heißt die Bevölkerung hier und auf den übrigen Festplätzen im Distrikt herzlich willkommen, kaum, dass die letzten Töne verklungen sind. Auf seine Worte hin ertönt eine Fanfare und dann erwachen die Bildschirme zum Leben. Es beginnt. Unwillkürlich schießt meine Hand zu dem Amulett unter meinem Shirt, meine letzte Erinnerung an eine längst verlorene Familie, ein Leben genommen von den Spielen. Ich muss stark bleiben.

 

***

 

Alle Mentoren sind zur Mittagszeit in der großen Festhalle über dem Trainingscenter versammelt worden. Eine einzige riesige Leinwand überspannt die Stirnseite des prunkvollen Saals. Unterhalb dessen ist auf einem kleinen Podest eine stilvolle Lounge eingerichtet in der Präsident Snow sowie einige der wohlhabenderen Kapitolbewohner Platz nehmen werden. In Kürze wird das Finale offiziell eröffnet. Finnicks Gedanken sind daheim in Distrikt vier bei Annie. Jetzt in diesem Moment werden sie alle auf dem großen Platz vor dem Rathaus versammelt um dem Finale ebenfalls beizuwohnen. Sein Herz wird schwer als er daran denkt wie viel Angst sie durchstehen muss während sie wieder mit ihrem schlimmsten Albtraum konfrontiert wird. Doch andererseits ist er froh, dass sie in diesem Moment nicht bei ihm ist in diesem Saal voll von altem Geldadel, Politikern und bitteren Siegern. Hier fühlt sich das alles noch viel falscher an als draußen in den Distrikten zuzuschauen. Jahr für Jahr fühlt er sich mehr als stünde er auf der falschen Seite, umgeben vom höchsten Komfort wenn er den Tributen bei ihrem Überlebenskampf zuschaut.

Im Moment ist es jedoch noch ruhig und so ist je eine Kamera auf einen der drei verbliebenen Tribute gerichtet die sich allesamt ausruhen, nicht wissend was da kommt. Doch die Anspannung unter den Mentoren ist greifbar. In wenigen Minuten werden die Spielmacher zur Tat schreiten und das Finale in die Wege leiten. Die wenigen Mentoren die noch einen Tribut haben sitzen allesamt eng beieinander, in gedämpfte Beratungen vertieft. Die Sieger aus Distrikt vier belegen eine Sesselgruppe aus schwerem Samt, ihre Tablets vor sich auf einem Eichentisch. Neben Finnick und Amber sind jetzt auch Mags, die Älteste in ihrer Runde, Trexler und Floogs, die beiden unzertrennlichen Freunde, dabei.

Auf jedem Tablet-Display ist ein anderer Informationsausschnitt zu sehen, damit sie jederzeit die Übersicht behalten. Die übrigen Mentoren, nun ohne Aufgabe, haben sich über die Halle verteilt, sichtlich unwohl in ihrer Haut. Das Finale ist unbestreitbar die schlimmste Veranstaltung der Hungerspiele. Zum Glück bietet die edle marmorn geflieste Halle genug Raum um einander aus dem Weg zu gehen.

Schritte nähern sich dem Tisch um den Finnick und die anderen herumsitzen. Er schaut auf und sieht Johanna Mason näher kommen, ein Glas mit irgendeinem bunten Cocktail vom Buffet in der Hand.

„Hey Sugarboy“, flötet sie sarkastisch als sie sich auf die Armlehne seines Sessels sinken lässt, einen Arm um seine Schultern gelegt. „Lange nicht gesehen.“ Mit der freien Hand winkt sie grinsend den übrigen Siegern zu, die ebenfalls respektvoll nicken. „Glückwunsch zum Finale, schätze ich. Das letzte Mal ist ja schließlich auch schon drei Jahre her, wird mal wieder Zeit.“ Sie lacht freudlos und Amber stimmt mit ein.

„Hallo Jo“, begrüßt er sie müde. „Mein Beileid für deine Beiden…“

Seine Stimme verklingt da er nicht wirklich weiß was er sagen soll. Ihre beiden Tribute sind schon lange getötet worden. Wie er sie so kennt hat sie ihren Kummer darüber schon tief in sich drinnen vergraben. Dennoch bringt er es nie fertig so salopp darüber zu reden wie sie es meist tut. Wie um seine Vermutung zu bestätigen winkt Johanna nur lässig ab und nippt an ihrem Getränk. „Das hatte ich doch schon im Gefühl als ich sie das erste Mal gesehen hab. Zitternd vor Angst und kaum kraftvoll genug ein Messer zu halten, da hätte ihr Leid eigentlich auch gleich beenden können… zum Glück hab ich mir gar nicht erst Hoffnungen gemacht.“

„Vermutlich wäre das eine größere Gnade gewesen, aber wo wäre da denn der Spaß?“, sagt Amber sarkastisch, ihre Miene düster.

Die anderen sehen ob ihrer harschen Worte angemessen betroffen aus. Für einen Moment verharren alle in unangenehmen Schweigen ehe Johanna ergänzt „Bald geht‘s wieder nach Hause, was?“

Finnick meint so etwas wie Vorfreude in ihrer Stimme mitschwingen zu hören.

„Wenn es schnell geht vielleicht schon übermorgen“, pflichtet er ihr bei. Doch da Riven immer noch im Spiel ist weiß er nicht ob er sich schon darauf freuen darf. Johanna scheint seinen Unmut zu fühlen, denn sie lehnt sich näher zu ihm herunter.

„Ihr habt alle euer bestes getan. Ich hab mir die Aufnahmen angesehen und eure Kleine da ist eine echte Kämpferin. Nicht so eine arme Irre mit Angst vor der Dunkelheit wie die, die ich immer erwische…“

Nachdenklich blickt Mags Johanna an, eine Sorgenfalte auf ihrer runzligen Stirn.

„Du solltest nicht so hart mit dir sein. Wir geben alle unser bestes, doch die Voraussetzungen sind nicht immer die gleichen.“

Mitfühlend drückt Finnick Johannas Hand auf seiner Schulter. Sie mag zwar nicht gerne offen darüber sprechen, doch in jedem ihrer Worte schwingt die Verbitterung über ihre Verluste mit. Seit sie Mentorin ist hat noch nicht einer der Tribute aus Distrikt sieben die Spiele gewonnen. Ihre größte Hoffnung war Victoria gewesen, in den 70. Hungerspielen. Ganz mit dem Kampfgeist von Johanna ausgestattet waren die Chancen so gut wie nie gewesen, doch am Ende war es ausgerechnet Annie die sie getötet hatte.

„Es ist nicht deine Schuld“, stimmt er Mags zu. Wie gerne würde er ihr ehrlichere Worte anbieten, doch keiner dem sein Leben lieb ist traut sich im Kapitol über die wahren Missstände zu sprechen. Schon gar nicht in aller Öffentlichkeit.

Als wäre das sein Stichwort öffnen sich die schweren Flügeltüren in den Saal und Präsident Snow, begleitet von einer Eskorte Friedenswächter schreitet in den Saal. Hinter ihm folgt schnatternd eine Schar aus bunt gekleideten Würdenträgern des Kapitols und ihre Familien. Gegen sie hebt sich der Präsident nur umso mehr von der Masse ab in seinem schlichten weißen Anzug mit der einzelnen Rose am Revers. Ruhig gleitet sein wachsamer Blick über die anwesenden Sieger. Seine Lippen kräuseln sich zu einem schmalen Lächeln, ehe er in seiner Ehrenloge Platz nimmt.

Johanna an Finnicks Seite versteift sich bei seinem Eintreten unwillkürlich und wirft einen fast schon unverhohlen hasserfüllten Blick auf Snow. Es ist kein Geheimnis wie sehr sie Snow hasst – vermutlich beruht es auch auf Gegenseitigkeit. Trexler brummt warnend, doch sie ignoriert ihn.

Langsam wendet Johanna den Blick ab, ehe sie einen bedeutungsschweren Blick in die Runde wirft. „Ich muss unbedingt nochmal mit euch plaudern bevor wir uns nächstes Jahr erst wiedersehen. Vielleicht habt ihr ja noch ein paar Tipps für mich wie nächstes Jahr erfolgreicher wird. Wir wollen Opa Snow schließlich nicht enttäuschen.“

Das düstere Lächeln auf ihrem Gesicht zeigt allerdings nur allzu deutlich woran sie im Moment wirklich denkt. Finnick vermutet, dass es vor allem einen kopflosen Präsidenten beinhaltet, hält sich aber lieber bedeckt. Schon die Verbindung zu Johanna mit ihrer offen rebellischen Ader ist gefährlich und im Gegensatz zu Johanna, die alle verloren hat die ihr etwas bedeuteten, steht für ihn einfach zu viel auf dem Spiel. Jedes Wort will weise gewählt sein bevor er es am Ende noch bereut.

Mags scheint ähnlich zu denken und schenkt Johanna ein freundliches Lächeln. „Natürlich meine Liebe. Nachher bei der Feier werden wir bestimmt noch Zeit genug haben.“

Mit einem Zwinkern prostet Johanna in die Runde und erhebt sich wieder. „Dann will ich euch lieber nicht länger stören.“

Finnick wirft ihr einen kurzen Blick zu. „Und pass besser auf, dass du nicht zu tief ins Glas schaust“, sagt er und deutet mit einem Kopfnicken ans Ende des Raumes, „sonst endest du noch wie Abernathy.“

Tatsächlich liegt dieser bereits ausgestreckt auf einem Sofa, sein Hemd verrutscht und eine ganze Schar an leeren Gläsern zu seinen Füßen. Lallend schimpft er vor sich hin, doch niemand schenkt ihm Beachtung. Im Gegensatz, einige Damen aus dem Kapitol werfen ihm kichernd Blicke zu und scheinen sich vorzüglich über seine mangelnden Manieren zu amüsieren. Jeder weiß, dass Haymitch Abernathy aus Distrikt zwölf ein hoffnungsloser Trunkenbold ist.

Johanna zieht eine Augenbraue hoch ehe sie Finnick zum Abschied auf die Schulter klopft.

„Mach dir da mal keine Sorgen. So hoffnungslos bin ich dann auch wieder nicht.“

In diesem Moment ertönt eine dröhnende Fanfare. Die Leinwand erwacht zum Leben und das goldene Siegel des Kapitols erscheint.

„Es fängt an“, sagt Floogs leise.

„Nun dann…“, Johanna drückt Finnicks Schulter unerwartet sanft, „möge das Glück mit euch sein.“

Mit diesen Worten geht sie von dannen.

Vorne werden die Kameras auf Präsident Snow gerichtet und wenige Sekunden später erscheint er auf der Leinwand. Wie in jedem Jahr hält er eine kurze Ansprache über die Bedeutung der Hungerspiele, doch die Sieger hören ihm längst nicht mehr zu. Der Inhalt ist jedes Jahr größtenteils der Gleiche. Selbst seine Anhängerschaft scheint ihr Interesse nur noch zu heucheln. Doch Snow scheint es ohnehin nur darum zu gehen die Distrikte noch einmal an ihren Platz in den Spielen zu erinnern.

„Also gehen wir es noch einmal durch“, flüstert Floogs, „sobald es losgeht schicken wir Riven das Antidot mit dem Hinweis es zu trinken. Sie weiß noch nichts von dem Gift aus neun und dies könnte das Schlimmste verhindern. Wir wissen nicht wie konzentriert ihr selbst gemischtes Gift wirklich ist, doch dies ist unsere beste Hoffnung. Unsere letzten Anstrengungen nach Erics Tod heute Vormittag haben sich ausgezahlt, wir haben gerade so das Geld für dieses teure Antidot beisammen – und können uns sogar den Eilversand leisten. Was Distrikt fünf angeht… nun da können wir nur hoffen, dass Riven besser mit dem Schwert umgeht als er sollten sie aufeinander treffen.“

Die anderen nicken. Mags ergänzte mit sanfter Stimme:

„Wir werden auch noch einmal versuchen neue Gelder zu gewinnen. Vielleicht reicht es ja um Riven in den entscheidenden Momenten noch etwas hilfreiches zukommen zu lassen, eine Blendgranate oder ähnliches. Wir sollten uns auf diejenigen konzentrieren die uns bereits finanziell unterstützt haben.“

Sie wendet sich an Amber, die bereits eine Liste ihrer tüchtigsten Sponsoren geöffnet hat.

„Ich denke wenn wir an ihr Mitleid appellieren weil wir erst heute Eric verloren haben könnten wir eine Familie wie die Canvilles dazu bewegen erneut zu spenden. Sie haben zudem auch schon vor drei Jahren für Annie gespendet – mit dem Gedanken, dass sie nach so kurzer Zeit bereits wieder einen Sieger finanziert haben könnten dürften wie sie bei ihrer Ehre packen können.“

Alle nicken zustimmend.

„Nichtsdestotrotz sollten wir auch noch einmal allgemein um Unterstützung bitten“, setzt Finnick hinzu, „Rivens Chancen stehen jetzt so gut wie nie zuvor und diese Aussicht sollte einige motivieren können, auch wenn es vermutlich nur kleine Beträge sein werden. Die Tatsache, dass wir sie mit einem Antidot ausgestattet haben sollte zeigen, dass auch andere viel Geld auf sie setzen. Wer sich auskennt wird wissen, dass dies eines der teuersten Geschenke auf der Liste ist. Ich werde diejenigen die noch kurzfristig Wetten abschließen wollen versuchen davon zu überzeugen, dass sie einen Teil des Geldes lieber direkt investieren sollten, um ihre Wette abzusichern.“

Im Hintergrund hören sie die Rede des Präsidenten enden. Sie tauschen einen letzten entschlossenen Blick. „Das Glück wird mit den Gerechten sein“, brummt Trexler mit tiefer Stimme.

Sie alle wiederholen ihr ganz eigenes Mantra, einander an den Händen gefasst.

Das Licht in der Halle wird gedimmt als die Kameras auf die Arena schalten. Aus der letzten Reihe ertönt ein dumpfes Poltern als Haymitch Abernathy grunzend vom Sofa rutscht. Dann senkt sich eine gespenstische Stille über die Halle.

Die drei Tribute auf der Leinwand schrecken alle gleichermaßen zusammen als die Fanfare des Kapitols erklingt. Die Stimme von Seneca Crane erklingt.

„Meine lieben Tribute, herzlichen Glückwunsch! Ihr habt es soweit geschafft und steht nun im Finale! Gut gemacht. Doch noch ist es nicht ganz geschafft. Wie ihr sicher wisst seid ihr immer noch zu dritt… Ich würde euch raten zum Füllhorn zurück zu kehren, andernfalls kann es sein, dass eine unangenehme Überraschung auf euch wartet.“

Ein Wechselbad der Gefühle zeigt sich auf den Gesichtern der Tribute. Der Junge aus fünf fängt sich zuerst und sprintet los in Richtung des Startbereichs, doch auch Riven zögert nicht lange. Ihr Schwert in der Hand springt sie auf, als sich auch schon mit einem Klingeln der Fallschirm mit dem Antidot ankündigt. Sichtlich erstaunt fängt sie die silberne Dose auf.

„Oh was ist das?“, überschlagen Caesar Flickerman und Claudius Templesmith, die nun wieder als Kommentatoren eingeblendet werden, sich fast, „da scheint es aber jemand eilig mit seinen Geschenken zu haben! Kann das etwa sein – ein Antidot! Das muss doch ein Vermögen gekostet haben! Es scheint ganz so als wenn Riven außergewöhnlich spendable Gönner hat. Was ein gutes Stichwort ist: noch haben sie die Chance für unsere tapferen Tribute zu spenden!“

Eine Telefonnummer wird eingeblendet und schon richten sich die Kameras auf die Mentoren aus den Distrikten vier, fünf und neun. Möglichst charmant versucht Finnick die Zuschauer um den Finger zu wickeln ehe die Aufmerksamkeit sich Richtung Distrikt fünf wendet. Zumindest ist es hilfreich, dass er gut genug aussieht um im Kapitol beliebt zu sein, wenn seine Argumente allein die Sponsoren nicht überzeugen. Tatsächlich dauert es nicht lange bis das erste Klingeln in der Halle das Eintreffen von Spenden ankündigt. Eilig macht er sich daran die Liste der Wetteinsätze auf seinem Tablet nach vielversprechenden Einträgen zu überprüfen, ein Auge immer noch auf der Leinwand. Riven dort schraubt gerade die kleine Ampulle auf und legt den Kopf in den Nacken um sie in einem Zug zu leeren.

„Wollen wir hoffen, dass das hilft“, flüstert Amber neben Finnick. Auf ihrem Tablet sortiert sie die neuen Spendeneingänge.

„Wie viel bisher“, erkundigt Floogs sich.

„Nicht viel, wir können uns gerade einmal ein Brot leisten.“ antwortet sie.

Unterdessen schalten die Kameras auf das Mädchen aus neun. Ungelenk rutscht sie die letzten Zentimeter von dem Baum hinunter auf dem sie gewartet hatte. Ihre Augen sind weit mit Furcht und sie rennt los so schnell ihre Füße sie tragen. Kurz darauf sehen auch die Zuschauer was ihr so Angst einjagt als die Erde erzittert und mit einem schrecklichen Splittern aufreißt. Die umstehenden Bäume knicken ab und stürzen in den größer werdenden Krater. Aus der Vogelperspektive sehen sie wie sich überall weitere dieser Löcher öffnen und heißer Dampf entweicht. Der Schnee fängt an zu schmelzen, sodass der Boden sich in eine schlammige Rutschpiste verwandelt. Auch die anderen beiden Tribute merken jetzt was los ist, als sich in ihrem Weg Löcher öffnen. Riven springt waghalsig über eine niedrige Mauer, ehe auch diese in einem Krater hinter ihr versinkt. Keuchend wirft sie sich vorwärts, landet auf allen Vieren und kommt stolpernd wieder auf die Füße. Noch im Laufen schiebt sie das Schwert zurück in seine Scheide an ihrer Hüfte, ehe es sie noch aufspießen kann. Keine Sekunde zu früh, denn neben ihr schießt in diesem Moment eine weitere Fontäne heißer Luft hoch. Kreischend wirft sie sich zur Seite. Sie landet in einem Graben zwischen zwei Häuserruinen, doch unverletzt. Das Mädchen aus neun hat jedoch nicht so viel Glück. Als vor ihr eine Säule heißer Luft entweicht wird sie an ihrer Schulter erwischt. Mit einem Schrei der Finnick bis ins Mark erschüttert stürzt sie zu Boden. Ihre gesamte rechte Seite ist vom heißen Dampf verbrüht. Es dauert nicht lange und große Blasen bilden sich, doch sie lebt noch.

Fluchen ertönt aus Richtung der Mentoren von Distrikt neun. Ein paar Spenden trudeln ein als sich ihr Tribut humpelnd aufrafft und mit zusammengebissenen Zähnen weiter stolpert.

Der Tribut aus Distrikt fünf erreicht inzwischen als erster das Füllhorn. Außer Atem sinkt er an dem metallenen Horn zusammen, eine Hand in die Seite gepresst. Er ist unverletzt. Als Belohnung trudelt auch schon ein Fallschirm mit einer Wasserflasche ein. Gierig stürzt er diese herunter. Mit einem Grinsen reckt er seine Faust gen Himmel, fast schon siegessicher. Auch bei seinen Mentoren klingeln die Tablets als Spenden eingehen.

Finnick blickt fast schon flehend zu Amber während sie Riven dabei zusehen wie sie weiter Haken schlagend durch die Ruinen rennt. Doch diese schüttelt nur den Kopf. Immer noch nicht genug. Riven ist immer noch am weitesten vom Füllhorn entfernt, auch wenn Distrikt neun durch die Verbrennungen behindert wird. Allerdings überrascht das Mädchen sie alle damit mit welcher Verbissenheit sie sich weiter schleppt, ihr kleines Blasrohr mit ihrer blasen-überzogenen Hand umklammert. Weitere Spenden gehen klingelnd ein.

Doch schon wird zurück auf Riven geschaltet, der der Boden gerade im wahrsten Sinne des Wortes unter den Füßen zu bröckeln beginnt. Sie gerät auf dem schlammigen Schnee ins Rutschen als die Erde erzittert und stürzt fluchend zu Boden. Unheilvoll knarzend öffnet sich der Abgrund hinter ihr. Verzweifelt greift Riven nach den Wurzeln eines Baums und schafft es tatsächlich sich ein Stück weit vorzuziehen ehe dieser nachgibt. Finnicks Kiefer verspannt sich vor Anspannung als er sie so ums Leben kämpfen sieht, alleine auf ihre Kraft und Glück angewiesen. Mit einem Kampfschrei wirft Riven sich weiter vorwärts. Wie durch ein Wunder schafft sie es sich vom Rand des Kraters fortzuziehen. Sie zieht ein Messer aus ihrer Jacke, dass sie immer wieder in den Boden um sich weiter fortzuziehen. Quälend langsam, so erscheint es ihm, verlässt sie den Krater. Kaum, dass sie wieder auf den Beinen steht stößt heißer Dampf explosionsartig hinter ihr auf. Die Wucht drückt sie zu Boden. Sie wird von kochenden Wassertröpfchen getroffen, wenn auch weniger stark als ihre Gegnerin. Das Gesicht schmerzverzerrt rennt sie weiter.

Amber atmet hörbar auf als diese Gefahr vorerst gebannt ist. Das Tablet in ihren Händen zwischenzeitig vor Anspannung vergessen wird sie nun durch das Klingeln einer Spende aufgeschreckt. Sie zuckt zusammen ehe sie damit weiter macht ihre Optionen zu kalkulieren.

„Wenn sie vor dem Füllhorn eine kurze Pause einlegt könnten wir ihr vielleicht sogar noch eine Salbe schicken… mit diesen Verbrennungen wird es schwierig werden wenn sie sich gegen Distrikt fünf im Schwertkampf behaupten muss.“

Die Ansicht wechselt jedoch erneut und zeigt jetzt wieder das kleine Mädchen mit ihrem Blasrohr. Einem Schatten gleich huscht sie durch den Ring an gleichförmigen Häuserruinen die das Füllhorn umgeben. Immer wieder duckt sie sich hinter Mauern und Vorsprünge um dann vorzuspringen. Der Junge scheint davon noch nichts mitbekommen zu haben, denn er lehnt weiterhin mit dem Rücken am Füllhorn, eine Hand locker auf seinem Schwertgriff. Seine Gegenspielerin scheint dafür umso vorsichtiger zu sein. Offensichtlich unter Schmerzen versucht sie an einem Stück zerfallender Mauer hochzuklettern um einen besseren Ausblick zu bekommen, doch mit ihrem verbrannten Arm kann sie ihr Gewicht nicht tragen. Doch sie kriecht weiter auf den unachtsamen Jungen zu, was ein Stöhnen seiner Mentoren zur Folge hat.

Hastig schreibt Finnick weiter Nachrichten an mögliche Sponsoren in der Hoffnung, dass Riven noch mehr Sympathien gewinnen kann als Distrikt neun.

Riven nähert sich nun ebenfalls dem Füllhorn und verlangsamt ihren Sprint. Keuchend lehnt sie an einer Mauer, sichtlich außer Atem. Mit einer ungelenken Hand befreit sie das Schwert aus der Scheide.

Es klingelt leise auf Ambers Tablet. Fast möchte Finnick vor Glück weinen als Amber einen weiteren Fallschirm losschickt mit der erhofften Brandsalbe. Es ist ein Risiko da so Rivens mögliche Position verraten werden könnte, doch lieber soll sie eine Chance haben sich vernünftig zu wehren, da eine Konfrontation sowieso unvermeidlich ist. In der Arena schnappt Riven sich zügig die Dose mit Salbe und schleicht einige Häuserblocks weiter, ehe sie sich niederlässt um die Salbe großzügig auf die schlimmsten Stellen zu reiben. Sie befindet sich jetzt unweit von dem anderen Mädchen, welches die Ankunft des Fallschirms jedoch nicht mitbekommen hat. Anders jedoch der stämmige Tribut aus fünf, der von seinem Platz am Füllhorn aufspringt. Das Schwert bereit in der Hand geht er misstrauisch hinter einigen aufgestapelten Kisten in Deckung, die Augen fest auf die Ruinen geheftet.

In dem Festsaal hingegen lassen die Mentoren ihre Tablets sinken. Aus Erfahrung wissen sie, dass ab diesem Punkt das Schicksal ihnen jede Entscheidung aus den Händen nimmt. Die Tribute sind auf sich gestellt. Jetzt wird es nicht mehr lange dauern, so oder so. Finnick sitzt an der Kante seines Stuhls, die Augen unentwegt auf die Leinwand gerichtet, die Hände zittrig vor sich verknotet. Amber hingegen ist tief in ihren Sessel gerückt, die Arme vor dem Körper verschränkt. Wachsam beobachten sie wie Riven über die zerbrochenen Fundamente alter Häuser klettert, so leise wie möglich. Bei jedem fallenden Stein halten sie die Luft an in Befürchtung, dass sie entdeckt wird. Riven schafft es sich bis zum Rand der schneebedeckten Lichtung rund um das Füllhorn vorzuarbeiten. Sie erspäht den Jungen, doch ihre Augen huschen weiterhin rastlos über die flache Ebene. Als sie ihre weitere Gegnerin nicht erkennt lässt sich sich zurück sinken und blickt hinter sich. Doch auch dort ist niemand. Einen Moment verharrt sie angespannt. Dann greift sie nach einem kleinen Kiesel und wirft ihn mit aller Kraft zur Seite durch die Ruinen. Mit einem verräterischen Klacken schlittert er durch den schneebedeckten Weg zwischen zwei Häusern und bleibt dann liegen. Ihre List scheint zu funktionieren, denn der Tribut am Füllhorn hebt seinen Kopf. Eilig huscht er vorwärts und geht dann schnell hinter weiteren Vorratskisten in die Knie. Damit schiebt er sich in das Sichtfeld des kleinen Mädchens. Sie sieht ihre Chance und zielt blitzschnell mit dem Blasrohr. Der Pfeil sirrt los. Fluchend duckt sich der Tribut wieder hinter die Kisten, doch zu spät. Der Pfeil hat ihn am Oberarm touchiert. Aus einem schmalen Schnitt in seiner Jacke läuft ein dünner Faden Blut. Der Angriff scheint ihn alle Vorsicht vergessen zu lassen, denn er stürmt los in Richtung des Pfeils. Seine Angreiferin versucht davon zu laufen, doch mit einem halb unterdrückten Schmerzensschrei stürzt sie nach wenigen Schritten zu Boden. Ihre schweren Verbrennungen lähmen sie und der Junge aus fünf kommt mit großen Schritten auf sie zu. Von der anderen Seite kriecht gleichzeitig Riven langsam näher um zu sehen was passiert. Sie erreicht den nächstgelegenen Mauervorsprung auf allen Vieren, genau in dem Moment in dem der Tribut aus fünf mit einem großen Sprung vor der kleinen Giftmischerin landet. Ein letztes Mal versucht sie einen Pfeil auf ihn abzuschießen, eine sinnlose Verzweiflungstat. Doch noch bevor der Pfeil das Blasrohr verlassen kann hat er schon zugeschlagen und das Schwert mitten in ihre Brust gerammt.

Das Donnern des Kanonenschusses scheint den gesamten Saal zu erschüttern als ihr schmaler Körper zusammensackt. Aus Richtung der Mentoren von Distrikt neun erklingt ein schockierter Aufschrei, dann bricht jemand in Tränen aus. Die Augen der meisten anderen sind jedoch noch immer starr auf die Kameraübertragung gerichtet. Mit einer traurigen Entschlossenheit richtet Riven sich hinter ihrem Vorsprung auf, das Schwert fest in der Hand. Der Andere erblickt sie und ein grimmiges Lächeln gleitet über sein Gesicht.

„Dann sind es also wir zwei.“

Riven nickt. Einen Moment verharren sie regungslos voreinander, dann schlagen die Klingen ihrer Schwerter klirrend aufeinander. Erbarmungslos schlagen sie aufeinander ein, all die Wut und Verzweiflung aus zwei Wochen Überlebenskampf hinter jedem Hieb. Die Sekunden scheinen sich zu Stunden zu dehnen. Bei jedem Hieb fürchtet Finnick, dass er Riven tödlich verwunden wird, doch sie scheint jedem Hieb gerade so entkommen zu können. Sie rollt sich durch den Schneematsch nur um mit einem Schlag auf die des Gegners wieder hochzuspringen, doch er schafft es auszuweichen. Blitzschnell zielt er auf ihren Kopf und sie lässt sich wieder fallen. Stöhnend schlägt sie mit der verbrannten Schulter auf den Boden auf. Doch sie lässt sich keine Pause, sticht stattdessen von unten zu. Tatsächlich schafft sie es ein Stück seiner Jacke aufzureißen. Ihr Gegner lässt sich ein Stück zurückfallen. Mit einem Ausdruck des Schmerzes auf seinem Gesicht greift er sich plötzlich an die Brust und keucht. Er schafft es noch einen Hieb von Riven mit einer Hand zu parieren, doch es ist ersichtlich, dass es ihm nicht gut geht. Das Gift fängt an zu wirken. Diese Erkenntnis scheint auch er gehabt zu haben, denn er wird bleich. Jener winzige Moment der Unaufmerksamkeit reicht aus. Riven sticht das Schwert ohne Zögern mit voller Wucht in seinen Oberkörper. Absoluter Schock zeichnet sich auf seinem Gesicht ab, dann reißt sie das Schwert zurück und sein Körper fällt dumpf zurück in den Schnee.

Für einen Moment ist es totenstill. Riven steht in der Arena, ihr Schwert lose in der Hand. Sie starrt herab auf den gefallenen Tribut zu ihren Füßen. Dann zerreißt ein Kanonenschlag die Stille. Langsam richtet Riven ihren Blick Richtung Himmel, als sie realisiert, dass es tatsächlich vorbei ist. Das Schwert entgleitet ihrem Griff. Rasseln holt sie Atem. Tränen strömen über ihr Gesicht, in Großaufnahme auf der Leinwand.

Es fühlt sich an als würde Finnick von weit unten auftauchen. Plötzlich wird die Lautstärke aufgedreht so scheint es ihm. Flickerman und Templesmith verkündeten enthusiastisch das Ergebnis.

„Unsere Gewinnerin, meine Damen und Herren – Riven Sanders aus Distrikt vier! Was für ein Wahnsinn! Nur drei Jahre nach ihrem letzten Sieg gelingt es Distrikt vier mit einer echten Glanzleistung noch einmal!“

Neben ihm stößt Amber einen Schrei der Freude und Erleichterung aus. Mags sieht einfach nur unendlich traurig aus als ihre Blicke sich kreuzen. Auch Trexler und Floogs sehen mitgenommen aus. Ein schmächtiger Mentor aus Distrikt fünf starrt noch immer fassungslos auf die Übertragung, stumme Tränen auf seinen Wangen. Der Rest applaudiert höflich, aber kurz. Nur Präsident Snow und die übrigen Kapitolbewohner stehen auf um donnernden Applaus zu spenden. Neben dem ungläubigen Gesicht von Riven die aus der Arena abgeholt wird, wird jetzt auch Schnitt in den Saal gezeigt. Zunächst wird Snows selbstzufriedenes Lächeln gezeigt, ehe sich die Kamera auf die Mentoren richtet. Finnick ist das egal. Die Spiele sind vorbei. Dieses Mal fahren sie nur mit einem Sarg zurück, doch die Zukunft ist ungewiss. Nur um den Anstand zu wahren winkt er in die Kameras, bedankt sich überschwänglich bei ihren Sponsoren. Er fühlt sich wie ferngesteuert in diesem Moment.

Jetzt zeigen sie im Fernsehen eine Liveaufnahme aus Distrikt vier, direkt vom Hauptplatz. Jubelnde Zuschauer die ihrer Siegerin applaudieren. Der Bürgermeister strahlt breit in die Kameras und da – am Rand neben ihr, kaum zu sehen, sieht er Annie. Ihr Gesicht ist weiß wie Milch, ihre Augen weit aufgerissen. Isla steht an ihrer Seite, die Arme fest um sie geschlungen. Doch es reicht ihm ein Blick um zu erkennen, dass sie in diesem Moment in Gedanken in ihrer ganz eigenen Hölle ist. Es gibt einen hastigen Kameraschwenk zurück auf das Publikum und Finnicks Herz schmerzt, da er weiß, dass Annie in diesem Moment eine Panikattacke durchmacht. Wie sehr wünscht er sich sie in die Arme schließen zu können, doch stattdessen sitzt er hier Kapitol, unendlich weit von ihr weg. Galle steigt in ihm auf. Es sind die Momente wie diese in denen er sich wünscht es alles zerstören zu können, das Kapitol eigenhändig einzureißen. Seine Hände sind unwillkürlich zu Fäusten geballt, wie er merkt als Mags sie mit ihren kühlen Händen umfasst.

„Atme, Finnick“, flüstert sie ihm eindringlich zu, „bald sind wir wieder zuhause. Du weißt doch wie stark sie ist.“ Trauer zeichnet sich in ihren Augen ab als sie ihm sanft über die Wange streicht.

„Wahrscheinlich sogar stärker als wir alle. Bald kannst du wieder bei ihr sein, aber solange weißt du genauso gut wie ich, dass sie bei Isla in besten Händen ist.“

Verschwommen blickt er sie an, ehe er sich mit dem Handrücken über die Augen wischt.

„Danke Mags“, erwidert er heiser.

Ein Stück weit löst sich seine Anspannung wieder. Er nimmt wahr, dass die Fernsehübertragung aus der Arena beendet wird. Avoxe in roten Uniformen schwärmen aus, Häppchen auf goldenen Tabletten vor sich hertragend. Es ist wahrlich vorbei und Zeit für die Party. Langsam erhebt auch er sich um die Glückwünsche einiger anderer Sieger entgegenzunehmen. Die Show muss weitergehen schießt es ihm durch den Kopf. Er nimmt einen tiefen Atemzug um sich von allen seinen düsteren Gedanken zu befreien. Präsident Snow wird eine würdige Show erwarten und wenn er eines perfektioniert hat, dann das. Sein bestes Gewinnerlächeln auf den Lippen stürzt er sich in die Menge.

Von Salz und Muscheln

Eine seichte Brise weht über die anwesende Trauergesellschaft. In der Ferne hört man das Meer rauschen und über uns kreischen die Möwen. Die Flagge Panems wellt sich im Wind um jedem Anwesenden das herrschaftliche Siegel unseres Landes zu präsentieren.

Wir stehen auf einer weiten Salzwiese am Rande des Distrikts, an einer Klippe über dem Meer. Vor uns steht Bürgermeister Southshore auf einem hölzernen Podest, direkt über einem frisch ausgehobenen Grab. Mit weit ausgebreiteten Armen spricht er zu den Anwesenden – uns Siegern, der Eskorte aus dem Kapitol und allen übrigen Trauernden aus dem Distrikt. Wir Sieger stehen eng beieinander, endlich wieder vereint – wenn auch einer mehr in diesem Jahr. Das hellrote Haar von Riven schimmert unter ihrer goldenen Krone. Als einzige von uns steht sie oben auf der Bühne neben dem Bürgermeister. Ihr Gesicht wirkt leer, auch wenn ihre Augen gerötet sind.

Neben mir steht Mags, ihre runzlige Hand fest in meiner. Doch auch Finnicks Nähe spüre ich, ruhig wie ein Fels in der Brandung hinter mir.

„Eric hat mit seinem Mut bewiesen, dass wir aus Distrikt vier im wahrsten Sinne des Wortes mit allen Wasser gewaschen sind. Sein Einsatz für unseren Distrikt wird immer unvergessen bleiben. Seine Tapferkeit möge zukünftigen Tributen eine Lehre sein. Die Geschichte seines ehrenhaften Kampfes wird auch noch die, die nach ihm kommen inspirieren in der Arena zu einem Helden zu werden um Ruhm und Ehre für seinen Distrikt zu erringen. Heute wollen wir seinem Heldenmut gedenken und ihm größte Ehre zuteil werden lassen.“

Leises Schluchzen füllt die Stille. Neben dem Grab steht Erics Familie an seinem Sarg, in ihre beste Klamotten gekleidet. Sowohl seine Mutter als auch sein Vater sind schmächtige Fabrikarbeiter. Selbst ihre beste Kleidung ist mit geflickten Löchern versehen. Ein älteres Mädchen, seine Schwester, steht mit versteinertem Gesicht neben ihnen, während die Eltern einander weinend in den Armen halten.

Southshore blickt sie nicht einmal an, als er seine Rede beendet.

„Auf Eric Keenway, Tribut der 73. alljährlichen Hungerspiele! Möge die See deine Seele hüten!“

Murmelnd wiederholen wir Anwesenden die letzten Worte. Vier Friedenswächter ergreifen den Sarg, dessen polierte Oberfläche in der Sonne glänzt. Die festliche Flagge Panems ist darüber gespannt und darauf wiederum ist eine einzige weiße Rose festgesteckt , wie eine letzte Erinnerung daran wer seinen Tod zu verantworten hat. Sie lassen seinen Sarg hinab in das Erdloch, während im Hintergrund die Hymne gespielt wird.

In der Tat ist es so etwas wie eine Ehre auf dem Friedhof beerdigt zu werden. Ein solches Begräbnis kann sich nicht jede Familie leisten, vermutlich auch Erics eigentlich nicht. Nur die Wohlhabendsten aus Distrikt vier können sich einen Sarg und Grabstein leisten. Die meisten werden verbrannt und anschließend auf dem Meer verstreut, ohne eine einzige Erinnerung an ihr Leben zu hinterlassen. Nur die gefallenen Tribute und verstorbene Sieger werden noch hier beerdigt – großzügig gesponsert von dem Kapitol. Nicht einmal im Tod lässt das Kapitol uns vergessen wer die Macht hat.

Sobald der Sarg im Grab verschwunden ist schreitet Erics Familie vorwärts. Jeder von ihnen streut eine handvoll Salz herab in sein Grab.

„V-vielen Dank, Bürgermeister Southshore“, sagt die Mutter unter Tränen zum Podest gewandt.

„Ich bin mir sicher unser Eric… er hätte sich bestimmt geehrt gefreut.“

Immer mehr Tränen strömen über ihr Gesicht als sie sich an ihren Mann klammert.

„Er hat so große Träume gehabt“, fährt sie fort, „e-er wollte…“

Doch ihre Worte versiegen als die Tränen erneut die Überhand gewinnen. Stattdessen tritt die Schwester vor, ihre Miene immer noch unbeweglich. Kaum merklich verändern die Friedenswächter ihre Haltung.

„Was meine Mutter sagen will“, erklärt sie mit erstaunlich fester Stimme, „ist, dass Eric mehr war als nur ein mutiger Tribut. Er war ein herausragender Koch und-“

„Ah ja, meine Liebe, selbstverständlich war Eric ein wunderbarer Junge“, unterbricht der Bürgermeister sie, „und ich bin mir sicher, dass ihr sein Andenken bewahren werdet. Seine Geschichte wird man sich noch in Jahren zur Inspiration erzählen. Leider neigt unsere Feier sich dem Ende zu und wir haben, fürchte ich, keine Familienrede vorgesehen. Aber wir werden uns an seine Geschichte erinnern.“

Erics Mutter legt ihrer Tochter eine Hand auf den Arm und diese schluckt ihre Worte hinunter. Mit gesenktem Kopf sagt sie:

„Natürlich, Bürgermeister. Vielen Dank für ihre Worte.“

Damit sind wir an der Reihe unsere Ehre zu erweisen. Jeder nehmen wir eine handvoll Salz aus dem Behälter neben dem Sarg, um es auf den Sarg herab rieseln zu lassen. Von fern ertönt Glockengeläut aus der Stadt, zu Ehren Erics. Für einen Moment trifft mein Blick den von Erics Schwester. Beschämt wende ich mich ab. Ich erinnere mich kaum an ihn. Das einzige Bild was ich von ihm vor Augen habe ist das eines großen 18-jährigen, der sich selbstsicher bei der Ernte freiwillig meldet. Blonde Haare und kräftig gebaut, das Musterbild eines Karrieretributes aus der Akademie. Nichts weiß ich über ihn, habe ihn nie kennengelernt. Meine Trauer fühlt sich nicht echt, nicht berechtigt an.

Nach uns treten Riven und Bürgermeister Southshore an das Grab. Auch sie streuen ihre handvoll Salz herab. Erst jetzt kommen Riven die Tränen. Stumm laufen sie ihre Wangen herab. Sie scheint die Zähne fest zusammen zu beißen als sie vom Grab zurück tritt. Den Blick auf Erics Familie vermeidend reiht sie sich bei uns als wir aus dem Weg treten um dem Rest der Trauergesellschaft Platz zu machen.

Einige aus der Akademie sind erschienen, allesamt ehemalige Trainingspartner oder Ausbilder. Keiner von ihnen vergießt eine Träne. Nacheinander werfen sie das Salz hinab bis der Sarg bedeckt ist. Erst dann schaufeln die Friedenswächter Erde hinein. Am Ende erinnern nur ein Hügel frischer Erde und ein silberner Grabstein an Eric Keenway, den Jungen aus den 73. Hungerspielen, der als viertletzter starb, getötet von einem Jungen aus Distrikt fünf. Die Glocken verklingen, während die Leute sich langsam verstreuen. Insbesondere der Bürgermeister scheint es eilig zu haben den Friedhof zu verlassen. Auch Riven stürzt förmlich von dannen, begleitet von Mags und den übrigen Mentoren – bis auf Finnick.

Zum Abschied tätschelt Mags sacht meine Hand.

„Sie braucht uns jetzt.“

Ehe ich mich versehe sind Finnick und ich die Einzigen auf dem Friedhof, abgesehen von Erics Familie. Doch diese haben sich in einem engen Kreis zusammen gestellt ohne uns weiter zu beachten. Finnick lächelt mich sanft an. Mit einer Hand wischt er die Tränen von meinen Wangen. Ich habe nicht einmal gemerkt, dass ich geweint habe.

„Hast du heute wieder Morfix genommen?“, fragt er leise, seine Stimme warm und zeitgleich doch traurig. So viel ungesagtes schwingt in seinen Worten mit. Ich greife nach seiner Hand an meiner Wange, ehe ich nicke.

„Ohne hätte ich das nicht durchgestanden.“

Traurig blicke ich ihn an. Meine Stimme ist immer noch heiser von dem Tag des Finales. Er seufzt, doch es ist kein Vorwurf an mich. Wir wissen beide, dass es an manchen Tagen nicht ohne das Medikament geht das meine Gedanken vernebelt und mir für ein paar Stunden Sorglosigkeit verspricht. Eines Tages vielleicht, doch heute ist es nicht so weit.

„Ich bin so stolz auf dich. Isla hat mir erzählt wie gut du dich geschlagen hast während ich weg war. Ganz ohne Morfix beim Finale, das ist schon ein Sieg für uns.“

Zögerlich zieht er mich in eine Umarmung. Er drückt mich fest, aber dann löst er sich schnell wieder. Es darf uns keiner so sehen, das ist die erste Regel. So schwer es auch ist, doch es darf niemand wissen was wir füreinander empfinden. Solange unsere Liebe geheim ist kann sie auch keiner als Waffe gegen uns einsetzen. Dennoch sehne ich mich danach ihn festzuhalten, ihn nie wieder gehen zu lassen. Anders als Mags sagt wird es mit jedem Mal schwerer ihn wieder ins Kapitol gehen zu lassen sobald sie nach ihm rufen. Ich weiß nie, wann ich ihn wiedersehen werde. Was mit ihm passiert. Ob es ihm gut geht oder seine Ängste ihn quälen. Die Ungewissheit ist manchmal schlimmer zu ertragen als die Geister meiner Vergangenheit.

„Du willst bestimmt noch die anderen besuchen, nicht wahr?“, ruft er mich leise zurück in die Gegenwart.

Ich nicke. Es ist nicht nur die Beerdigung des für mich unbekannten Tributs heute, wofür ich das Morfix brauche. Eng beieinander, doch ohne Hände zu halten, wandern wir die Reihe an Gräbern entlang. Vier weitere Tribute aus den Jahren nach meinem Sieg liegen dort beerdigt. Auf den Gräbern wachsen kleine, knotige Pflänzchen mit weißen Blättern und auf einigen stehen Grablichter. Nicht unweit von Erics frischem Grab liegt es auch schon, das Grab von Pon Amberson. Mein kleiner Mittribut liegt hier begraben. Er ist nicht der ruhmreiche Karrieretribut welcher freiwillig in den Tod gegangen ist, sondern ein zwölfjähriger Junge der starb weil er der falschen Person vertraut hat. Und weil ich ihn nicht beschützen konnte. Ein weiterer silberner Grabstein mit der schlichten Inschrift Pon Amberson – Tribut der 70. Hungerspiele ist das Einzige was an ihn erinnert.

Ich lasse mich auf die Knie sinken. Finnick bleibt neben mir stehen und beobachtet wie Erics Familie den Friedhof verlässt.

„Hallo Pon“, flüstere ich. Ich hole tief Luft, den Blick gen Himmel gerichtet.

„Schon wieder ist ein Jahr um. Ich hoffe du verzeihst mir, dass ich nicht öfter da war.“

Ich schlucke gegen den Kloß an der sich in meinem Hals bildet.

„Dieses Jahr gibt es wieder eine Siegerin.“

Unwillkürlich frage ich mich, wie oft ich wohl noch hierher kommen werde um Pon dies zu erzählen. An wie vielen Gräbern werde ich in ein paar Jahren vorbei gehen müssen? Meine Hände fangen an zu zittern. Finnick legt mir eine Hand auf die Schulter ohne etwas zu sagen. Ich richte meinen Blick wieder auf das sprießende Grün vor mir. Fahrig rupfe ich ein wenig Unkraut weg von den Salzpflänzchen, ehe ich weiter sprechen kann.

„Zuhause im Garten wächst alles wunderbar. Erst vor ein paar Tagen haben wir Erdbeeren gepflanzt. Die würdest du bestimmt mögen…“

Eine Weile erzähle ich so weiter, von dem Garten und allem was in letzter Zeit so in Distrikt vier vor sich ging. Zum Abschied streiche ich über den Grabstein, kalt unter meinen Fingern. Es sind erst drei Jahre die Pon tot ist, doch es fühlt sich an wie eine kleine Ewigkeit.

„Ich vermisse dich.“

„Ich auch“, ergänzt Finnick, „wir alle.“

Kurz drehe mich zu ihm um und drücke seine Hand. Ich weiß, dass es ihm nicht so leichtfällt mit einem Toten zu reden wie mir. Sein Blick gleitet geistesabwesend über die Reihe an Gräbern. Es ist nicht nur Pon den er vermisst, das wird mir wieder einmal schmerzlich bewusst.

„Pass gut auf Eric auf, ja?“, füge ich noch hinzu. Vielleicht ist es kindisch so mit ihm zu reden, doch es hilft. Jedes Wort laut auszusprechen macht es ein Stück weit erträglicher. Als würde er mir immer noch zuhören. Erneut laufen die Tränen über mein Gesicht. Pon verdient jede einzelne von ihnen. Er war so jung und unschuldig, es hätte ihn einfach nicht treffen dürfen.

Nur schweren Herzens kann ich aufstehen.

„Auf wiedersehen, Pon.“

Langsam gehen Finnick und ich weiter durch die Reihen der Gräber. Er sagt nichts, doch ich weiß, dass auch er in Gedanken bei den verstorbenen Tributen ist. Bevor ich in sein Leben trat hat er nie den Friedhof besucht, das hat er mir erzählt. Die Angst vor den Erinnerungen an die Spiele war zu groß. Wenn er die Gräber nicht gesehen hat, so hat er es mir gesagt, dann sei es als wenn sie vielleicht nie gestorben wären. Er konnte es schlichtweg nicht ertragen, diese Endgültigkeit des Friedhofs. Merkwürdig, denke ich, dass mich der Friedhof nicht ebenso beunruhigt. Die Beerdigung eines Tributs ist unerträglich, der Anblick der verzweifelten Eltern am Grab ihres Kindes, die Erinnerung an Snow und das Kapitol. Doch der Friedhof, menschenleer so wie jetzt, hat etwas eigenartig tröstliches. Eventuell rede ich mir aber auch nur ein, dass die Tribute hier unter den Salzblumen Frieden gefunden haben, weit weg vom Kapitol und mit dem Rauschen des Meers als Kulisse.

Wir erreichen das Ende der Reihe und stehen jetzt vor einer Art Schrein direkt an der Klippe. Eigentlich ist es nur ein knorriger alter Baum, gekrümmt von Wind und Wetter. An seinen dicken Ästen jedoch hängen unzählige Muschelschalen, an bunten Bändern um die Äste geknotet. Manche sind von der Sonne bereits ausgeblichen, andere noch frisch. Von wieder anderen ist nichts als das zerfledderte Band übrig geblieben. Jede Muschel ist ein Wunsch für einen Verstorbenen, aufgehängt von Familie oder Freunden. Mitunter sind Worte auf die rosige Innenseite der Schale geschrieben oder geritzt.

Da niemand sonst in Sicht ist treten Finnick und ich Hand in Hand unter den Baum. Ein leichter Windstoß fährt zwischen die Äste und bringt die Muscheln zum Klirren. Mir fährt ein wohliger Schauer über den Rücken aufgrund des vertrauten Geräusches. Der Muschelbaum ist eine Erinnerung an all jene die kein Grab auf dem Friedhof haben. Egal ob reich oder arm, hier kann jeder seine Muschel aufhängen. Direkt unterhalb der ausladenden Äste bleiben wir stehen. Ich blicke hinauf in das Geäst. Unzählige Muscheln schwingen über mir im Wind hin und her. Es ist schwer eine einzelne auszumachen, doch ich meine zu erkennen, dass die letzte die ich im vorigen Jahr für meine Familie aufgehängt habe bereits verschwunden ist. Wenn eine Muschel verschwunden ist, so heißt es im Distrikt, dann hat der Wunsch die Toten erreicht.

Ich greife in meine Tasche und ziehe eine frische Muschel heraus. Erst an diesem Morgen habe ich sie am Strand gefunden, weswegen der Geruch des Meeres ihr immer noch anhaftet. Ein fröhliches gelbes Band ist durch ein kleines Loch an der Oberseite gefädelt.

„Hebst du mich hoch?“, frage ich Finnick.

„Na klar.“

Er umfasst mich an der Taille und hebt mich vorsichtig hoch, bis ich die unteren Äste erreichen kann. Mit flinken Fingern knote ich das Band dreimal zusammen. Drei Knoten für das Glück, wie es die Tradition will. Einen Moment halte ich inne, die Hände um die Muschel geschlossen. Die Augen geschlossen denke ich an meine Mutter, meinen Vater, meinen Bruder und schließlich an David. Alle meine Menschen, die ich geliebt und verloren habe. Zuerst meine Mutter an die Grippe als ich klein war, dann meinen Vater an einen Hochseeunfall und schließlich sowohl David als auch meinen kleinen Bruder in einem Brand. Doch mindestens am Tod meines Vaters hat das Kapitol Schuld. Mein Vater wäre nicht gestorben, hätte ich mich nicht Präsident Snow widersetzt. Hätte ich Maylin aus Distrikt zwei getötet, dann wäre er heute vielleicht noch da. Doch er hatte einen mysteriösen Unfall auf hoher See, an dessen Folgen er gestorben ist. Weil ich es nicht in mir hatte Maylin zu töten, die Tributin mit rebellischem Gedankengut.

David, mein Freund aus Kindheitstagen und später auch mehr als das, die Person die ich liebte – oder doch nur zu lieben glaubte, ist hingegen in einem Feuer in der Fischfabrik in der er arbeitete verbrannt. Auch mein damals erst siebenjähriger Bruder, der ihn nur in der Mittagspause besucht hatte, ist dabei umgekommen. Vielleicht eine sinnlose Strafe für mein Überleben in den Spielen, vielleicht aber auch nur ein grausamer Zufall. Wahrscheinlich werde ich es nie mit Gewissheit sagen können.

Ich blinzle die Tränen fort. Wir sind nicht im Guten auseinander gegangen, David und ich. Er konnte nicht verstehen warum ich bereit gewesen wäre mein Leben für Pon zu opfern. Dennoch hat sein Tod mich tief getroffen. Ich habe davon erst erfahren kurz bevor ich aus dem Kapitol zurück nach Distrikt vier gebracht wurde, als frischgebackene Siegerin der Hungerspiele. Anders als für Riven in diesem Jahr stand bei meiner Ankunft keine Familie am Bahnhof um mich überglücklich willkommen zu heißen. Meine Familie sind jetzt die anderen Sieger. Bis ich eines Tages im Tode wieder vereint werde mit meiner Familie passen sie auf mich auf. Von meiner Familie fliegen die Gedanken so auch zu den anderen toten Tributen aus meinen Hungerspielen. Insbesondere zu Aramis, meiner ehemaligen Verbündeten. Auch sie möchte ich in meine Wünsche einschließen. Vermutlich hat sie irgendwo in Distrikt zehn ein Grab, doch das werde ich nie sehen. Ohne sie würde ich vermutlich heute nicht hier stehen. Wo auch immer sie jetzt alle sind, ich hoffe inständig es geht ihnen gut.

Ich gebe meiner Muschel einen kleinen Kuss. Sanft setzt Finnick mich wieder auf der Erde ab. Für einen Moment hält er mich einfach so fest. Die Wärme seiner Arme spendet mir Geborgenheit. Ich lehne meinen Kopf an seine Brust und fühle mich als würde ein Sonnenstrahl mein trauriges Herz wieder erwärmen. Am liebsten würde ich ihn hier festhalten, doch er löst sich vorsichtig, aber nicht ohne mir vorher ins Ohr zu flüstern.

„Ich liebe dich.“

Seine Stimme ist schwer mit unausgesprochenen Gefühlen. Seufzend streiche ich ihm über den Rücken. Werden wir je aufrichtig nebeneinander stehen können ohne Angst haben zu müssen unsere Gefühle zu zeigen? Vermutlich nicht. Er ist schließlich der Darling des Kapitols, der Traum vieler Frauen und eine Gallionsfigur der Hungerspiele. Finnick Odair, der jüngste Sieger in der Geschichte. Ihm liegt das Kapitol zu Füßen – solange er nach ihren Regeln spielt. Und ich bin nur Annie Cresta, die durch mehr Glück als Verstand überlebt hat, ihren Verstand verloren hat und die sich einfach nur von einem Tag zum nächsten kämpft. Seine Liebe zu mir verstößt gegen alle Regeln des Kapitols. Lieber liebe ich jedoch in Angst als gar nicht zu lieben. Jede gestohlene Stunde zusammen mit Finnick ist mehr wert als alle Reichtümer im Kapitol.

Jetzt ist Finnick an der Reihe und knotet seine Muschel an einen Ast. Für einen Moment verharrt auch er in Gedanken an seine Familie und alle die er noch verloren hat. Ich weiß, dass er schon lange ein Waise ist, schon vor seinen Spielen. Wir reden nicht oft darüber, denn manchmal ist es einfacher die Vergangenheit ruhen zu lassen. Nur in den frühen Morgenstunden, wenn die Welt stumm und noch in den Schleier der Nacht gehüllt ist, dann reden wir mitunter über die Albträume. Auf eine eigenartige Art und Weise fühlt es sich in diesem Zwischenstadium von Nacht und Tag an als wären die Dinge weniger real, was es einfacher macht darüber zu sprechen.

Vielleicht sind wir Sieger einfach nicht dafür gemacht eine Familie zu haben, denke ich. Gebrochen und kaputt gibt es niemanden außer den anderen Siegern der wirklich unser Leid versteht. Wir sind gefangen in unserer eigenen Welt von blutbefleckten Träumen, grausamen Schmerzen und dem Drang nach Vergessen.

Ich fasse Finnick wieder bei der Hand. Falsch, denke ich, wir sind nicht ganz ohne Familie. Wir sind jetzt eine Familie. Über uns klappern leise die Muscheln im Geäst als wäre es Musik. Zaghaft hebe ich meine Stimme. Die Erinnerung an das alte Lied füllt mich aus als die Worte über meine Lippen schweben.
 

Tief unten,

Im Meer,

Im bunten Riff,

Wer lebt dort wohl?

Es ist die kleine Meerjungfrau

In ihrem Muschelsplitterhäuschen

Sieh,

Wie sie mit den Wellen schwimmt

Mit den Wellen schwimmt

Hör,

wie lieblich sie singt

Sie singt

Ein kleines Wunder sie ist

Sieh,

Wie ihr Haar schimmert

Ihr Haar schimmert

Hör,

Wie klar ihre Stimme ist

Ihre Stimme ist

Ein kleines Wunder sie ist

Tief unten,

Im Meer,

Im bunten Riff,

Dort lebt die kleine Meerjungfrau

Sie schwimmt mit den Wellen

Mit den Wellen

Ewig.

 

Ich habe keine besonders schöne Singstimme und noch dazu ist es das einzige Lied was ich vollständig kenne. Es ist ein altes Seemannslied aus Distrikt vier, das meine Mutter mir beigebracht hat. Vielleicht gerade deswegen fühlt es sich richtig an es zu singen. Mein und Finnicks Blick treffen sich als die letzten Töne verklingen. Tränen schimmern in seinen unfassbar grünen Augen.

„Hab ich so schlimm gesungen?“, frage ich, fast schon überzeugend scherzend, wäre meine Stimme nicht so schwach. Ein breites Grinsen huscht über sein Gesicht.

„Ich liebe es wie fürchterlich du singst.“

Nun rollen die Tränen seine Wangen hinab. Er wischt sie nicht fort und wendet auch nicht den Blick ab.

„Und die anderen wissen es bestimmt auch zu schätzen wenn du für sie singst.“

Ich lächle zittrig. Die Wirkung des Morfix lässt langsam aber sicher nach und die angenehme Verneblung unerwünschter Gedanken lichtet sich, doch seine Anwesenheit erdet mich.

„Danke, dass du das sagst.“

Finnicks tränen-verschleierter Blick wandert gen Meer.

„Weißt du, heute wäre ein guter Tag für einen kleinen Ausflug. Unten im Distrikt ist alles in Feierstimmung und die Friedenswächter sind bestimmt noch ganz dusslig von der Siegesfeier gestern. Uns wird schon keiner vermissen.“

Mein Herz schlägt einen Schlag schneller. Den ganzen Tag ohne schlechtes Gewissen mit ihm verbringen?

„Meinst du wirklich? Nicht, dass Cece uns nachher suchen lässt…“

Finnick verzieht bei der Erwähnung unserer Betreuerin aus dem Kapitol das Gesicht. Sie ist eine unausstehliche Person mit grell orangenem Haar und mindestens ebenso grellen Manieren, doch leider müssen wir sie jedes Jahr zu den Spielen wiedersehen. Erst heute Abend wird sie zurück in das Kapitol reisen – und hoffentlich erst zur Siegestour von Riven wieder auftauchen. Doch als er mir antwortet glitzert schon wieder der Schalk in seinen Augen.

„Oh, darum würde ich mir keine Sorgen machen. Ich glaube der Bürgermeister hat sie heute ganz in Beschlag genommen, die Arme. Bestimmt will er sie heimlich durch die Akademie führen um mit den ganzen potentiellen zukünftigen Siegern zu prahlen. Nein, dieser Tag gehört uns.“

Er lächelt mich an und ich lächle zurück.

„Dann nichts wie los.“

 

Die Sonne erklimmt langsam den Horizont als wir wenig später in unserem einfachen Ruderboot durch die Bucht gleiten. Ruhig rollen die Wellen unterhalb des Boots hinweg. Es verspricht ein klarer Tag zu werden, mit nur wenigen Schleierwolken am Himmel. Das Boot in dem Finnick und ich sitzen ist nur ein kleines hölzernes Bötchen, ein wenig angenagt vom Zahn der Zeit, doch größtenteils intakt. Seinen Rumpf haben wir gemeinsam erst vor wenigen Monaten neu lackiert und so erstrahlt es in einem fröhlichen Ozeanblau. Ich genieße die weite von Himmel und Meer nach der Enge unseres Distrikts und ich ahne, dass es Finnick genauso geht. Nach der langen Zeit im Kapitol muss einem die Weite hier draußen grenzenlos vorkommen. Vorsichtig strecke ich meine Fingerspitzen in das warme Wasser. Von oben betrachtet glitzert das Meer so unschuldig, doch das dunkle Blau der Tiefe, das unter dem Bug dahin zieht lässt, mich immer noch erschaudern. Was könnten sich in der Tiefe nicht alles für Monster verbergen… Messerscharfe Zähne blitzen urplötzlich in meinen Gedanken auf. Ruckartig ziehe ich meine Hand aus dem Wasser. Mit rasendem Herzen schaue ich auf meine Fingerspitzen, doch es sind keine Bissspuren zu sehen. Ich starre auf die sanften Wellen hinaus, mit einem Mal von Angst erfüllt. Die Piranhas sind nicht echt. Sie waren nur eine Schöpfung des Kapitols in der Arena. Es gibt keine Piranhas in Distrikt vier. Ich presse meine unversehrten Händen auf meine Ohren um das laute Rauschen der Wellen auszusperren.

„Ich bin nicht unter Wasser. Ich bin nicht unter Wasser. Ich bin nicht unter Wasser. Das Meer kann mir nichts anhaben. Sie können mir nichts anhaben. Ich bin in Sicherheit. Ich bin in Sicherheit, ich kann schwimmen“, murmle ich zu mir selbst. Aber stumme Schreie schleichen sich in meinen Kopf, Hände greifen nach mir und Mäuler voll spitzer Zähne schnappen nach mir. Ich kneife die Augen fest zusammen in der Hoffnung die aufsteigenden Bilder so verdrängen zu können. Natürlich toben sie nur weiterhin hinter meinen Augenlidern.

Dann spüre ich sanfte Hände auf meinen Schultern. Eindringliche Worte dringen durch das tosende Wasser um mich.

„Annie, bleib bei mir. Bleib bei mir.“

Ich kenne diese Stimme. Finnick! Rasselnd hole ich Luft, es klingt wie der erste Atemzug einer fast Ertrunkenen.

„Finnick? Fin, bist du das?“, frage ich überflüssigerweise.

„Ja, ich bin bei dir“, er drückt mich noch fester an den Schultern, „ich bin direkt vor dir. Mach die Augen auf und du kannst mich sehen.“

Das Wasser der Arena schwappt noch immer um mich herum und irgendwo unter mir sind blutrünstige Piranhas. Shine aus Distrikt eins ist von ihnen gefressen worden! Es kann nicht sein, Finnick kann nicht bei mir sein. Er ist nicht mit mir in der Arena. Doch seine Stimme dringt weiter auf mich ein.

„Die Arena ist vorbei. Du hast bereits überlebt.“

Große Hände legen sich vorsichtig auf meine, die noch immer fest an die Ohren gepresst sind. Etwas warmes berührt meine Stirn, während das Wasser um mich herum mich zu ertränken versucht. Ein Kanonenschuss übertont die nächsten Worte. Saß ich nicht eben noch in einem Boot? Gedanke um Gedanke schlägt über mir zusammen. Die Arena verschwindet aus meinen Gedanken. Zurück bleibt nur noch Angst – und das Gefühl von Händen die mich vorsichtig halten, Atem der über meine Wangen streicht.

Die Dunkelheit um mich lichtet sich als ich zaghaft die Lider aufschlage. Mein Blick begegnet denen aus blau-grünen Augen.

„Finnick“, hauche ich mit kratziger Stimme, „ist es echt?“

Ich sehe nur sein Gesicht ganz nah vor mir und er schüttelt den Kopf.

„Nein, es ist nicht echt“, antwortet er ebenso leise.

Ihm würde ich immer vertrauen. Ich lasse meine Hände sinken. Er zieht sich einen Schritt zurück, jedoch ohne mich loszulassen. Natürlich bin ich nicht in der Arena. Ich sitze in einem kleinen Ruderboot, um uns herum ist das Meer von Distrikt vier und über uns scheint die Sonne. Das Wasser um uns herum ist viel blauer als das eisige Grau das mich in der Arena überschwemmt hatte. In der Ferne kann ich bunte Schuppen glitzern sehen als ein Schwarm kleiner Fische vorbei gleitet, ganz ohne messerscharfe Reißzähne. Tief hole ich Luft und spüre wie ein Teil der Angst fortgeschwemmt wird. Die ganze Zeit über beobachtet Finnick mich ruhig. Dankbar schenke ich ihm ein Lächeln.

„Es ist nicht echt“, sage ich noch einmal, wie um es mir zu bestätigen.

Finnick nickt. „Es ist nicht echt.“

Vor Erleichterung fange ich unkontrolliert an zu lachen. Ungewollt kommt das Gelächter aus meiner Kehle, so erleichtert bin ich überlebt zu haben. Lange hält es jedoch nicht an, denn langsam aber sicher werde ich mir wieder der Realität um uns herum bewusst. Die Angst vor dem Meer war nicht immer da. Sie hat sich erst Wochen nach meinem Sieg zum ersten Mal gezeigt, als ich wieder auf einem Boot stand. Der Anblick von Wasser überall um mich herum hatte die Bilder aus der Arena auftauchen lassen, genauso wie jetzt. Seitdem traue ich mich nur noch in Finnicks Begleitung ans Meer. Umso dankbarer bin ich als vor uns eine dicht bewaldete Insel aus dem Wasser ragt, denn das bedeutet wir haben unser Ziel fast erreicht. Die letzten Meter legen wir schweigend zurück. Finnick rudert und ich sitze da, den Blick auf die unergründliche Weite des Meeres gerichtet. Mit einem sandigen Knirschen streift der Kiel den Strand. Gemeinsam hüpfen wir aus dem Boot in das kaum knietiefe Wasser. Zum Glück ist es glasklar und ich sehe nichts außer feinem Sand und Muscheln. Die letzten Meter ziehen wir das Boot, bis es sicher auf dem Sand liegt. Wir verstecken es hinter einigem Gestrüpp und losen Blättern am Strand.

Es ist nur eine kleine Insel etwas vorgelagert in der Bucht von Distrikt vier auf der wir angelandet sind. Ein rostiges Schild steckt im Sand – „Betreten verboten. Zuwiderhandlungen stehen unter Strafe“ heißt es da neben dem Siegel des Kapitols. Aber Finnick weiß aus Erfahrung, dass sich niemand je hierher verirrt. Nicht zuletzt weil man verbotenerweise mit einem Boot vom Festland übersetzen muss. Nur wer die Schleichwege kennt wo man ungesehen von Friedenswächtern rudern kann ist überhaupt in der Lage unentdeckt auf die Insel zu kommen. Wenn ich seinen Geschichten glauben darf, dann hat er das bereits im zarten Alter von 15 Jahren perfektioniert. Die Friedenswächter interessieren sich andererseits auch nicht für die Insel und die verfallenden Häuser darauf, die jetzt vor uns aufragen.

Emerald Isle liegt schon lange brach. Einst muss die Insel ein Urlaubsparadies gewesen sein, wenn man sich die heruntergekommenen Häuser so anschaut. Ausladende Häuser mit Säulen aus weißem Marmor, mehreren Stockwerken und Balkonen mit schmiedeeisernen Geländern. Nun sind die Fassaden jedoch fleckig und mit Ranken überwuchert. In den Gärten wachsen wilde Blumen und Sträucher, die Fensterscheiben sind zersplittert und Türen aus den Angeln gerissen. In vielen Häusern haben sich wilde Tiere eingenistet, Vögel und anderes Kleintier. Wo früher reiche Leute aus dem Kapitol Urlaub machten ist nun ein reichhaltiges Paradies für Flora und Fauna entstanden. Ich weiß nicht wie es hier früher ausgesehen haben muss, doch so gefällt es mir in jedem Fall besser.

Hand in Hand gehen Finnick und ich den beinahe völlig überwucherten Pfad vom Strand entlang. Die Insel ist schon viele Jahre verlassen, seit den dunklen Tagen und der Rebellion die unser Land für immer veränderte. Seitdem ist niemand von dem Kapitol mehr hierher gekommen um Urlaub zu machen. Doch noch immer gibt es ein weitgehend intaktes Haus auf der Rückseite der Insel. Dieses ist jetzt unser Ziel. Es liegt auf einer kleinen Anhöhe über dem Strand, mit einem atemberaubenden Ausblick auf das Meer.

Wir quetschen uns durch das rostige Gartentor, das sich durch den salzigen Wind vom Meer keinen Zentimeter mehr bewegen lässt. Seit unserem letzten Besuch vor den diesjährigen Spielen ist das Gras förmlich in die Höhe geschossen. Ich bin dankbar, dass ich mich heute für eine lange Hose entschieden habe, denn mit den Zecken ist nicht zu spaßen. Die schwere hölzerne Eingangstür ist nur angelehnt. Das macht nichts, denn außer uns kommt niemand hierher. Die meisten in Distrikt vier können sich einen freien Tag nicht leisten, selbst wenn sie den Mut aufbringen sollten hierher zu rudern.

In der großen Eingangshalle ist es recht dunkel, nur durch eine Buntglaskuppel an der hohen Decke fallen einige Streifen bunten Lichts in den Raum. Staub tanzt im Regenbogenspiel des Lichts. Eigentlich sollte mir das prunkvolle Haus voller Erinnerungen an das Kapitol Angst machen, doch die Stille und der Verfall beruhigen mich stattdessen. In den stillen Stunden zwischen Nacht und Dämmerung rede ich mir gerne ein, dass Finnick und ich die letzten Menschen einer längst vergessenen Zivilisation sind und hier unseren Frieden gefunden haben. Zumindest für ein paar Stunden kann ich in diesem Glauben verharren.

Der Staub kitzelt mich in der Nase und ich muss niesen. Das Geräusch hallt in der großen Halle wieder. Wir haben uns nie groß darum gekümmert die Eingangshalle wohnlich zu machen, doch anders sieht es im Salon aus, den wir jetzt betreten. Einst war dies das Speisezimmer, aber für uns ist es alles in einem. Über die letzten drei Jahre hinweg haben wir verschiedene Sachen nach und nach auf die Insel gebracht. Erinnerungen eines gemeinsamen Lebens das wir nicht wagen oben im Dorf der Sieger zu führen. Dennoch achten wir tunlichst darauf nichts hier zu lassen, dass direkt mit uns in Verbindung gebracht werden kann, sollten die Friedenswächter jemals hierher kommen.

Gemeinsam haben wir aus den Überresten alter Möbel neue zusammen gezimmert, mottenzerfressene Vorhänge und Teppiche ausgetauscht. In einer Ecke steht ein einfaches Bett mit handgewebten Decken aus dem Distrikt. Es gibt ein altes Sofa, das zwar etwas muffig riecht, aber dafür umso bequemer ist. Strom gibt es keinen, daher stehen überall Kerzen in angelaufenen Kerzenhaltern aus Gold die wir im Obergeschoss gefunden haben. Nur ein verblasstes Rechteck an der Wand erinnert an den Fernseher der dort einst hing. Stattdessen hängen nun Girlanden aus Tauen und Muscheln an den Wänden, zu aufwändigen Mustern verknotet. Vor den gläsernen Schiebetüren die auf den Strand hinausgehen steht einzig noch der opulente Esstisch aus dunklem Holz. Darauf befindet sich eine zierliche blaue Vase, in die ich bei jedem Besuch neue Blumen aus dem Garten stecke. Es mag nicht viel sein, doch es ist unser Reich. Wir haben hier sogar eine Küche voller glänzender Töpfe, Pfannen und einem großen Kamin. Ursprünglich mag er nur eine Dekoration gewesen sein, oder aber es war schick so einen Kamin zu haben, ich weiß es nicht. Nun jedenfalls nutzen wir ihn zum Kochen wenn wir hier sind. Wir müssen nur aufpassen ihn nicht zu lange anzulassen, damit der Rauch uns nicht verrät.

Ich gehe zu den Türen um frische Luft hereinzulassen. Auf der kleinen hölzernen Veranda dahinter steht ein einsamer alter Schaukelstuhl dessen Lack von Wind und Wetter bereits überall abplatzt. Er gehört zu meinen Lieblingsorten auf Emerald Isle. Finnick tritt hinter mich und legt seinen Kopf auf meine Schulter.

„Es ist so schön endlich wieder daheim zu sein.“

Ich lehne mich stumm gegen ihn. Vermutlich ist diese alte, halb zerfallene Villa genau das – unser Zuhause. Ausgerechnet ein solcher Kapitol-Prunkbau. Doch das einfache alte Haus indem ich mit meiner Familie gewohnt habe ist nicht mehr für mich da. Davids Familie wohnt noch da, ohne Zweifel, doch ich bin nicht mehr willkommen. Sie scheinen zu spüren, dass ich für seinen Tod verantwortlich bin. Zumindest haben sie mir seit meiner Rückkehr aus dem Kapitol nichts als die kalte Schulter gezeigt. Bevor die Trauer mich erneut überwältigen kann gebe ich Finnick einen flüchtigen Kuss auf die Wange und gehe zurück in den Raum.

„Wir sollten ein paar Fische zum Abendessen fangen“, sage ich, „und schauen was im Garten noch so reif geworden ist. Ich glaube einige Knollen Pfeilkraut könnten wir ernten. Ach und die Ableger der Bohnen die ich oben im Dorf gezogen habe sind hoffentlich auch gewachsen.“

Finnick lehnt noch immer im Türrahmen und beobachtet mich wie ich mir ein altes Fischernetz schnappe das über der Lehne des Sofas hängt. Ein leichtes Grinsen umspielt seine Mundwinkel.

„Was?“, frage ich irritiert.

Er lacht leise und kommt auf mich zu.

„Lass uns fischen gehen. Und dann musst du mir unbedingt erzählen was ihr noch alles oben im Garten gepflanzt habt während ich… weg war.“

Wir nutzen den Nachmittag um in der seichten Buch hinter dem Haus einige kleinere Fische zu fangen. Ich traue mich nur dorthin wo das Wasser noch klar ist und selbst dann zucke ich zusammen sobald etwas meinen Fuß berührt. Auch den schlichten handgemachten Speer überlasse ich vollkommen Finnick. Jetzt wo die Wirkung des Morfix endgültig verklungen ist fühle ich mich wieder schwach und ausgelaugt von meiner Panikattacke vorhin. Eine Waffe in die Hand zu nehmen, welche ich in der Arena benutzen musste, würde nur noch mehr Schaden anrichten. Am frühen Abend braten wir die Fische zusammen mit den letzten Knollen vom Pfeilkraut über dem Kaminfeuer. Es ist ein einfaches Mahl, doch es lässt mich glücklich und zufrieden zurück. Während die Sonne untergeht sitzen wir eng aneinander gekuschelt auf der Veranda.

„Danke, dass du mich vorhin zurück in die Realität geholt hast“, sage ich leise.

Finnick gibt mir einen zärtlichen Kuss auf die Stirn.

„Bis ans Ende meiner Tage bin ich dein Anker, so wie du meiner bist.“

Als ich später am Abend schließlich in seinen Armen einschlafe sind alle Gedanken an die Verstorbenen längst verblasst. Ich fühle mich endlich nach langer Zeit wieder vollkommen glücklich und geborgen. Fast wünsche ich mir es würde kein Erwachen mehr geben, denn dann wäre dies meine letzte warme Erinnerung an eine Welt die viel zu wenig Liebe kennt.

Schwelende Glut

Die Welt von Distrikt vier liegt in tiefem Schlaf. Es ist mitten in der Nacht, doch wie spät genau weiß Finnick nicht. Die Morgendämmerung ist in jedem Fall noch eine Ecke weg. Neben ihm schläft Annie tief, zusammengerollt und das Kopfkissen fest im Griff. Heute Nacht scheint ihr Schlaf ruhig zu sein. Vermutlich hat die Aufregung am heutigen Tag sie zur Genüge erschöpft um ihre Gedanken wenigstens für den Moment abzulenken. Er ist froh darüber, denn wann immer er das Glück hat sie in einem ihrer friedlichen Momente zu sehen, wenn sie scheinbar die Welt um sich herum vergisst, dann glaubt er fast, dass sie so etwas wie Freiheit haben. Diese Stunden, in denen sie so losgelöst von allem Elend ist, sind rar. Am liebsten würde er jede einzelne davon für immer in seinem Herzen festhalten. Doch das Kapitol sorgt schon dafür, dass er es sich nicht zu bequem macht. Sie erinnern ihn jedes Jahr wieder, dass er nicht sich selbst gehört.

Mit jedem Jahr schüren sie damit die Wut in seinem Herzen. Wo einst Angst regierte ist nur noch Hass auf das Kapitol geblieben. Er fürchtet sich nicht mehr. Spätestens Annies Spiele habe seine Welt verändert. Zu sehen wie das Kapitol ein gutmütiges Mädchen wie Annie langsam aber sicher zerstörte, ihre Seele für ein wenig Fernsehunterhaltung vergiftete, das hat seinen Entschluss sich zu widersetzen reifen lassen. Angefangen hatte es schon während seinen eigenen Spielen als er erkannte, dass es keinen Ruhm und Ehre in den Hungerspielen gab. Jedes weitere Jahr hatte das kleine Feuer in seiner Brust genähert. Bis Annie kam und aus der Flamme ein Inferno machte, ohne, dass sie es wusste.

Genau diese Entschlossenheit ist es nun die ihn aus dem Bett treibt. Er steht auf, nicht ohne vorher die Decke sanft über Annie zu breiten. Die Nacht ist bereits frisch und kündigt vom nahenden Herbst. Leise entzündet er eine der unzähligen Kerzen und tritt hinaus in den heruntergekommen Flur. An sich herab schälender Tapete vorbei geht er zurück in die gewaltige Eingangshalle. Staubwölkchen steigen auf als er auf die Treppe zum oberen Geschoss tritt. Mottenzerfressener Samt, früher wohl einmal dunkelrot, dämpft seine Schritte.

Im Obergeschoss liegt sein wohlbehütetes Geheimnis – so gut geschützt, dass nicht einmal Annie etwas davon weiß. Und sie weiß sonst alles. Ja, selbst den Verkauf seines Körpers und seiner vermeintlichen Zuneigung im Kapitol kann und will er nicht vor ihr verbergen. Es wäre ihr gegenüber nicht fair. Außerdem ist sie aufmerksam und beobachtet die Welt um sich herum immerzu. Sie weiß was vor sich geht, auch ohne offen über Dinge zu sprechen. Manches verdrängt sie vielleicht um sich das Leben etwas erträglicher zu machen, aber tun sie das nicht alle? An manchen Tagen sind es die Notlügen die einen vor dem Abgrund des Wahnsinns bewahren.

Nur von dem Zimmer im zweiten Stock vor dessen Tür er jetzt steht, davon ahnt sie nichts. Das hoffnungslos veraltete Kommunikationsportal in dem verwaisten Arbeitszimmer ist ganz alleine sein Geheimnis. Er fühlt sich schuldig dabei etwas vor ihr zu verbergen, doch er redet sich immer wieder ein, dass es nur zu ihrem Besten ist. Was der Gedanke an Rebellion in ihr auslösen könnte kann er nicht abschätzen. Nein, es ist sicherer wenn sie nichts davon weiß. Noch nicht, sagt er sich. Solange sich die Hoffnung auf Rebellion nur in kleinen Kreisen dreht lohnt es sich nicht sie mit hereinzuziehen. Zu groß wäre die Gefahr, dass das Kapitol es eines Tages gegen sie verwenden könnte. Aus Liebe das Richtige zu tun ist nicht immer einfach, das merkt er jetzt wieder.

Die Tür zum Arbeitszimmer ist nur angelehnt. Er schlüpft hindurch und schließt die Tür mit einem leisen Klicken. Vor ihm liegt ein großer Raum mit hohen Bücherregalen und einem eindrucksvollen Schreibtisch. Da das Haus noch aus der Zeit vor den dunklen Tagen stammt ist seine Einrichtung dementsprechend altmodisch. Das Kommunikationsportal bildet da keine Ausnahme. Es ist ein klotziger alter Kasten der im Kapitol nichts als Naserümpfen ernten würde. Aktivieren lässt er sich nur mit einer kleinen Schlüsselkarte die Finnick mit sich trägt. Er schiebt sie in einen Schlitz an der Seite und das Gerät erwacht mit einem statischen Summen zum Leben. Die dazugehörige Tastatur ist in den schweren Schreibtisch eingelassen. Mit geübten Fingern tippt er das Passwort ein. Der Holo-Projektor leuchtet auf. In blässlichem Blau erscheint das Wappen Panems aus der Vorkriegszeit in der Luft. Die Technik mag vielleicht veraltet sein, doch sie funktioniert immer noch reibungslos. Die Nummer die Finnick nun wählt kennt er bereits genauso auswendig wie das Passwort. Es gibt niemanden der noch an dieses alte Kommunikationsnetz angeschlossen ist, insbesondere nicht im Kapitol. Fast niemanden zumindest.

In der Leitung knackt es als jemand seinen Anruf annimmt. Anstelle des Wappens erscheint das müde Gesicht eines älteren Manns in der Luft. Er hat eine einfache Brille auf der Nase, durch die er jetzt auf Finnick blinzelt.

„Finnick!“, begrüßt er ihn freudig.

„Hallo Beetee“, erwidert Finnick mit einem Lächeln, „lange nicht gesehen.“

Der andere Mann lacht nur, schließlich haben sie sich in der Tat erst vor wenigen Tagen zuletzt im Kapitol gesehen, wenn auch nur aus der Ferne. Distrikt vier und drei sind für gewöhnlich nicht für ihre Freundschaft bekannt. Besser also, wenn sie diesen Eindruck in der Öffentlichkeit wahren.

„So schnell hätte ich aber nicht mit einem Anruf von dir gerechnet“, dringt die Stimme des Mannes namens Beetee blechern aus den Lautsprechern. Hastig dreht Finnick die Lautstärke etwas leiser um Annie nicht aus Versehen aufzuwecken. „Habt ihr euch etwa von den Festlichkeiten weg geschlichen?“

„Nein, wir haben uns erst nach der Beerdigung abgesetzt“, entgegnet Finnick, „das setzt Annie immer besonders zu. Da es den Tag über eher ruhig war haben wir die Chance ergriffen um ein wenig… ah – Urlaub zu machen.“

Er lehnt sich in dem rissigen Lederstuhl zurück auf dem er sitzt. Lediglich seine Finger die die Kante des Schreibtischs entlang fahren verraten seine Nervosität. Eine Verbindung zwischen den Distrikten ist nicht nur normalerweise unmöglich sondern auch strengstens verboten. Auch wenn sie diesen Kanal jetzt schon seit einigen Jahren nutzen kann er die Angst eines Tages dabei erwischt zu werden nicht ganz abschütteln. Er weiß, dass Beetee einer der Besten seiner Zunft ist, wenn nicht sogar der Beste. Keiner versteht sich so darauf wie Beetee mit nichts als ein wenig Kabeln und Strom das Kapitol zu untergraben. Das Gegenstück zu Finnicks Kommunikationsportal hat er aus Schrott ganz alleine zusammen gebastelt, heimlich in einer Werkstatt die er sich im Garten eingerichtet hat. Beetee garantiert dafür, dass ihre Verbindung sicher ist und doch trauen sie sich kaum länger offen zu sprechen.

Sein Gegenüber nickt sichtlich nachdenklich, ehe er fragt:

„Geht es Annie gut?“

„Zum Glück besser als noch letztes Jahr. Ob man es gut nennen kann…“, Finnicks Stimme verklingt nachdenklich und er zuckt mit den Schultern. „Aber genug von uns, ich melde mich so früh schon bei dir weil ich in der letzten Nacht im Kapitol etwas erfahren habe das für die Sache von Interesse ist.“ Finnick blickt ernst zu dem holografischen Gesicht von Beetee hinauf. Dieser stupst sich nervös die Brille höher auf die Nase.

„Kannst du eine Botschaft weiterleiten?“

„Ich kann alles bereit machen. Für die Zeit der Spiele hatte ich hier alle elementaren Verbindungen auseinander geschraubt, du hast Glück, dass du mich überhaupt erreichen konntest. Erst heute habe ich die letzten Kabel wieder verlöten können, sonst wäre ich jetzt noch nicht wieder am Netz gewesen. Für eine Nachricht hinter die Grenze brauche ich noch ein wenig bevor es wieder sicher ist.“

Finnick nickt.

„Kein Problem. Aber meine Nachricht ist es wert das Risiko in Kauf zu nehmen.“ Er lehnt sich unbewusst näher an das Hologramm von Beetee heran. „In der Nacht vor dem finalen Siegerinterview hatte ich noch einmal das Vergnügen mit Titania Creed zusammen zu treffen.“

„Die Assistentin der Innenministerin, richtig?“, unterbricht Beetee ihn fragend.

„Eben jene“, bestätigt Finnick. „Mittlerweile ist sie inoffiziell so etwas wie die rechte Hand von Ministerin Egeria. Womit ihr die Türen zu vielen spannenden Informationen offen stehen…“, ein kleines Lächeln schleicht sich auf seine Lippen als er weiter spricht, „und vielleicht rutscht ihr im Vertrauen immer mal wieder etwas davon raus. Oh und sie vertraut viel, die liebe Tita.“ Der Spitzname kommt über seine Lippen als sei er Gift. Trotzdem wirkt er zufrieden mit sich selbst als er fortfährt. „Jedenfalls konnte sie sich an dem Abend gar nicht mehr einkriegen. Ihre Arbeit sei in letzter Zeit so hart, sie wisse schon gar nicht mehr wie viele Stunden sie in den letzten Tagen gearbeitet habe. Nicht einmal Zeit für die Hungerspiele habe sie gehabt. Da wurde ich hellhörig, denn für gewöhnlich liebt sie die Spiele und nimmt sich immer frei für diese. Es brauchte nicht viel umgarnen ehe sie endlich ausspucke was sie des Nachts wach hielt: Es gab Unruhen in Distrikt elf. Nichts großes… wie sie es betonte.“

Beetee zieht die Augenbrauen hoch.

„Distrikt elf?“, fragt er, etwas auf eine Tastatur tippend die Finnick nicht sehen kann.

„Ja. Und ich habe sogar erfahren können was vorgefallen ist. Es geschah kurz nach der Ernte – nicht für die Spiele, sondern für das Obst. Anscheinend hat war eine Gruppe von Farmern unglücklich über ihren späten Feierabend – so zumindest hat es Titania ausgedrückt. Ich vermute eher, dass ein besonders sadistischer Friedenswächter sie einfach aus Lust noch etwas quälen wollte und sie hat weiter arbeiten lassen. Jedenfalls ist diese Gruppe, wohl nur drei Männer und zwei Frauen, in der nachfolgenden Nacht auf das Kasernengelände geschlichen und hat dort Feuer gelegt. Ab diesem Punkt hatte Titania nicht mehr wirklich etwas erzählen wollen, doch ich habe noch ein wenig nach bohren können und zumindest herausfinden können, dass das Kapitol gerade deswegen so in Bedrängnis ist, weil bei dem Brand wirklich ein Friedenswächter zu Tode kam. Ein unglücklicher Junge aus Distrikt zwei, also werden sie es unter den Teppich gekehrt haben, doch was wird man in Distrikt zwei davon denken? Ich glaube nicht, dass sie seinen Eltern die Wahrheit erzählt haben werden… aber das lässt reichlich Raum für Spekulationen.“

Einen Moment herrscht Schweigen, während Beetee Finnick mit weit aufgerissenen Augen anstarrt.

„Sie haben es geschafft sich auf das Kasernengelände zu schleichen? Hast du irgendeine Ahnung wie? Wie haben sie es an den Wärmebildkameras, den Bewegungsmeldern und dem elektrischen Zaun vorbei geschafft? Wie haben sie es geschafft dort einen Brand zu legen? Distrikt elf ist einer der am strengsten bewachten Distrikte überhaupt, wie konnten sie so nachlässig sein?“, bricht es aufgeregt aus Beetee hervor. Seine Brille droht erneut ihm von der Nase zu rutschen und er schiebt sie sich wieder höher auf die Nase. Seine Finger tippen bereits wieder, vermutlich schon damit beschäftigt eine Nachricht an Distrikt dreizehn vorzubereiten.

„Ich habe keine Ahnung wie sie das geschafft haben könnten, denn das Kapitol hat anscheinend auch keine. Was die Sache so bemerkenswert macht und im Ministerium einige Beunruhigung verursacht hat. Titania konnte jedenfalls nicht aufhören sich Sorgen zu machen was passieren könnte wenn noch mehr Leute sich für Rebellion entscheiden würden, wie sie es nannte. Sie hat sichtlich Angst vor Unruhen, auch wenn die dunklen Tage für sie ebenso nur Geschichten sind wie für uns.“

Wenn sie nur wüsste, denkt Finnick bei sich, dass die Rebellion sich längst ausgebreitet hat, wie ein unsichtbares Virus überall in Panem, vom Kapitol bis hin nach Distrikt zwölf. Auch wenn Haymitch Abernathy, der alte Säufer, nicht wirklich zählt. Wenn sie nur wüsste, dass der Mann in dessen Armen sie sich in Sicherheit wähnt all ihre kleinen Geheimnisse von ihr stiehlt und sie der Rebellion schenkt… eine Nacht mit Finnick Odair hat immer ihren Preis. Aber davon ahnen die einfältigen Damen und Herren des Kapitols wenig. Sie sehen nur das tatsächliche Geld, dass in Präsident Snows Taschen wandert.

Beetee runzelt nachdenklich die Stirn.

„Diese Aufständischen haben also auch das Kapitol an der Nase herumgeführt…“, murmelt er leise, in Gedanken versunken.

„Es scheint ganz so. Ihr Fehler war es nur auf dem Weg nach Hause erwischt zu werden. Sie sind alle hingerichtet worden – still und heimlich. Die Ministerin hat hier wohl entschlossen gehandelt und sich gegen die Bekanntmachung ihrer Verbrechen entschieden. Darüber war Titania ganz besonders erleichtert. Mehr habe ich leider aus ihr nicht heraus bekommen können. Sie schien das ganze Thema einfach nur vergessen zu wollen.“

„Alles unter den Teppich kehren um kein Aufsehen zu erregen…“, sagt Beetee, mehr zu sich selbst als zu Finnick, „um eine mögliche Schwachstelle zu verbergen und den Leuten keinen Mut zu machen.“ Er seufzt. „Ohne Frage, das ist eine wertvolle Information. Zusammen mit dem Wenigen was Chaff berichten kann, können wir davon ausgehen, dass die Unzufriedenheit in Distrikt elf weiter zunimmt. Nur was machen wir aus dieser Information…“ Sein Blick gleitet in die Ferne.

Finnick zuckt nur mit den Schultern.

„Ich weiß es ehrlich nicht. Chaff ist genauso wie Haymitch Abernathy sehr unzuverlässig und noch viel wichtiger, wir haben außerhalb der offiziellen Treffen keine Möglichkeit ihn zu kontaktieren. Distrikt elf mag sich zu einem Pulverfass entwickelt haben, doch solange es keinen Funken gibt der das Feuer entzündet sind uns die Hände gebunden fürchte ich. Aber ich bin ja auch nicht der große Denker unter uns, also überlasse ich das lieber anderen.“

Ein nervöses Lächeln zeigt sich auf Beetees Gesicht.

„Ich fürchte, dass sich mein Sachverstand auch eher auf das Technische bezieht. Aber hinter der Grenze wird man es sicherlich zu nutzen wissen.“

„Wenigstens wissen wir, dass wir nicht alleine sind. Auch wenn das Kapitol diese Aufständischen getötet hat werden in absehbarer Zeit andere ihren Platz einnehmen. Solange wie sie Distrikt elf unterdrücken werden andere sich wehren wollen. Davon bin ich überzeugt.“

Für einen Moment sehen die beiden Männer sich an.

„Vielleicht wollen die hinter der Grenze es noch einmal damit versuchen einen Tribut auszuerwählen“, sagt Beete schließlich, „einen der die Gemüter in Rage bringt.“

Doch Finnick verschränkt ablehnend die Arme vor der Brust.

„Nein. Da bin ich immer noch dagegen. Wir können niemandem dieses Los auferlegen, das wissen wir beide am Besten. Es ist mir egal ob es einen vielversprechenden Kandidaten oder eine Kandidatin gibt, ich verdamme niemanden dazu für uns in die Spiele zu gehen.“

Beetee reibt sich müde die Augen unter seiner Brille.

„Ein einziger richtiger Moment in der Arena könnte alles verändern, könnte den Wandel endlich wahr werden lassen“, sagt er mit ruhiger aber erschöpfter Stimme.

Es ist eine Diskussion die sie schon so oft geführt haben, dass es nichts mehr zu sagen gibt. Jeder kennt die Position des Anderen und versteht sie, doch trotzdem wird keiner von beiden klein bei geben. Letztendlich liegt die Entscheidung ohnehin hinter der Grenze, in Distrikt dreizehn. Egal ob Finnick sich weigert oder nicht, sie können einfach jemanden bestimmen und dafür sorgen, dass sein oder ihr Name bei der Ernte gezogen wird. Die Untergrundbewegung reicht schließlich längst bis in die Ränge der Spielmacher hinein. Und nicht jeder von ihnen ist ein Rebell mit Ehre.

„Nun, jedenfalls werde ich die Nachricht so schnell es geht weiterleiten“, sagt Beetee.

Finnick antwortet ihm mit einem Nicken.

„Das ist gut, danke dir. Dann wünsche ich dir noch eine ruhige Nacht.“

„Dir auch – und Annie auch.“

Bei dem Gedanken an Annie lächelt Finnick. Morgen, denkt er, können sie endlich wieder nebeneinander aufwachen. Wie sehr hat er das vermisst.

„Auf wiedersehen, Beetee. Möge das Glück mit den Gerechten sein“, verabschiedet er sich.

„Möge das Glück mit den Gerechten sein“, erwidert dieser ehe sie beide zum Abschied winken und die Verbindung unterbrochen wird.

Anstatt von Beetes Gesicht ist nun wieder das alte Siegel Panems zu sehen. Erst jetzt wo Finnick die Nachricht an Beetee weiter gereicht hat lehnt er sich wieder in dem Stuhl zurück und die Anspannung verlässt seinen Körper. Es beruhigt ihn zu wissen, dass seine Nachricht auf dem Weg ist und Distrikt dreizehn hoffentlich bald erreichen wird. Schließlich musste er sich dafür einmal mehr bis auf den Grund seiner Seele entkleiden. Die körperliche Nacktheit stört ihn schon lange nicht mehr, doch die Lüge von Liebe die er gezwungen ist gegenüber Menschen wie Titania Creed zu leben zehrt mit jedem Mal mehr an ihm. Umso mehr, seit Annie sich in sein Herz geschlichen hat. Einerseits macht ihre Liebe ihn stärker, aber auch schwächer. In Momenten wie diesem, einsam im Dunkel der Nacht, da fragt er sich was Annie in ihm sehen mag und warum sie der Gedanke an seine unzähligen Liebschaften im Kapitol nicht abstößt. Er jedenfalls ekelt sich manchmal vor sich selbst.

Er zieht die Zugangskarte aus dem Terminal und mit einem Zischen erlischt das Hologramm. Im Dunkeln schleicht er sich wieder herab zu Annie, die immer noch friedlich schlafend auf dem kleinen Bett liegt. Vorsichtig legt er sich neben sie und der Schlaf überwältigt ihn.

 

Am nächsten Tag verlassen sie mit den ersten Sonnenstrahlen die Insel. Länger als eine Nacht können sie nicht auf Emerald Isle verweilen, schließlich besteht doch immer die Chance, dass ihr Verschwinden bemerkt wird. Sie fahren mit dem Boot über das glatte Meer. Vom Hafen her dringen die Geräusche der Fischer hinüber die sich für einen Tag auf See vorbereiten. Zurück am Festland verstecken sie das Boot wieder in einem alten Bootsschuppen am Rande des Armenviertels. Er steht schon lange leer und erweckt keinen Verdacht. Annie schweigt auf dem Rückweg und scheint tief in Gedanken versunken zu sein. Finnick weiß es besser als sie zu stören und überlässt sie ihrer Gedankenwelt. So war es gewesen seit sie aus der Arena wieder gekommen war. Hin und wieder hatte sie diese Momente in denen die Realität in den Hintergrund zu gleiten schien. Es war völlig willkürlich wann das geschah. Sicher wäre es einmal nützlich gewesen wie bei den Veranstaltungen rund um die Hungerspiele, doch so bequem war die Psyche freilich nicht. Solange es nur gelegentlich geschah sah er keinen Anlass zur Sorge. Wenn sie nur ihren Gedanken nachhing oder gar in fernen Traumwelten versank hatte sie zumindest keine Angst. Oft lächelte sie sogar. Daher begnügt er sich auch jetzt damit auf sie zu warten. Und in den Momenten in denen der Schrecken wieder Überhand nehmen würde wäre er da um ihre Hand zu halten.

Während sie Hand in Hand zurück durch die Salzwiesen in die Stadt gehen erinnert Finnick sich an die erste Zeit nach Annies Spielen, als sich das wahre Ausmaß ihrer psychischen Beeinträchtigungen wirklich zeigte. Als sie den Halt an der Realität in schwindelerregender Geschwindigkeit verlor. Er hatte viele Frauen – und Männer – vor Annie gekannt. Sie hatten ihn bei Snow gekauft in dem Glauben die Körperlichkeiten würden über alles das ihrem Leben fehlte hinweg trösten. In seinen ersten Jahre nachdem der Verkauf seines Körpers angefangen hatte, war er beinahe selbst diesem Drang erlegen. Hatte versucht Gefühle für manche der Damen zu finden die ihm im Rausch der Ekstase süße Versprechungen zuflüsterten – die sie nie halten würden wie er so schmerzhaft erfahren musste. Irgendwann hatte er nur noch angenommen, dass diese Scheinwelt sein Schicksal sei. Nicht einmal Mags, die gute Seele unter den Siegern und eine Stimme der Vernunft, hatte ihm viel mehr Hoffnung geben können. In dieser lieblosen Welt der falschen Versprechungen drohte er ein Schatten seiner Selbst zu werden, doch dann war Annie in sein Leben getreten.

Eigentlich nur ein einfaches Mädchen aus Distrikt vier. Doch ihre meergrünen Augen waren von einer anderen Tiefe gewesen. In ihnen verbarg sich ein ganzes Universum so schien es ihm schon damals. Er hatte sie schon einmal gesehen, in der Nacht in der er als Sieger zurück nach Distrikt vier gekommen war. Wie er war sie alleine am Strand gewesen und wenn auch nur für kurze Zeit waren sie zusammen alleine gewesen. Sie hatte ihn schon damals nicht wie die anderen behandelt, ihn nicht begeistert hofiert weil er ein Sieger war. Und als er dann Mentor in ihren Hungerspielen war, hatte sie nicht als Ablehnung für ihn übrig. Natürlich, sie hatte schließlich nur seine Bettgeschichten gesehen. Sie hatte ihn als Liebling des Kapitols kennengelernt, nicht als den Jungen aus dem Armenviertel der keine Familie mehr hatte und sich auf nichts außer sein Talent mit Speer und Dreizack verlassen konnte.

Er dagegen hatte in ihr gesehen was all seinen Bettgeschichten fehlte: ihre wahre innere Überzeugung, die in seinem Innersten Wiederklang fand. Sie war alles was er gerne gewesen wäre. Mutig, aber sanft. Sie trat für ihren Mittribut Pon ein, anstatt wie er freiwillig in die Spiele zu gehen. Trotz ihres unfreiwilligen Schicksals hatte sie den Kopf hocherhoben. Sie ließ nie zu, dass die Spiele einen Teil ihrer Menschlichkeit zerstörten. Selbst jetzt noch zahlte sie für ihren einzigen Mord aus Notwehr mit einem Teil ihrer geistigen Gesundheit. Manche mochten sagen sie sei verrückt geworden, doch Finnick fühlte sich als sei er der Verrückte. Schließlich war er freiwillig in die Arena gegangen und trotz seiner Gräueltaten konnte er irgendwie mit seinem Leben weiter machen. Annie dagegen konnte es nicht einmal ertragen eine Person getötet zu haben. Er bewunderte sie zutiefst für diese Reinheit. Doch das war nicht alles. Sie war witzig und charmant wie sonst keine seiner Bekanntschaften. Es war nur knapp mehr als eine Woche gewesen die sie sich vor den Spielen kennengelernt hatten, doch das hatte gereicht um Annie nicht mehr aus dem Kopf zu bekommen. Er war bereit gewesen alles für ihr Überleben zu tun – und hatte ihr deswegen schwören müssen, dass Pon überleben sollte. Ein Plan den das Schicksal vereitelt hatte. Zu sehen wie zerbrochen sie deswegen aus den Spielen zurück kehrte hätte auch ihn fast gebrochen.

Nur wenige Tage nach der Rückkehr nach Distrikt vier war Annie eines Morgens verschwunden. In Panik sie könne sich etwas angetan haben war er durch die Stadt gelaufen, überall nach ihr rufend. Gefunden hatte er sie schließlich in den Ruinen der Fabrik in der ihr kleiner Bruder und einstiger Verlobter beide umgekommen waren. Sie hatte noch im Nachthemd auf den Resten eines verkohlten Dachbalkens gesessen und sich angeregt unterhalten. Nur, dass da niemand außer ihr war.

Aber sie hatte geredet als wenn ihr Bruder und Verlobter noch da wären, hatte von dem schön großen Haus im Dorf der Sieger in dem auch sie bald leben würden erzählt. Finnick hatte nicht gewusst was er tun sollte. Langsam hatte er sich durch das Geröll der ausgebrannten Fabrikhalle genähert. Das Feuer war erst wenige Tage her gewesen und es war noch nichts aufgeräumt. Mit einem Stich ins Herzen war ihm klar geworden, dass Annie mit David, ihrem toten Verlobten, redete als wenn die Spiele nicht geschehen wären. Als hätten sie nie eine Auseinandersetzung darüber gehabt ob Annie zur Mörderin werden solle um ihre eigene Haut zu retten. Den Keil den dieser Streit zwischen sie getrieben hatte ignorierte sie völlig. Dabei hatte dieses letzte Gespräch vor der Arena damals ihr Verhältnis völlig geändert. Stattdessen hatte sie über eine anstehende Hochzeit gesprochen die organisiert werden sollte. In diesem Moment war Finnicks Hoffnung gesunken. Mit hängenden Schultern hatte er wenige Schritte hinter ihr gestanden umgeben von verkohlten Ruinen und hatte sich so verloren gefühlt wie nie zuvor. Es war nicht einmal einen Monat her, dass Annies ganzes Leben sich für immer veränder hatte und alle Menschen die sie liebte ihr entrissen worden waren. Was hatte er erwartet?

Was auch immer in der Woche vor der Arena gewesen war – es war als sei es in einem Vakuum geschehen. Nicht gänzlich real. Stumm hatte er sie angesehen wie sie so dasaß, ein weißes Nachthemd im Aschenstaub, und lachend einer Geschichte lauschte die nur sie hören konnte. Ihm war in diesem Moment klar gewesen, dass er sie liebte, gleich ob sie die Gefühle erwiderte oder nicht. Er war bereit alles für sie zu tun und er schwor sich, dass das Kapitol dafür büßen würde. Dafür, dass sie das Leben so vieler Tribute wie Annies ruiniert hatten, dafür, dass sie ihr alles Lebenswerte entrissen hatten und dafür, dass sie ihn mit Prostitution folterten während ihm echte Liebe verwert blieb. Schließlich hatte er sich aufgerafft und war an Annies Seite getreten. Sanft hatte er ihre Hand ergriffen und fest gedrückt. Für einen Moment hatte sie ihn völlig entrückt angeschaut, ehe sie urplötzlich gelächelt hatte. Es war als wäre sie nicht eben noch in ihrer Traumwelt gewesen. Irritiert hatte sie geblinzelt und gefragt wo sie seien. Finnick war ehrlich, denn er brachte es nicht über sich zu lügen. Der Schock hatte ihr die Farbe aus dem Gesicht getrieben und mit einem Mal schien sie die Asche auf ihrem Nachthemd wahrzunehmen.

„Das hier ist die Wahrheit, nicht wahr?“, hatte sie geflüstert.

„Ja, das hier ist die Wahrheit.“ Der Schmerz über die hässliche Wirklichkeit tränkte seine Stimme.

„Dann ist es gut wenn du ein Teil von ihr bist“, erwiderte sie mit einem eigenartig melancholischem aber glücklichem Lächeln. Ihr Blick war wieder auf die Stelle gefallen mit der sie zuvor gesprochen hatte. „Versprichst du mir, dass du mich immer daran erinnerst was wahr ist?“

„Natürlich, wenn du das möchtest.“ Seine Stimme hatte kratzig geklungen. Da hatte sie ihn wieder angeschaut aus diesem meergrünen Augen die ihm die ganze Welt versprachen. Sie überraschte ihn immer wieder.

„Ich möchte dich nicht vergessen“, ein leichtes Lachen war erklungen, „auch wenn du schwer zu vergessen bist habe ich doch Angst, dass mein Kopf mir einen Streich spielt, Finnick Odair.“

Tränen hatten sich in ihr Lachen gemischt.

„Auch wenn ich am liebsten vergessen würde was geschehen ist“, schniefte sie. „Aber dich möchte ich in Erinnerung halten. Das bedeutet wohl, dass die Schmerzen bleiben müssen.“

Dies war das erste Mal seit langem, dass ihm wieder ungehindert Tränen über das Gesicht liefen. Er schämte sich ihrer nicht.

„Ich werde dich immer erinnern.“

Es hatte viele Nächte gebraucht in denen er sie einfach in den Armen hielt und ihre Albträume vertrieb. Viele Tage an denen er ihr helfen musste zwischen Traum und Realität zu unterscheiden. Aber gemeinsam waren sie in den letzten Jahren zu einem festen Team zusammen gewachsen. Er hatte lernen müssen wie er am Besten auf ihre jeweilige Verfassung reagieren konnte. Es war nicht immer einfach gewesen an die Zeit vor der Arena anzuknüpfen, doch in jeder heimlichen Nacht auf Emerald Isle wurde das Gefühl der Liebe in seiner Brust nur stärker. Mit der Zeit hatte er ein Gefühl dafür bekommen wie weit sie in ihre Gedankenwelt abdriften durfte bevor er sie zärtlich zurück holen musste. In diesem Moment wird er sich ihrer warmen Hand in seiner schlagartig wieder sehr bewusst.

„Erde an Finnick!“, reißt ihn ein Ruf aus seinen Gedanken an die Vergangenheit.

Annies grüne Augen blicken ihm entgegen, noch lebendiger und tiefgründiger als in seinen Gedanken eben.

„Hey du Träumer, das ist doch eigentlich meine Sache die Welt um mich herum zu vergessen“, lacht sie.

Er erwidert ihr Lachen und zieht sie in seine Arme um ihr einen Kuss auf die Stirn zu drücken.

„Von Zeit zu Zeit halten mich meine Gedanken auch mal beschäftigt“, murmelt er in ihre nach Sonne und Meer riechenden Haare.

Sie haben mittlerweile fast den Saum der Stadt erreicht. Noch sind sie durch einige trockene Büsche einigermaßen vor den Blicken geschützt, doch gleich werden sie wieder zurück in ihre Rollen fallen müssen. Wehmütig atmet Finnick noch einmal Annies Duft ein. Wird ihr Leben jemals nur ihnen gehören? Das Gespräch mit Beetee drängt sich wieder in seine Gedanken. Vielleicht gäbe es bald einen Weg…

„Sind es dunkle Erinnerungen?“, fragt Annie ihn jetzt prüfend. Seine Miene muss ihn verraten haben.

„Nein. Sie sind wie Regen an einem Sommertag. Warm und glücklich, mit einem Hauch von Wehmut.“

„Manchmal denke ich du solltest Gedichte schreiben“, schmunzelt Annie. „Du findest schönere Worte für Gefühle als jeder den ich sonst kenne.“

„Wenn ich eines schreiben würde, dann würde ich es nur für dich schreiben können. Niemand außer dir lässt mich diese Worte finden.“

Für einen Moment blicken sie sich fest in die Augen, doch dann ist dieser Moment vorbei und Finnick grinst wieder frech.

„Abgesehen davon würde sie eh niemand außer dir lesen wollen, so kitschig wären sie.“

„Oh, ich wette deine Verehrerinnen würden sich darauf stürzen so eine Liebeserklärung zu lesen“, antwortet Annie leichthin. „Für sie wäre es wahrscheinlich noch nicht genug Kitsch.“

Prüfend zieht Finnick eine Augenbraue hoch. Ihn verwundert diese Nonchalance mit der Annie seinem zweiten Leben gegenüber steht immer wieder. Er wartet darauf, dass sich Eifersucht in ihrer Stimme zeigt, doch Annie geht einfach ein paar Schritte weiter. Als sie merkt, dass er ihr nicht folgt dreht sie sich um.

„Vermutlich müsste ich das. Aber jedes einzelne Wort wäre mir für sie zu schade.“

Seine Stimme ist fest und er grinst dieses Mal nicht. Annie blickt ihn kurz an, dann kommt sie die wenigen Schritte zu ihm zurück. Ihre Hände auf seiner Brust fühlen sich federleicht an.

„Tut mir leid, das war nicht passend.“ Sie beißt sich auf die Unterlippe. „Ich weiß, dass sie dir nichts bedeuten. Und ich hoffe, dass du weißt…“, sie hält kurz inne, die Stirn nachdenklich in Falten, als wenn sie ihre Worte erst prüfen muss, „ich hoffe du weißt, dass es mir auch nichts bedeutet“, schließt sie schließlich.

„Ich weiß, dass du das immer wieder sagst, aber manchmal ist es schwer zu glauben“, seufzt er ehrlich. „Wenn du es noch ein paar mal öfter sagst vertreibt es vielleicht die Zweifel.“

Annies Gesicht leuchtet auf.

„Ich sage es dir gerne jeden Tag wieder, so wie du mich an die Wirklichkeit erinnerst!“

„Abgemacht.“

Vielleicht, so denkt Finnick bei sich, hilft sie ihm so tatsächlich weiter die Geheimnisse des Kapitols zu stehlen. In stummer Übereinkunft gehen sie – jetzt mit einigem Abstand zwischen einander - zurück zum Hafen. Die Stadt rückt näher und mit ihr auch seine Rolle die er ausfüllen muss. Wie schön es wäre, wenn sie ihre Beziehung nicht verstecken müssten. Doch so laufen sie stumm nebeneinander her bis sie das Hafengebiet erreichen. Die Fischer die ihre Boote fertig machen beachten sie nicht weiter. Es herrscht einiges Treiben und die ersten Schiffe verlassen bereits den Hafen. Zwischen all den Arbeitern die nur ihre heutigen Aufgaben vor Augen haben fallen sie nicht weiter auf. Hier denkt jeder nur an den bevorstehenden Tag und dass die Fangquoten erzielt werden müssen. So oder so hat die allgemeine Bevölkerung nicht so viel für ihre Sieger übrig wie man denken könnte. Manche scheinen vergessen zu haben, dass sie einst ein Teil von ihnen waren.

Einzig der Blick eines Friedenswächters, der an einem Aussichtsturm stationiert ist, scheint förmlich an Finnick und Annie zu kleben. Er verfolgt sie mit seinem Blick, doch es ist nichts Verbotenes daran am frühen Morgen durch den Hafen zu gehen. Er kann nicht gesehen haben wo genau sie herkamen. Trotzdem macht die Beobachtung Finnick unruhig.

Plötzlich lässt ein Schrei Finnick zusammen zucken. Noch einmal ertönt der Schrei und er hört eine Stimme seinen Namen rufen.

„Finnick!“

Suchend blickt er in die Menge an grau uniformierten Arbeitern und erkennt Amber die sich durch die Masse schiebt.

„Finnick“, ruft sie wieder, eine Hand erhoben um ihm zu winken. Ihr Gesicht ist rot vor Anstrengung. Es sieht aus als wäre sie den ganzen Weg vom Dorf der Sieger hinunter zum Hafen gelaufen. Keuchend schubst sie zwei Fischer beiseite, die sich nicht trauen etwas zu sagen als sie sehen wer sie Beiseite geschoben hat. Beunruhigt sieht Finnick sich nach Annie um die sich mit großen Augen hinter ihn drängt. Am liebsten würde er ihre Hand ergreifen, doch er fühlt immer noch den Blick des Friedenswächters auf ihm. Warum auch immer Amber im frühen Morgengrauen hier auftaucht, es kann nichts gutes verheißen. Vor allem nicht wenn sie offensichtlich gerannt ist. Ein kaltes Gefühl steigt in ihm auf. Könnte es sein, dass ihr Verschwinden bemerkt wurde?

„Finnick, gut, dass ich dich finde.“ Nach Luft schnappend hält Amber vor ihm an, die Hände in die Seite gestemmt. Besorgt greift er nach ihrem Arm, doch sie schlägt seine Hand unwirsch weg, etwas unverständliches keuchend.

„Ihr müsst sofort mit kommen“, sagt sie nachdem sie tief Luft geholt hat, „Mags hatte einen Schlaganfall.“

Eiseskälte

Mags hatte einen Schlaganfall. Die Worte hallen dröhnend in meinen Gedanken wieder. Ich fühle mich als hätte ich meinen Körper verlassen, seltsam leicht und kalt. Bestimmt schlägt mein Herz nicht mehr. Habe ich jetzt auch einen Anfall? Werde ich ebenfalls sterben?

Ich sehe wie Amber sich umdreht, Finnick am Arm gepackt. Sie sagt etwas doch ihre Worte erreichen mich nicht. Eine Hand schließt sich um mein Handgelenk und ich werde vorwärts gezogen. Ungelenk stolpere ich über meine eigenen Füße. Das warme Gefühl welches mich bis eben noch erfüllt hat fließt aus meiner Brust durch meine Arme in die Fingerspitzen und verlässt mich. Es ist als wäre ich in Eiswasser getaucht. Aus dem Nichts taucht eine Erinnerung auf.

Ich bin acht Jahre alt und das erste Mal bei schlechtem Wetter mit meinem Vater zur See. Es ist Herbst und ein gewaltiger Sturm zieht schnell herauf. Unser kleines Boot schwankt auf den Wellen die immer größer werden. Ich klammere mich mit eisigen Fingern fest an den Mast in der Überzeugung, dass ich sterben werde. Mein Vater kämpft noch mit dem Steuer als eine Welle sich über dem Boot auftürmt und uns mit einem Donnern unter sich begräbt. Eisiges Wasser drängt von allen Seiten auf mich ein. Jegliches Gefühl für meinen Körper verschwindet. Ich weiß nicht mehr wo oben und unten ist. Sind meine Arme noch um den Mast geschlungen? Ich kann es nicht sagen. Alles was ich fühle ist Eiseskälte und Todesangst die meine Gedanken lähmt. Plötzlich wird unser Boot aus dem Wellental empor geschleudert und wir reiten auf einer gewaltigen Wellenkrone. Meine Arme sind tatsächlich noch um den Mast geschlungen auch wenn ich nicht mehr spüre wie ich mich festhalte. Ehe ich mich versehe rasen wir bereits wieder herab. Eine neue Woge eisigen Wassers begräbt uns. Mein Denken ist ausgeschaltet. Die Wange an den Mast gepresst, die Augen weit aufgerissen ergebe ich mich der Macht des Meeres. Knarzend reitet unser Boot die Wellen, stürzt in die tiefsten Täler nur um dann wieder empor zu steigen. Mir erscheint es wie ein Wunder, doch plötzlich sehe ich einen Landstreifen vor uns der sich immer weiter nähert. Distrikt vier erhebt sich vor uns. Je näher wir dem Land kommen desto kleiner werden die Wellen. Trotzdem schaffe ich es erst wieder meine Arme von dem Mast zu lösen als wir in den Hafen eingelaufen sind und mein Vater schützend seine Arme um mich schlingt.

Das Gefühl das jetzt meinen Körper durchströmt ist ein ähnliches. Ich fühle mich als würde Welle um Welle auf mich einstürzen. Blindlinks stolpere ich hinter Finnick und Amber her über breite Kopfsteinpflaster-Straßen. Erst als sich das Krankenhaus, ein flaches Gebäude aus hellgelbem Beton, vor uns erhebt erkenne ich wo wir hingehen. Vor dem Eingang sind bunt blühende Büsche eingegraben, doch auch sie können nicht über den tristen Eindruck hinweg täuschen. Das Krankenhaus ist ein böser Ort. Ich weiß, dass in den weißen Fluren mit dem stechenden Desinfektionsmittelgeruch nur noch mehr längst vergrabene Erinnerungen ruhen. Und schlimmer noch, Visionen von dem was ich nie erlebt habe. Schon sehe ich mich am Krankenbett meines Vaters stehen, sein Gesicht so weiß wie die Laken und der Atem flach. Mir gegenüber steht Präsident Snow, die Hände wie zum Gebet gefaltet. In seinem makellosen weißen Anzug sieht er aus wie ein zu fein angezogener Arzt. Seine Schlangenaugen richten sich auf mich. Ein Kribbeln gleitet meine Wirbelsäule herab.

„Papa“, flüstere ich hilflos. Meine Hand sucht seine Hand, doch sie ist kalt wie das Eiswasser vor so vielen Jahren. Der Anblick des Krankenhauses verschwimmt langsam. Amber hält nicht inne um auf uns zu warten, doch Finnick dreht sich besorgt zu mir um. Ich sehe die Angst in seinem Blick. Diesmal kann auch er mir keinen Trost spenden realisiere ich. Er ist genau so hilflos wie ich. Seine Hand gleitet wieder in meine, obwohl wir uns mitten in Distrikt vier befinden wo uns jeder sehen kann. Aber unter diesen Umständen ist es wahrscheinlich in Ordnung. Gemeinsam betreten wir den Empfangsraum des Krankenhauses. Gerüche von Leid und Krankheit drängen auf mich ein. Am liebsten würde ich mich übergeben, doch zum Glück gehorcht mir mein Körper auch in dieser Hinsicht nicht. Amber ist vor uns und bereits an der Warteschlange am Informationsschalter vorbei gestürmt. Sie herrscht die diensthabende Krankenschwester an ihr zu sagen wo man Mags hingebracht habe. Diese will ihr zunächst keine Auskunft geben, doch da baut Amber sich zu voller Größe vor ihr auf, ein bedrohliches Funkeln in den Augen.

„Ich bin eine Siegerin der Hungerspiele, also werden sie mir besser sagen wo Mags Flanagan ist!“

Sie schlägt mit der flachen Hand auf den Tresen zwischen ihr und der Krankenschwester. Diese schrumpft sichtlich zusammen und spuckt hastig eine Zimmernummer aus. Amber stürmt in Richtung eines Flures davon, wir hintendrein. Die anwesenden Leute treten hastig zur Seite und betrachten unseren kleinen Zug mit großen Augen. Am Ende des Flures stößt Amber eine Tür zu einem kleinen Zimmer auf und erschreckt damit einen Krankenpfleger der sich über das einzige Bett im Raum beugt. Kaum hat sie den Raum betreten fällt der harsche Gang von ihr ab. Fast schon zögerlich tritt sie auf das Bett zu.

„Wie geht es ihr?“, stellt sie die Frage die uns alle beschäftigt.

Der Krankenpfleger erholt sich schnell von seinem Schreck und macht formvollendet eine Notiz auf dem Klemmbrett in seiner Hand.

„Zunächst einmal muss ich sie um Ruhe bitten“, antwortet er harsch, „wir werden sehen müssen wie viel Schaden das Gehirn genommen hat. Zum jetzigen Zeitpunkt können wir noch nichts zu ihren Überlebenschancen sagen. Sie ist bereits eine alte Dame.“

Finster funkelt Amber ihn an.

„Sie ist nicht irgendeine alte Frau! Sie ist die älteste Siegerin unseres Distrikts. Man könnte meinen Sie haben sie schon abgeschrieben.“ Sie verschränkt die Arme demonstrativ vor der Brust. „Ich hoffe wir können uns darauf verlassen, dass sie alles in ihrer Macht stehende tun werden?“

Der Mann sieht aus als wäre er zutiefst in seiner Ehre gekränkt worden. Mit steifen Gesten schiebt er sich das Klemmbrett unter den Arm und richtet seinen Kragen.

„Natürlich werden wir alles tun um unseren Eid zu erfüllen.“

Mit diesen Worten geht er zur Tür hinaus und zieht diese hinter sich zu. In diesem Moment lösen sich Floogs und Trexler aus dem Schatten neben Mags Bett und treten an Ambers Seite. Floogs legt beruhigend eine Hand auf ihre Schulter.

„Sei nicht so hart zu ihnen, Amber. Sie tun ihr Bestes.“

Ein Schatten huscht über ihr Gesicht.

„Manchmal ist das Beste nicht genug“, entgegnet sie, doch ihre Stimme hat den Schneid verloren.

„Mags is ne Kämpf‘rin“, kommt es von Trexler, der sich ebenso unwohl zu fühlen scheint wie ich. Der hünenhafte Mann spricht nie viel, doch jetzt blickt er Amber fast schon herausfordernd an als er weiter spricht, „sie is zäher als wir. Sie gib‘ nich auf bevor ihre Mission erledigt is. Is nich ihre Art.“

„Ich weiß“, sagt Amber, „aber ich traue denen nicht.“ Sie zeigt mit dem Daumen Richtung Tür.

Ich komme mir verloren vor zwischen all diesen Menschen die Mags schon so lange kennen. Es könnte deutlicher nicht sein, dass Mags für jeden von ihnen eine Menge bedeutet. Ich hingegen kenne sie doch erst seit drei Jahren. Aber sie hat auch mein Leben gerettet…

Finnick löst sich von mir um gemeinsam mit den anderen an Mags Bett zu treten. Ich erhasche nur einen kleinen Blick auf Mags die bleich zwischen den Laken liegt. Hastig wende ich den Blick ab. Mir wird wieder schlecht. Wacklig gehe ich zu einem Stuhl an der Wand gegenüber des Krankenbetts und lasse mich sinken. Es gibt nichts was ich tun könnte. Wenn, dann war Mags immer die Stärkere, selbst im hohen Alter noch. Auch wenn jetzt nichts mehr daran erinnert war sie die erste freiwillige Siegerin und wusste sich immer zu wehren. Ich dagegen habe immer ihre Hilfe gebraucht.

Meine Hände wandern zu den Ohren um das Piepen eines Überwachungsgeräts auszublenden. Fest presse ich die Hände an die Seiten meines Schädels. Für gewöhnlich sind es die Erinnerungen die ich aus meinem Kopf vertreiben muss, doch dieses Mal ist es die Realität die ich nicht ertragen kann.

Ich spüre eine Hand auf meiner Schulter. Als ich aufblicke sehe ich Floogs der mich mitfühlend mustert. Er bedeutet mir eine Hand von den Ohren zu nehmen. Nur widerstrebend komme ich dem nach.

„Ich weiß, dass du auch Angst hast. Wir alle haben Angst.“

Er kniet sich zu mir herunter. Sein Ausdruck ist immer so gutmütig, dass es schwer vorzustellen ist, dass er je die Hungerspiele gewonnen hat.

„Mags ist für alle von uns so etwas wie eine Ersatzmutter.“ Ermunternd nickt er mir zu. „Wegen uns musst du dich nicht zurücknehmen. Ich weiß, dass sie dir ebenso viel bedeutet wie uns anderen. Sie hat jedem Einzelnen von uns das Leben gerettet.“

Ich blicke von ihm zu den übrigen Mentoren um Mags Bett herum.

„Ich weiß nicht ob ich das schaffe“, sage ich ehrlich, „alles an diesem Ort erinnert mich daran wie sie mir meine Familie genommen haben. Wie meine Mutter hier gestorben ist. Was kann ich alleine schon für Mags tun?“ Meine Stimme bricht.

„Du vergisst, dass du da nicht alleine durch musst, Annie.“ Floogs reicht mir seine Hand. „Gemeinsam können wir Mags Kraft geben wenn wir einfach an ihrer Seite sind. Komm mit mir.“

Er zieht mich auf die Beine und gemeinsam treten wir an das Bett von Mags. Auf der einen Seite kniet Finnick, ihre Hand fest umfasst. Er ist leichenblass und sein abwesender Blick scheint in die Vergangenheit gerichtet. Vermutlich muss er an alles denken was Mags je für ihn getan hat. Mir fällt ein, dass ich nicht viel über die Beziehung der zwei weiß. Ich bedauere es nie gefragt zu haben. Trexler steht stumm am Fußende des Bettes und Amber sitzt mit gebeugtem Rücken zu uns. Ungewohnt zärtlich streichelt sie Mags runzligen Handrücken.

Mags sieht winzig aus zwischen den ausgewaschenen Laken. Sie sah immer so fröhlich aus, das Gesicht voller Lachfältchen. Doch jetzt sieht sie einfach nur alt aus. Ihr Lächeln ist verschwunden und ich habe Angst es nie wieder zu sehen. Ein dicker Verband ist um ihren Kopf gewickelt. Immerhin war heute Nacht jemand zur Stelle, so dass sie schnell behandelt werden konnte.

Ich lasse mich auf das Fußende hinter Finnick sinken. Amber wirft mir über die Schulter einen kurzen Blick zu. Ihre Augen sind glasig, doch als sie spricht ist ihre Stimme fest.

„Vergiss nicht, wir sind eine Familie. Wir halten zusammen.“

Trexler brummt zustimmend. Ein kleines hoffnungsfrohes Funkeln breitet sich in meiner Mitte aus. Wir sind eine Familie. Es fühlt sich ein Stück weit an wie damals, als mein Vater mich nach dem Sturm in die Arme schloss. Und auch wenn Amber mir wieder den Rücken zuwendet fühle ich mich ihr näher als zuvor. Obwohl wir alle so unterschiedlich sind bringt Mags uns selbst jetzt enger zusammen. In der Mitte meiner ehemaligen Mentoren fühle ich mich gleich weniger schlecht. Zumindest tauchen gerade keine ungebetenen Erinnerungen auf und mein Magen rebelliert nur noch leicht. Eine Weile sitzen wir stumm um Mags herum, gemeinsam aber doch jeder in eigene Gedanken versunken. Ich muss daran denken wie Mags mir vor meinen Spielen die Angst nahm. Wie sie mir gut zugeredet hatte obwohl meine Chancen denkbar schlecht waren. Dann war sie wieder für mich da als es endlich vorbei war. Ihr habe ich zu verdanken, dass ich bisher nicht einmal Mentor in den Hungerspielen werden musste. Das Kapitol hatte versucht mich zurück dahin zu bringen. Sie wollten Mags in „Rente“ schicken, da sie schon so viele Jahre ihren Dienst als Mentorin verrichtet hatte. Ihren Platz sollte ich einnehmen. Sogar einen Orden wollten sie ihr verleihen in Anerkennung ihrer Tätigkeit. Doch sie weigerte sich das Angebot anzunehmen. Wenn ich ehrlich bin ist es mir schleierhaft wie die anderen Mentoren es verhindert haben, dass ich mich ihnen anschließen muss. Es müsste schon sehr viel Glück dabei sein damit das Kapitol mich einfach vergisst. Ich hoffe inständig, dass Mags wieder aufwachen wird, denn mir wird klar, dass ich mich nie richtig bei ihr bedankt habe. Für alles.

 

In den kommenden Wochen verbringen wir Sieger viel Zeit im Krankenhaus. Mags erwacht zum Glück wieder, doch der Schaden ist groß. Sie kann sich kaum bewegen denn Arme und Beine sind gelähmt. Sprechen kann sie auch nicht mehr. Wenn wir sie besuchen schläft sie oft oder blickt uns bloß stumm an. Vor allem Finnick und Amber weichen kaum von ihrer Seite. Abwechselnd schlafen sie im Krankenhaus um immer an ihrer Seite zu sein. Die Ärzte operieren Mags noch zwei Mal ehe sie sich sicher sind, dass die Blutgerinnsel beseitigt sind. Im Kapitol haben sie wahrscheinlich eine viel einfachere und sichere Methode um derartige Erkrankungen zu heilen, wenn ich daran denke wie einfach sie meine Wunden nach der Arena geheilt haben. Doch niemand bietet an Mags dort zu behandeln. Stattdessen müssen wir es ertragen, dass Mags nach all dem nur noch ein Schatten ihrer Selbst ist. Aber mit einem hatte Trexler recht: Sie ist eine Kämpferin. Ihre Mission scheint noch nicht erfüllt. Ihre Fortschritte sind klein, aber wenn man den Ärzten Glauben schenken darf ist sie auf einem guten Weg. Ich ertrage es immer noch nur schwer im Krankenhaus zu sein, doch ich muss glücklicherweise nicht alleine hingehen. Meist begleiten mich gleich mehrere der anderen Sieger und auch Isla kommt oft mit. Selbst wenn sie keine Siegerin ist, so ist sie doch ein Teil unserer verqueren kleinen Familie. Nur Riven, unsere neue Siegerin, lässt sich nicht wirklich blicken. Einmal erscheint sie für kurze Zeit ohne mit jemandem zu sprechen, doch dann ist sie wieder verschwunden. Die anderen kommen überein, dass wir sie vorerst in Ruhe lassen. Im Gegensatz zu uns hat sie noch ihre Familie die bei ihr im Siegerdorf lebt. Eine Mutter, einen Vater, zwei ältere Geschwister. Sie kennen sie besser und können ihr hoffentlich eine gute Stütze sein. Isla schaut zwischendurch manchmal bei ihnen vorbei. Tatsächlich scheint es Riven soweit gut zu gehen, zumindest erzählt Isla, dass sie sich bereits auf ihre Siegestour vorbereitet und überlegt welches Hobby sie aufnehmen will. Wir Sieger müssen ja alle ein individuelles Hobby haben, dass wir im Kapitol präsentieren sollen. Nach meinem Sieg bekam auch ich diese Aufforderung, also habe ich halbherzig versucht Cece mit meinen Blumenflechtkünsten zu beeindrucken. Das hat immerhin ausgereicht um sie mir künftig vom Hals zu halten. Alle paar Monate kommen sie aus dem Kapitol und wollen ein paar neue Kunstwerke sehen, die ich ihnen meist auch liefern kann. Es ist eine gute Therapie aus bunten Blumen und feinen Bändern Kränze zu binden. Früher habe ich dies immer mit den wild wachsenden Blumen von den Salzwiesen getan, doch heute bekomme ich ganze Wagenladungen an feinsten Zuchtblumen direkt aus dem Kapitol geliefert, ebenso wie seidene Bänder und allerlei dekorativen Plastikkitsch. Bei jeder Lieferung sind auch ein paar schneeweiße Rosen dabei. Direkt aus Snows Zuchtgärten. Ich schmeiße sie jedes Mal ins Meer. Bis zur jährlichen Siegertour und damit verbundene Präsentationen ist jedoch noch viel Zeit. Wir konzentrieren uns lieber ganz auf Mags.

Zunächst muss sie wieder die Grundlagen wie zum Beispiel schlucken lernen. Es gibt längst nicht genug Ärzte im Krankenhaus, deshalb helfen wir und erarbeiten ein Trainingsprogramm für Mags. Viel zu tun haben wir als Sieger ja ohnehin nicht. Wir mögen keine Experten sein, doch langsam kommt das Leben zurück in Mags. Sie lächelt uns an, nickt wenn wir ihr etwas erzählen und bekommt wieder etwas Farbe. Doch noch darf sie das Krankenhaus nicht verlassen, denn sie muss immer noch rund um die Uhr Medikamente einnehmen. Derweil rückt in Distrikt vier der Herbst vor. Die See wird rauer und immer wieder werden wir von Regenschauern überrascht. Ich mag den Herbst nicht sonderlich, wenn die Tage kürzer werden und es draußen nur noch dunkel ist. In diesen Tagen ist die Überfahrt nach Emerald Isle zu gefährlich. Seit Mags ihren Schlaganfall hatte sind Finnick und ich nicht mehr dort gewesen. Ich vermisse die Abgeschiedenheit auf der Insel. Aber selbstverständlich ist Mags jetzt wichtiger.

 

Der Herbst ist bereits weit fortgeschritten als ich eines Tages gemeinsam mit Finnick und Isla bei Mags bin. Mittlerweile ist sie zurück in ihrem Haus im Dorf der Sieger. Wir haben ein Bett in ihrem Wohnzimmer eingerichtet wo wir sie gut umsorgen können. Alle paar Tage schaut ein Arzt aus dem Kapitol nach ihr, doch abgesehen davon sind wir jetzt ganz alleine für sie verantwortlich. Regen peitscht gegen die Fensterscheibe. Ab und an zuckt ein Blitz über den Himmel.

Ich sitze an Mags Bett und mache Fingerübungen mit ihr während Isla vor dem Kamin sitzt und für die Kinder im Waisenhaus strickt. Jetzt wo es kälter wird brauchen die Kinder dort alle warme Schals. Von Trexlers Geld lässt Isla sich feine Wolle direkt aus Distrikt 8 importieren die in wunderschönen Farben eingefärbt ist. Ihr jetziger Schal, gelb-weiß gestreift, hängt bereits bis auf den Boden herab. Finnick hat sich am Vormittag um Mags gekümmert und klappert jetzt in der angrenzenden Küche mit den Töpfen. Es reicht schon wunderbar nach gebratenem Fisch. Ich höre, dass Mags Magen knurrt. Lächelnd sage ich:

„Riecht ganz schön lecker was Finnick uns da kocht, oder?“

Mags nickt und schenkt mir zur Bestätigung ein Lächeln. Zum Glück hat sie das Schlucken recht schnell wieder erlernt, nur Füttern müssen wir sie immer noch. Das Klappern von Islas Stricknadeln verstummt als Finnick den Raum betritt, einen Teller für jeden von uns balancierend. Er reicht Isla und mir jeweils einen, ehe er sich mit dem letzten an Mags wendet.

„Dein Lieblingsessen, Mags, Kabeljau mit Rosmarinkartoffeln und Bohnen.“ Er lächelt zufrieden und lässt sich auf die andere Seite von Mags Bett fallen. „Alles direkt aus dem Kapitol, bis auf den Fisch. Den habe ich heute morgen selber gefangen, mit einem deiner Haken.“

Ich bin froh, dass Finnick heute morgen fischen war, als das Meer noch ruhiger war. Wann immer er einen Moment Ruhe braucht zieht er los um fischen zu gehen. Damit ist er der einzige von uns Siegern. Manchmal geht er nur mit einem Netz und Speer bewaffnet los um auf die klassische Art zu fischen, seltener fährt er mit einem Boot raus, dass er sich von seinem Siegergeld gekauft hat. Ich überlasse ihm das Fischen gerne, denn jeder von uns braucht auch einmal Zeit alleine. Sorgfältig zerteilt er das Stück Fisch für Mags in mundgerechte Bissen, genauso wie die Kartoffeln und Bohnen. Am Anfang war es ein wenig gewöhnungsbedürftig Mags füttern zu müssen wie ein kleines Kind. Immerhin war es bis jetzt eher so, dass sie mir eine Mentorin war und sich um mich gekümmert hat. Aber so können wir Mags jetzt wo sie uns braucht zumindest etwas davon zurück geben. Finnick sieht müde aus, doch er lässt sich Mags gegenüber nichts anmerken.

In diesem Moment schlägt urplötzlich die Tür laut krachend auf. Zu unserer aller Verwunderung steht Riven im Flur. Regenwasser läuft von ihrer Jacke herab und bildet Pfützen auf dem Boden.

„Hätte ich es mir doch denken können, natürlich seid ihr hier“, sagt sie als sie tropfend das Wohnzimmer betritt. „Ich wurde losgeschickt um Bescheid zu sagen, dass die Eskorte aus dem Kapitol da ist“, führt sie an Finnick gewandt fort, „sie wollen euch jetzt gleich sehen. Sie warten in Floogs Haus.“

Mich und Isla ignoriert sie, ebenso wie Mags die sie mit krauser Stirn mustert.

Finnick springt fluchend auf, Mags Essen noch in der Hand.

„Heute schon? Verdammt, das habe ich ganz vergessen. Verfluchte Siegertour!“

Riven grinst säuerlich.

„Nicht nur du sollst kommen, sie auch“, sagt sie und deutet auf mich. Ihr Blick trifft meinen. Ist das etwa Neid? Ich lasse die Gabel mit Essen sinken die ich gerade zum Mund führen wollte.

„Warum ich?“, frage ich irritiert. Ich bin kein Teil von Rivens Mentorenteam. Dementsprechend habe ich auf ihrer Siegestour nichts zu suchen. Isla sieht ebenfalls beunruhigt aus. Sie stellt den Teller mit Essen neben sich ab.

„Wirklich, das weißt du nicht?“, erwidert Riven in einem ätzenden Tonfall, „Natürlich weil ein Platz frei geworden ist. Die arme Mags können sie ja wohl kaum auf die Bühne stellen, also bist du ihr Ersatz.“

Etwas regt sich in meiner Brust. Mags Finger neben mir zucken und ich ergreife ihre Hand. Wir tauschen einen kurzen Blick. Ihre Augen so grau wie die stürmische See scheinen mich zu ermahnen ruhig zu bleiben. Isla erhebt sich elegant und geht zu Riven.

„Ist Trex schon da? Wenn nicht sei doch bitte so gut und hole ihn. So wie ich ihn kenne hat er sich bei dem Mistwetter wieder in seinem Atelier eingeschlossen.“ Sie lächelt Riven freundlich an, doch diese will scheinbar nicht so recht gehen.

„Ihr solltet euch besser nicht verspäten“, ermahnt sie uns unnötig harsch. Sie dreht sich auf dem Absatz um und lässt die Tür hinter sich zuschlagen. Kaum ist sie weg dreht Isla sich mit einem Aufseufzen um.

„Nun, Manieren sind nicht Rivens Stärke.“ Sie wirft erst Finnick und dann mir einen langen Blick zu.

„Ihr beiden schafft das, oder? Ich glaube nicht, dass ich zu eurer Versammlung eingeladen bin.“

Wir sehen einander über Mags hinweg an. Schaffe ich das? Ich atme tief ein und aus. Es ist nur eine Siegertour. Wie schlimm kann es schon werden? Jeden Tag ein großes Bankett mit den Siegern der anderen Distrikte. Dieses Mal keine Familien von Tributen die ich kannte. Sorge zeichnet sich in Finnicks Gesicht ab.

„Ich schaffe das schon“, sage ich, mehr zu mir selbst als zu ihnen. „Es ist nur die Tour, nicht die Spiele.“

Wehmütig blickt Isla mich an.

„Richtig, es sind nicht die Spiele.“

Sie umarmt mich und Finnick zum Abschied jeweils kurz. Mir ist als würde sie mich fester drücken als sonst. Ich beuge mich zu Mags hinunter und drücke kurz zum Abschied ihre Hände. Finnick gibt ihr einen Kuss auf die Stirn, dann treten wir hinaus in den strömenden Regen. Für einen Moment bleiben wir stehen, die Gesichter zum tiefgrauen Himmel gerichtet. Wasser läuft mir über das Gesicht und ich schließe die Augen kurz. Als ich sie wieder öffne sehe ich Finnick vor mir stehen, eine Hand nach mir ausgestreckt.

„Wir sollten sie nicht warten lassen.“

 

Kaum, dass wir Floogs Haus betreten haben, kann ich bereits das Gelächter und Geschnatter unserer Eskorte hören. Aufgeregt plappern sie durcheinander. Floogs bescheidenes Wohnzimmer ist nicht wieder zu erkennen. Überall sind schimmernde Kleidersäcke verteilt. Auf allen Tischen stehen Make-Up-Koffer und weiteres Zubehör des Stylingteams. Mitten drin ist unser Team und umschwirrt Amber als auch Floogs wie ein Schwarm Bienen. Vivette ist die erste die uns erspäht. Aufgeregt kreischt sie.

„Oh Finnick! Und du auch, Annie! Es ist ja so schön euch zu sehen!“ Mit weit ausgebreiteten Armen kommt sie auf uns zu. Sie zieht uns beide gleichzeitig in eine Umarmung und damit in ihre Parfümwolke. Beides nimmt mir den Atem. Finnick drückt sie noch ein schmatzendes Küsschen auf die Wange. Sie hatte schon immer eine Schwäche für ihn.

„Ach wie hübsch ihr beiden ausseht! Mit euch dürften wir nicht so viele Sorgen haben! Aber wann haben wir schon je Sorgen mit dir gehabt, Finnick.“ Sie kichert während ihre Augen über seinen Körper gleiten. Er übergeht ihre Anmerkung mit einem charmanten Lächeln.

Trexler und Riven kommen hinter uns herein, was Vivette von uns weglockt um über „ihre“ jüngste Siegerin zu schwärmen. Von allen Seiten werden wir wortreich begrüßt. Diverse bunte Perücken nehmen mir die Sicht und ich verliere Finnick aus den Augen. Als endlich alle mit mir fertig sind lande ich neben Amber, die sich eben so unwohl zu fühlen scheint wie ich. Wir tauschen eine kurze Grimasse. Zwischen all dem Glamour des Kapitols fühlen wir uns beide verloren.

„Ihr Lieben, es ist so schön euch wiederzusehen!“, erhebt sich Ceces Stimme über den Tumult. „Ich weiß, dass ihr alle schrecklich aufgeregt seid wegen der Siegertour, aber wir haben heute ein straffes Programm. Schließlich müssen wir euch alle eingekleidet bekommen bevor der Tag um ist. Und da unser Zug leider eine Panne hatte sind wir erst spät angekommen. Also husch, husch, an die Arbeit!“ Sie klatscht energisch in die Hände.

Eine kleine Frau in einem dramatisch irisierendem Cape kommt auf mich zu getrippelt. Selbst unter all den stetig wechselnden bunten Perücken und Kleidern würde ich sie immer wieder erkennen, meinen kleinen Kolibri aus dem Vorbereitungsteam. Trotz ihrer hohen Schuhe ist sie immer noch einen Kopf kleiner als ich. Ihren wahren Namen konnte ich mir nie merken, also ist sie einfach Kolibrichen für mich, wegen ihrer Größe und flatterhaften Art.

„Lange ist es her, nicht wahr Annie?“, fragt sie freudestrahlend. Sie zieht eine ganze Kleiderstange hinter sich her. „Heute bin ich allein deine Stylistin. Ganz wie in alten Zeiten“, fährt sie fort, „als ich hörte, dass sie dich anstelle von Mags mitnehmen wollen, da habe ich mir sofort dich als meine Siegerin gewünscht.“

Ich kann nicht anders, ich muss ein wenig lächeln. Kolibrichen war schon immer eine gute Seele. Ihre Anwesenheit nimmt mir einen Teil meiner Nervosität. Ganz im Gegensatz zu Roan, dem verantwortlichen Designer. Einem aalglatten Mittfünfziger dessen angebliche Verehrung für Distrikt vier so weit geht, dass er sich Kiemen hat operieren lassen. Zum Glück scheint er sich ausschließlich für Finnick zu interessieren. Ich bemitleide ihn ein wenig, aber vermutlich kommt er ohnehin besser mit dem Mann aus als ich.

Kolibrichen und ich suchen uns einen abgeschiedenen Raum und landen so im Studierzimmer. Es ist lange her, dass ich für einen richtigen Auftritt zurecht gemacht werden musste. Solange ich in Distrikt vier bleibe interessiert sich niemand groß für mein Äußeres. Da ich nicht mit ins Kapitol zu den Spielen fahren habe ich diesen Trubel zuletzt erlebt als wir zu einer Party in Snows Villa eingeladen waren. Die Party führte zu einer Panikattacke und endete schließlich mit mir in einem der Teiche auf seinem Anwesen. Gerüchten zufolge hatte ich in meiner Panik einen wertvollen Koi zerquetscht. Seitdem bin ich von den öffentlichen Veranstaltungen offiziell entschuldigt – wegen meiner instabilen Verfassung. Mir ist es recht.

Zwischen den hohen Bücherregalen lässt Kolibrichen mich Kleid um Kleid anprobieren. Legere Alltagskleider in gedeckten Farben, aufregende Abendkleider besetzt mit Perlen und elegante Cocktailkleider aus edlen Stoffen. Die eleganten Stoffe fühlen sich ungewohnt an und mindestens die Hälfte aller Kleider sagt mir überhaupt nicht zu, zu wenig Stoff, zu aufreizend, zu wenig ich. Jedem Kleid liegt ein Paar hoher Schuhe bei. Erinnerungen an Finnick der in den Glitzerschuhen von Vivette durch das Apartment von Distrikt vier im Trainingscenter stolziert tauchen vor meinem inneren Auge auf. Wie damals muss ich auch jetzt wieder lachen. All die Übung von damals um mich souverän in hohen Schuhen laufen zu lassen scheint verschwendet, da ich bereits bei den ersten Schritten wieder umknicke.

Kolibrichen sieht mich pikiert an.

„Oh du Arme. Du kannst ja überhaupt nicht mehr laufen!“ Das Grinsen kann auch sie sich nicht verkneifen. „Ich fürchte da musst du wieder etwas üben. Finnick war dir ja zum Glück ein guter Lehrer.“ Sie zwinkert mir zu. „Ist ja aber auch kein Wunder wenn man dich jahrelang in Ruhe gelassen hat und jetzt auf einmal wieder ins Rampenlicht bringt.“ Tatsächlich klingt sie ein wenig entrüstet ob der Dreistigkeit des Kapitols mich unvorbereitet mit auf die Siegertour zu nehmen.

„Wenigstens bist du schön wie eh und je“, sagt Kolibrichen herzlich zu mir, wohl in dem Glauben, dass sie mich dadurch aufmuntern kann. „Die Leute werden dich lieben. Mach dir da keine Sorgen!“

„Danke, Kolibrichen.“

Ihrem Namen alle Ehre machend umschwirrt Kolibrichen mich und steckt Änderungen ab. Dabei plappert sie unentwegt darüber wie schockierend Mags Schlaganfall für sie war und dass alle in unserem Team sich große Sorgen gemacht haben. Ich erzähle nur ein wenig davon wie wir Mags helfen sich zu erholen, denn die meiste Zeit lässt sie mich ohnehin nicht zu Wort kommen. Nachdem ich alle Kleider anprobiert habe lässt sie mich noch meine Favoriten auswählen. Ich nehme das Angebot dankend an, denn ich habe wenig Lust in einem schwarzen Samtkleid mit einem Schlitz bis hoch zur Hüfte im Kapitol auftauchen zu müssen. Kolibrichen beklagt zwar, dass ich doch so sexy in dem Kleid ausgesehen habe, doch dann vermerkt sie meine Auswahl.

Zurück im Flur begrüßt uns ein durchdringender Blumengeruch.

„Ah, da sind auch schon deine Blumen angekommen!“, zwitschert Kolibrichen begeistert. Sie dankt einem Avox in roter Dienstkleidung der einen prächtigen Blumenkorb vor sich herträgt.

„Wir dachten uns, dass die Siegestour eine exzellente Gelegenheit ist einmal mehr dein Talent hervorzuheben“, geheimnistuerisch senkt sie die Stimme, „du weißt schon, um das Interesse des Publikums wieder zu entfachen. Man hat dich so lange kaum im Fernsehen gesehen, die Leute werden etwas geboten bekommen wollen. Je mehr Interesse an dir, desto mehr Sponsoren für Distrikt vier.“ Sie lächelt mir verschwörerisch zu.

„Sponsoren?“, platze ich verwirrt heraus.

„Na klar, Sponsoren für die Arena. Wir wollen doch, dass noch mehr Tribute siegreich sind!“

Der Avox stellt den Blumenkorb neben uns auf einem Beistelltisch ab. Zwischen Blumen aus allen Distrikten des Landes stecken auch dieses Mal wieder ein paar sorgfältig ausgewählte weiße Rosen. Nur liegt jetzt auch ein Brief mit dem roten Siegel des Präsidenten in ihrer Mitte. Unwohl schlinge ich meine Arme um den Bauch. Das ist neu. Die Fröhlichkeit auf Kolibrichen Gesicht passt nicht zu der Kälte die in meine Glieder kriecht.

„Was hat das mit mir zu tun?“, frage ich tonlos.

Kolibrichen sieht mich mit einiger Verwirrung an.

„Alles, Liebes“, sie drückt meine Schultern, „das wird dein großer Auftritt als Mentorin sein!“

Ich habe es geahnt. Die Siegestour ist nicht alles. Übelkeit steigt rasant in mir auf. Zitternd presse ich eine Hand auf den Mund. Sie wollen, dass ich Mags endgültig ersetze.

„Oh nein mein Liebes, ist dir nicht gut?“, fragt Kolibrichen besorgt.

So naiv.

„Ich…“, fange ich an, doch ich finde keine Worte, also schüttle ich nur den Kopf.

„Ich weiß, dir steht eine große Aufgabe bevor“, sagt sie beschwichtigend, „aber ich wette Präsident Snow hat dir alles wichtige in seinem Brief erklärt, damit du dich vorbereiten kannst. Und wir sind ja auch alle noch da um dir zur Seite zu stehen.“ Sie tätschelt meine Hand. „Am Besten du liest den Brief gleich.“

Mit spitzen Fingern nehme ich den schweren Pergamentumschlag entgegen den sie mir reicht. Der schwere Geruch von Rosen steigt von ihm auf, unnatürlich und erstickend. Ich breche das Siegel auseinander. In dem Umschlag ist nur eine einzige Seite Briefpapier. Die Worte tanzen vor meinen Augen. Ich muss mich anstrengen um sie lesen zu können.

„Annie?“, höre ich eine fragende Stimme die von weit her zu kommen scheint. „Annie!“

Als ich den Blick von dem Brief hebe treffen meine Augen Pon, der neben dem Blumenkorb steht. Er trägt einen feinen mitternachtsblauen Anzug, eine einzige weiße Rose in seinem Knopfloch. Sein blonder Lockenschopf strahlt im Licht der Lampen wie ein Heiligenschein.

„Pon!“, bricht es erstaunt aus mir hervor. Ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus.

„Gut siehst du aus.“

Nur wage fühle ich, dass mir der Brief den ich eben gelesen habe aus den Fingern gleitet und zu Boden fällt. Ich kann mich nicht erinnern von wem er ist und was drinnen steht, doch das scheint in diesem Moment auch nicht weiter wichtig. Nicht, wenn Pon mich so frech angrinst. Mit ausgebreiteten Armen dreht er sich einmal um sich selbst um mir sein Outfit zu präsentieren.

„Richtig erwachsen“, sage ich anerkennend. Und tatsächlich kommt er mir älter vor – aber natürlich ist er das. Es ist schließlich die Siegestour. Was denke ich nur?

„Cece sagt ich bringe alle Herzen zum Schmelzen“, entgegnet er fröhlich.

Lachend wuschle ich ihm durch die Locken.

„Da bin ich mir sicher, unser Team hast du ja bereits um den kleinen Finger gewickelt.“

Einen Moment betrachtet er den gewaltigen Korb mit Blumen neben uns, dann wirft er mir einen schalkhaften Blick zu.

„Weißt du was wir tun sollten, jetzt wo wir fertig sind mit der Anprobe?“

Verwundert schüttle ich den Kopf.

„Wir sollten uns an den Hafen schleichen um unsere Familien zu besuchen. Ihre Schiffe sind bestimmt schon eingelaufen. Mal sehen was meine Eltern zu meinem neuen Anzug sagen.“

Lachend greift er nach meiner Hand und zieht mich mit sich. Seine Hand in meiner ist klein und warm. Und so zerbrechlich. Ich fühle einen Stich in meinem Herzen, doch der Schmerz geht vorüber als wir nach draußen, in die strahlende Herbstsonne, treten.

„Die Sonne scheint“, flüstere ich zu mir selbst, ohne zu wissen warum ich so verwundert bin. Mir ist als müsste es eigentlich regnen.

„Wirklich gutes Wetter zum Fischen!“, ruft Pon als hätte er mich gehört.

Wir laufen über die hell gepflasterten Straßen in Richtung Meer. Schon aus der Ferne höre ich das Rauschen der ungestümen Herbstwellen. Freude erfasst mich. Ich möchte unbedingt meinem Vater mein neues Kleid zeigen. Es ist von einem zarten hellblau, ein wunderbarer Kontrast zu Pons dunklem Anzug. Glitzernd fängt der Stoff das Sonnenlicht ein. Bestimmt wird es meiner Familie gefallen.

Im Hafen sind bereits viele Fischer zurück von ihrer Tour. Wir werden von allen Seiten freudig begrüßt. Pon lächelt und winkt nach links und rechts, ganz wie ein Profi. Aber er hat ja auch von den Besten gelernt. Zielstrebig läuft er zu dem Liegeplatz mit dem kleinen Bootshaus meiner Familie. Tatsächlich liegt die Peppersheep schon vor Anker. Ihr frisch lackierter roter Rumpf glänzt in der Sonne. Ich kann meinen Vater sehen der gerade das Segel einholt.

„Hallo Mr. Cresta!“, ruft Pon ihm zu.

Er winkt herab zu uns, doch der Wind trägt die Worte von seinen Lippen fort ehe sie uns erreichen können. Ich winke ihm zurück und drehe mich dann extra für ihn einmal um mich selbst um ihm das neue Kleid in aller Pracht zu präsentieren. Wie eine Welle im Sonnenlicht bauscht sich der Stoff um mich auf. Anerkennendes Pfeifen und Klatschen ertönt vom Hafen her. Die Siegestour wird ein großes Ereignis, das kann ich spüren. Jeder wird zum großen Auftakt vor dem Rathaus kommen wollen.

Vorsichtig lässt Pon meine Hand los.

„Ich muss weiter, meine Familie suchen.“ Er zieht mich in eine Abschiedsumarmung. Der Schmerz in meiner Brust kommt zurück und ich drücke ihn fester an mich.

„Versprich mir, dass du mich nicht alleine lässt“, flüstere ich in einem Anfall von Furcht. Er fühlt sich so klein an in meinen Armen. Zerbrechlich.

„Ich bin für immer bei dir“, antwortet er leise.

Als er den Steg zurück zum Hafen geht fühle ich wie der Wind auffrischt. Dunkle Wolken treiben über den Himmel. Pons Gestalt verliert sich in der Ferne und mit ihm verschwindet auch der letzte Rest Wärme. Er ist immer bei mir, doch nur in Gedanken. Selbst wenn er wollte könnte er mich nicht verlassen denn es sind allein meine Erinnerungen die ihn am Leben erhalten. Oder wie Finnick sagen würde: Dies ist nicht die Wirklichkeit.

Alleine stehe ich auf dem regennassen Steg vor den Bootshäusern. Das Einzige was aus meiner Wahnvorstellung real ist, ist das heruntergekommene Fischerboot neben mir. Wind und Wasser haben sichtlich an der Peppersheep genagt, doch sie liegt nach wie vor an ihrem Platz neben dem windschiefen Bootshaus. Ich habe das Schiff nicht mehr wiedergesehen seit ich einst zu der Ernte für die 70. Hungerspiele aufgebrochen bin. Bis auf die Spuren der Zeit sieht es immer noch so aus wie in meiner Erinnerung. Meine Füße führen mich die schmale Holzplanke hinauf auf das Deck. Das blanke Holz knarrt unter meinen Schritten. Geistesabwesend lasse ich die Hand über die Reling gleiten. Es war nie viel, doch immerhin war das Schiff unser. Mein Vater und meine Mutter hatten sich das Schiff hart erarbeitet. Eines Tages hätten mein Bruder und ich es erben sollen. Ich weiß nicht wem ich dafür danken kann, dass die Peppersheep noch immer an ihrem alten Platz liegt. Wer hat den Platz in all den Jahren bezahlt? Zu meiner Scham habe ich das Schiff völlig vergessen, genauso wie ich fast meine Familie verdrängt hätte.

Ich setze mich auf meinen alten Lieblingsplatz, gleich vorne am Bug. Meine Familie ist vielleicht nicht mehr da, doch hier fühle ich ihr Andenken so stark wie nie zuvor. Das Gesicht dem Himmel zugewandt strömen die Worte und Gedanken auf einmal aus mir heraus.

„Papa, was soll ich nur tun? Sie wollen – Präsident Snow will, dass ich zurück zu den Spielen gehe, als Mentorin. Ich soll Kindern beim Sterben helfen!“

Ich weiß nicht ob es Tränen oder doch nur der Regen ist der meine Wangen herab läuft.

„Ich kann das nicht, Papa. Ich habe doch kaum meine eigenen Spiele überlebt! Manchmal… manchmal stehe ich morgens auf und weiß kaum noch wer ich bin. Es gibt Tage… da wünschte ich mir ich wäre bei euch. Tot. Denn das Leben hier, das ist manchmal schlimmer als der Tod. Was soll ich nur tun, Papa?“

Ganz klein rolle ich mich zusammen, die Arme um die Knie geschlungen. Das Boot hebt sich leicht im Wellengang, ein beruhigendes Gefühl in einer Welt voller Chaos. Ich vermisse meine Familie so sehr, dass es schmerzt. Fast ist mir als könnte jeden Moment mein Vater eine warme Decke um meine Schultern legen und fragen „Welchen Träumen hängst du diesmal hinterher?“, wie er es so oft tat wenn ich bis spät abends am Bug saß.

„Ich träume nur noch von Freiheit“, flüstere ich in den Wind hinein. Und trotzdem weiß ich, dass Snow seinen Willen bekommen wird. In das Gefühl von Hilflosigkeit mischt sich ein kleiner Funke Zorn. Mags Schicksal ist dem Kapitol völlig gleichgültig. Für sie ist es nur eine aufregende Chance mich weiter zu quälen. Was haben sie sonst davon mich in zurück in die Öffentlichkeit zu zerren? Die Spiele haben mir doch schon alles genommen. Aber dann muss ich an Finnick denken. Auch wenn Snow es eventuell nicht weiß, doch solange er die Macht über mich hat, hat er auch Finnick in der Hand. Er könnte es aber schon längst wissen, zischt eine Stimme des Zweifels in mir. Das könnte seine Rache sein, weil du ihn dem Kapitol weggenommen hast. Vielleicht geht es gar nicht um mich, sondern um Finnick. Nur weiß ich nicht warum Finnick diese Rache verdient hätte. Er ist der Liebling des Kapitols. Was könnte er getan haben, dass Snow uns dies antut?

Nein, das bilde ich mir ein. Snow braucht keinen Grund um ein schrecklicher Sadist zu sein, das hat er schon in der Vergangenheit bewiesen. Vermutlich ist es ihm auch egal wie sehr es mich quält, Hauptsache er bekommt eine gute Show zu den Hungerspielen. Meine Gedanken beginnen sich im Kreis zu drehen, doch ich kann mich der Spirale nicht entziehen. Ich sitze da, den Blick unverwandt auf das graue Meer gerichtet und lasse mich in den Gedanken an Vergangenes und nie gewordenes ertrinken. Ob nur ein paar Minuten oder Stunden vergehen kann ich nicht sagen. Alles was zählt ist, dass ich meiner Familie nahe bin. Der Himmel ist immer noch undurchdringlich grau als die Planken hinter mir knarren. Müde hebe ich den Kopf, in der Erwartung Finnick oder einen der Mentoren zu sehen. Doch auf dem Deck steht eine zierliche blonde Frau. Zumindest glaube ich das, denn sie ist so dick in wärmende Wollkleidung und die typischen Wachshosen eines Fischers gekleidet, dass ich sie kaum erkennen kann. Unter einer dicken Mütze gucken jedenfalls blonde Locken und ein bleiches Gesicht hervor.

„Annie?“, fragt sie zaghaft, jedoch ohne näher zu kommen. „Bist du es wirklich?“

Ihre grauen Augen sind weit aufgerissen. Verwirrt mustere ich sie. Woher kennt sie mich? Im gleichen Atemzug erinnere ich mich – natürlich kennt man mich. Ich bin schließlich die berühmteste Verrückte in ganz Distrikt vier. Als Antwort zucke ich nur mit den Schultern. Ich habe keine große Lust mit einer Fremden zu reden. Zu meiner Überraschung lächelt die Frau jedoch nur und kommt ein paar Schritte näher.

„Ich wusste doch, dass du eines Tages wieder her kommen würdest!“

Ein begeistertes Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht und plötzlich sehe ich ein jüngeres Mädchen vor mir, die mich anlächelt, mir erzählt, dass sie in der Schule ein Fest geben werden wenn ich die Hungerspiele gewinne.

„Survy…“, rufe ich überrascht aus.

Fast hätte ich sie nicht wiedererkannt, doch jetzt sehe ich eindeutig die Spuren des fröhlichen Mädchens mit dem ich zur Schule gegangen bin in dem müden, dreckigen Gesicht der Fischerin. Offensichtlich bin ich nicht die Einzige die sich verändert hat.

„Oh Annie, es ist so lange her.“ Traurig lächelt sie mich an.

Ich will erst aufspringen und zu ihr laufen, doch dann bringe ich es nicht über mich. Stattdessen frage ich platt:

„Was machst du hier?“

Etwas verlegen kratzt sie sich am Hinterkopf.

„Nun, ich sehe hier ab und an nach dem Rechten. Mags hat mir das Geld gegeben um den Unterhalt für das Schiff weiter zu bezahlen und… ja ich hab ab und an mal geguckt ob alles noch in Ordnung ist. Falls du wiederkommen solltest.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Und jetzt bist du ja tatsächlich zurück gekommen.“

„Das hast du für mich getan?“, frage ich verblüfft. „W-warum?“

Betreten blickt Survy auf ihre Fußspitzen.

„Na weil ich dir irgendwie helfen wollte. Wegen der ganzen Sache mit den Spielen und deiner Familie… ich dachte du würdest gerne ein Andenken an sie behalten. Davids Familie wollte mit der Sache nichts mehr zu tun haben.“ Vorsichtig blickt sie mich an. „Aber das fand ich falsch. Das Schiff war euer Leben, also hab ich drauf aufgepasst.“

Ich finde keine Worte die ausdrücken könnten was ich gerade empfinde. Während ich das Schiff völlig vergessen habe hat Survy anscheinend jahrelang auf es aufgepasst. Für mich. Anscheinend sehe ich wirklich geschockt aus, denn Survy hebt hastig die Arme und sagt abwehrend:

„Es tut mir leid! Ich wollte nicht… ich dachte nur es könnte helfen.“

Immer noch sprachlos stehe ich einfach auf und schließe sie fest in die Arme. Es ist lange her, dass ich jemand anderen als Finnick oder Isla umarmt habe. Selbst Mags habe ich nicht oft umarmt. Doch in diesem Moment fühlt es sich richtig an. Kurz zögert Survy, dann schließt auch sie ihre Arme um mich. Fast augenblicklich fangen wir beide an zu schluchzen.

„Danke“, flüstere ich leise.

Keine von uns

Distrikt zwölf muss einer der traurigsten Orte auf Erden sein. Das ist der erste Gedanke der Finnick in den Kopf kommt, als das Team aus Distrikt vier den Zug für den ersten Stop auf der Siegestour verlässt. Ärmliche kleine Häuser drängen sich um den Festplatz, grau vom Kohlenstaub – genauso grau wie der Himmel an diesem eisigen Wintertag. Die Luft riecht und schmeckt seltsam verbrannt. Natürlich ist es erst drei Jahre her, dass er zuletzt hier war, doch ganz offensichtlich ist es dem Distrikt in der Zwischenzeit nicht besser ergangen. Eilig werden sie von dem Bürgermeister in das Rathaus gescheucht, während draußen auf dem Platz die letzten Vorbereitungen stattfinden. In der großen Eingangshalle ist es bitterkalt, obwohl ein Kohleofen in der Ecke hell erleuchtet ist. Frierend ziehen sie ihre dicken Wolljacken enger um sich. Ein blondes Mädchen, offensichtlich die Tochter des Bürgermeisters, begrüßt sie mit einem kleinen Silbertablett auf dem kleine Törtchen angerichtet sind. In diesem Distrikt müssen sie ein Vermögen wert sein, denkt Finnick. Dem Rest seines Teams scheint der Appetit vergangen zu sein. Selbst Riven, die sich sonst so selbstbewusst gibt, ist nun sichtlich bleich um die Nase. Was wenig verwunderlich ist, war es doch ein von ihr geworfener Speer der das Leben von dem Mädchen aus Distrikt zwölf beendet hat, gleich beim Blutbad in den ersten chaotischen Minuten. Doch Finnick will die Gastfreundschaft nicht enttäuschen und so greift er sich ein Himbeertörtchen. Es ist angenehm fluffig und süß, doch es hinterlässt einen sauren Nachgeschmack, als er daran denken muss, dass sie sich gleich im ersten Distrikt den anklagenden Augen derer aussetzen müssen deren Tochter durch die Hände ihres Schützlings gestorben ist. Er würde gerne behaupten, dass er irgendwie auf diese Begegnung vorbereitet ist, doch das wäre eine Lüge. Bisher hat es in seiner Karriere als Mentor vor Riven nur Annie gegeben die siegreich gewesen ist und bei ihrer Siegestour war alles anders. Sie hat nur einen Tribut getötet und selbst das nur in absoluter Notwehr. Vielleicht zwei, wenn man eine Verkettung unglücklicher Umstände in Shines Fall dazu zählt. Doch da sie ohnehin von Schuldgefühlen geplagt in jedem Distrikt einen Nervenzusammenbruch erlitt, bis man sie so stark unter Medikamente setzte, dass sie kaum noch Herrin ihrer Sinne war, war es für die Menschen in den Distrikten schwer sie zu hassen. Riven hingegen… hat ihrem Ruf als Karriero alle Ehre gemacht. Und dann sind da noch die Mentoren derer die gestorben sind. Im Falle von Distrikt zwölf immerhin nur einer und Haymitch Abernathy ist obendrein ein alter Säufer, das hat er erst beim Finale der Hungerspiele unter Beweis gestellt als er besoffen umfiel. Trotz all seiner Sorgen zwingt Finnick sich der Bürgermeistertochter ein ehrliches Lächeln zu schenken. Sie kann schließlich nichts dafür. Doch auch sie scheint nicht in guter Stimmung zu sein und verschwindet hastig wieder.

Lange müssen die Mentoren jedoch nicht in der kalten Halle ausharren, ehe sie von Friedenswächtern hinaus auf die Bühne vor dem Rathaus geführt werden, zunächst die Stylisten, dann Cece und schließlich die Mentoren selbst. Ganz alleine folgt Riven, den Kopf mit der Krone obenauf hat sie hoch erhoben, doch ihre leicht zitternden Lippen verraten sie. Immer zu zweit betreten die Mentoren die Bühne, sodass Finnick es schafft neben Annie herzugehen. Sie hat sich tief in ihre dunkelblaue Jacke vergraben, den Kragen bis zum Kinn hochgezogen.

„Alles in Ordnung?“, flüstert er ihr leise zu.

Sie blickt ihn kaum an, sondern zuckt nur unmerklich mit den Schultern. Ihr Blick ist leicht verschleiert in die Ferne gerichtet und er ahnt, dass sie wieder zu Morfix gegriffen hat um die Gefühle zu betäuben. Vielleicht hat auch Cece ihre Finger im Spiel, ganz nach dem Motto lieber eine betäubte Annie als eine schreiende. Wie gerne würde er ihr noch etwas sagen, doch jetzt treten sie bereits hinaus auf die einfache Bühne und vor das Volk von Distrikt zwölf. Nur kurz wagt er es ihre Hand zu berühren, sodass es nur aussieht als hätte er sie nur aus Versehen berührt. Nicht, dass die breite Masse aus Distrikt zwölf dem viel Beachtung schenken dürfte. Ausgemergelt sind die Gesichter die zu ihnen empor blicken. Die Sorgen des Überlebens haben sie gezeichnet. Während das Grüppchen aus Distrikt vier in feinen, wärmenden Kleidern vor die Menschen tritt, die teils nicht mehr als zerlumpte Stofffetzen am Leib tragen, kriecht das altbekannte Gefühl von Selbsthass wieder in Finnick herauf. Wie sehr müssen die Menschen sie hassen. Trotzdem ertappt er sich dabei, dass das Kameralächeln sich auf sein Gesicht schleicht. Immer wieder dasselbe Spiel.

Die folgende Show ist unangenehm, doch die Teilnahmslosigkeit eines Großteils der Zuschauer erspart ihnen wenigstens das Schlimmste. Finnick erinnert sich dunkel, dass es auch bei seiner Siegertour nicht anders war. Schmutzige, gleichgültige Gesichter, die einfach nur wollen, dass dieser Tag endet. Annie an seiner Seite hat denselben Ausdruck im Gesicht. Ihm fällt auch auf, dass Haymitch Abernathy mal wieder mit Abwesenheit glänzt. Vermutlich noch betrunken. Niemand verliert ein Wort darüber und so fangen sie einfach ohne ihn an.

Die Höhepunkte aus Rivens Spielen werden in einem dramatischen Zusammenschnitt noch einmal gezeigt. An den vorgegebenen Stellen klatscht das Publikum nur müde. Doch Riven trägt jetzt ein glückliches Lächeln zur Schau als sie sich selber auf der Leinwand noch einmal siegen sieht. Es scheint als wenn das pompöse Drumherum ihre Nervosität weggewischt hat. Sie scheint nicht einmal zu bemerken, dass ihr Applaus gezwungen ist, und verbeugt sich noch immer strahlend für die Menge. Aus der Ecke der Familien der verstorbenen Tribute dringt nur hin und wieder ein unterdrücktes Schluchzen als Riven im Anschluss ihre vorbereitete Dankesrede verließt. Doch die Familien halten ihren Blick gesenkt anstatt Riven anklagend anzusehen. Da es keine Begegnungen zwischen Riven und den Tributen aus zwölf gab – wenn man einmal von dem Speer, der das Leben des Mädchens nahm, absieht – werden auch kaum Aufnahmen der beiden Tribute dazu aus den Spielen gezeigt. Darüber sind nicht nur die Menschen aus zwölf sichtlich erleichtert. Es werden noch ein paar Geschenke, allesamt eher einfach gehalten, ausgetauscht und Riven wird noch einmal höflich, aber nüchtern, applaudiert. Ehe sie sich versehen werden sie zurück ins Rathaus geleitet wo alsbald der Empfang mit den Würdenträgern des Distrikts ansteht. Erst als sie die Bühne verlassen registriert Finnick, dass Riven keine persönlichen Worte an die Familien gerichtet hat. Keine Worte für den Tod eines dreizehnjährigen Mädchens durch ihre Hand, nur die nichtssagende Rede die Cece für sie vorbereitet hat.

Zeit um durchzuatmen bleibt ihnen nicht. Bevor das Bankett am frühen Abend stattfindet werden sie von dem Bürgermeister und seiner Familie durch den Distrikt geführt. Also schauen sie sich nur wenig interessiert das kleine Stadtzentrum mit seinen wenigen vorzeigbaren Geschäften an. Riven erscheint stark gelangweilt von der verschneiten Tristesse. Ihr Hochgefühl vom Applaus scheint bereits wieder verflogen. Die meiste Zeit unterhält sie sich mit Cece und ihrem Vorbereitungsteam, deren Mienen nach Distrikt zwölf nicht einmal einen Blick wert ist. Viel mehr als die arme Stadt gibt es ohnehin nicht zu sehen. In den wirklich ärmlichen Teil führt man sie natürlich nicht, ebenso wie ihnen ein Abstecher in die Mienen glücklicherweise erspart bleibt. So tief unter der Erde festzusitzen würde Finnick nicht gefallen. Er kann nicht umhin die Menschen in Distrikt zwölf zu bemitleiden. Die Waisenkinder die hier um die Mülltonnen schleichen sind noch viel magerer als in Distrikt vier. Selber die längste Zeit als Waisenkind aufgewachsen kennt er ihre Pein, doch für sie muss er wie ein Mensch aus einer anderen Welt wirken. Und gewissermaßen ist er das jetzt auch. Für sie müssen die Hungerspiele noch grausamer wirken, wo sie doch kaum die Kraft haben sich ihnen entgegen zu setzen. Wenn das überhaupt noch möglich ist, so wirkt die Macht des Kapitols hier noch bedrohlicher als in den besser gestellten Distrikten. Ihre größte Stärke ist ihr Durchhaltevermögen angesichts der Widrigkeiten die sie ertragen müssen. Distrikt zwölf ist nicht aus Siegern gemacht, sondern aus Überlebenden.

Bei ihrer Rückkehr in das Rathaus werden sie in den festlich geschmückten Festsaal geführt wo bereits alle wichtigen Persönlichkeiten des Distrikts versammelt sind. Es sind also kaum mehr als zwanzig Personen anwesend. Unter den Gästen erkennt Finnick auch ein paar Ladenbesitzer wieder. Ohne diese wären wenig Plätze an der reichlich gefüllten Festtafel besetzt. Und noch ein Ehrengast lässt sich blicken, denn Haymitch Abernathy steht in der Ecke, ein Sektglas in der Faust. Offensichtlich hat die Betreuerin von Distrikt zwölf, die jetzt mit saurem Blick neben ihm steht, es geschafft ihn in einem halbwegs präsentablem Zustand her zu schaffen. Zumindest sind seine Haare gekämmt und einem feinen Schnitt auf seiner Wange nach zu urteilen ist die Rasur noch frisch. Die Frage ob er betrunken ist erledigt sich als er, leicht lallend, ausruft:

„Ah sie einer an, da ist ja unsere strahlende Siegerin und ihr berühmtes kleines Team!“

Trotz seines Alkoholpegel trifft er den typischen Kapitolakzent erschreckend gut. Er schwenkt sein Sektglas als wolle er ihnen zu prosten, verschüttet dabei jedoch nur etwas über seine pink-haarige Begleiterin. Mit zusammen gekniffenen Lippen entwendet diese ihm das Sektglas und schimpft mit unterdrückter Stimme auf ihn ein. Es sieht allerdings nicht so aus als würde er ihr wirklich zuhören. Amber zieht eine Augenbraue hoch.

„Wie ich sehe sind du und Trinket immer noch ein gutes Team, Abernathy! Wann können wir mit eurer Vermählung rechnen?“, witzelt sie.

Mit hochrotem Kopf tupft Effie Trinket die Sektflecken auf ihrem bunten Kostüm trocken. Haymitch grinst frech zurück.

„Und du bist frech wie eh und je“, bringt er halbwegs gerade heraus.

Alle anderen im Raum scheinen sich mit jeder Minute mehr unwohl zu fühlen. Keiner scheint an Haymitchs Kapriolen gewöhnt zu sein, außer Effie Trinket, die ihre gesamte bisherige Karriere mit Distrikt zwölf verbracht hat. Aber selbst seinen eigenen Leuten scheint er peinlich zu sein. Riven wirkt ebenso bestürzt über den alkoholisierten Mentor wie einige der geladenen Gäste. In einem Versuch die Situation zu retten wendet Finnick sich an den Bürgermeister und schenkt ihm ein gewinnendes Lächeln.

„Nun, Mr. Undersee, wir danken Ihnen recht herzlich für den freundlichen Empfang heute. Es war uns eine Ehre in Distrikt zwölf zu Gast sein zu dürfen“, bei diesen Worten wirft er Riven einen bedeutungsvollen Blick zu und diese wendet endlich den Blick von Haymitch ab um artig zu nicken, „und ich denke ich spreche für alle von uns wenn ich sage, dass wir mehr als gespannt sind auf die köstlichen Leckereien die ihr Distrikt für uns zu bieten hat.“

„Ah ja, natürlich, es ist uns eine Ehre sie hier haben zu dürfen“, stammelt der Bürgermeister fahrig. Haymitchs Gebaren scheint ihn irritiert zu haben. „Nun, lassen Sie mich Ihnen unsere Gäste vorstellen“, fährt er fort.

Riven schüttelt artig Hände und nimmt von allen Seiten noch einmal persönliche Glückwünsche entgegen. Effie Trinket muss Haymitch zwar fast schon zwingen, aber auch er gratuliert Riven schließlich distanziert zu ihrem Sieg. Es ist deutlich zu spüren, dass er ihr nicht wirklich gratulieren mag. Doch Trinket überspielt die Situation gekonnt in dem sie Riven im Namen von Distrikt zwölf mit einer wahren Kaskade an nichtssagenden Lobpreisungen überschüttet. Als sie sich endlich zum Essen niederlassen ist es auch wieder sie die mit gezwungener Stimme versucht eine Konversation mit den wenigen Kaufleuten aus dem Distrikt anzustoßen. Diesen scheint es allerdings die Sprache verschlagen zu haben. Was aber auch daran liegen mag, dass sie sich lieber nicht weiter über die Hungerspiele unterhalten wollen. Nur Riven springt freudig darauf an und schwärmt gemeinsam mit Effie Trinket und ihrem Vorbereitungsteam über die Outfits bei der Parade oder den Interviews. Immerhin schmeckt das Essen vorzüglich. Ihnen werden cremige Eintöpfe aufgetischt mit zartem Wildfleisch, frisches Gemüse mit zerlassener Butter und knusprige Brotscheiben. Dazu wird unter anderem auch ein gewürzter roter Wein serviert, den Haymitch Becherweise kippt. Immerhin hält das ihn davon ab weitere unpassende Kommentare abzugeben. Effie Trinket schürzt zwar hin und wieder die Lippen wenn er sich nachschenken lässt, hält ihn jedoch auch nicht ab.

Es werden gerade Bohnen im Speckmantel aufgetischt als Riven beiläufig sagt:

„Oh das ist so wundervoll, das könnte ich ab jetzt jedes Jahr wieder machen. Ich wünschte ich könnte nächstes Jahr noch eine Siegestour haben!“

Die Leute aus dem Kapitol lachen alle, doch Haymitch der gerade seinen Becher zum Mund führen will hält in der Bewegung inne.

„Sei vorsichtig mit deinen Wünschen, Süße, manche von ihnen könnten wahr werden und dann sitzt du hier eines Tages wieder, als Mentorin.“ Trotz der Menge an Alkohol die er konsumiert hat nuschelt er nur leicht.

Schnaubend lacht Riven kurz auf.

„Wünscht sich nicht jeder diese Ehre? Außer Annie vielleicht…“ Sie wirft einen spitzen Blick in Richtung Annie, die teilnahmslos das Essen auf ihrem Teller hin und her schiebt.

Finnick ist sich nicht sicher ob sie überhaupt der Unterhaltung folgt. Haymitch lässt den Becher sinken. Er blickt sie alle der Reihe nach an, als würde er sie erst jetzt zum ersten Mal richtig wahrnehmen.

„Da fällt mir ein, wo habt ihr eigentlich Mags gelassen?“

Er starrt Finnick aus blutunterlaufenen Augen an.

„Unsere liebe Mags hatte leider einen Schlaganfall“, schaltet Floogs sich ein, „es geht ihr soweit gut, aber sie hat noch einen langen Weg vor sich bis sie wieder auf die Beine kommt. Deswegen muss bis dahin unsere freie Stelle, ah, anderweitig besetzt werden.“

„Hm“, brummt Haymitch und blickt kurz zu Annie die mit leerem Blick auf ihren Teller starrt, anscheinend entschlossen nichts zu sagen. „Ich hoffe für sie, dass sie es schafft.“ Dann wendet er sich wieder Riven zu. „Vielleicht ist Annie schlauer als du. Erwarte bloß nicht zu viele Siegestouren“, sagt er. In einem Zug stürzt er seinen Becher Wein hinunter. „Du kannst ja mal überlegen wie viele Siegestouren deine Mentoren so erlebt haben.“ Er winkt eine Dienerin heran um seinen Becher füllen zu lassen.

Riven richtet sich kerzengerade in ihrem Stuhl auf. Amber lässt ein kleines Seufzen hören.

„Nun, immerhin bin ich aus Distrikt vier, wo wir unsere Tribute nicht gleich nach der Ernte aufgeben“, schießt Riven zurück.

Schweigen senkt sich über die Tafel. War es vorher schon still scheint die Stille nun zu dröhnen. Selbst Effie Trinket ist erstarrt und hält ausnahmsweise einmal den Mund. Haymitch lehnt sich in seinem Stuhl zurück, doch in seinem Gesicht zeichnen sich die Gefühle die gerade in ihm kämpfen müssen ab. Er schwankt zwischen Wut und Trauer, doch dann entscheidet er sich für Spott.

„Na dann steht deiner großartigen Karriere ja nichts mehr im Weg. Ich werde sie aus der Ferne verfolgen, wenn deine Schützlinge meine Tribute ermorden. Damit hast du ja schon Erfahrung.“

Er leert einen weiteren Becher und knallt diesen dann zurück auf den Tisch. Die Bitterkeit in seiner Stimme ist überdeutlich. Vermutlich lässt sich der Tod so vieler hilfloser Kinder leichter ertragen wenn man dementsprechend viel trinkt. Betreten blicken alle anderen auf ihre Teller, vor allem die Gäste aus Distrikt zwölf. Amber starrt Riven mit zusammengezogenen Augenbrauen an, ehe sie einen langen Blick mit Finnick wechselt. Er sucht noch nach Worten um die Situation zu entspannen, als Riven Haymitch entgegen wirft:

„Es sind die Hungerspiele. Ich habe getan was ich tun musste“, sie schaut sich herausfordernd am Tisch um als ob ihr jemand widersprechen wolle, „und ich würde es wieder tun!“ Sie knüllt ihre Serviette in der Faust und lässt sie auf den Teller fallen.

Effie Trinket hat eine Hand beschwichtigend auf Haymitchs Arm gelegt, aber er schüttelt ohnehin nur ermattet den Kopf, nicht bereit mehr zu sagen.

Nach diesem Gespräch bleibt die Stimmung am Tisch unterkühlt. Den Nachtisch verzehren sie schweigend und dann ist es auch schon wieder Zeit zum Zug zurück zu kehren. Der Bürgermeister sieht aus als könne er es gar nicht erwarten sie endlich loszuwerden, aber das beruht auf Gegenseitigkeit. Auch Finnick kann es gar nicht erwarten endlich viele Meilen zwischen sich und Distrikt zwölf zu bringen. Er bereut nicht einmal mehr, dass er keine Gelegenheit mehr hatte Haymitch zu sprechen. Es ist klar, dass sich längst genug Wut für eine Rebellion in ihm angestaut hat, doch der Alkohol macht ihn unberechenbar. Was wenn ihm vor lauter Wut etwas über die Rebellion raus rutschen würde? Nein, er beschließt schweren Herzens, dass sie Haymitch Abernathy nicht genug vertrauen können.

 

Ohne ein Geräusch gleitet der Zug wenige Tage später in die herannahende Nacht. Irgendwo am Ende der Strecke liegt Distrikt zwei, welchen sie planmäßig am nächsten Morgen erreichen sollen. Noch fahren sie durch die Ödnis irgendwo im Niemandsland zwischen den Distrikten. Ruinen längst vergangener Städte ragen dunkel am Horizont auf. Es kommt Finnick so vor als seien die letzten Tage wie im Flug vergangen. Nur noch zwei Distrikte und schon wird die Siegestour ihren Abschluss in einem rauschenden Fest im Kapitol finden. Jeder Tag der Tour ist so vollgepackt gewesen mit Programm, dass er kaum Zeit hatte sich um die Abschlussfeier im Präsidentenpalast Sorgen zu machen. Nur die ruhigen Abendstunden im Zug, so wie jetzt, lassen Raum für Gedanken und damit Sorgen.

Seit Distrikt zwölf ist die Tour nach Plan gelaufen. Riven hielt ihre vorbereitete Standardrede und fügte nur dort etwas ein wo sie mit dem Tribut verbündet gewesen ist. Als klassischer Karriero sind Distrikt eins und zwei ihre Verbündeten gewesen, die einzige Ausnahme bildete eine talentierte Schützin aus Distrikt acht. Für diese fügte sie einige sorgsam ausgesuchte Worte an, mit denen sie ihren Mut lobte und sich für ihren Einsatz in der Arena bedankte, aber den ausdruckslosen Gesichtern ihrer Eltern nach ist das nur ein schwacher Trost. Anschließend noch das Festessen – dann sind sie auch schon wieder weg. Er kann nicht anders als die kurze Zeit in manch einem Distrikt zu bedauern. Bei den Feiern blieb jedes Mal kaum genug Zeit um mit den anderen Siegern ausführlich zu reden. Insbesondere Johanna war bei dem Fest in Distrikt sieben eher verschlossen gewesen. Aus Erfahrung weiß Finnick, dass sie die Siegestour verabscheut. Dann zwingen ihre Stylisten sie wieder in verhasste Kleider und bestimmen sie dazu gute Manieren an den Tag zu legen. Zumindest versuchen sie es. Johanna ließ sich noch nie gerne Vorschriften machen. Da das Kapitol jede einzelne Minute der Festlichkeiten zugegen war, war es ausgeschlossen über die geheimen Pläne der Untergrundbewegung zu sprechen. Mehr als ein oberflächliches Gespräch, als Riven eine Führung durch die Wälder des Distrikts bekam, war nicht möglich gewesen. Zumindest konnte Finnick dem entnehmen, dass es Distrikt sieben auch nicht schlechter erging als in der Vergangenheit. Ebenso war es in Distrikt drei ergangen. Zumindest hat er die anderen über Mags Gesundheitszustand in Kenntnis setzen können.

In Distrikt elf hingegen war die Stimmung spürbar angespannt gewesen. Ausgemergelte Gesichter mit hohlen Augen hatten von überall her auf Riven gestarrt die ihre Rede hielt, ihr Ärger über diese Scharade sichtlich unter der Oberfläche brodelnd. Selbst Annie, die nichts von den Geschehnissen in Distrikt elf wusste schien die angespannte Atmosphäre bemerkt zu haben. Da Riven keinen der Tribute näher gekannt hatte war es zumindest keine besonders emotionale Feier gewesen. Den Mienen Einiger in Distrikt elf nach ist das aber nur ein weiterer Tropfen auf den heißen Stein. Finnick kann es ihnen nicht verübeln.

Gedankenversunken schweift sein Blick über den letzten Streifen Abendrot am Himmel. Morgen also Distrikt zwei. Damit auch der erste Distrikt in dem ihre Ankunft wirklich gefeiert werden wird. Selbst wenn ihre Tribute tot sind werden sie die Siegerin gebührend feiern wollen, zumal sie Teil der Karrieros war. Nach der bedrückenden Atmosphäre in den anderen Distrikten werden die letzten zwei Distrikte immerhin eine Erleichterung bedeuten. Himmel weiß, er hat etwas Entspannung nötig.

Nicht nur, dass die Unruhe im Land ihn beschäftigt, auch die Sorge um Annie hält ihn fest im Griff. Er hat sie, naiv wie er war, wirklich sicher geglaubt vor dem Einfluss des Kapitols. Doch eine Nachricht von Präsident Snow reicht aus und schon wird Annie zurück in das Rampenlicht gezerrt. Mentorin. Irgendwie, und er weiß noch nicht wie, muss er verhindern, dass dies wahr wird. In seinen Fingern dreht er das Stück schweren Briefpapiers, das mit Annies Blumenlieferung direkt von Snow gekommen war. Obwohl der Brief schon Wochen alt ist riecht er immer noch schwach nach Rosen. Seit Annie von der Anprobe fortgelaufen ist trägt er den Brief bei sich, immer noch unschlüssig was er tun soll. Er hat ihn so oft gelesen, dass er den Inhalt auswendig kennt.

 

Sehr geehrte Miss Cresta,

 

ich hoffe Sie befinden sich wohlauf. Ihre Fürsorge für Ihre Mentorin, Miss Flanagan, rührt mich sehr. Es ist unschwer zu sehen, dass Sie in Distrikt vier eine zweite Familie bei Ihren Mentoren gefunden haben, die Ihnen viel bedeutet. Sicherlich werden Sie also verstehen, dass wir Miss Flanagan in ihrem Gesundheitszustand keinesfalls länger die Bürde ihrer Aufgaben als Mentorin auferlegen werden. Damit die Spiele weiterhin ein Erfolg sind werden Sie also auch verstehen, dass jemand anderes ihre Position einnehmen wird.

Es freut mich daher Ihnen zu Ihrem neuen Rang als Mentorin gratulieren zu dürfen. Ich bin mir sicher, dass wir Großes von Ihnen erwarten dürfen. Mit Spannung sehe ich den Siegern entgegen die Sie ausbilden werden. Alle Augen des Kapitols werden auf Sie gerichtet sein. Aber ich bin sicher, dass Sie uns eine aufregende Show bieten können. Zu allem weiteren werden Sie bei Gelegenheit durch Ihre Betreuerin informiert werden.

Ich freue mich bereits darauf Sie bei meinem Empfang zur Siegestour begrüßen zu dürfen.

 

Präsident Coriolanus Snow

 

Es ist eine Warnung. Nicht nur an Annie, an sie alle. Snow muss geahnt haben, dass nicht nur Annie den Brief lesen würde. Mit dem Brief schlägt er gleich zwei Fliegen mit einer Klappe. Zum Einen droht er Annie, dass Sie bei den Spielen mitmachen muss zum Schutz der Mentoren. Zum Anderen lässt er sie alle wissen, dass er längst ein Auge auf sie geworfen hat. Natürlich hat Finnick dies immer befürchtet, doch es jetzt so offen zu lesen ist dennoch ein Schock.

Alle Augen des Kapitols werden auf Sie gerichtet sein. Irgendwie muss er den anderen Bescheid geben. Nicht nur Amber, Trexler und Floogs müssen Bescheid wissen. Am liebsten hätte er gleich Johanna diesen Brief gezeigt, doch sie hätte sich vermutlich zu einer gefährlichen Kurzschlussreaktion hinreißen lassen. Dieses Risiko kann er nicht eingehen. Und auch Beetee kann er nicht gefahrlos informieren.

Wenn er doch nur wüsste, wie viel Snow weiß oder auch nur ahnt. Seine Sorgen um die geheimen Pläne werden immer wieder von einer noch viel größeren Angst überschattet. Was weiß Snow über ihn und Annie? In den letzten Jahren hat er sich immer größte Mühe gegeben niemanden von ihrer Liebe wissen zu lassen. War das alles umsonst? Sobald sie im Kapitol angekommen sind wird er vorsichtig das Wasser testen müssen. Wenn er Glück hat kann er etwas in Erfahrung bringen. Wenn er dagegen Pech hat… nun, dann wird er riskieren alles zu verlieren was ihm etwas bedeutet. Um einen Rückzieher zu machen ist es jedoch längst zu spät.

Als das letzte tiefrote Sonnenglühen am Himmel erstirbt wird Finnick aus seinem Gedankenkarussell gerissen. Der Zug kommt mit einem seichten Ruck zum Stehen. Tankstopp. Die stickige Wärme des Zuges satt beschließt er einen kleinen Spaziergang außerhalb des Zuges zu unternehmen. Vielleicht findet er Annie und kann sie mit nach draußen nehmen, wo die Augen und Ohren des Kapitols ihnen nicht folgen können. Doch statt Annie stößt er draußen im Gang auf Amber, die mit verschränkten Armen durch den Gang stapft. Sie scheint gründlich schlecht gelaunt zu sein, der steilen Falte zwischen ihren Augenbrauen nach zu urteilen.

„Gut, dass ich dich treffe“, begrüßt sie ihn, „ich brauche mal frische Luft. Lust auf einen Spaziergang?“

Finnick seufzt innerlich als er den Spaziergang mit Annie schwinden sieht, nickt dann aber. Wenn Amber so schlechte Laune hat wird das einen Grund haben. Also bringt er lieber in Erfahrung was ihr Sorgen bereitet. Gemeinsam verlassen sie den hell erleuchteten Zug und treten in die Dunkelheit. Entlang der Gleise befindet sich nichts als vertrocknete kleine Sträucher und Kiesel. Schweigend gehen sie einige Schritte fort von dem Zug und wandern das Gleisbett entlang. Dankbar atmet Finnick die kalte Nachtluft ein. Anders als im bitterkalten Distrikt zwölf liegt hier kein Schnee, doch es ist trotzdem kalt, sodass ihr Atem kleine Wolken in der Luft bildet.

„Also, was beschäftigt dich?“, fragt er schließlich Amber, die ein Kieselsteinchen vor sich her tritt.

Diese seufzt und blickt dann hinauf zum aufgehenden Sternhimmel.

„Es ist Riven.“ Frustriert schüttel sie den Kopf. „Dieses Mädchen macht mich irre. Sie scheint so… verdammt glücklich über ihre Hungerspiele zu sein.“ Sie schüttelt noch einmal den Kopf. „Ich verstehe sie einfach nicht. Aber es ist nicht nur das!“ Sie geht ein paar Schritte und er folgt ihr. Mit unterdrückter Stimme fährt sie fort. „Sie tut alles um das Kapitol gut aussehen zu lassen. Jede ihrer Reden ist eine Anbiederung an das Kapitol. Wie groß und toll es ist und wie dankbar sie ist eine Siegerin sein zu dürfen.“ Ihre Stimme ist jetzt ganz leise und zittert vor Wut. „Sie alleine könnte alles zunichte machen was wir uns aufgebaut haben.“

Finnick seufzt und wendet seinen Blick ebenfalls den fernen Sternen zu.

„Ich weiß“, gibt er leise zu. „Sie wollte diese Spiele und jetzt hat sie bekommen was sie wollte.“

„Ich wollte diese Spiele auch, aber als ich gewonnen habe war ich schon längst in einem niemals enden wollenden Albtraum gefangen“, entgegnet Amber. „Keiner von uns würde noch einmal in die Arena zurück gehen wenn wir die Wahl hätten. Aber bei ihr bin ich mir nicht sicher.“

„Da hast du wohl Recht. Wir hätten sie vielleicht nicht so alleine lassen sollen nach ihren Spielen.“

„Nein Finnick, du suchst jetzt nicht die Schuld bei dir!“ Zornig funkelt Amber ihn an. „Was auch immer wir getan haben oder nicht, sie ist einfach nicht so ein Mensch.“

Er zuckt mit den Schultern. „Ich weiß nicht, was in ihr vorgeht.“

„Wenn man davon ausgeht wie sie gerade Annie angemacht hat… dann hat sie wirklich große Lust darauf sich ihre Position als Mentorin zu schnappen und in dem großen Zirkus mit zu spielen.“

„Was ist mit Annie?“, fragt Finnick mit gerunzelter Stirn.

„Sie ist einfach nur im Gemeinschaftsabteil und flechtet irgendwelche Blumenkränze, aber Riven muss natürlich wieder einmal über sie herfallen und ihr erzählen was für eine, und ich zitiere, ‚lahme Person‘ sie ist, die es wohl kaum schaffen wird Sponsoren für ihre Tribute zu bekommen wenn sie nicht endlich ‚interessanter‘ wird.“ Amber hat die Hände zu Fäusten geballt. „Manchmal möchte ich dem Mädchen einfach nur eine Lektion erteilen. Wir sollten alle zusammenhalten, als Familie.“

„Geht es Annie gut?“, fragt Finnick bestürzt, ihre letzten Worte ignorierend.

Ein kleines Lächeln umspielt Ambers Mundwinkel. „Tatsächlich ja. Sie hat es mit Fassung ertragen. Vielleicht hat es geholfen, dass ich Riven ein wenig zur Schnecke gemacht habe. Wenn nur Trex mich nicht zurückgehalten hätte...“ Sie blickt ihn an. „Du liebst sie wirklich. Ich wünschte wir könnten sie besser vor dem Kapitol beschützen.“

Ein wenig dankbar lächelt Finnick zurück. „Ich hoffe du warst nicht allzu gemein. Aber danke. Ich werde alles tun was ich kann. Vielleicht ist Riven gerade deswegen eine Chance, weil sie so verbissen ist. Wenn sie Annie ersetzen könnte...“

Amber geht wieder einige Schritte weiter in die Dunkelheit. „Nur leider können Rivens Worte uns allen schaden. Wenn alle Sieger so wären wie sie… dann würde sich nie etwas verändern.“

Finnick betrachtet die schemenhaften Schatten der Einöde um sie herum, unsicher was er dazu sagen soll.

„Vielleicht sollten wir sie einfach lassen“, entgegnet er nach reiflicher Überlegung, „denn sie ist die ideale Ablenkung. Solange sie die perfekte Siegerin ist – und nicht nur so tut – lenkt sie den Blick des Kapitols von uns ab.“

Mit verschränkten Armen dreht Amber sich zu ihm um, ihre dunklen Augen vorwurfsvoll auf ihn geheftet.

„Und wenn sie dabei das kleine Flämmchen der Rebellion austritt? Ich kann es nicht mehr ertragen zu warten! Was soll noch alles passieren?“

„Glaubst du nicht, dass ich es auch leid bin? Allein schon wegen Annie. Ich will auch, dass das alles hier endet! Aber was bringt es uns Riven hier mit reinzuziehen? Sie ist anders. Vielleicht wird sich das mit den Jahren ändern. Himmel, Amber, wir alle waren mal anders. Du warst genauso ein Karriero wie ich auch. Menschen ändern sich. Solange kann sie das Kapitol vielleicht wenigstens darüber hinweg täuschen, dass wir alle brave Sieger sind, als wenn wir versuchen sie zu ändern. Zumindest ist es so sicherer für sie.“

Frustriert schießt Amber einen Kiesel in die Ferne. „Verdammte scheiße, ich hasse das!“, flucht sie leise. „Ich wünschte sie wäre eine von uns.“

„Ich weiß.“ Die Nachtluft lässt ihn frösteln. „Lange wird es bestimmt nicht mehr dauern bis unser Moment gekommen ist. Dann wird sich auch zeigen auf welcher Seite Riven wirklich steht. Wir müssen unsere Rollen nur noch ein bisschen länger spielen.“

„Ich hoffe du hast Recht.“

Als er schließlich durchgefroren in den Zug zurück kehrt findet er Annie immer noch im Gemeinschaftsabteil vor. Sie sitzt in einem gemütlichen Korbsessel. Auf dem Tischchen vor ihr liegen Bänder, Blumen und allerhand mehr Zeug verstreut. Ihre Finger formen geübt Schlaufen und Knoten um einige blaue Kornblumen aneinander zu binden. Sie scheint völlig in die Tätigkeit versunken zu sein, doch als Finnick gerade etwas sagen will lächelt sie mit einem Mal wissend.

„Ich habe dich schon bemerkt.“ Sie deutet auf einen Sessel neben sich. „Setz dich ruhig.“

Sie zieht einen letzten Knoten fest und hält ihr Werk mit ausgestreckten Armen von sich. „Ich kann eine zweite Meinung gebrauchen. Und du bist ohnehin derjenige mit dem meisten Stilgefühl hier. Die anderen Muffel sind da keine große Hilfe“, seufzt sie.

Finnick nimmt die Ausrede gerne an um ihr nahe zu sein ohne den Verdacht des Kapitols zu erregen. Ihn überrascht wie geordnet Annie gerade zu sein scheint. Er hätte gedacht, dass ihr Rivens Worte mehr ausgemacht hätten, zumal die Siegestour sie all ihre Kraft kostet, selbst wenn sie sich teils mit Morfix betäubt. Aber vielleicht hat es wirklich geholfen, dass Amber sie verteidigt hat. Wenn sie will, dann kann sie sehr beschützend sein.

„Also, was meinst du?“

Er betrachtet den unfertigen Blumenkranz kritisch, versucht sich in die Bewohner des Kapitols hineinzuversetzen die diese „Hobbys“ von ihren Siegern erwarten.

„Für Distrikt zwei morgen?“

Annie schüttelt den Kopf. „Für die Feier im Kapitol. Das ist der letzte auf meiner Liste…“

„Hmm…“, murmelt Finnick vage, unsicher wie er das Thema behandeln soll. Nicht nur, dass er Annie nicht aufwühlen will, er muss sich auch Gedanken darüber machen nichts verfängliches zu sagen was dem Kapitol zu Ohren kommen könnte. Unbewusst greift er nach einem dünnen Band und spielt gedankenverloren damit herum. Wenn man in Distrikt vier aufgewachsen ist lernt man jegliche Arten von Knoten schon von Kindesbeinen an. Auch wenn Finnick ein Waise gewesen ist, so hat er sich doch alles von den Fischern im Hafen abgeschaut.

„Ich befürchte für das Kapitol muss es noch etwas… aufregender sein.“

„Vermutlich hast du Recht.“ Annie zieht eine Grimasse als sie einige Knoten wieder löst. „Ich war schon so lange nicht mehr im Kapitol, ich habe ganz verdrängt wie verrückt dort alles ist.“

Innerlich fragt Finnick sich ob er sich dieses Mal vielleicht zu viele Sorgen um Annie gemacht hat. Zumindest in diesem Moment scheint sie gut mit der Angst vor dem Kapitol umgehen zu können. Anders noch sah es aus, als eine durchnässte Annie zurück in das Dorf der Sieger gestolpert war nachdem sie von der Kleideranprobe fortgelaufen ist. Eine ehemalige Klassenkameradin hat sie verwirrt auf dem Boot ihrer Familie gefunden und zurück gebracht. Sie habe Pon gesehen, erzählte Annie mit zitternder Stimme. Es brauchte Tage bis sie sich vollständig von dem Schock erholte. Immerhin schien sie endlich ihren Frieden mit dem Schiff ihrer Familie gemacht zu haben. Als Ablenkung fing sie an es gemeinsam mit der Klassenkameradin zu restaurieren, denn dank ihrer jahrelangen Abwesenheit sind Planken morsch geworden und der Anstrich ist abgeblättert. Ein zusätzliches Stück Halt kann nicht schaden, also freut Finnick sich über die Möglichkeit Annie auf andere Gedanken zu bringen während er sich Sorgen um die Spiele macht. Nur befürchtet er, dass die Siegestour diesen Fortschritt wieder zunichte machen kann.

Zwischen Annies Chaos auf dem Tisch steht auch eine kleine Schüssel mit Zuckerstücken. Einem innerlichen Drang nachgebend schnappt er sich einen Würfel und lässt ihn auf der Zunge zergehen. Sündiges, kleines Glück. Als er wieder aufschaut liegt Annies Blick bedeutungsschwer auf ihm. Mit einem ertappten Grinsen zuckt er mit den Schultern. Sie weiß, dass es eine Angewohnheit geboren aus Nervosität ist, die ihn den puren Zucker essen lässt. Doch sie sagt nichts weiter. Um sich abzulenken schnappt er sich einige Blumen aus Annies Vorrat und tut es ihr gleich indem er sie in sein Band einflechtet.

„Was hältst du davon?“ Er legt sich sein eigenes Werk auf den Kopf und wirft sich in eine alberne Pose ganz alá Cece. Schnaubendes Lachen ist die Antwort.

„Fehlen nur noch ein paar hoher Schuhe und ein hübsches Glitzerkleidchen“, neckt Annie ihn. „Wir könnten Cece ja mal vorschlagen, dass wir beide unsere Rollen tauschen. Ich wette mir würde so ein Anzug zur Abwechslung mal gefallen.“

Lachend verbeugt Finnick sich und der Kranz fällt von seinem Haupt.

„Vor allem, wenn man bedenkt was Roan für ein Kleid ausgesucht hat“, fügt Annie düster hinzu.

Neugierig blickt Finnick sie an. Bisher hat er sie sich noch nicht über die Kleider beschweren gehört. Immerhin waren es alles recht bodenständige Kleider. Aber er weiß ebenso gut, dass Exzentrizität Roans Markenzeichen ist.

„Was macht es denn so besonders“, fragt er betont beiläufig.

Mit verdrießlicher Miene deutet Annie auf ihre Hüfte.

„Zum Beispiel, dass der Schlitz bis hier hoch geht. Anscheinend ist man der Meinung, dass ich einen Imagewechsel brauche. Weniger verrücktes Mädchen, mehr erwachsene Mentorin.“

Genau das hat er befürchtet. Das Kapitol hat Annie in der Vergangenheit in Ruhe gelassen, eben weil sie als verrückt gilt. Doch jetzt ging das nicht mehr. Nun würden sie alles daran setzen aus ihr eine passable Siegerin zu formen. So hat es bei ihm auch angefangen. Kleider die ihn begehrlicher wirken lassen sollen. Immer mehr Privatparties im Kapitol zu denen er eingeladen wurde. Und eines Tages war sein Körper verkauft worden. Lieber würde er sich noch hundert Mal verkaufen als Annie dieses Schicksal anzutun. Er hasst, dass er sich nicht einmal wagt in diesem Moment nach ihrer Hand zu greifen. Stattdessen sagt er:

„Ich werde noch einmal mit Präsident Snow sprechen. Wir werden einen Weg finden. Riven ist mehr als ehrgeizig, sie kann diese Aufgabe erfüllen.“ Ihm ist egal, dass er für Annies Wohl ein Mädchen opfert, dass kaum ihre eigenen Spiele verarbeitet hat. Zumindest für diesen Moment. Das schlechte Gewissen kommt später, so viel ist sicher. Er denkt an das Gespräch mit Amber. Noch ist Riven schließlich gerne Siegerin, wie sie es auch in Distrikt zwölf demonstriert hat – noch.

Er spürt Annies warme Hände die seinen umfassen, die immer noch an dem Band herum nesteln.

„Danke Finnick“, haucht sie, „aber wenn es nicht klappt werde ich bereit sein. Das bin ich den Tributen schuldig. Vielleicht werde ich nicht perfekt sein, aber das ist immer noch besser als sie alle aufzugeben.“

Ihre Stimme ist so zart und unschuldig. Sie hat keine Ahnung worauf sie sich einlässt. Und doch muss er sie kurz für ihren Willen bewundern, der sie nie aufgeben lässt, trotz aller Widrigkeiten. Genau dieser eiserne Wille ist es auch der sie überhaupt erst die Spiele hat überleben lassen. Aber das Kapitol wird sich alle Mühe geben ihn zu brechen, bis sie wirklich nur noch das verrückte Mädchen ist, das alle in ihr sehen.

Er blickt ihr fest in die Augen.

„Du gehörst nach Distrikt vier, wo die Wellen rauschen und der Wind weht. Nicht ins Kapitol wo die Natur sich nur auf einem Bildschirm erstreckt und du nicht mehr du selbst sein kannst.“

„Du auch“, hält sie dagegen. „Wir alle.“ Ihre letzten Worte sind kaum mehr ein Flüstern. „Aber es geht ja nicht. Jemand muss für die Tribute da sein, so wie ihr für Pon und mich da wart, das habe ich jetzt verstanden.“

Pon. Finnick entzieht ihr behutsam seine Hände und fährt sich müde über das Gesicht. In den Spielen wird es immer wieder kleine Kinder wie ihn geben die sie nicht beschützen können. Er kann und darf Annie nicht die Hoffnung geben, dass sie sie irgendwie beschützen könnte.

„Als Mentorin kannst du sie nicht alle beschützen. Es ist als würdest du die Spiele mit zusammengebundenen Händen noch einmal spielen. Nur, dass es nicht dein Leben ist was auf dem Spiel steht. Was auch immer passiert, du kannst es nicht kontrollieren. Du musst dein Bestes geben um sie auf die Arena vorzubereiten und ihnen Sponsoren zu verschaffen, obwohl du weißt, dass das Schicksal seinen eigenen Weg geht. Immer und immer wieder musst du an sie glauben auch wenn die Chancen gegen sie stehen. Darfst nicht aufgeben und weglaufen, denn dann ist alles verloren. Du…“

Stockend hält er inne. Er merkt wie er sich in Rage redet, die Worte immer schneller und zorniger aus ihm sprudeln. Nicht wegen Annie, sondern weil ihm die Gefühle aus sieben Jahren als Mentor die Brust zusammenschnüren. Wenigstens sie soll kein Teil dieser Maschinerie werden. Bestürzt realisiert er, dass Annie ihn mit runden Augen anstarrt, ihre leeren Hände immer noch nach ihm ausgestreckt. In ihren meergrünen Augen schimmert Verrat. Was hat er sich nur dabei gedacht? Natürlich hat er sie mit seinen Worten verletzt. Für sie muss es klingen als würde er sie als unfähig bezeichnen, obwohl er eigentlich nur seinen eigenen Ängsten eine Stimme gegeben hat. Schon bereut er es überhaupt davon angefangen zu haben. Langsam lässt sie ihre Hände sinken und greift wieder nach dem unfertigen Blumenkranz.

„Ich laufe nicht weg“, sagt sie mit rauer Stimme. „Ich bin genug davon gelaufen, das weiß ich selber. Es reicht wenn Riven mich das spüren lässt. Und ich kann ohnehin nicht wie Haymitch Abernathy die Augen verschließen und es einfach ertragen.“

„Ich weiß… es tut mir leid, ich wollte das nicht so sagen…“, verzweifelt sucht er nach Worten um es wieder gutzumachen.

Doch Annie schüttelt nur abwehrend den Kopf, Tränen in den Augen glitzernd. Sie beißt sich auf die Lippe ehe sie erwidert:

„Sag nichts mehr. Es ist nicht deine Schuld.“ Mit dem Ärmel wischt sie sich über die Augen, ehe sie sich wieder ihrem Blumenkranz widmet.

Schweigen breitet sich zwischen ihnen aus. Als schließlich die Türen auf gleiten betreten Cece und die Stylisten das Abteil und der Moment ist verflogen. Eine Weile noch beobachtet er wie Annie weiter an ihrem Kranz arbeitet, doch das Schweigen lastet wie Blei auf ihm. Unbefriedigt verlässt er wenig später den Wagon. Er schwört sich, dass er es alles wieder in Ordnung bringen will. Er weiß nur nicht wie. Vielleicht wenn er es schafft Snow von Riven als Mentorin zu überzeugen, vielleicht kann dann alles wieder wie vorher sein...

Kristallblut

Gleißende Lichter und tosender Applaus empfangen uns in Distrikt eins. Nach den tristen Distrikten wie zwölf, elf oder drei erscheinen mir die sauberen Straßen und Menschen in Festtagskleidung unwirklich. Es fühlt sich an als wären wir bereits im Kapitol angelangt. Die Häuser sind ordentlich und selbst der Himmel zeigt sich in strahlend blauem Gewand. Riven schreitet vor uns drein wie eine Königin, den jubelnden Menschen, die unseren Weg säumen, winkend. Ihre Krone fängt das Sonnenlicht ein und lässt sie in ihrem silbrig-weißen Seidenkleid erstrahlen. Fast kann es einen vergessen lassen, dass es immer noch Winter ist. Roan hat uns allesamt in beinahe sommerliche Outfits gekleidet, doch fast unsichtbare Strumpfhosen und Ärmel halten uns warm, während ein frischer Winterwind durch die Menge fegt. Kameras fangen jeden unserer Schritte ein. In Distrikt eins liegen die Menschen den Siegern zu Füßen, nicht nur ihren eigenen. An meine eigene Siegertour kann ich mich kaum erinnern, auch wenn sie gerade einmal drei Jahre her ist. Als wir bei Distrikt eins angelangt sind musste ich mehr Beruhigungsmittel im Körper gehabt haben als eigenes Blut. Ich erinnere mich nur schemenhaft daran, dass Cece mich auf Bühnen zerrte und in meinem Namen die Dankesreden verlas. Deshalb erscheint mir jetzt jede Straßenecke wie neu. Heute habe ich nur eine kleine Dose Morfix genommen, größtenteils um Cece zufrieden zu stellen. Wenn es sich auf Dauer anfühlt als wäre man in eine dichten Nebel gehüllt wird auch dieser Zustand früher oder später unerträglich. Bisher habe ich mich ja auch ganz gut geschlagen und tapfer jede Show über mich ergehen lassen ohne hysterisch zu werden, wie Cece es immer sagt. Abgesehen davon hat Distrikt sechs mich ganz gut daran erinnert was passiert wenn man sein Leben in die Hände von Morfix legt.

Anders als in den übrigen Distrikten sind die Häuser in Distrikt eins sehr hell, mit großen Glasfronten und kleinen ordentlichen Gärten. Natürlich ist das nur ein Ausschnitt der Wirklichkeit, aber es ist doch ein krasser Unterschied zu den armen Stadtzentren in Orten wie elf oder zwölf.

Der große Festplatz ist ähnlich feierlich geschmückt wie bei uns daheim, mit zahlreichen Blumen und langen Stoffbannern. Unter dem Applaus der Menge schreiten wir direkt auf die Bühne, anstatt wie sonst erst im Rathaus warten zu müssen. Ich frage mich welche Unterschiede zu den anderen Distrikten es wohl noch geben wird. Es ist jedenfalls schwer zu übersehen, dass Distrikt eins der Liebling des Kapitols ist. Wir Mentoren nehmen auf gepolsterten Stühlen hinter Riven Platz. Dankbar lehne ich mich zurück, froh, dass heute der Fokus nicht auf mir liegt. Immerhin ist die Atmosphäre nicht so düster wie in den Distrikten wo Riven Tribute getötet hat. Diese deprimierenden Orte haben wir endgültig hinter uns gelassen. Während Distrikt eins mich nur an Menschen denken lässt, die ich nur vergessen will, hatte Riven hier Verbündete. Ich frage mich ob die Erinnerung an diese Tribute ihr vielleicht schmerzt. Wie sie so dasitzt, ihren Kopf hoch erhoben und lächelnd der Menge zuwinkt kann ich nicht ergründen was in ihr vorgeht. Für einen Moment kreuzen unsere Blicke sich und sie wendet sich schnell ab.

Die Festlichkeiten schreiten mit allerlei Jubel voran. Er kann einen fast vergessen lassen, dass der Tod von 23 Kindern uns an diesen Punkt geführt hat. Unmittelbar vor der Bühne stehen reihenweise Jugendliche in einer Art weißer Uniform. Floogs, der meinen irritierten Blick sieht lehnt sich zu mir herüber.

„Das sind die Kinder aus der Akademie. Ein Platz in der ersten Reihe bedeutet, dass sie zu den besten Schülern dort gehören. Die Schüler werden jedes Jahr handverlesen.“

Ich betrachte die schiere Menge an potentiellen Tributen. Selbst in der Blütezeit unserer Akademie hat Distrikt vier nie so viele Schüler gehabt.

„Eine noch größere Ehre ist es später zum Dinner eingeladen zu sein, dort wird nur eine Handvoll von ihnen sein“, ergänzt Floogs, „und die jüngeren von ihnen dürfen Geschenke an die Siegerin überreichen.“

Tatsächlich werden alle Geschenke an Riven von kleinen Jungen und Mädchen in eben dieser weißen Uniform überreicht. Teils sind sie nicht einmal alt genug um in den Spielen mitzumachen, aber schon trainierter als ein volljähriger Tribut aus einem ärmeren Distrikt. In unserer Akademie dürfen erst Kinder ab zwölf Jahren trainieren. Mir fällt auch auf, dass sie fast alle hellblonde Haare haben, ebenso wie die Jugendlichen im Publikum. Die wenigen Dunkelhaarigen stechen richtig aus der Menge hervor. Ob das wohl Absicht ist, damit sie dem Kapitol besser gefallen? Zumindest sind die meisten Sieger aus Eins, die mir in den Kopf kommen, auch blond.

Die anschließende Führung durch den Distrikt fällt auch aufwändiger aus als in jedem anderen Distrikt. Es ist egal welchen Ort wir betreten, überall ist es sauber, ordentlich und die Menschen sind wohlgenährt in hübschen Kleidern unterwegs. Das Abendessen jedoch übertrifft alles. Mehr als 200 Gäste müssen geladen sein. Anstatt in einem stickigen kleinen Hinterzimmer des Rathauses findet die Feier in einem prächtigen Saal statt. Wir ziehen uns in Räumen im Obergeschoss um, um über eine geschwungene Treppe hinab in den Saal zu schreiten – nur um erneut von tosendem Applaus empfangen zu werden. Bedienstete reichen uns kristallene Gläser zum Anstoßen.

Ganz wie Floogs es gesagt hat stehen gleich in erster Reihe sechs Jugendliche in strahlend weißer Uniform. Ihr blondes Haar schimmert golden im Kerzenlicht, bis auf das eines Jungen. Überhaupt sind alle von der gleichen, ebenmäßigen Schönheit. Es überrascht mich wenig, dass der Bürgermeister uns diese zukünftigen Tribute sogleich vorstellt. Passend zu ihrer glamourösen Erscheinung tragen auch sie Namen die an Gold, Edelsteine und Luxus erinnern.

„Unser Marvel und unsere Glimmer sind momentan die Favoriten für die Spiele im nächsten Jahr“, sagt der Bürgermeister verschwörerisch. „Mal sehen ob Distrikt vier uns da Konkurrenz machen kann.“

Alle lachen höflich, doch ich sehe den Ehrgeiz in den Gesichtern der beiden potentiellen Tribute aufblitzen. Unweigerlich springen meine Gedanken zurück zu Shine, meinem ganz persönlichen Albtraum aus Distrikt eins. Ob auch sie einst hier stand und dem Sieger ehrfürchtig Fragen zu den Spielen stellte, so wie die Tributkandidaten jetzt Riven befragen? Kaum, dass ich den Gedanken zu Ende gebracht habe sehe ich sie schon vor mir, strahlend schön in der weißen Uniform und mit den goldenen Locken. Doch auf ihren Lippen liegt wieder dieses fiese Grinsen, das Grausamkeit verspricht. Ich weiß, dass sie nicht wirklich da ist, doch ihr Blick scheint mich zu durchbohren. Als würde sie mich wieder jagen wollen. Ein Schauer durchfährt mich. Mein Griff am Glas wird locker, das Kristallglas droht mir zu entgleiten. Hastig schließe ich die Augen und als ich sie wieder öffne ist Shine verschwunden.

„Annie?“ Floogs berührt mich leicht am Oberarm.

Verwundert blicke ich mich um. Die Gruppe von Tributkandidaten starrt mich geschlossen an. Scheinbar habe ich einen Teil der Unterhaltung verpasst. Unsicher lächle ich, in dem Versuch die peinliche Stille zu überspielen.

„Ah, entschuldigt bitte, ich war in Gedanken“, sage ich.

Rivens geringschätziges Schnauben ist für jeden zu hören. Allerdings schenke ich ihr nicht viel Aufmerksamkeit, da es mir in diesem Moment erscheint, als hätte ich Shine erneut in der Menge erspäht. Nicht in der Uniform, sondern in einem eleganten Abendkleid. Wie gebannt starre ich in die Menge und tatsächlich, es sieht aus wie Shine in der Ferne, nur älter. Als hätte sie die Spiele überlebt. Das kurze Aufflackern dieses Gedankens reicht aus um mir doch noch das Glas aus den Fingern gleiten zu lassen. Klirrend schlägt es auf dem marmornen Boden auf, wo es in tausend Teile zerbricht. Einen Moment starre ich entsetzt auf die mit Scherben gespickte Pfütze zu unseren Füßen. Überraschte und erschrockene Blicke liegen auf mir und vertreiben Shine aus meinem Kopf. Bestürzt lasse ich mich auf die Knie fallen, beschämt über mich selber.

„Oh, oh nein, das tut mir so leid“, stürzen die Worte aus meinem Mund, „das war ein Versehen, ich bin so ungeschickt!“ Mit fahrigen Händen versuche ich so schnell wie möglich alle Scherben aufzusammeln, ohne darauf zu achten wo hin ich greife. Aus dem Augenwinkel sehe ich einen Bediensteten mit einem Besen heraneilen, doch ich will ihm nicht mehr Arbeit machen. Jemand packt meine Unterarme und hält sie erstaunlich fest.

„Stopp, Annie, stopp!“ Amber kniet vor mir. „Du tust dir weh“, setzt sie leiser hinzu. Wie zum Beweis zieht sie meine rechte Hand hoch, auf der blutige Schnitte klaffen. Zunächst fühle ich nichts, obwohl Blut über mein Handgelenk rinnt. Erst als Amber mich kraftvoll auf die Füße zieht, dringt der Schmerz langsam in mein Bewusstsein. Alle stehen um uns herum, starren uns an. Hunderte Fragen stehen in ihren Gesichtern, doch ich kann es mir selber nicht mehr erklären. Auf dem Marmor hat sich der Sekt mit den blutigen Scherben vermischt. Bei dem Anblick rebelliert mein Magen. Nur mit Mühe gelingt es mir Fassung zu bewahren, zumindest das Bisschen, was mir bleibt. An niemand bestimmten gewandt hauche ich noch einmal „Es tut mir so leid.“

Eine Frau schiebt sich durch die Menge auf mich zu. Sie trägt das silbrig blaue Kleid, das ich eben noch an Shine gesehen habe. Doch von Nahem erkenne ich, dass es nicht Shine sein kann. Sie sieht ihr erstaunlich ähnlich, angefangen bei den hellen Locken, über die schmale Nase, zu der schmalen Figur, nur ist sie bestimmt sechs oder sieben Jahre älter. In ihren braunen Augen liegt Sorge und die schmalen Lippen verziehen sich nicht zu einem gehässigen Grinsen als sie mich anblickt.

„Darf ich mal sehen?“, fragt sie höflich. „Ich bin Glista, Ärztin hier im Distrikt.“

Nur zögerlich reiche ich ihr die verletzte Hand. Kühl umfasst ihre Hand das Handgelenk. Ihr Blick scheint die Wunde rasch zu analysieren.

„Keine Sorge, eure liebe Annie ist bei Glista in guten Händen. Sie ist eine unserer Besten, nicht umsonst ist sie die Leiterin der Klinik“, lacht der Bürgermeister fröhlich. „Sie wird sie ruckzuck verarzten, solange räumen wir das kleine Missgeschick fort und es kann mit der Feier weiter gehen!“

Angestellte kehren bereits die Scherben zusammen. Finnicks besorgter Blick streift mich und er bedeutet mir mit einem Nicken, der Ärztin zu folgen. Auch Amber lässt mich jetzt los. Wankend bleibe ich stehen. Die Ärztin bahnt sich bereits einen Weg zu einer Tür am Rande des Saals. Mir bleibt nichts anderes übrig als ihr zu folgen.

„Annie ist wirklich besonders – besonders verrückt“, höre ich Riven noch sagen, ehe wir aus dem Saal verschwinden. Hinter mir erhebt sich neuerlich lautes Stimmengewirr und verschluckt die Antwort darauf. Ich werde in einen dunklen Flur und von dort in ein kleines Arbeitszimmer geführt. Glista bedeutet mir, mich auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch zu setzen, während sie in einem Schrank herum wühlt. Mit einem Verbandstäschchen unter dem Arm kommt sie schließlich zum Schreibtisch zurück.

„Zum Glück gibt es hier immer etwas Verbandsmaterial, falls sich mal einer am Papier schneidet“, sagt sie lächelnd. „Dann lass mich mal vernünftig schauen.“

Ich lege meine blutige Hand in ihre und sie beugt sich mit fachmännischem Blick darüber.

„Da hast du dich wirklich ordentlich am Glas geschnitten. Achtung, das brennt jetzt leider“, erklärt sie und kaum, dass sie ein Desinfektionsmittel aufgetragen hat, spüre ich stechenden Schmerz. Glista behält meine zuckende Hand fest im Griff. „Ich fürchte ich muss ein paar kleine Splitter aus den Wunden ziehen, bevor ich sie verbinden kann.“ Sie schenkt mir ein kleines Lächeln. Auf ihrem Gesicht, das dem Shines so ähnlich ist, sieht es falsch aus. Vermutlich meint sie es nur gut, aber die unheimliche Ähnlichkeit beunruhigt mich trotzdem. Als sie zu merken scheint, dass ich nichts erwidern werde, wendet sie sich wieder ihrer Arbeit zu. Konzentriert zieht sie mit einer Pinzette winzige Stücke des Glases aus meiner Hand. Ich beiße mir fest auf die Innenseite der Wange, um keinen Laut von mir zu geben. Für heute bin ich genug aufgefallen.

„Es tut mir Leid, falls ich dich erschreckt habe“, sagt sie urplötzlich. „Das war nicht meine Absicht. Scheint so, als würde ich meiner Schwester doch ähnlich sehen.“ Mit einem kleinen Ruck zieht sie einen weiteren Splitter aus der Wunde und ich vergesse ganz, meine Lippen zusammen zu pressen. Ein kläglicher Schmerzlaut entweicht mir. Ich starre sie an.

„Wie meinst du?“

Sie lächelt noch einmal. „Na, ich vermute mal, dass mein Anblick dich erschreckt hat, weil ich meiner Schwester Shine so ähnlich sehe.“ Jetzt treffen unsere Blicke sich. „Leider wart ihr ja nicht gerade… Freunde.“ Bedauern liegt in ihrem Blick. „Es muss hart für dich sein“, setzt sie nach einer kleinen Pause hinzu.

Sprachlos blicke ich die Ärztin an, wie sie die letzten Splitter entfernt und dann umsichtig meine Hand säubert. In meinem Kopf herrscht Chaos. Wenn sie wirklich die Schwester von Shine ist, warum ist sie dann so freundlich zu mir? Sollte sie mich nicht hassen? Immerhin ist Shine nie aus der Arena heimgekehrt, wegen mir. Mein Gesicht scheint meine Gedanken widerzuspiegeln, denn Glista bedenkt mich mit einem sanftmütigen Lächeln.

„Bevor du fragst, nein, ich mache dir keine Vorwürfe.“ Sie streicht eine hellviolette Creme auf meine Schnitte. „Die Creme wird dafür sorgen, dass die Wunden schnell verheilen. Dann bleiben auch keine Narben zurück.“

„Du hättest allen Grund mich zu hassen“, sage ich tonlos. Manchmal hasse ich mich sogar selber.

Glista wickelt einen Verband um meine Hand.

„Weißt du, nicht alle in Distrikt eins sind gleich.“ Mit einer kleinen Schere schneidet sie das Ende ab. „Wir wollen keine Feinde sein.“ Ein Klebestreifen fixiert den Verband und ihr Lächeln wird melancholisch. „Genauso wie ihr, tun wir nur alles für unser Überleben.“ Sie fängt an das Verbandszeug wegzuräumen. „Ich glaube das ist nur natürlich. Also mach dir lieber nicht zu viele Gedanken.“

Ich erwidere ihr freundliches Lächeln kurz. Dank ihrer klaren, sanften Art kann man ihr wirklich nicht böse sein, selbst wenn sie mich so stark an Shine erinnert. In meiner Hand pocht es dumpf als die Creme ihre Heilwirkung entfaltet. Anscheinend eines der Wunderwerke direkt aus dem Kapitol.

„Vermutlich erinnerst du dich nicht mehr an mich, aber ich war da bei deiner Siegestour.“ Glista verschließt die Verbandstasche. „Ich habe nur ahnen können wie sehr sie dich mit Morfix vollgepumpt haben.“ Ein Seufzen entrinnt ihr. „Spätestens da konnte ich keinen Hass mehr auf dich empfinden. Du hast gelitten, viel mehr als Shine. Shine wusste, worauf sie sich eingelassen hat. Sie hatte ihre Gründe und ich habe sie geliebt. Wir sind nicht alle Monster. Aber am Ende muss jeder für sich kämpfen.“ Kurzzeitig sieht sie gedankenverloren aus. Dann reißt sie sich aus ihren Gedanken und räumt das Verbandszeug weg. Lediglich die Salbe wirft sie mir zu. „Die wird niemand hier vermissen, aber du kannst sie gebrauchen. Wenn du die Stellen heute Abend noch einmal eincremst wird man morgen kaum noch etwas sehen.“

Dankbarkeit erfüllt mich. Ich starre auf meine frisch verbundene Hand. Glista hätte dies nicht tun müssen und ich hätte es auch nie von ihr erwartet. Tatsächlich habe ich Distrikt eins immer wie einen Feind gesehen, obwohl ich nur Shine kannte, die mich hasste. „Vielen Dank, Glista.“

„Gerne.“

Wir halten beide inne, blicken uns an. Die Feier wartet auf uns, doch ich würde lieber nicht gehen. Auch Glista sieht unentschlossen aus. „Trotzdem tut es mir leid, mit Shine. Ich wäre lieber nicht ihre Feindin gewesen.“ Ich weiß nicht warum, doch es ist mir wichtig ihr das zu sagen.

Sie nickt. „Ich weiß. Nun denn, viel Erfolg Annie. Möge das Glück stets mit dir sein.“

 

Der Rest der Feier fliegt an mir vorbei und ehe ich mich versehe sind wir bereits wieder im Zug. Kaum haben wir Distrikt eins verlassen, erreichen wir auch schon das Kapitol. Zumindest erscheint es mir so. Aber zwischen den beiden Orten liegt schließlich auch nicht viel Strecke. Die Festlichkeiten in der Villa von Präsident Snow sind das Highlight der gesamten Tour. Hunderte geladene Gäste werden auf unsere Ankunft warten. Tatsächlich verschlingen die Vorbereitungen für die Feier den gesamten Vormittag. Ich kann mir beim besten Willen nicht erklären warum das Styling so lange dauert, doch als wir endlich alle fertig beisammen stehen ist die Sonne am Horizont bereits wieder versunken.

Gegen meinen Willen stecke ich nun in dem samt-schwarzen Kleid mit verführerisch hohem Schlitz. In meine sorgsam arrangierten Haaren, die in leichten Wellen meinen Rücken herabfließen, ist der Blumenkranz, den ich im Zug gebastelt habe, eingeflochten. Schlussendlich habe ich mich für weiße Lilien entschieden, zusammengebunden mit einem dunkelroten Band. Aber das wahre Highlight des Kranzes sind die dornigen Stiele der Rosen, ihrer stinkenden Blüten beraubt. Sie winden sich unauffällig durch den Kranz, fallen erst auf den zweiten Blick richtig auf. Snow will, dass ich ihm seine Rosen präsentiere, aber das bekommt er nicht von mir. Vermutlich ist es eine dumme Entscheidung, aber da mich auch niemand von dem Kranz abgehalten hat werde ich ihn tragen. Wenn alles so läuft wie ich es mir vorstelle werde ich Präsident Snow ohnehin nicht begegnen. Finnick mag noch Hoffnung darauf haben, dass er Riven an meiner statt als Mentorin berufen wird, doch ich weiß tief in mir drinnen, seitdem ich Snows Brief gelesen habe, dass ich der Aufgabe nicht entgehen kann. Er will mich in dieser Rolle sehen und deshalb wird es so geschehen. Ich werde nicht auch noch zu ihm gehen um nach Gnade zu betteln. Über die zwölf Tage Siegestour die hinter uns liegen habe ich versucht all meinen Mut zu sammeln um wenigstens heute die stärkste Version meiner Selbst zu zeigen. Sollen ruhig alle sehen wie ich mich hoch erhobenen Hauptes meiner Aufgabe stelle. Es kann mir nur helfen. Zum Glück ist meine Hand beinahe verheilt und nur feine Linien erinnern an die tiefen Schnitte, obwohl sie gestern noch frisch waren. Mit einem Verband an der Hand wäre es ein anderer Eindruck.

Gemeinsam geben wir Sieger schon ein verrücktes Bild ab. Riven trägt etwas, das wohl dem letzten Schrei im Kapitol entspricht. Es ist sehr bauschig, sehr glitzernd und sehr golden. Die arme Amber hingegen steckt in einem rosa Albtraum, der so überhaupt nicht zu ihrem breiten Kreuz passen will. Die Männer mit ihren Anzügen haben es definitiv am Besten getroffen, auch wenn die merkwürdige Lederoptik von Floogs Anzug ebenfalls zum Schreien aussieht.

Viel Zeit um einander zu bewundern – oder auszulachen – bleibt uns nicht, denn Cece scheucht uns in das Hovercraft, das uns bis vor den Palast fliegt.

Das erste was mir auffällt, als wir in den prunkvollen Saal im Herzen der Präsidentenvilla geführt werden, sind die überdimensionalen Kronleuchter, die von der hohen Decke herab hängen. Unzählige Kristallsplitter brechen das Licht der Kerzen und tauchen die bunte Gästeschar in scharfkantiges Licht, gezackt wie Messer. Ich spüre einen leichten Schauer meine Wirbelsäule entlang laufen. Die Lichter sehen aus als wären sie bereit einen aufzuspießen. Nur mit Mühe kann ich meinen Blick lösen. Das nächste was meinen Blick einfängt sind die Berge an Essen die sich auf langen Tafeln vor uns auftürmen. Ein Überfluss an erlesensten Speisen, die man so nur im Kapitol serviert bekommt. Doch das Essen hat längst seinen Charme verloren nachdem wir zwölf Tage lang jeden Abend ein Festessen hatten. Am Anfang kam es mir noch wie der Himmel auf Erden vor, doch mittlerweile schmeckt alles gleich. Zu fettig, zu künstlich. Inzwischen sehne ich mich einfach nur nach einem Bissen frischen Fisches, doch alles was ich hier sehen kann sind Garnelen, die längst nicht mehr fangfrisch sind. Stattdessen sind sie ölig eingelegt um den Geschmack zu verschleiern. Das halten sie im Kapitol nur für eine Delikatesse, weil sie noch nie einen frischen Fisch hatten, immer nur Eingefrorenes, denke ich.

Den anderen Mentoren scheint es ähnlich zu gehen. Auch sie machen um die Garnelen einen großen Bogen. Nur Cece schlägt mit Wonne zu, sich offensichtlich nicht bewusst, dass wir anderen die Garnelen verschmähen. Ich begnüge mich mit ein wenig Reis und Hühnchen, da ich sowieso keinen großen Appetit habe. Wir werden ohnehin immer wieder unterbrochen von begeisterten Leuten aus dem Kapitol die unbedingt Riven vorgestellt werden wollen, oder einen Plausch mit den Mentoren halten wollen. Mir kommt jetzt meine Rolle als „die Verrückte“, wie sie mich nennen, zu pass, denn die meisten von ihnen ignorieren mich glatt, auch wenn mich hin und wieder neugierige Blicke streifen. Sie wollen lieber Finnick hofieren, der seine Rolle heute Abend mal wieder voll ausfüllt. Ich kann ihn dabei beobachten wie er mit Leuten jeglichen Alters flirtet. In meinem Magen regt sich ein eigenartiges Gefühl und ich wende mich lieber ab. Es ist die eine Sache daheim in Distrikt vier zu sein und nur zu ahnen was jedes Mal im Kapitol passiert, doch eine andere jetzt hier zu stehen und es einfach ertragen zu müssen. Am liebsten würde ich es den ganzen bunten Kapitolvögeln gleich tun und aufs Klo stürmen um mich zu übergeben. Nicht, weil ich etwa von dem klaren Abführmittel getrunken habe so wie sie, sondern um meinen Magen endlich zum Schweigen zu bringen.

Ich drücke einem vorbei eilenden Avox meinen halbvollen Teller in die Hand, da ich keinen Bissen mehr runter bringe. Stattdessen lasse ich lieber den Blick über die Menge schweifen. Man könnte sich glatt ein Spielchen daraus machen die wildesten Kostüme in der Menge zu suchen. Ich habe wirklich vergessen wie verrückt es hier ist. Ob ich wohl auch Lust auf ein paar Tierohren hätte, wäre ich im Kapitol geboren? Gerade sinniere ich noch darüber nach welches Tier zu mir passen würde, als eine rundliche Frau an mich herantritt. Sie trägt ein überraschend schlichtes weinrotes Kleid, nur verziert mit einer goldenen Stickerei am Ausschnitt. Kleine Fische und Dreizacke. Nett. Ihr rabenschwarzes Haar ist zu einem schlichten Knoten geschlungen und außer einigen goldenen Strähnen und sehr stark aufgetragenem Eyeliner kann ich nichts ungewöhnliches an ihr entdecken.

„Sie sind Annie Cresta, nicht wahr?“, fragt sie mich mit fröhlicher Stimme.

Überrascht starre ich sie an. Man hat mich also nicht vergessen. Ich nicke höflich.

„Freut mich!“, sie streckt mir eine mit Ringen geschmückte Hand entgegen, „ich bin Titania Creed.“

Ich schüttle ihre Hand und bin erstaunt wie kräftig ihr Händedruck ist. Als ich nichts weiter sage fügt sie hinzu:

„Erste Sekretärin der Innenministerin.“

Unsicher was ich mit dieser Information anfangen soll nicke ich noch einmal und schenke ihr mein bestes Höflichkeitslächeln. Cece wäre stolz auf mich. Mein Schweigen scheint die kleine Frau ohnehin nicht zu beirren, denn sie spricht einfach weiter.

„Aber für Sie bin ich einfach Tita!“ Sie lächelt mich verschwörerisch an, als wären wir beste Freundinnen.

„Dann können Sie mich Annie nennen“, sage ich der Höflichkeit halber. Das scheint Titania zu entzücken, denn sie schenkt mir ein noch breiteres Lächeln.

„Ganz schön viel Trubel heute Abend, nicht wahr?“ Sie wirft einen Blick in Richtung Riven, die zusammen mit Amber und Finnick von einer großen Traube Bewunderer umgeben ist. „Ich hatte noch gar keine Gelegenheit eure entzückende Siegerin kennen zu lernen.“ Sie seufzt gespielt dramatisch, doch ihr Blick haftet sich jetzt an Finnick, der gerade irgendeiner Dame im zitronengelben Ballonkleid etwas zuflüstert. Täusche ich mich, oder gleitet ein düsterer Schatten über das Gesicht von Titania Creed?

„Aber von dir hört man ja auch Interessantes in letzter Zeit“, wendet sie sich wieder an mich.

„Äh, so?“, rutscht es mir steif heraus. Da scheint sie wohl die erste zu sein, die mich interessant findet.

„Stimmen die Gerüchte und du trittst in die Fußstapfen von der alten Mags?“

Mir gefällt nicht wie sie das „alt“ betont. Als wäre Mags eine alte Spielsache die langweilig geworden ist und jetzt entsorgt werden soll. Aber für das Kapitol sind wir ja letztlich auch nichts anderes als Entertainment. Unbestimmt zucke ich mit den Schultern.

„Mags ist leider krank, also wer weiß…“, sage ich vage. Ich sehe keinen Anlass darin ihr mehr Informationen als nötig zu geben.

„Ja, ich habe es gehört, schrecklich, nicht wahr? Die Arme ist ja so etwas wie eine Legende, die erste weibliche Siegerin, da geht einem das schon zu Herzen.“

„Hmm“, murmle ich, nicht wirklich wissend was ich sagen soll. Als Mags ihren Schlaganfall hatte, hat das Kapitol sie jedenfalls ignoriert und keine helfenden Medikamente geschickt, obwohl sie das hätten tun können. Ich denke an die Wundersalbe die Glista mir gegeben hat. Es sieht nicht so aus als wären wir die Lieblingskinder des Kapitols. Aber das werde ich Titania sicherlich nicht erzählen.

Deren Blick ist aber ohnehin schon wieder sehnsüchtig zu Finnick geschweift, der sich inzwischen nicht mehr mit der Zitronendame unterhält sondern mit einigen älteren Männern in steifen Anzügen, die alle gleich aussehen. Obwohl ich die Spielmacher nur einmal, während der Vorbereitung auf meine Spiele, getroffen habe, erkenne ich sie sogleich wieder. Anscheinend hat sich bei ihnen nicht viel geändert, angefangen bei den uniformen Anzügen. Meine Hände werden zittrig und ohne groß darüber nachzudenken schnappe ich mir ein Glas bernsteinfarbener Flüssigkeit, das ein Avox auf einem Silbertablett durch die Menge trägt. Hauptsache meine Hände sind beschäftigt. Hoffentlich nur lasse ich das Glas nicht wieder fallen. Zum Glück ist Titanias Aufmerksamkeit noch auf Finnick fixiert und so bemerkt sie meine Unsicherheit nicht. Das Getränk muss irgendetwas alkoholisches sein, denn es brennt scharf in meiner Kehle als ich einen winzigen Schluck nehme. Ich frage mich wie Haymitch Abernathy diesen Geschmack bloß aushält. Titania schafft es jetzt endlich ihren Blick von Finnick zu lösen und sie winkt den Avox zu sich, um sich ebenfalls ein Glas zu nehmen.

„Nun denn, auf die nächsten Hungerspiele mit dir als Mentorin“, prostet sie mir zu.

„Danke“, entgegne ich als unsere Gläser mit einem leisen Klirren gegeneinander stoßen. Auch der zweite Schluck brennt in der Kehle. Nur mit Mühe unterdrücke ich ein Husten.

„Weißt du, ich habe eine kleine Vorliebe für Distrikt vier“, sagt Titania mit einem Zwinkern und deutet überflüssigerweise auf ihre thematische Stickerei am Kleid, „also bin ich schon sehr gespannt auf die 74. Hungerspiele. Zwei aufeinanderfolgende Sieger, das wäre doch ein Traum! Ich glaube das hat es seit Ophelia und wie hieß er noch… Brandon? Nicht mehr gegeben.“ Sie seufzt schwärmerisch. „Die beiden waren ein tolles Paar und so eine rührende Geschichte. Kaum zu glauben, dass sie beide schon tot sind.“

Mein Höflichkeitslächeln verrutscht leicht. Distrikt vier hat in der 73-jährigen Geschichte der Hungerspiele bisher genau neun Sieger und zwei davon sind bereits tot. Weder Ophelia noch Brandon habe ich je kennengelernt. Aber ihre Geschichte ist berühmt. Gewinner der 23. und 24. Hungerspiele im Alter von 16 Jahren. Nur ihre jüngste Tochter hatte Glück, als sie im Alter von zwölf Jahren für die 52. Hungerspiele ausgelost wurde, meldete sich jemand freiwillig für sie. Was kein Schicksal war, denn Ophelia und Brandon waren diejenigen, welche die Trainingsakademie begründet und damit unseren zeitweisen Ruf als Karrieredistrikt zementiert haben. Ich beschreibe ihre Geschichte lieber als traurig, anstatt als rührend.

„Ach, da fällt mir ein, natürlich, Cashmere und Gloss, die beiden haben auch aufeinanderfolgende Spiele gewonnen. Wie konnte ich die nur vergessen!“ Titania lacht laut und ich zucke zusammen. „Muss wohl sein, weil ich keinen Distrikt so ins Herz geschlossen habe wie vier.“

Sollte ich mich jetzt geehrt fühlen?

„Nun jedenfalls“, sie legt eine Hand auf meinen Arm, „wenn mir gefällt was ich sehe kann ich bestimmt die ein oder andere Unterstützung organisieren. Vielleicht ja auch etwas, was nicht auf dem Menü steht.“

Ich muss mich zusammenreißen um ihr nicht meinen Arm zu entziehen, denn das wäre mit Sicherheit unhöflich.

„Da werden wir bestimmt drauf zurück kommen“, entgegne ich flach. Die Gewichtigkeit von Sponsoren muss sie mir nicht erst in Erinnerung rufen. Jemand anderes an meiner Stelle hätte Titania bestimmt geschickter umgarnen können, aber ich bin froh sie überhaupt noch nicht verschreckt zu haben. „Ich fühle mich geehrt“, schiebe ich schnell hintendrein. Offenbar scheint das gereicht zu haben, denn sie zeigt mir ein neuerliches Grinsen.

„Alles für den schönsten Distrikt Panems.“

Ich könnte schwören, dass ihr Blick schon wieder zu Finnick hinüber gleitet. Ein saurer Geschmack macht sich in meinem Mund breit. Da ich nur dieses eine Getränk habe nehme ich noch einen Schluck um den Geschmack zu vertreiben. Warm kribbelnd breitet sich der Alkohol in meinem Magen aus. Titania gelingt es unterdessen Finnicks Aufmerksamkeit zu erregen. Zu meinem Übel kommt jetzt auf einmal der bunte Haufen rund um ihn herüber, auch die Spielmacher. Einzig Amber ist es gelungen sich aus dem Staub zu machen.

Mehr als einen kurzen Blick kann ich nicht mit Finnick tauschen, doch ich kann an dem Schatten in seinen Augen erkennen, dass dieses Fest ihn genauso anstrengt wie mich. Ich versuche mein Bestes, ihm ein aufmunterndes Lächeln zu schenken. Wenn wir diesen Tag durchgestanden haben können wir endlich wieder nach Hause und alles wird normal werden. Obwohl wir jeden Tag auf engem Raum beieinander waren habe ich mich noch nie ferner von ihm gefühlt als jetzt. Schon schiebt sich Titania zwischen uns und eine beringte Hand landet auf Finnicks Schulter.

Neben mir steht jetzt ein beleibter Spielmacher, der sich eifrig Häppchen in den Mund schiebt, auch wenn alle anderen schon bei den Drinks angelangt sind. Als er meinen Blick bemerkt, schenkt er mir ein Lächeln von fetttriefenden Lippen. Es kostet mich einige Überwindung zurück zu lächeln.

„Miss Cresta, ich muss sagen, ich hätte Sie fast nicht wiedererkannt heute Abend“, bringt er zwischen zwei Bissen heraus. „Das letzte Mal als ich Sie gesehen habe war glaube ich auf Ihrer Siegertour, als Sie etwas neben der Spur wirkten.“ Er lacht wenig charmant. „Es scheint als wären Sie erwachsen geworden.“

In meinem Kopf höre ich Ceces Stimme, die mir Höflichkeit um jeden Preis einhämmert. Mit dem schmalsten Lächeln erwidere ich: „Dinge ändern sich.“ Gleichzeitig versuche ich mich möglichst so hinzustellen, dass der Schlitz geringstmöglich auffällt. Lüsterne Blicke haben mir gerade noch gefehlt. Dem Spielmacher scheint es nicht aufzufallen.

„Dann können wir ja gespannt sein, was wir bei den 74. Hungerspielen von Ihnen sehen dürfen“, sagt er mit einem Zwinkern.

Zu meiner Rettung schiebt sich aus dem Nichts Trexler zwischen uns, trotz seines Alters immer noch eine imposante Erscheinung. Sein Anzug spannt sich straff über das breite Kreuz und der Spielmacher mitsamt Häppchen sucht nicht lange danach das Weite. Ich schicke Trex einen stummen Dank mit den Augen. Eine Sekunde später bin ich noch dankbarer für seine Anwesenheit, denn ich erspähe einen blütenweißen Anzug in der Menge, ganz in unserer Nähe. Der schiere Anblick von Präsident Snow schafft es mein Blut zum Gefrieren zu bringen. Wenn er nicht wäre, dann hätte ich noch eine Familie. Alles an ihm stößt mich ab, bringt die Kälte zurück in meine Glieder. Gerade will ich hinter Trex verschwinden, als Titania Creed die Aufmerksamkeit des Präsidenten auf unser Grüppchen lenkt. Ausgelassen winkt sie Snow zu und schon richten seine Schlangenaugen sich auf uns. Zu spät um abzuhauen. Also gebe ich mein Bestes um in Trexlers Schatten möglichst klein und unscheinbar auszusehen. Ich erinnere mich nur zu gut daran, wie gefährlich er ist.

Ein schmales Lächeln liegt auf Präsident Snows Lippen als er zu unserem Grüppchen stößt. „Miss Sanders, es ist mir eine Freude unsere strahlende Siegerin wiederzusehen! Ich hoffe Sie haben Spaß an Ihrem Ehrentag?“

Riven erglüht förmlich, als er sie anspricht. „So ein großes Fest ist eine wirkliche Ehre. Ich genieße jede Sekunde“, antwortet sie. Eine Bilderbuchantwort.

Auch Snow scheint es so zu sehen, denn er nickt bedächtig. Mit angehaltenem Atem schiebe ich mich weiter in Trexlers Schatten. Dieser scheint es zu bemerken und tätschelt mit seiner rauen Hand kurz die Meine. Snow jedoch wendet seine Aufmerksamkeit ohnehin Titania Creed zu, die sich jetzt darüber ergeht was für ein wundervoller Tribut Riven war und was für großartige Arbeit die Mentoren geleistet haben. Dabei himmelt sie immer noch Finnick an, als wäre er ein Gott für sie. In seinen Augen kann ich sehen wie es ihn drängt Snow auf die Sache mit den Mentoren anzusprechen. Für ihn scheint die Gelegenheit sicherlich ideal, da sogar Zeugen aus dem Kapitol anwesend sind. Vor ihnen hat Snow eine andere Rolle zu spielen. Mit einem Kopfschütteln versuche ich ihm zu bedeuten, dass es nicht mehr wichtig ist, ich meine Rolle akzeptiere. Ob er es versteht kann ich nicht sagen. Schon bei unserem Disput im Zug hat er nicht verstanden. Ich wünschte ich könnte ihm irgendwie vermitteln, dass er es nicht versuchen soll. Die Idee scheint sich jedoch bei ihm gefestigt zu haben. Dabei könnte ein falscher Satz ihn Gefahr bringen.

Der Präsident sieht aus als würde er etwas ahnen, denn er verfolgt langsam Finnicks Blick zu mir. Beinahe erwarte ich, dass etwas schreckliches passieren wird, aber er neigt nur den Kopf in meine Richtung.

„Miss Cresta, ich bin erfreut, dass auch Sie meiner Einladung gefolgt sind. Wie ich gehört habe sind Sie an der Hand verletzt? Ich hoffe die Schnitte heilen gut.“

Überrascht zucke ich zusammen. Es scheint zu stimmen, dass Snow seine Augen und Ohren überall hat. Wieder einmal zwinge ich mich zu einem Lächeln.

„Vielen Dank, Sir. In der Tat merke ich es kaum noch.“

Er lächelt, ganz so, als würde die Antwort ihn erfreuen.

„Nun denn, dann hoffe ich, dass das auch bedeutet, dass Sie Ihrer Aufgabe gewachsen sind.“

Als wäre es das Stichwort für Finnick räuspert er sich. Doch Snow kommt ihm zuvor. Ob absichtlich oder nicht, kann ich nicht sagen. Ich bezweifle, dass er etwas dem Zufall überlässt.

„Meine lieben Sieger, es wäre mir eine Ehre wenn sie mich für einen Moment begleiten. Ich hatte schon lange nicht mehr das Vergnügen Distrikt vier zu Gast zu haben. Es gibt sicherlich einiges zu erzählen. Sie müssen mir unbedingt von Miss Flanagan erzählen, denn ich sorge mich sehr um ihre Genesung.“ Einladend breitet er einen Arm aus in Richtung der großen Glastüren, die zu den Balkonen führen. Er scheint meinen Blick zu bemerken und fügt hinzu: „Um die Fische müssen sie sich im Übrigen keine Sorge machen, Miss Cresta. Wir haben Vorkehrungen zu ihrem Schutz getroffen.“

Unangenehm berührt laufe ich rot an. Ich bin nicht besonders stolz darauf bei meiner Siegesfeier in einem Teich des Präsidenten gelandet zu sein und einen der teuersten Fische zerquetscht zu haben. Was er nicht weiß, ist, dass es seine Anwesenheit war, die jene Panikattacke ausgelöst hat. Um mich herum brechen alle in Lachen aus. Anscheinend scheint ausgerechnet dieser Fehltritt dem Kapitol in Erinnerung geblieben zu sein.

Draußen auf dem Balkon empfängt uns ein frischer Winterwind. Einzelne Schneeflocken trudeln vom dunklen Himmel herab. Damit der Balkon nicht verschneit wird stehen in den Ecken große Heizstrahler. Snows Gärten sind hell erleuchtet mit dutzenden Lampions. Allerdings nehme ich ebenfalls ein schwaches Flackern wahr, direkt hinter der Balkonbrüstung, vielleicht zwei Armlängen entfernt. Ich wette, dass es ein Kraftfeld ist. Scheint als hätte es Snow nicht gefallen, dass ich mich in seine Gärten verirrt habe. Vereinzelt stehen kleine Grüppchen hier draußen, doch wir sind größtenteils alleine. Niemand, der uns belauschen könnte.

Trex steht wie ein Schatten hinter mir, stumm und abwartend. Insgeheim bin ich dankbar für seine Anwesenheit. Sollte ich wieder eine Panikattacke haben kann er mich festhalten. Riven dagegen plaudert mit Snow über ihre Spiele, wie andere über einen Spaziergang am Strand sprechen. Hintendrein folgt Finnick, endlich von Titania Creed befreit. Jetzt, wo Snow seine Pläne durchkreuzt hat blickt er noch unglücklicher drein. Sein Anblick weckt in mir den Wunsch ihn fest an mich zu ziehen. Später, wenn wir wieder in Distrikt vier sind, verspreche ich mir. Dann werde ich ihn festhalten und lange Zeit nicht loslassen. Präsident Snow beendet jetzt seine Unterhaltung mit Riven um sich wieder Finnick zuzuwenden.

„Ich glaube sie wollten mir etwas sagen?“, fragt er in überzeugendem Unschuldston.

Finnick nimmt all seinen Mut zusammen. Nach außen hin ist er schon wieder in die Rolle des selbstsicheren Siegers geschlüpft und lächelt verschlagen, aber ich kann die Risse in der Fassade sehen. Ob Snow es auch kann?

„Sir, wenn ich so frei sein darf, aber ich hätte eine Anregung vorzubringen.“

Jedes von Finnicks Worten ist sorgfältig gewählt. Er sagt nicht Bitte, versucht nicht zu flehend zu klingen. Und doch spüre ich, dass es nicht laufen wird, wie er es sich erhofft. Snow betrachtet ihn aufmerksam.

„Ich ahne bereits, was sie mir vorschlagen könnten, mein Junge. Aber gut, ich will ihre Argumente hören.“

Finnick holt tief Luft.

„Ich sage es nur ungerne, aber ich befürchte, dass es ein Fehler ist Annie Cresta als Mentorin zu berufen.“

Schweigen senkt sich über die Gruppe. Riven steht die Verwirrung ins Gesicht geschrieben. Sie ist die Einzige, die nicht damit gerechnet hat.

„Das Kraftfeld über Ihren Gärten dürfte sie ja nur zu gut daran erinnern, was letztes Mal passiert ist, als sie im Kapitol war.“ Finnick deutet hinter sich auf die Grünfläche. „Gestern war es ein zerbrochenes Glas. Aber was könnte es morgen sein?“ Hier macht er eine Pause um Snow eindringlich anzuschauen.

Ich wende meinen Blick ab. Trexlers raue Hand legt sich stützend auf meine Schulter. Auch wenn ich weiß, dass Finnick es nicht so meint, tun die Worte doch weh.

„Mit Verlaub, aber sie hat ihre Spiele durch Glück gewonnen, nicht durch Können. Distrikt vier ist stolz auf seine Sieger. Um diese Tradition fortführen zu können brauchen wir Mentoren, die wenigstens zurechnungsfähig sind. Jemanden wie Riven.“

Seine Worte verfehlen ihre Wirkung nicht. Aufgeregt schnappt Riven nach Luft. Endlich scheint ihre Chance gekommen. Ich halte meinen Blick weiterhin gegen Boden gerichtet. Am liebsten wäre ich abwesend von dieser Unterhaltung.

„Ihre Sorge rührt mich, Mr. Odair. Aber ich wüsste nicht warum das gegen Miss Cresta als Mentorin sprechen sollte. Sie hat ihre Spiele dennoch mit Bravour gewonnen. Niemand gewinnt nur durch Glück, das sollten sie eigentlich wissen. Vielleicht mag es sein, dass einige ihr den Spitznamen ‚die Verrückte‘ gegeben haben. Aber das heißt ja nicht, dass sie es wirklich ist.“ Sein Blick scheint auf mir zu ruhen. „Nein, ich glaube nicht, dass Sie verrückt sind, Miss Cresta.“ Ich wappne mich um Snow erneut anzublicken. Seine Schlangenaugen bohren sich in mich, dann wandern sie über die Blumenkrone auf meinem Haupt. „Ich würde sagen, Sie sind einfach nur anders.“ Ein Funkeln scheint durch die kalten Augen zu gleiten. „Aber das, Mr. Odair, belebt die Spiele nur. Es wäre wünschenswert, dass sie diese Aufgabe übernimmt. Schließlich wollen wir Miss Sanders doch nicht gleich im ersten Jahr überfordern. Ihre Zeit wird noch kommen. Zunächst will der Sieg genossen werden.“ Er schenkt Riven einen freundlichen Blick. Diese sieht nicht gerade glücklich aus, doch natürlich wagt sie es nicht gegen ihn zu sprechen. So einfach ist es also, schon ist Finnicks Vorhaben in sich zusammen gefallen. Er sieht aus als würde er noch etwas sagen wollen, nicht so einfach aufgeben. Kurzentschlossen straffe ich meine Schulter und komme ihm zuvor.

„Natürlich werde ich die Aufgabe übernehmen, Sir. Schließlich ist es meine Verpflichtung.“

So kann ich es den anderen wenigstens ersparen diesen Kampf für mich zu führen. Sie davor bewahren sich möglicherweise noch in Gefahr zu bringen. Snow blickt erfreut drein und tritt einen Schritt näher an mich heran.

„Nun, wie erfreulich! Ich bin mir sicher, dass Sie eine gute Mentorin sein werden, nicht wahr, Miss Cresta?“ Der Geruch von Blut scheint plötzlich von Präsident Snow aufzusteigen. Einen Wimpernschlag später scheint der Eindruck verflogen und ich nehme nichts anderes als den durchdringenden Geruch von Rosen wahr. Dennoch reicht es aus um ein Kribbeln durch meinen Körper zu senden. Worauf lasse ich mich nur ein wenn ich mich dem Kapitol als Mentorin verpflichte? Ich weiß nur zu gut wozu Snow in der Lage ist. Als Mentorin werde ich ihm nicht ausweichen können. Statt ihm zu antworten nehme ich noch einen Schluck aus meinem Glas. Der Alkohol brennt sich durch meine Eingeweide. Es ist ohnehin zu spät jetzt. Ich denke zurück an die zukünftigen Tribute in Distrikt eins. Snow hat uns zu Feinden gemacht. Alles was ich tun kann, ist unseren Kindern eine Chance zu schenken.

„Ich werde mein Bestes für die Tribute geben“, sage ich und meine es auch so. Nicht für Snow, die Zuschauer oder mein Gewissen. Aber für die Kinder wie ich es einst war, die keine andere Wahl haben.

Die Auserwählten

Klirrend schlagen die Schwerter aufeinander. Das Mädchen mit den dunkelblonden Haaren keucht, ehe sie ihren Gegner zu Boden schlägt. Dieser tritt verzweifelt nach ihr, um sie aus dem Gleichgewicht zu bringen, doch sie weicht ihm aus. Geschickt wirbelt das Schwert durch ihre Hand. In ihren blauen Augen ist kein Zögern zu erkennen, als sie die Klinge direkt auf das Herz zu stößt.

„Sehr gut, Cordelia!“ Applaus erklingt aus der Reihe Jugendlicher, die den Kampf beobachtet haben. Mit einem Mal scheint es, als hätte es den Kampf nie gegeben. Grinsend streckt Cordelia ihrem Gegner eine Hand hin, um ihm aufzuhelfen.

„Vielleicht ja nächstes Mal, Edy.“

Der Junge, ein schlaksiger Vierzehnjähriger mit wilden Locken, erwidert das Grinsen und lässt sich von ihr auf die Füße ziehen. „Das ist aber auch unfair, Elia, immerhin bist du schon viel länger dabei.“

„Keine Ausflüchte, Edy! In den Hungerspielen ist es egal wie alt du bist. Entweder du gewinnst – oder du stirbst.“ Beide Jugendlichen schauen zu der drahtigen Trainerin hinüber, die sie zusammen mit den anderen Schülern beobachtet. „Und jetzt gerade wärst du tot gewesen. Das dürft ihr nie vergessen.“

Unsicher grinst Edy. „Naja, deswegen trainiere ich ja noch. Mit Vierzehn bin ich doch noch viel zu jung für die Spiele.“ Verlegen kratzt er sich am Hinterkopf.

Cordelia lacht nur, ehe sie ihm durch die Haare wuschelt. „Unser kleiner Edy, so ein Unschuldslamm. Als hättest du uns vorhin nicht alle im Messer werfen geschlagen.“ Mit einem zielsicheren Wurf befördert sie ihr Trainingsschwert in einen Ständer. „Es haben schon andere mit Vierzehn gewonnen.“ Die übrigen Schüler stimmen in ihr Gelächter ein.

Finnick beobachtet das Geschehen aus sicherer Entfernung von der Zuschauertribüne. „Was meinst du, wird einer von ihnen sich freiwillig melden?“, fragt er Amber, die in seiner Nähe an der Wand lehnt. Seit dem frühen Morgen haben sie das Training in der Akademie verfolgt. Unter ihren wachsamen Augen haben die Schüler sich in allen erdenklichen Disziplinen gemessen. Seit dem Tod von Eric in den 73. Hungerspielen hat die Akademie weitere Schüler verloren, sodass sie nur noch 13 Kinder zählen. Der Großteil von ihnen ist noch weit entfernt von der Volljährigkeit.

Wie zu erwarten seufzt Amber nur. „Es wäre ein großes Wunder, wenn sich außer Cordelia jemand meldet. Aber Cordelia, auf sie würde ich wetten. Sie wird es Riven gleichtun wollen. Was bedeutet, dass wir immerhin einen weiblichen Tribut haben werden.“ Sie wirft Finnick einen Blick zu. „Besser eine Freiwillige als keine Freiwillige?“

Sein Blick bleibt auf die angehenden Tribute geheftet, die sich jetzt für die nächste Disziplin bereit machen. Ihr unschuldiges Lachen erfüllt die umfunktionierte Lagerhalle, die Distrikt vier seit unzähligen Jahren als Akademie dient. „Ich denke auch, dass Cordelia gesetzt ist. Zumindest etwas, womit wir arbeiten können. Auch wenn die Welt wahrlich nicht noch mehr von Rivens Art braucht.“ Jetzt ist es an ihm zu seufzen. Unterdessen bewaffnen die Schüler sich mit Dreizacken, dem Markenzeichen ihres Distrikts. Spätestens seit Finnicks eigenem Sieg mit dem goldenen Dreizack. Im Prinzip ist er nicht einmal übermäßig praktisch, mehr Show als tatsächliche Waffe. Die meisten Tribute verstehen sich besser auf den Speer und manchmal auch auf das Schwert, so wie Riven. Sie trainieren zwar alle Waffen in der Akademie, doch die jahrelange Erfahrung aus dem Umgang mit Speeren beim Fischen in flachem Gewässer prägt jedes Kind hier.

Während die Schüler sich mit ihren Waffen warm machen kommt die Trainerin zu Amber und Finnick herüber. Wie Amber hat sie glatte schwarze Haare, doch ihre sind zu einem hüftlangen Zopf zusammen gefasst. Sie war nie Teil der Hungerspiele, aber sie ist trotzdem trainiert, wie die gespannten Muskeln unter ihrer dunklen Haut verraten. Aus Erfahrung weiß Finnick, dass Lana beinahe mit jeder Waffe im Arsenal der Akademie umgehen kann. Um ein Haar wäre auch sie einst ein Tribut gewesen. Das Schicksal scheint allerdings andere Pläne mit ihr zu haben und so leitet sie seit dem Tod Ophelias die Akademie.

„Und ihr Beiden, was sagt ihr zu meinen Schülern?“ Sie lehnt sich locker über das Geländer, das die Zuschauertribüne von der Halle abgrenzt. „Jemand mit dem richtigen Kampfesgeist dabei?“

Finnick schenkt ihr ein trauriges Lächeln. „Ich glaube du weißt ebenso gut wie wir, wer sich freiwillig melden wird. Von der richtigen Motivation kann ich zwar nicht sprechen, aber sie hat Talent mit den Waffen, das kann man nicht von der Hand weisen.“

Lana wirft einen Blick über die Schulter zu Cordelia. „Wenn du mich fragst ist Cordelia noch nicht so weit. Aber nachdem Riven es vorgemacht hat wird sie es ihrer Freundin gleichtun wollen. Sie hat es noch nicht offen gesagt, aber ja, sie wird sich freiwillig melden. Es ist ihre letzte Chance auf die Spiele.“ Ihr Blick wandert zurück, zu Amber. „Ich kann ihr keinen Vorwurf machen. Sie will ihrer Freundin nur beweisen, dass sie genauso gut ist.“

Beide Frauen starren einander einen Moment lang unbewegt an. Ambers Blick wird düster. „Wir können es ihr nicht verbieten“, erwidert sie schließlich resigniert. „Als Freiwillige wird sie immerhin Sponsoren sicher haben. Damit können wir arbeiten, das gibt ihr eine Chance. Das ist mehr, als die meisten anderen haben werden.“

„Ich will doch hoffen, dass meine Schülerin die besten Chancen hat“, sagt Lana, „immerhin ist das hier mein Lebenswerk, ihnen die Chance zu geben, die ich nie haben konnte.“

„Die Spiele sind mehr als nur die Fähigkeit eine Waffe zu benutzen“, hält Amber tonlos dagegen, ein Argument, das ihr so schnell über die Lippen kommt, dass Finnick glaubt sie hätte diese Unterhaltung schon öfter mit Lana gehabt. Anders als er ist Amber teils wöchentlich in der Akademie um mit den Schülern zu trainieren. Sie kennt Lana besser als er. Er hält sich lieber fern von der Akademie und schaut nur ab und an vorbei, um zu sehen was für Tribute die Mentoren erwarten – sofern es denn Freiwillige gibt. Für ihn ist diese alte Lagerhalle ein Ort, den er nur allzu gerne in die Vergangenheit verbannen würde. In eine Zeit als er sich hungrig und einsam durch Distrikt vier geschlagen hat, als er verletzlich gewesen ist. Eine Zeit die ihn glauben ließ, dass alles besser würde, wenn er sich in der Arena bewies. Wer kann schon sagen wo er ohne die Akademie geendet wäre. Insofern hat er Ophelia einiges zu verdanken.

Seine Gedanken werden unterbrochen, als sich die Eingangstür ein Stück öffnet. Herein schlüpft Annie, in bequemer Hose und weitem Hemd. Hinter ihr fällt ein Streifen gleißenden Sonnenlichts in die Halle, der einen wunderschönen Frühsommertag verspricht. Aber die Tür schließt sich hinter ihr und es wird wieder schummrig. Ihr Blick gleitet suchend durch die Halle, ehe sie eilig zu ihnen herüber huscht, unbemerkt von den trainierenden Schülern.

Annie trägt den Geruch von Ozean, Blumenerde und Sonne mit sich, als sie auf ihn zu läuft. Wie eine frische Brise, die nach Glück riecht. Finnick kann nicht anders als sie kurz zu umarmen um dieses Gefühl in sich aufzunehmen. Er ist dankbar, dass sie gekommen ist. Die Akademie ist kein Ort für sie, aber sie bemüht sich wirklich ihrer neuen Aufgabe gerecht zu werden. Im Meergrün ihrer Augen kann er gut versteckte Nervosität erkennen.

„Danke, dass du gekommen bist“, sagt er leise.

Sie lächelt. „Es hat etwas gedauert, bis ich meinen Mut gefunden habe. Ich hatte schon befürchtet ich hätte ihn verloren, doch wundersamer Weise konnte ich noch einen Rest ungenutzten Mut entdecken.“

„Das freut mich. Warst du heute schon bei deinem Schiff?“ Er weiß, dass die Arbeit an ihrem alten Schiff sie beflügelt. Wann immer sie mit ihrer ehemaligen Klassenkameradin das Schiff auf Vordermann bringt nimmt auch ihre geistige Gesundheit zu. Bisher war er nicht wieder auf dem Schiff, das ist eine Sache zwischen ihr und ihrer Freundin. Ihm reicht es das Strahlen auf ihrem Gesicht zu sehen, wenn sie von ihren Fortschritten erzählt.

Sie nickt. „Survy und ich haben heute morgen die letzten Arbeiten erledigt, jetzt ist alles bereit für die erste große Ausfahrt.“ Ihre Augen funkeln, als sie weiter spricht. „Und ich habe vom obersten Friedenswächter sogar die Auslaufgenehmigung bekommen. Naja, eigentlich habe ich das Isla zu verdanken, aber trotzdem.“

„Und was ist mit der Angst vor dem Meer?“ Er erinnert sich nur zu gut daran wie das Wasser sie an die todbringende Flut aus ihren Hungerspielen denken lässt. Aber Annie lächelt nur noch breiter.

„Das ist kein kleines Ruderboot, das jederzeit kentern könnte, sondern das Schiff auf dem ich quasi aufgewachsen bin. Es ist schwer Angst zu haben, wenn man sich sicher und geborgen fühlt.“ Sie macht eine kurze Pause. „Außerdem habe ich immer das Gefühl, dass mein Vater über mich wacht, wenn ich bei dem Schiff bin.“

Finnicks Herz schlägt schneller. Die Aussicht auf einen Ausflug über das schimmernde Meer verlockt ihn. Am liebsten würde er sofort mit Annie losziehen. Stattdessen reißt er sich zusammen. „Dann klingt das nach einem tollen Plan für heute Nachmittag, wenn das Training vorbei ist.“

Lana und Amber schauen beide fort von ihnen, als wollen sie nicht stören. Annies Augen schweifen ebenfalls in Richtung der trainierenden Schüler. „Ich hatte irgendwie erwartet, dass es mehr wären“, bemerkt sie.

„Früher einmal“, kommt es von Amber. „Vor zehn Jahren sah es hier noch anders aus. Aber jetzt ist es längst nicht mehr so beliebt ein Tribut zu werden.“ Als sie Annies nachdenklichen Blick bemerkt schenkt sie ihr ein kleines Lächeln. „Vielleicht ist es ganz gut, wenn nicht mehr jedes Kind glaubt ein Held in den Spielen werden zu können.“

Doch Annie schüttelt langsam den Kopf. „Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen kann. Wenn es keine Freiwilligen mehr gibt, dann müssen wieder kleine Kinder in die Arena, die keinerlei Ausbildung haben. Die Schüler hier haben wenigstens eine Chance.“

„Mein Reden“, brummt Lana zustimmend. Sie wendet sich zu Annie und schenkt ihr ein kurzes Lächeln. „Schön dich mal kennen zu lernen, Annie. Ich bin Lana, die Trainerin der Akademie.“

Dem Blick in Annies Augen nach zu urteilen ist sie von der Freundlichkeit in Lanas Stimme überrascht. Sie sieht zwar nicht so finster aus wie Amber, aber vermutlich hat Annie trotzdem eine gewisse Strenge erwartet.

„Freut mich auch, Lana“, antwortet Annie. „Vermutlich werden wir uns jetzt öfter begegnen.“

„Aber Mags geht es doch besser, oder nicht?“, fragt Lana mit echter Besorgnis.

„Besser ist nicht gleich gut“, mischt Amber sich ein. „Sie muss alles wieder lernen. Seit dem Schlaganfall ist nichts mehr wie vorher. Momentan redet sie noch wie ein kleines Kind und wer weiß, wie viel sie wieder erlernen kann.“ Sie seufzt. „Ich sag es nicht gerne, aber Mags hat ihre Schuldigkeit getan. Selbst wenn sie wieder gesund wird, sie war lange genug Mentorin. Wir haben ja noch Riven, für die Zukunft.“

Damit scheint Lana sich zufrieden zu geben.

In diesem Moment rutscht hinter ihnen scheppernd ein Dreizack über den Boden, seinem Träger aus der Hand geschlagen. Annie zuckt unwillkürlich zusammen. Ohne sie berühren zu müssen spürt Finnick die Anspannung, die sie durchfährt. Anstatt in Panik zu verfallen atmet sie mit geschlossenen Augen ein und aus. „Gibt es denn Kandidaten für die nächsten Spiele?“, fragt sie schließlich, ohne sich etwas anmerken zu lassen.

„Ja, ein Mädchen.“ Finnick deutet in Richtung Cordelia, die sich gleich gegen zwei Gegner behauptet. „Siebzehn Jahre, eine Freundin von Riven. Ihre letzte Chance für die Spiele.“

Einen Moment schauen sie dem Kampf zwischen Cordelia und ihren Gegnern schweigend zu. Mit wenigen Schlägen entwaffnet sie erst den einen, dann den anderen. Erinnerungen an seine Spiele werden in Finnick wach, als er mit derselben Technik die Karrieros ausstach. Mühelos hat sein Dreizack sie alle durchbohrt. Stolz ist er nicht darauf. Es war notwendig um sein Leben zu retten, aber es wäre ihm lieber, wenn andere nicht lernen müssten es ihm gleichzutun.

Annies Blick ruht wachsam auf ihm. Wenn sie stark sein kann, dann kann er das auch. Er streicht ihr kurz über den Handrücken und gemeinsam wenden sie sich wieder dem Übungskampf zu. Ihre Hände wandern zu dem Geländer und umklammern es, bis ihre Knöchel weiß hervor treten. Über ihre Lippen jedoch kommt kein Laut. Suchend blickt Cordelia sich im Ring nach ihrem nächsten Gegner um und erblickt Edy, der gerade erst ein jüngeres Mädchen von sich schubst, den Dreizack auf ihrer Brust. Wenn das hier die Arena wäre müsste er ihr nun den Todesstoß versetzen, doch im letzten Moment verlässt ihn die Energie und er deutet ihn nur halbherzig an. Diesen Fehler, so bemerkt Finnick, hat Cordelia vorhin nicht begangen. Um ihre Entschlossenheit werden sie sich also nicht sorgen müssen. Die Kontrahenten wenden sich erneut einander zu. Ein kurzer, aber heftiger Schlagabtausch folgt. Edy zögert den entscheidenden Augenblick zu lange, sodass es Cordelia gelingt ihm die Beine wegzutreten. Binnen Sekunden steht sie über ihm, die Spitzen des Dreizacks an seinem Hals.

„Zwei zu Null für mich“, sagt sie.

Leises Keuchen erfüllt die Halle. Alle außer Cordelia sind besiegt und sitzen außer Atem auf dem Boden, wo sie gefallen sind. Lana löst sich von der Zuschauertribüne. Laut klatschend applaudiert sie der Siegerin. „Hervorragende Arbeit, Cordelia.“ Sie wirft einen prüfenden Blick über die Schulter. Ihr Blick trifft Finnicks und er ahnt, was als nächstes kommt. „Aber einen Gegner hast du noch nicht geschlagen.“

Cordelia blickt mit großen Augen in Richtung Zuschauertribüne. Sie scheint ganz vergessen zu haben, dass sie Zuschauer haben. Entschlossen wirbelt sie den Dreizack in ihrer Hand herum und tritt einige Schritte von Edy fort. Finnick blickt Annie und Amber entschuldigend an. Er sieht die Furcht in Annie aufwallen, selbst wenn es nur ein Übungskampf ist.

„Keine Sorge, ihm passiert schon nichts“, murmelt Amber, sodass nur sie drei es hören können, „die Waffen sind ja nicht einmal scharf.“ Trotzdem rutscht sie näher an Annie heran, eine kleine Geste der Unterstützung. An Finnick gewandt setzt sie hinzu: „Mach sie fertig.“ Ein seltenes Grinsen umspielt ihre Mundwinkel.

Ebenfalls grinsend schwingt Finnick sich über das Geländer. Lana wirft ihm eine der Trainingswaffen zu. Leichtfertig fängt er sie mit einer Hand. Anders als sein goldener Dreizack aus der Arena ist es nur eine grob gearbeitete Waffe, mit stumpfen Spitzen. Da die Akademie eigentlich illegal ist, sind alle Waffen entweder selbst hergestellt oder aber alt und unschädlich gemacht. In der Arena warten natürlich nur die feinsten Waffen auf die Tribute. Schaden kann es nicht, mit einer schlechteren Waffe zu beginnen, denn mit etwas Übung lassen sich mit den wirklich guten Waffen nur noch bessere Ergebnisse erzielen. Probeweise lässt er den Dreizack rotieren. Der Schwerpunkt ist nicht optimal, doch es wird reichen.

Grimmig dreinblickend steht Cordelia ihm gegenüber. Sie ist deutlich kleiner und schmaler als er, was ihr einen Bonus in Geschwindigkeit geben wird. Siegeswillen zeichnet sich auf ihrem Gesicht ab, als Finnick sich in Angriffsposition bringt. Ohne Vorwarnung stürmt sie auf ihn zu. Adrenalin schießt durch seine Adern. Alle anderen Gedanken werden vertrieben. Jetzt gibt es nur noch ihn, das kalte Metall des Dreizack in seiner Hand und die Gegnerin. Im Kampf konnte er sich schon immer verlieren. Sobald es einmal begonnen hat gibt es nur noch den trommelnden Herzschlag in seiner Brust und den Willen zu überleben. Auch wenn das hier nicht die Arena ist, so treibt der Gedanke ihn an.

Flink duckt er sich unter ihrem ersten Schlag hindurch. Sie ist gut, wirklich gut. Aber alle ihrer Techniken sind abgeschaut aus seinen Kämpfen in den Hungerspielen. Bewegungen die ihm in Fleisch und Blut übergegangen sind erkennt er sofort wieder. Binnen Sekundenbruchteilen weiß er, dass die nächste Attacke ihren Rücken ungeschützt lassen wird. Er lässt sie einen Schritt auf sich zukommen, ehe er sich unter ihrem Arm durchrollt. In letzter Sekunde gelingt es ihr herumzuwirbeln und den Schlag auf ihren Rücken zu blocken. Das Klirren der Waffen, die aufeinander prallen, zieht bis in seine Zähne. Mit einem Grinsen löst Cordelia sich aus dem Block. Taxierend umrunden sie einander. Finnick springt auf sie zu, um sie unter Druck zu setzen. Erneut gelingt es ihr zu blocken. Weitere Schläge hageln auf sie ein. Langsam aber sicher wird ihr Atem schwer. Die Anstrengung der vorhergehenden Kämpfe zehrt an ihr. Ermüdung flackert in ihren Augen. Er kennt diesen Blick aus den Spielen. Ist dieser Zustand erst einmal erreicht kann der Kampf sehr schnell vorbei sein. Um sie weiter an den Rand zu bringen weicht er ihr wieder rollend aus. Tänzelnd beschreibt er einen Kreis um sie, jederzeit bereit zuzuschlagen. Da bietet sich ihm eine Öffnung in ihrer Verteidigung. Blitzschnell springt er vor, schlägt auf ihre ungeschützte Seite zu. Sie versucht abzuwehren, doch dadurch gelingt es Finnick nur ihr den Dreizack aus der Hand zu reißen. Überraschung flackert auf, doch sie währt nicht lange. Mit blanken Händen versucht sie nach seiner Waffe zu greifen, sie ihm zu entreißen. Hart stößt er den stumpfen Dreizack zu, sodass Cordelia zu Boden stürzt. Sein Dreizack kommt Zentimeter von ihrer Brust entfernt zur Ruhe.

Das Blut rauscht noch in seinen Ohren, als der den lauten Applaus hört. So schnell wie der Rausch begonnen hat ist er auch verflogen. Beinahe macht es ihm Angst, wie leichtfertig er alles um sich herum vergessen hat, kaum, dass der Kampf begonnen hat. Selbst wenn bald zehn Jahre zwischen ihm und den Hungerspielen liegen, so steckt der Karriero noch immer in ihm. Er zieht den Dreizack von Cordelias Brust fort und hält ihr stattdessen eine Hand hin. Sie scheint über ihre Niederlage enttäuscht und gleichzeitig wütend zu sein, aber sie ergreift seine Hand trotzdem.

„Wirklich gute Form“, muss er anerkennen.

Da hellt sich ihre Miene auf und sie schenkt ihm ein dankbares Lächeln.

„Danke“, bringt sie atemlos hervor.

Lana kommt nun gemeinsam mit Annie und Amber herüber. „Danke Finnick, für den ausgezeichneten Kampf. Ein gutes Beispiel dafür, was passiert wenn man sich auf ein bestimmtes Bewegungsmuster verlässt. Wenn die Mentoren eurer Gegner schlau sind, dann werden sie ihren Tributen genau eure Schwächen zeigen können. Ihr müsst bereit sein jederzeit, mit jeder Waffe, völlig unerwartet zuschlagen zu können!“

Die Schüler formieren sich in einem Halbkreis um ihre Trainerin. Leise schiebt Finnick den Dreizack zu den anderen in ein Regal, ehe er sich wieder zu Annie stellt. Sie schaut ihn mit einem nachdenklichen Blick an.

„Nun, wie ihr bemerkt habt, hatten wir heute wieder hohen Besuch beim Training. Nach Trexler und Floogs letzte Woche wollten auch unsere übrigen Mentoren sich ein Bild von euch machen. Die Ernte für die 74. Hungerspiele steht kurz bevor und wir müssen jetzt festlegen, wer sich freiwillig meldet. Ich denke wir haben nun einen guten Eindruck bekommen wie weit euer Training gediehen ist.“ Erwartungsvolles Schweigen legt sich über die Halle. Lana wendet sich an die drei Mentoren. „Also, welcher meiner Schüler hat das Zeug ein Tribut zu werden?“

Amber nimmt Finnick die Aufgabe ab, indem sie einen Schritt vortritt. „Ich denke wir haben genug gesehen um sagen zu können, das eigentlich keiner von euch so weit ist. Die meisten von euch sind zu jung. Wenn ihr nicht mindestens sechzehn seid, dann könnt ihr es gleich vergessen. Was nicht heißt, dass ich nicht vielversprechende Talente gesehen habe. Aber schmeißt euer Leben nicht gleich weg, nur weil ihr glaubt ihr wisst worauf ihr euch einlasst. Denn für einen von beiden wird es immer ein Ticket ohne Rückfahrschein sein.“ Die Erinnerung an den letzten gefallenen Tribut scheint den Kindern noch in den Knochen zu stecken, denn die meisten von ihnen werden weiß im Gesicht, selbst Cordelia. „Nichtsdestotrotz müssen die Spiele weitergehen, ob jemand alt genug ist oder nicht.“ Amber hält kurz inne, scheint als müsse sie ihre Worte sortieren. „Wenn ich jemanden auswählen müsste“, und sie betont das letzte Wort besonders, „dann wäre es Cordelia von den Mädchen.“ Eine leichte Röte kriecht in die Wangen des angesprochenen Mädchens. „Leider kann nicht mal ich einen Jungen auswählen, da ihr alle zu jung, zu wenig trainiert seid“, schließt Amber.

Lana dankt ihr und übernimmt wieder das Wort. „Also stelle ich euch jetzt die entscheidende Frage: Will sich jemand freiwillig melden?“

Einige der Jüngeren blicken neugierig in die Runde, wohingegen die Älteren peinlich berührt auf ihre Schuhspitzen starren. Selbst Cordelia scheint sich einen Moment unsicher zu sein. Nur ein winziges Zögern, doch der Augenblick macht sie menschlicher. Schließlich strafft sie ihre Schultern und tritt einen Schritt vor. „Ich nehme die Auswahl an und melde mich freiwillig.“

Ihre Mitschüler schauen sie allesamt an, manche bewundernd, andere hingegen traurig. Als der Erste anfängt zu klatschen steigen sie alle mit ein, auch Finnick. Obwohl es bis zu den Hungerspielen noch dauert ist Cordelias Schicksal schon besiegelt.

Gemeinsam verlassen die Mentoren anschließend die düstere Lagerhalle. Draußen scheint die Sonne von einem azurblauen Himmel herab und der Wind treibt eine leichte Brise vom Meer herüber. Finnick sieht das Wasser verheißungsvoll in der Ferne aufblitzen. Sehnsucht überkommt ihn. Er kann nicht länger warten, will jetzt sofort los, hinaus auf die Wellen. Zu lange schon ist er in Distrikt vier gefangen. Als er sich zu Annie umdreht sieht er denselben Wunsch in ihren Augen.

„Ab zum Schiff, was?“, fragt Amber sie beide belustigt. Scheinbar ist ihr Plan offensichtlich. Sie lacht leise, den Blick Richtung Horizont gewendet. „Beim nächsten Mal müsst ihr mich mitnehmen. Passt auf euch auf – und mögen die Wellen euch gewogen sein.“

„Natürlich, Amber. Du bist auf der Peppersheep jederzeit willkommen“, dankt Annie ihr.

Mit einem Winken verabschiedet Amber sich in Richtung des Dorfs der Sieger. Finnick und Annie wenden sich in die andere Richtung, zum Hafen. Es ist bereits Nachmittag und der Distrikt füllt sich langsam mit Leben, als die Schule zu Ende ist. Fischer bringen die ersten Fänge in den Hafen und die Fabriken füllen sich für die Abendschicht. In all dem Trubel fallen die beiden Sieger nicht weiter auf. Vor wenigen Tagen erst sind neue Siegerpakete aus dem Kapitol verteilt worden. Dank der kräftigenden Rationen herrscht eine fröhliche Stimmung allerorts. Selbst die Ärmsten haben genug zu essen. Vor zehn Jahren gab es im Distrikt bestimmt doppelt so viele Straßenkinder, überlegt Finnick. Dank stetig steigender Fangquoten und den vielen Annehmlichkeiten, die durch die Sieger in den Distrikt kamen, geht es ihnen nun bald so gut wie in Distrikt zwei.

Als sie den Hafen erreichen kann Finnick schon von weitem die Peppersheep, Annies altes Familienschiff, ausfindig machen. Frisch lackiert glänzt der Rumpf in der Sonne. Das alte, mottenzerfressene Behelfssegel ist durch ein neues ersetzt worden. Es sticht aus der Menge der alten Kähne, an denen der Zahn der Zeit nagt, deutlich hervor. Sein eigenes Boot ist längst nicht so groß, aber er musste damit auch nie eine ganze Familie ernähren. Er hat es sich mehr als Zeitvertreib nach seinem Sieg gekauft. Im Übrigen ist er ein miserabler Hochseefischer.

„Na, was sagst du?“, fragt Annie stolz als sie vor dem Schiff halt machen. „Alles die Arbeit von Survy und mir!“

Ehrfürchtig betrachtet Finnick das alte Schiff, das nun wie neu scheint. Für drei Jahre hatte sich niemand darum gekümmert, doch nun erstrahlt der grüne Rumpf in aller Pracht.

„Endlich etwas sinnvolles, was ich mit meinem Preisgeld anfangen konnte“, erzählt Annie. „Die Farben habe ich im Kapitol abmischen lassen, extra langlebig und farbintensiv.“

Die Lettern, die das Wort Peppersheep bilden, sind in einem prächtigen Gold gehalten – das einzige Zugeständnis an den Luxus, den Annie sich nun leisten kann. Beeindruckt nickt Finnick.

„Es ist wirklich schön geworden. Deinem Vater hätte es sicherlich gefallen.“

„Das glaube ich auch. Heute morgen habe ich von ihm geträumt und er hat mir gesagt, dass er stolz auf mich ist.“ Verstohlen wischt Annie sich über die Augen, behält aber ihre Fassung. „Ich bin froh, dass Mags das Schiff gerettet hat. Jetzt kann ich mich endlich wieder selber um es kümmern.“ Sie streicht über den Bug, ehe sie die kleine Holzplanke erklimmt, die als Einstieg auf das Boot dient. „Also dann, bereit für eine Rundreise mit Kapitänin Cresta durch den schönsten Teil von Distrikt vier, Erster Maat Odair?“

Finnick lacht. „Aye-aye, meine Kapitänin!“

„Dann hol mal die Taue ein!“

Wenig später verblasst Distrikt vier hinter ihnen, als sie die Sicherheitskontrolle im Hafen passiert haben. Der kleine Schiffsmotor tuckert eifrig. Finnick sitzt direkt an der Bugspitze, seine langen Beine über die Bordkante geschwungen. Gischt spritzt ihm ins Gesicht. So fühlt er sich frei. Annie ist am Steuerrad. Wie sie so dasteht, den Wind in ihren Haaren, die Augen fest auf den Horizont gerichtet, sieht sie aus wie eine Göttin. Sie brauchen nicht miteinander reden um zu wissen, dass sie beide das Gefühl der rollenden Wellen genießen. Eine ganze Weile fahren sie schweigend hinaus auf das weite Stück des Meeres, das zu Distrikt vier gehört. In der Ferne können sie andere Boote ausmachen, kleine Fischer die eifrig am Arbeiten sind. Sie sind so weit weg, dass sie nicht mehr sind als Schemen. Auf dem Meer kann man sich wirklich alleine fühlen. Einzig die Wachtürme am Ende der Bucht halten die Erinnerung wach, dass niemand von ihnen frei ist. Im Abstand von 100 Metern riegeln die Bollwerke aus Beton und Metall ihr Stück Ozean von dem Rest des unendlichen Blau ab. Unsichtbar unter den Wellen verbergen sich Ketten aus Seemienen, die jede Flucht unmöglich machen.

Annie schaltet den Motor ab und Stille umfängt sie. Nur das leise Plätschern der Wellen, die am Schiffsrumpf lecken, bleibt. Sie setzt sich neben ihn, den Blick auf das ferne Land gerichtet.

„Hier“, sie schiebt ihm ein kleines Paket zu, „Isla hat sogar an Proviant für uns gedacht.“

Eingeschlagen in das Wachspapier liegen einige Stücke geräucherten Lachs auf Islas selbstgebackenem Brot. Grollend meldet Finnicks Magen sich zu Wort. Seit dem frühen Morgen hat er nichts mehr gegessen. Kichernd beißt Annie in ihr eigenes Brot. Es schmeckt wirklich ausgezeichnet. Selber ist er zwar ein passabler Koch, doch mit Isla kann er nicht mithalten.

„Also, was machen wir nun, da wir zumindest einen unserer Tribute kennen“, fragt Annie ihn zwischen zwei Bissen.

Er hat beinahe schon vergessen, dass er bis eben den Tag damit verbracht hat Kindern zuzusehen, die sich gegenseitig töten wollen. Das hat das Meer so an sich, es reißt einen fort aus der Düsternis des Alltags.

„Wir überlegen uns eine Strategie wie wir am meisten Sponsoren sammeln können. Sprechen ein- zweimal mit dem Tribut um mehr von ihr zu erfahren. Floogs Aufgabe ist es, unauffällig Informationen an Roan weiterzugeben, damit er weiß, für wen er Kleider designen muss. Amber und Trexler werden noch ein paar Mal in die Akademie gehen und beim Training ein besonderes Augenmerk auf sie richten, ihr einige Sachen beibringen, soweit sie können ohne aufzufallen. Früher… haben Mags und ich immer gemeinsam überlegt was die Tribute in den Interviews erzählen sollen.“

„Hmm.“ Geistesabwesend wirft Annie einige Brotkrumen hinaus auf das Wasser. Kreischend stürzen sich zwei Möwen herab. „Und was werde ich tun?“

Finnick beobachtet wie die Möwen sich lautstark um die Krümel streiten. „Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Du musst nichts tun, wir kriegen das alleine hin.“ Er spürt ihren kritischen Blick auf sich, sieht jedoch weiter zu den großen Vögeln hinüber.

„Ich möchte aber helfen. Wenn wir dieses Spiel schon spielen müssen, dann will ich nicht untätig dabei sitzen und den Horror einfach nur ertragen.“

Die Richtung, die dieses Gespräch eingeschlagen hat gefällt ihm nicht. Am liebsten würde er sie immer noch vor den Spielen beschützen. Doch Annie hat ihm eindeutig klar gemacht, dass sie ihn diesen Kampf nicht für sich ausfechten lässt. Lieber gibt sie Snow seinen Willen, als dass sie Finnick um ihre Sicherheit betteln lässt. Seit dem Ende der Siegestour haben sie das Thema nicht mehr angesprochen, vor allem weil er immer wieder davon ablenkt. Vermutlich versteht er ihre Beweggründe tief in sich drinnen, aber er schiebt das Wissen immer wieder von sich. Sie sollte es nicht akzeptieren wollen.

„Fin“, flüstert sie und ergreift seine Hand. Ihre Finger winden sich zwischen die Seinen. „Sieh mich an“, fordert sie mit sanftem Nachdruck. Widerwillig blickt er in ihr Gesicht voller Sommersprossen. „Ich weiß, dass es nicht einfach wird. Ich weiß, dass ich Albträume haben werde. Ich werde nachts nicht schlafen können und manchmal werde ich vergessen wo ich bin, wer ich bin.“ Sie holt tief Luft. „Ein Teil von mir wird immer verrückt bleiben. Aber der normale Teil in mir weiß, dass ich trotzdem helfen kann. Einen Unterschied machen kann. Mags hat mir geholfen, nicht weil sie mir nützliche Kampftechniken beigebracht hat, sondern weil sie einfach für mich da war, als niemand sonst es war. Sie hat einfach nur meine Hand gehalten und mich daran erinnert, dass ich in der Arena nicht alleine sein werde, sondern dass die Mentoren in Gedanken immer bei mir sein werden.“ Das Meer scheint sich in ihren Augen zu spiegeln, als sie weiter spricht. „Ich glaube, das kann auch ich tun. Wenigstens etwas, um diese Welt erträglicher zu machen. Dein Talent ist der Kampf, das habe ich heute erst wieder gesehen, aber dann lass mich das Meine dazu tun um unseren Tributen zu helfen.“

Nicht zum ersten Mal in seinem Leben fragt Finnick sich, ob Annie nicht so viel weiser ist, als er selbst. Mit der freien Hand streicht er über ihre Wange. „Kapitänin Cresta, es ist wirklich bewundernswert wie Sie selbst im Sturm Kurs halten können.“ Der folgende Kuss ist zart und salzig wie das Meer. Wieder ernst blickt er sie an. „Tut mir leid, dass ich dir nicht zuhören wollte bei der Siegestour. Ich…“, nachdenklich seufzend blickt er auf ihre ineinander verschlungenen Hände und realisiert erst jetzt den vollen Umfang seiner Ängste, „ich habe nur so Angst vor dem, was Snow dir alles antun könnte, wenn du erst einmal im Kapitol bist, in seiner Reichweite.“ Zögerlich blickt er ihr wieder in ihre Augen, die immer so voller Liebe sind. „Angst, dass er dich brechen will um mir das Beste in meinem Leben zu nehmen. Für ihn sind wir nicht mehr als Figuren auf einem Schachbrett, es würde ihm nichts ausmachen dir etwas antun um mich leiden zu sehen.“

Ohne, dass er es bemerkt hat rollt plötzlich eine Träne über seine Wange. Annie lehnt sich vor und küsst sie fort. „Snow ist ein Arschloch“, wispert sie. „Aber ich bin auch nicht so leicht kleinzukriegen. Mag sein, dass ich halb verrückt bin, aber eben nur halb. Er hat es also nicht geschafft mich zu brechen.“ Sie lächelt schief.

Unwillig muss Finnick doch ein wenig lachen. Wie Johanna es einmal sagte - Snow hat sie wirklich ordentlich kaputt gemacht, wenn sie sich darüber freuen nur zur Hälfte verrückt zu sein. „Ich vergesse wirklich immer, wie stark du bist.“ Er zieht Annie fest an sich und gibt ihr einen Kuss auf das Haar.

Den Rest des Tages verbringen sie weit draußen auf dem Meer, eng beieinander und weit weg von ihren Sorgen. Erst als die Sonne sich tief rot färbt kehren sie in den Distrikt zurück, ein paar kleine Fische im Gepäck. Die warme Erinnerung an diesen Tag und viel mehr noch Annie – wie sie das Schiff steuert, ihr Haar im Wind wehend und ein Lachen auf den Lippen - bewahrt Finnick in seinem Herzen, bis zu dem Tag der Ernte. Der Erntetag ist wie immer ein heißer Sommertag, an dem die Hitze sich noch unerträglicher anfühlt als ohnehin schon. Unpassend zu dem prächtigen Sommerwetter entspricht die Stimmung im Distrikt jedoch eher der eines regnerischen Herbsttags.

Bereits am Morgen treffen die Mentoren sich mit Cece im Rathaus. Draußen wird die Bühne aufgebaut, während sie drinnen die letzten Details durchgehen. Für diese Ernte hat Cece sich in ein Limetten-grünes Ensemble gekleidet, nur ihre hellorangen Korkenzieherlocken sind unverändert. Sie ist aufgeregt, plappert die ganze Zeit davon, dass sie es gar nicht erwarten kann ihre neue ‚Heldin‘ endlich kennenzulernen. Noch bevor sie Cordelia überhaupt je gesehen hat ist sie schon überzeugt davon, dass sie es in sich hat Siegerin zu werden. Niemand wagt es ihren Enthusiasmus zu bremsen, doch den Mienen seiner Leidensgenossen nach würde jeder von ihnen ihr nur zu gerne den Mund verbieten. Da ist es beinahe schon eine Erleichterung, als sie endlich auf die Bühne gebeten werden, damit die Ernte beginnen kann. Auch Riven und Mags stoßen zu ihnen, letztere noch wackelig auf den Beinen und gestützt von zwei Friedenswächtern. Finnick bietet ihr mit einem Lächeln seinen Arm an und sie stützt sich dankbar auf ihn. Er ist froh, dass sie dieses Jahr nicht dabei sein muss. Mags hat sich einen ruhigen Sommer in jedem Fall verdient. Isla wird auf sie aufpassen, das weiß er. Trotzdem hasst er es, dass sie nun ohne Mags Weisheiten auskommen müssen. Nach fast einem ganzen Leben voller Hungerspiele hat niemand so viel Erfahrung wie sie. Als würde sie seine dunklen Gedanken spüren tätschelt sie ihm liebevoll den Handrücken. Etwas unverständliches kommt aus ihrem Mund, doch er muss gar nicht verstehen was sie sagt, um zu wissen was sie ihm sagen möchte. Das alles wieder gut wird, wenn sie nur dafür kämpfen.

Wie in jedem Jahr hält der Bürgermeister eine ermüdende Rede darüber, warum ihr Distrikt die Strafe durch die Hungerspiele verdient hat. Von den dunklen Tagen ist die Rede, obwohl sich kaum noch einer an diese erinnert. Finnick glaubt, dass die Tage in denen sie leben die wahren dunklen Tage sind. Der Krieg muss schlimm gewesen sein, doch der jährliche Tod von 23 Kindern und Jugendlichen ist genauso barbarisch. Aber wie alle anderen macht er gute Miene zum Spiel. Lächelnd beklatscht er Cece, als diese auf die Bühne stolziert um die Namen zu ziehen. Vor lauter Anspannung scheint die Luft zu knistern. Die meisten dort unten wissen nicht, dass sich ein Mädchen freiwillig melden wird. Sie glauben, dass es vielleicht in diesem Jahr sie selber treffen wird. Und ein Junge wird es dieses Jahr werden, der seiner Familie entrissen wird. Er kann nur hoffen, dass es nicht wieder ein Zwölfjähriger wird. Je jünger sie sind, desto schlimmer ist es, nur ihren Sarg nach Hause bringen zu können.

„Ladies first!“ verkündet Cece freudestrahlend. Höflicher Applaus brandet auf. Sie versenkt ihre Hand mit den krallengleichen Fingernägeln in die Glaskugel, wackelt ein bisschen mit den Fingern um die Spannung anzuheizen, und schnappt sich dann einen Zettel. „Der weibliche Tribut aus Distrikt vier für die 74. Hungerspiele wird – Erissa Worth!“

Ihre Worte verklingen in der Stille, die sich über den Festplatz gesenkt hat. Die Kameras suchen ein Gesicht in der Menge – und da finden sie es, eine blasse Fünfzehnjährige die fassungslos auf Cece starrt. Cece strahlt sie an, kostet diesen Moment regelrecht aus. Sie weiß, was gleich kommen wird. Wenn Cordelia sich freiwillig meldet dann soll es aufsehen erregend werden, die Blicke der Sponsoren im Kapitol auf sich ziehen. Noch besser würde es ihr wohl gefallen, wäre das gezogene Mädchen noch jünger. Unten auf dem Platz hingegen erlebt Erissa Worth wohl gerade die schlimmsten Minuten ihres Lebens. Mit zittrigen Knien geht sie einige Schritte vorwärts Richtung Bühne, wo Cece die Hand nach ihr ausstreckt.

„Einen riesigen Applaus bitte für unseren weiblichen Tribut“, fordert sie.

Es dauert einen Moment bis die Zuschauer aus ihrer Starre aufwachen. Einer fängt zögerlich an und plötzlich applaudieren alle für das unglückliche Kind. Von Cordelia ist nichts zu sehen. Finnicks Augen suchen die Reihen nach ihr ab, doch er kann sie zwischen den vielen Jugendlichen nicht entdecken. Was, wenn sie es sich anders überlegt hat? Schließlich gibt es keine Verpflichtung für sie, sich wirklich zu melden. Vor seinem inneren Auge stürzt ihr über die letzten Wochen sorgsam aufgebautes Kartenhaus schon in sich zusammen.

Erissa Worth scheint gerade all ihren Mut zusammen nehmen zu wollen um die Bühne zu erklimmen, als doch noch Bewegung in die Reihen kommt. Entschlossen schreitet Cordelia zwischen den Leuten hervor. Alle Augen schießen zu ihr, auch die flehenden von Erissa. Cordelia läuft direkt auf sie und die Bühne zu. Kurz vor ihnen macht sie Stopp. Sie steht aufrecht, das Kinn empor gereckt. Kaum merklich zittert ihre Unterlippe als sie ruft:

Ich melde mich freiwillig!“

Ein weiteres Mal senkt sich Stille über den Platz. Cece lässt den Moment wirken, ehe sie aufgeregt ruft: „Sieht so aus, als würde jemand anderes gerne deinen Platz einnehmen, Erissa!“

Ein lauter Schrei der Freude entweicht dem Mädchen und sie wirft sich Cordelia ungestüm an den Hals. Verdutzt stolpert diese ein paar Schritte rückwärts, als das Mädchen sie innig umarmt.

„Ich überlasse ihr meinen Platz!“ platzt es aus der Fünfzehnjährigen heraus. Bevor noch jemand etwas sagen kann lässt sie von Cordelia ab und rennt über den Platz, an der Absperrung vorbei in Richtung ihrer Eltern.

Nun ist es an Cordelia mit wackeligen Schritten die Bühne zu erklimmen. Sie ist eindeutig nervös. Dennoch bemüht sie sich zu lächeln. Mit dem Mikrofon in der Hand tritt Cece zu ihr.

„Meine Liebe, was für eine schöne Überraschung! Verrate uns doch wie du heißt und wie alt du bist.“

„Ich bin Cordelia Tidemore, Siebzehn Jahre.“

„Ach, wunderbar“, quiekt Cece freudig, „sag, warum hast du dich freiwillig für Erissa gemeldet?“

Mithilfe der Mentoren hatte sie sich einen eleganten Satz für diese Frage überlegt. Wie bei jedem Freiwilligen vor ihr, scheint ihr Kopf nun allerdings leer gefegt zu sein. Die wohlüberlegten Worte sind zwangsläufig Geschichte, als sie dennoch zu sprechen beginnt. „Natürlich will ich Ruhm für meinen Distrikt erringen. Ich will dem Kapitol zeigen, was Distrikt vier so alles drauf hat – Nicht nur Distrikt eins kann aufeinanderfolgende Sieger haben.“

Immerhin ordentlich, darauf werden sie aufbauen können.

„Schön gesagt, meine Liebe. In der Tat, Distrikt vier ist nicht zu unterschätzen! Dann bitte einen riesigen Applaus für Cordelia, unseren freiwilligen Tribut!“

Distrikt vier respektiert seine freiwilligen Tribute, daher bekommt Cordelia einen ordentlichen Jubel. Dank der Unterstützung ihrer Leute scheint sie ein wenig aufzutauen und winkt in die Menge.

„Es ist Zeit für die Jungen“, verkündet Cece. Getragen von dem Hochgefühl in der Menge, nun da sie eine Freiwillige haben, versenkt Cece erneut ihre Hand. „Der männliche Tribut aus Distrikt vier für die 74. Hungerspiele ist – Varian Steed!“

Erneut suchen die Kameras die Menge ab. Finnicks Herz zieht sich zusammen als sie auf einen schmächtigen Jungen halten, der ein viel zu großes Hemd trägt. Unmöglich, dass er älter als zwölf ist. Sein blondes Haar ist beinahe durchscheinend in der Sonne. Ein Blick zu Annie sagt Finnick, dass sie ebenso schockiert ist. Ein Zwölfjähriger in der Arena, das ist als würde sich alles wiederholen. Mitfühlend beobachtet sie wie der kleine Junge sich zwischen den Leuten hervor schiebt und zögerlich in Richtung Bühne geht. Seine Schritte sind langsam, er scheint förmlich darauf zu warten, dass jemand hervorspringt um auch ihn zu erlösen. Nur, dass es niemanden gibt.

Als er auf der Bühne steht merkt auch er, dass keiner mehr kommen wird. Cece bittet erneut um Applaus, der dieses Mal deutlich weniger enthusiastisch ausfällt. Wo eben noch ausgelassene Stimmung herrschte kippt die Laune nun wieder. Gebannt starrt die Menge auf den Jungen neben der kräftigen Cordelia, eine unfaire Kombination. Langsam aber sicher füllen die Augen des Kindes sich mit Tränen. Ein Blick aus hellgrauen Augen trifft Finnick, erfüllt von Angst. Wenn er könnte, er würde sich freiwillig melden für den Kleinen.

„Auch wenn sich noch keiner gemeldet hat, gibt es vielleicht einen Freiwilligen?“ fragt Cece trotzdem noch einmal nach, in dem Versuch die Stimmung zu heben.

Das Rauschen des Windes ist die Antwort. Betretene Blicke derer, die die Ernte überstanden haben. Selbst wenn es ein Zwölfjähriger ist möchte niemand seinen Hals riskieren.

„Verdammt!“ erschallt es plötzlich aus einer der hinteren Reihen, „Ich melde mich freiwillig!“

Köpfe schnellen herum. Wütend stapft ein Junge nach vorne, die Hände zu Fäusten geballt. Er stellt sich vor die Bühne und ruft noch einmal. „Ich melde mich freiwillig!“

Die rotblonden Locken sind unverkennbar. Es ist Edy aus der Akademie. Finnicks Herz sinkt noch tiefer.

Flammen in der Dunkelheit

Gleich zwei Freiwillige für Distrikt vier, das sind wunderbare Neuigkeiten. Ich bin mir ehrlich gesagt nicht ganz sicher, was wir von Edy erwarten können, er sieht recht schmächtig aus. Aber wenn es eines gibt, was wir alle gelernt haben, dann, dass man einen Tribut niemals nach seinem Äußeren beurteilen sollte, nicht wahr Claudius?

Absolut Caesar! Wir alle erinnern uns an Johanna Mason, die uns mit ihren Tränen täuschte, bis sie plötzlich ihre Axt zückte. Wer weiß also, welche Überraschungen Edy für uns bereit hält. Seine Partnerin Cordelia hingegen, bei ihr sind die Talente wohl etwas offensichtlicher. Ich wette sie kann ausgezeichnet mit dem Speer umgehen.

Und dazu ist sie noch eine klassische Distrikt Vier Schönheit! Wirklich vielversprechend. Aber nicht nur Distrikt vier hat seine Freiwilligen, in diesem Jahr hat auch Distrikt zwölf uns eine ungewohnte Überraschung beschert...
 

Im Fernsehen läuft, mal wieder, eine Zusammenfassung der Ernte, gewürzt mit Interviews der Mentoren. Anscheinend reicht es nicht, dass wir uns das Drama bereits im Zug hierher angesehen haben. Die Gesichter der Kinder haben sich schon beim ersten Mal in meine Gedanken gebrannt. Es ist alles dabei – von mageren Kindern mit ohnmächtigem Blick zu großgewachsenen Karrieretributen. Von zwölf bis achtzehn, jede Altersstufe ist vertreten. Gegenwärtig befinden diese Tribute sich im Erneuerungscenter, nur eine Etage unter uns. Ich erinnere mich nur zu gut an den Raum aus blankem Metall, in dem ich für meinen Auftritt bei der Wagenparade vorbereitet wurde. Im Aufenthaltssaal der Mentoren ist davon nicht viel zu merken. Anstatt kalter Metallwände und skrupelloser Stylisten sind wir von Gemütlichkeit umgeben. Ausladende Sofas stehen für uns bereit, Köstlichkeiten warten an einem Buffet auf uns und durch ein bodentiefes Panoramafenster haben wir einen spektakulären Ausblick auf den Korso im Kapitol, über den sich langsam die Sonne senkt. Die Annehmlichkeiten eines Lebens als Siegerin. Und trotzdem fühle ich mich ein Stück weit, als wäre ich wieder ein Tribut in den Spielen.

Ich starre aus dem Fenster hinab auf die breite Straße, entlang derer Avoxe die letzten Vorbereitungen treffen. Zumindest vermute ich, dass es Avoxe sind, dem bewaffneten Trupp Friedenswächter nach zu urteilen die über sie wachen. Riesige Leinwände sind zu beiden Seiten des Wegs aufgestellt, damit auch ja niemand den ersten Auftritt der Tribute verpasst. Am Ende dieser Straße werden wir Mentoren später am Abend auf unsere Tribute warten. Bis dahin sind wir allerdings dazu verdammt uns im Erneuerungscenter zu „vergnügen“ wie es Cece ausgedrückt hat. Nach der allgegenwärtigen Meinung des Kapitols scheint das Vergnügen aus Essen und Drinks zu bestehen. Zumindest bei Letzterem langen einige Mentoren ordentlich zu. Allen voraus Chaff, ein Berg von Mann mit nur einem Unterarm. Er scheint ebenso ein Außenseiter zu sein wie Haymitch Abernathy. Beide sitzen mit düsteren Mienen nebeneinander auf einem Sofa, bunte Drinks in der Hand.

„Sie schaffen es nicht mal für ihre Tribute einen klaren Kopf zu behalten. Eine echte Schande“, murmelt eine dunkelhaarige Frau, die nicht weit von mir entfernt steht, ihrem Begleiter zu. „Ich würde mir echt Sorgen um Zwölf machen, wenn nicht Abernathy ihr Mentor wäre. Der schafft es noch seinen größten Triumph zu verspielen. Wann hatte sein armseliges Loch von Heimat je eine Freiwillige?“ Sie lacht freudlos auf. „Das arme Mädchen, sie kann einem beinahe leidtun. Aber umso besser für uns, wenn wir die Spiele gewinnen wollen.“

Sie wendet sich vom Fenster ab und unsere Blicke kreuzen sich flüchtig. Mit einem Grinsen zieht sie die Lippen zurück, eine Reihe spitz zulaufender Zähne enthüllend. Als sie bemerkt, wie ich einen Schritt zurück weiche wirft sie lachend den Kopf in den Nacken. Das muss Enobaria aus Distrikt zwei gewesen sein. Die meisten Mentoren sehen in der Realität unerwartet anders aus, doch ihre Zähne sind legendär. Unwohl reibe ich mir die Arme. An der Oberfläche wirken wir wie eine Gemeinschaft, aber der Schein trügt. Nicht nur unsere Tribute, nein auch wir, sind Feinde. Immer noch.

Vor dem Saal werden Schritte laut und keine Sekunde später marschieren Friedenswächter mit großen Kisten herein, gefolgt von einer älteren Dame mit strengem Dutt. Ungewohnt ist vor allem der Anblick der feinen Fältchen, die ihr Gesicht zieren. Entweder sie hält nichts von Schönheitsoperationen, oder, was wahrscheinlicher ist, sie hat ein so hohes Alter erreicht, dass die Spuren des Lebens sich nicht mehr vertreiben lassen. Sie trägt einen eleganten silbernen Anzug und aus jeder Pore scheint Autorität zu tropfen. Energisch klatscht sie in die Hände.

„Liebe Mentoren, willkommen – willkommen zu einer neuen Runde der Hungerspiele!“ Ihre Stimme schwingt in demselben lächerlichen Akzent, den Cece ebenfalls hat. „In Kürze erhalten Sie Ihre personalisierten Tablets mit denen sie wie immer vollen Zugriff auf ihr Spendenkonto, den Geschenkshop und natürlich den Vital-Tracker haben werden. In diesem Jahr gibt es einige Neuerungen, denn zum ersten Mal wird es Ihnen möglich sein, feste Allianzen Ihrer Tribute auszuwählen. Wenn Mentoren aus beiden Distrikten die Verbindung bestätigen, wird es Ihnen möglich sein Ihre Sponsorengelder zum ersten Mal in der Geschichte der Hungerspiele zu verbinden. Vorher war es nur möglich einem distriktfremden Tribut ein Geschenk von den eigenen Geldern zu bezahlen, doch jetzt können Sie sich die Kosten erstmals nach eigenem Gutdünken teilen.“ Herrisch winkt sie einem der Friedenswächter zu und diese beginnen glänzende Tablets aus den Kisten zu verteilen.

Auch ich bekomme eines dieser dünnen Wundergeräte in die Hand gedrückt. Noch schimmert das Display nachtschwarz, doch auf Anweisung der strengen Dame legen wir unseren Zeigefinger auf den Bildschirm und dieser erwacht zum Leben. Golden erblüht das Siegel des Kapitols ehe sich ein verschachteltes Menü öffnet. Ich sehe die Bilder von Cordelia und Edy, nebst ihrem Alter und Daten wie Größe oder Gewicht. Die meisten Felder, wie für Wettquoten und Sponsorengelder, sind allerdings leer.

„Sobald die Wagenparade heute Abend startet werden wir Ihnen den vollen Zugriff freischalten und Sie können live die Berichterstattung, sowie die Reaktionen der Fernsehzuschauer verfolgen. Außerdem haben wir leichte Modifikationen an den zur Verfügung stehenden Werbemaßnahmen vorgenommen. Machen Sie sich ruhig in Ruhe mit Ihren Geräten vertraut. Wie immer – bei Fragen stehe ich Ihnen jederzeit zur Verfügung. Sie erreichen mich wie gewohnt direkt über einen Holo-Anruf über ihr Tablet.“ Erneut winkt sie dem Friedenswächter und diese verteilen nun etwas, das wie ein Stapel Zettel aussieht. „Bitte denken Sie daran die Kondolenzkarten in diesem Jahr rechtzeitig auszufüllen.“ Ich starre auf das kleine Bündel weißer Karten mit schwarzer Trauerbanderole, die mir ein Friedenswächter wortlos in die Hand drückt. „Die Karten sind bis spätestens zum Interviewtag an Ihre jeweiligen Betreuerinnen weiterzureichen. Keine Ausnahmen. Auf der Innenseite der Karte finden Sie einen Vermerk an welchen Verwandten die Karte zu adressieren ist. Eine Missachtung wird Konsequenzen nach sich ziehen.“

Mit einem letzten strengen Blick wendet die Frau sich von uns ab. Die Friedenswächter packen die Kisten und folgen ihr. Elf Karten zähle ich, bereits wissend, dass ich nicht einmal eine füllen kann. Wenig liebevoll stopfe ich sie in das kleine Handtäschchen, das Roan mir zugestanden hat.

„Noch Platz für ein paar mehr von denen?“, fragt mich eine Stimme, die ich immer und überall erkennen würde. Lässig lehnt Finnick neben mir am Fenster, ebenfalls einen Packen Kondolenzkarten in der Hand.

„Schleich dich nicht so an“, sage ich vorwurfsvoll, nehme aber mit einem Lächeln seine Karten entgegen und schiebe sie irgendwie in die vollgestopfte Tasche. „Wie war dein Interview?“ frage ich. Er zuckt mit den Schultern. „So wie es halt immer ist, wenn man umwerfend ist.“ Albern schmeißt er sich in eine affektierte Pose, ein scherzhaftes Grinsen im Gesicht. Ebenso gespielt rolle ich mit den Augen. „Caesar Flickerman ist also bei deinem Anblick in Ohnmacht gefallen?“

„Nein“, er lacht, „aber zu Füßen lag er mir schon.“

„Und bei dir? Die Aussicht der Sieger genossen?“ Sein Tonfall wird vorsichtiger.

Natürlich kann ich hier nicht nach seiner Hand greifen um ihm zu zeigen, dass alles in Ordnung ist, ich auf mich selber aufpassen kann. Stattdessen beschränke ich mich auf ein Nicken. „Der Sonnenuntergang ist überall schön anzusehen.“

„Dann wird es dir nichts ausmachen, dass er dich als nächste sehen möchte?“ Es ist nur eine feine Nuance in seiner Stimme, die seine Sorge verrät. Erneut schenke ich ihm ein tapferes Nicken. Natürlich bin ich die Nächste. Wenn ich erwartet habe, dass ich verschont bleibe, dann war es naiv. Immerhin bin ich jetzt ‚die Neue‘ zwischen all den jahrelangen Mentoren.

„Wenn ich komme muss Caesar wenigstens nicht länger auf dem Boden liegen, der Arme“, sage ich in dem Versuch witzig zu sein, „denn mir muss man sicherlich nicht zu Füßen liegen.“

Finnick sieht aus als würde er darüber anders denken, verkneift sich jedoch etwas zu sagen.

Friedenswächter kommen und führen mich einen türlosen Gang entlang zum Fernsehstudio. In dem engen Raum ist es stickig und warm. Hastig wird mein Gesicht neu gepudert. Von irgendwoher taucht Kolibrichen auf um meine Haare zu richten. Kurz erhasche ich einen Blick auf das Set, eine weiße Couch, und den darauf thronenden Caesar Flickerman. Dann werde ich schon vor die Kameras geschoben. Gleißendes Licht blendet mich. Etwas orientierungslos tapse ich hinüber zu dem Schemen von Caesar. Sein Lächeln bei der Begrüßung ist fast so strahlend wie die Scheinwerfer. Das Erste, was mir auffällt, ist, dass er dieses Jahr in glitzerndes Blau gehüllt ist, von den Haaren bis zu den Schuhen.

„Blau gefällt mir, wie das Meer zu Hause“, höre ich mich sagen.

Caesar lässt ein begeistertes Lachen hören. „Danke meine Liebste“, ruft er, auch wenn er überrascht von meiner Begrüßung zu sein scheint. „Das Meer ist reizend, ganz so wie die Sieger die es uns schenkt.“ Hitze kriecht in meine Wangen.

Wir setzen uns und ich erhasche einen Blick auf jenen Monitor, der zeigt wie wir gerade im Fernsehen in ganz Panem übertragen werden. Von der Röte in meinem Gesicht ist nichts zu sehen, dank der dicken Schicht Make-Up.

„Also liebe Annie, wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen“, plaudert Caesar drauf los, „deswegen fragen wir uns natürlich alle wie es dir ergangen ist? Was macht eine Siegerin in Distrikt vier?“

Das ist eine gute Frage, darauf kann ich antworten. „Danke, dass du fragst, Caesar. Ich habe viel an meinem Schiff gearbeitet. Es wieder seetauglich gemacht.“ Mir fällt die Farbe aus dem Kapitol ein. „Dank der wundervollen Spezialfarben aus dem Kapitol sieht es jetzt besser aus als je zuvor.“ Natürlich ist das eine Übertreibung, denn früher gefiel mir das Schiff immer am Besten. Aber das wollen die Zuschauer hören, das hat Cece uns gestern auf der Zugfahrt eingetrichtert.

„Was habe ich auch anderes erwartet bei jemandem aus Distrikt vier“, lacht Caesar in die Kameras. Eine Weile führen wir diesen Smalltalk fort. Er stellt mir belanglose Fragen über Distrikt vier, mein Hobby und das Leben im Dorf der Sieger. Zwar bin ich längst nicht so charmant wie Finnick, aber ich überstehe es. Sobald das Gespräch sich wieder den Tributen zuwendet spüre ich allerdings wie meine Hände schweißnass werden. Im Fernsehen zeigen sie statt uns nun einen kleinen Einblick in das Erneuerungscenter, wo wir Zeugen werden wie Cordelias Körper enthaart wird. Beschämt wende ich den Blick ab. Es ist erniedrigend sie so zu sehen, völlig nackt und sich nicht bewusst, dass ganz Panem sie gerade beobachtet. Bis eben war es mir ebenfalls unbekannt, dass sie die Tribute während der Erneuerung filmen. Ich fühle mich auf einmal selbst entkleidet, obwohl ich hier in einem zartgrünen Kleid sitze. Unwillkürlich gleitet meine Hand an meine trockene Kehle. Unter meinen Fingern pocht der Herzschlag schnell. „Alles gut, alles gut“, flüstere ich mir zu. Jetzt darf ich nicht schwach werden, ich habe es doch fast geschafft.

„Gleich zwei Freiwillige, meine Liebe, das muss ja ein echter Traum sein für das erste Jahr als Mentorin. Wir sind ja schon sooo neugierig eure Goldstücke bald kennenzulernen! Kannst du uns nicht vielleicht ein klitzekleines Geheimnis deiner Tribute verraten? Nur um die Neugier wenigstens ein bisschen zu stillen.“

Caesar hat sich vertrauensvoll zu mir herüber gelehnt. Ihm scheint nicht bewusst zu sein wie unwohl mir gerade zu Mute ist. Leider ist deswegen auch mein ganzer Kopf wie leergefegt. Verzweifelt klammere ich mich an dem letzten Fakt fest, den ich über Edy gerade erinnere.

„Nun Caesar… ich, äh, will natürlich nicht zu viel verraten, schließlich hat… es ja noch nicht angefangen“, stottere ich mir zurecht, „aber ich denke es schadet nicht, wenn ich verrate, dass Edy der Jüngste ist, der je die Bucht von Distrikt vier durchschwommen hat.“ Das hat Edy uns gestern beim Abendessen verraten. Jedes Jahr gibt es im Frühjahr ein Wettschwimmen, bei dem es gilt von einer Seite der Bucht zur Anderen zu schwimmen. Für uns ist es ein ziemliches Spektakel und einer der wenigen Feiertage, die uns das Kapitol zugesteht. Edy hat erst letztes Jahr mitgemacht. Zwar ist er nicht Erster geworden, aber er hat die Strecke geschafft, was manch ein Erwachsener nicht packt.

Auch Caesar scheint angemessen beeindruckt und fragt mich ein wenig über das Wettschwimmen aus. Vielleicht, so hoffe ich, hilft das Edy bei den Sponsoren Fuß zu fassen.

„Annie, eine Frage habe ich dir aber noch nicht gestellt“, sagt Caesar schließlich als das Interview sich dem Ende nähert, „und zwar: Was denkst du über eure Gegner? Dieses Jahr haben wir es mit einigen Freiwilligen zu tun. Potentielle Verbündete oder Feinde?“ Er sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

Nachdenklich starre ich auf einen Fleck über seiner rechten Schulter. Vor meinem inneren Auge sehe ich im Schnelldurchlauf die gestrige Wiederholung der Ernte vor mir. Distrikt zwölf, die große Überraschung. Sicher will er darüber etwas hören. Im Vergleich sind die Tribute aus Eins und Zwei geradezu langweilig.

„Letztlich ist es eine Entscheidung der Tribute“, erwidere ich ausweichend, „aber ich könnte mir auch vorstellen ein Bündnis mit Distrikt zwölf einzugehen. Warum auch nicht? Wir sollten uns jeden Weg offen halten.“

Das scheint ihm aber noch nicht genug zu sein, denn Caesar ergreift nun meine Hand und sieht mir geradewegs in die Augen. Sein starrer Blick macht mich so unruhig, ich kann nicht einmal erkennen was für eine Augenfarbe er hat. „Aber was denkst du, persönlich, von Distrikt zwölf, meine Liebe?“

Zaghaft lächle ich. „Wir sollten sie nicht unterschätzen, Caesar.“

Laut lachend lehnt er sich zurück, die Intensität des Moments verflogen. „Meine Damen und Herren, das war Annie Cresta, Mentorin aus Distrikt vier!“

Eilig kehre ich anschließend zu den anderen Mentoren zurück. Finnick schenkt mir ein anerkennendes Nicken. Anscheinend habe ich meine Sache gut gemacht. Erleichtert atme ich auf. Zum ersten Mal an diesem Tag fühle ich mich danach einen Happen zu essen. Köstliche Törtchen füllen meinen Magen, während wir darauf warten, dass die Parade endlich beginnt. Im Fernsehen können wir die Interviews der übrigen Mentoren verfolgen, darunter, wie könnte es anders sein, Haymitch Abernathy. Das gesamte Interview über klammert er sich an dasselbe Glas pinker Flüssigkeit, das er schon vorhin in der Hand hatte. Er trinkt nicht einen Schluck, aber trotzdem scheint er nicht ganz Herr seiner Sinne zu sein. Immer wieder gleitet sein Blick abwesend in die Ferne und Caesar muss seine Fragen wiederholen. Von Seiten der Mentoren aus Distrikt zwei und eins erklingt höhnisches Gelächter. Sie nehmen ihn auf jeden Fall nicht ernst.

Bald darauf ist die Zeit gekommen unsere Tribute bei den Streitwagen wieder zu treffen. Mit dem Fahrstuhl fahren wir hinunter ins Erdgeschoss, wo uns wildes Gewusel empfängt. Nervöse Aufgeregtheit liegt über der ganzen Halle. Wohin ich auch schaue sehe ich bunt gekleidete Personen, unfähig zu unterscheiden wer zum Kapitol gehört und wer Tribut ist. Überall gibt es Farbkombinationen zu bestaunen die mir in den Augen wehtun. Selbst einige Sieger sind so exzentrisch gekleidet, dass sie in der Menge untergehen. An Finnicks Seite schiebe ich mich durch das Gedrängel. Im Vorbeigehen schnappt er sich eine Hand voll Zuckerwürfel, die eigentlich für die Pferde bereit stehen. Auf meinen fragenden Blick hin wirft er mir einen zu.

„Den Pferden geht es gut genug, aber wir haben uns ein bisschen Luxus verdient. Und es beruhigt die Nerven.“

Ich stecke mir den Würfel in den Mund und spüre wie sich Süße auf meiner Zunge ausbreitet.

Unsere beiden Tribute sind schon auf ihrem Wagen, gehören sie doch zu den ersten, die hinaus auf den Korso fahren werden. Ihre Kleider sind himmelblau und mit silbrigem Glitzer bestäubt. Cordelia ist stark geschminkt, was zu dem aufreizenden Schnitt ihres Kleides passt, das ihre Kurven umschmeichelt. Roan ist mal wieder in seinem Element. Der Blickfang ist allerdings die gewaltige Krone auf ihrem Haupt. Muscheln, Korallen und allerlei billiger Plastikkram sind zu einem kolossalen Turm verklebt, der scheinbar durch pure Magie auf ihrem Kopf hält. Auch Edy ist nicht unversehrt geblieben, wenn auch seine Krone spürbar kleiner ist. Sobald ich sie sehe muss ich an die elf Kondolenzkarten in meiner Tasche denken. Es fühlt sich an wie Verrat bereits an ihren Tod denken zu müssen.

Unsere Blicke treffen sich und sein rundliches Jungengesicht hellt sich auf. Er winkt uns freudig zu.

„Und, wie geht es euch?“, fragt Floogs als wir sie erreichen. „Zufrieden mit euren Paradenkostümen?“

Roan, der gerade Cordelias Kleid richtet, grummelt etwas unkenntliches. Cordelia schneidet nur eine kleine Grimasse, wohl um ihm gegenüber nicht zugeben zu müssen, was sie über ihr Outfit denkt, aber glücklich scheint sie nicht zu sein. Auf jeden Fall gab es schon bessere Outfits. Ich gebe es nicht gerne zu, aber mein eigenes Paradeoutfit damals war definitiv vorteilhafter. Edy dagegen grinst breit, als er erwidert: „Ich hatte schon schlechteres an. Immerhin hab ich jetzt schon mal eine Krone, vielleicht überzeugt das ja manchen Sponsor, dass es auch für die Siegeskrone reicht.“

Das bringt mich zum Lächeln. Sein Optimismus ist ansteckend, obwohl ich weiß, dass es nicht lange währen wird. Schon gestern im Zug fiel es ihm schwer die Ernte seiner Gegner gelassen anzusehen und nun gleiten seine Blicke wiederholt zu den muskulösen Karrieretributen. Den Funken Furcht in seinem Inneren kann er nicht vollständig verbergen. Er ist nicht wirklich freiwillig hier. Immerhin lässt er den Kopf nicht hängen, so wie einige seiner Konkurrenten. Aus Richtung der Distrikte eins und zwei werden längst bedrohliche Blicke in alle Richtungen verteilt, doch Cordelia und Edy werden eher mit Interesse gemustert.

„Sieht so aus als wenn die anderen Karrieros ein Auge auf euch geworfen haben“, bemerkt Amber. „Vermutlich solltet ihr euch im Training schon mal mit ihnen bekannt machen.“

„Oh, ich habe mein Auge auch auf sie geworfen“, gibt Cordelia frei heraus zu und winkt dem riesigen Jungen aus Distrikt zwei kühn zu. Der Tribut aus Distrikt zwei nickt uns knapp zu. „Ich weiß, wie wichtig Verbündete sind.“ Edy hingegen wendet den Blick ab und blickt unglücklich zu Boden.

„Na schön ihr zwei, dann seid ihr ja jetzt vorbereitet auf euren großen Auftritt, nicht wahr?“ fragt Floogs. Beide nicken. „Das Wichtigste ist, dass ihr gute Laune da draußen verbreitet, das lieben die Zuschauer. Strahlt als wärt ihr die Sonne. Dann werden sie euch nicht vergessen.“ Wie auf Kommando wirft Cordelia sich in Pose. Niemand muss ihr sagen, dass sie mit ihren weiblichen Reizen spielen sollte, sie tut es bereits ganz von alleine.

„Noch dreißig Sekunden!“ tönt eine Ansage durch die Halle.

Hastig werden letzte Korrekturen vorgenommen und Pferde scharren unruhig mit den Hufen. Plötzlich fällt mir noch etwas ein. Ohne nachzudenken platzt es aus mir heraus: „Schaut ob ihr eine Blume oder so auffangen könnt! Das lieben die Zuschauer, wenn die Tribute ein Geschenk fangen können.“ Überrascht schaut mein eigenes Team mich an. Bisher habe ich kaum etwas zu unseren Tributen gesagt, auch gestern Abend im Zug nicht. Aber jetzt erscheint es mir wichtig, ihnen diesen kleinen Tipp aus meiner eigenen Erfahrung mitzugeben. Dankbar lächelt Edy mir zu.

„Ich werds versuchen!“

In diesem Moment setzt sich der erste Wagen in Bewegung. Die großen Rolltore gleiten auf um den Blick auf den prächtig geschmückten Korso freizugeben. Eine Welle des Jubels strömt herein und schickt einen überwältigenden Schauer durch meinen Körper. Es ist genauso atemberaubend wie damals, als ich auf dem Streitwagen stand. Wir alle wünschen unseren Tributen viel Glück, sobald auch ihr Wagen sich in Bewegung setzt. In meinem Hals bildet sich ein Kloß, während ich sehe wie sie in die Nacht entschwinden.

Stumm beobachte ich die Tribute, die ihnen folgen, bis zuletzt Distrikt zwölf an mir vorbeizieht. Mein Atem stockt, als ich sie erblicke. Kohlestaub und Elend sind fortgewischt. Stattdessen steht dort auf dem Streitwagen eine Kriegerin in schimmernder Rüstung. Sofort wird mir klar, dass Distrikt zwölf nie so ausgesehen hat. Grimmig blickt sie nach vorne, nicht einen Blick an uns verschwendend. Und noch etwas ist anders – ihre Hand hält die des Jungen. Er sieht weniger wie ein Krieger aus, doch ihre Stärke färbt auf ihn ab. Vielleicht gerade, weil sie Hände halten, überlege ich. Wie von alleine folge ich dem Wagen einige Schritte in Richtung Ausgang. Während sonst oft die Kostüme die Tribute tragen ist es bei ihnen umgekehrt. Sie überschatten alles was ihr Designer ihnen angezogen hat. Mich beschleicht die Vermutung, dass er das beabsichtigt hat. Kurz vor den Toren halte ich inne, während ihr Wagen weiter fährt. Dunkelheit verschluckt sie, nur um im nächsten Moment von einer hellen Flamme zurückgedrängt zu werden. Erschrocken weiche ich einen Schritt zurück als Funken um mich her zu Boden gehen. Feuer umhüllt die Tribute aus Distrikt zwölf. Wild zucken orange Zungen über ihre Körper. Die Flammen sind stumm, brennen nur zur Show. Ihr Wagen gewinnt an Fahrt, einen Schweif aus Funken hinter sich zurücklassend. Erstarrt blicke ich ihnen nach. Ihre hoch erhobenen, verbundenen Hände umhüllt vom Feuerschein sind das Letzte was ich sehe, ehe sich die Tore des Vorbereitungscenters vor mir schließen. Vor meinen Augen scheinen die Flammen allerdings immer noch zu tanzen.

„Wow“, flüstere ich leise. Gerade will ich mich abwenden, da sehe ich Haymitch Abernathy neben mir stehen. Ausnahmsweise hält er keinen Drink in den Händen. Seine schmutzig blonden Haare fallen ihm vor die Augen, sodass ich seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen kann.

„Die Kleine ist wirklich ne Erscheinung“, brummt er.

Höflich nicke ich ihm zu, ohne zu wissen ob er mich hinter seinem Vorhang aus Haaren überhaupt sehen kann. Unsere letzte Begegnung auf der Siegestour ist mir auch jetzt noch unangenehm. Trotzdem lasse ich mich dazu hinreißen meinen Eindruck seiner Tribute mit ihm zu teilen. „Sie überstrahlen alles heute Abend. Ich weiß nicht viel über die Spiele, aber selbst ich kann erkennen, dass du zwei außergewöhnliche Tribute hast dieses Jahr.“

Lässig schüttelt er die Haare aus seinem Gesicht und mustert mich prüfend. „Muss wohl so sein, wenn alle das Gefühl haben es mir andauernd sagen zu müssen. Als hätte ich keine Augen im Kopf.“ In seinen sturmgrauen Augen sehe ich tiefliegenden Schmerz, uralt und doch frisch. Ich kann mir nur vorstellen wie viele Geister ihn seit den 50. Spielen begleiten. „Ich sehe sie und ich sehe auch die Tribute aus Eins, aus Zwei und ja… auch aus Vier.“ Sein Blick durchbohrt mich geradewegs. Fest klammere ich mich an das Tablet in meinen Händen. „Ich weiß, wir sollten Feinde sein-“

„Nein, wir sollten nicht“, unterbricht er mich, „wir sind Feinde.“

„Und trotzdem denke ich, dass sie eine Chance verdient haben“, sage ich leise, fürchte ich mich doch davor Cordelia und Edy zu verraten. Irgendwas in mir hat der Auftritt dieser anderen Tribute bewegt, nur kann ich es nicht in Worte fassen. Alles was ich weiß, ist, dass Haymitch ihnen helfen muss, sonst haben sie keine Chance.

Finnick und Amber, die offensichtlich schon auf mich gewartet haben, kommen zu uns herüber. Krachend beißt Finnick auf einen Zuckerwürfel. Grinsend wirft er einen weiteren Würfel in Haymitchs Richtung, der ihn erstaunlich geschickt aus der Luft greift. Mit einem Achselzucken wirft er sich den Würfel in den Mund, verzieht aber das Gesicht.

„Ich werde nie verstehen was du an diesem Süßkram findest.“

Darüber lacht Finnick nur und schiebt sich noch einen zweiten Zuckerwürfel hinterher. „Jeder hat so seine ungesunden Laster, Haymitch.“ Er wirft ihm einen vielsagenden Blick zu. „Sieht ganz so aus, als wenn Distrikt zwölf bei der Wagenparade dieses Jahr den Vogel abgeschossen hat“, fährt er fort, „denn die da drüben können sich gar nicht einkriegen“, er deutet hinter sich, wo der Rest von Mentoren und Stylisten tuschelnd im Kreis steht, die Blicke auf einen einsamen Monitor gerichtet auf dem wir die Parade verfolgen können. Sie zeigen fast ausschließlich die in Feuerschein gebadeten Tribute aus Zwölf. Erneut überkommt Gänsehaut mich. Haymitch schnauft angestrengt.

„Da hab ich mir was eingefangen…“

„Ja, und Annie hat Recht“, sagt Amber eindringlich, „dein Stylist hat dafür gesorgt, dass ihr Auftritt unvergesslich ist, aber danach ist es an dir, sie durch die Arena zu bringen. Zumindest dein Mädchen ist eine Kämpferin. Aus ihr könntest du was machen. Lass sie nicht hängen. Das hat sie nicht verdient.“ Bei ihren Worten werde ich rot. Eigentlich wollte ich nicht, dass sie hören wie ich unsere Schützlinge hintergehe.

„Solltet ihr nicht lieber an eure eigenen Tribute denken?“, grummelt Haymitch verstimmt.

„Keine Sorge, wir werden alles geben für unsere Tribute“, erwidert Finnick. „Aber man weiß ja nie, ob das Glück einem gewogen ist...“

„Wenn es nicht mit unseren Tributen ist, dann sollen es wenigstens würdige Gewinner sein“, setzt Amber bedeutungsvoll hinzu. „Auf die brutalen Karrieros aus Eins oder Zwei können wir alle verzichten.“

Haymitch seufzt nur. Ich spüre, dass sie recht haben und doch fühle ich mich, als würde ich unseren Tributen eigenhändig ein Messer ins Herz rammen. Sollte es uns nicht egal sein, was aus Haymitchs Tributen wird? Nein, höre ich eine leise Stimme in meinem Inneren, denn das haben die Beiden nicht verdient.

Unsere Unterhaltung wird von einer aufgescheuchten Cece unterbrochen, die uns unter wüsten Schimpftiraden in einen Wagen hetzt, der zum Trainingscenter fährt. Während der Fahrt schauen wir uns die Parade auf den Tablets an. Wieder scheint die Kamera an den Tributen aus Distrikt Zwölf zu kleben. Katniss Everdeen und Peeta Mellark, informiert das Tablet mich. Beide sechzehn Jahre alt. Immerhin bekommen unsere Tribute ebenfalls etwas Aufmerksamkeit von den Moderatoren – wegen ihrer grotesken Kronen. Besser als nichts.

Ehe ich mich versehe sind wir im Trainingscenter angekommen und die Streitwagen kommen unter lautem Klappern herein gerollt. Für kurze Zeit erhasche ich einen Blick auf die nicht mehr brennenden Zwölfer, dann scheucht Haymitch seine Schützlinge in Richtung der Fahrstühle. Alle Blicke folgen ihnen. Trotz dessen bin ich bemüht unseren eigenen Tributen ein fröhliches Lächeln zu zeigen, sobald sie von ihrem Wagen steigen. Wir loben ihren Auftritt, machen ihnen Mut, dass es schon einige Interessenten für sie gibt. Das ist nicht einmal gelogen, die ersten Sponsorenanfragen sind bereits auf den Tablets eingetrudelt. Ihr Auftritt hat damit wenig zu tun, denn es sind die üblichen Verdächtigen wie Amber mir versichert, die jedes Jahr für Distrikt vier spenden. Leute wie Titania Creed, die nur spenden weil sie einen Narren an Finnick gefressen haben. Mir soll es recht sein, so ist das Leben einfacher, als in armen Distrikten. Wie Distrikt zwölf. Aber nach diesem Auftritt… wird sich bestimmt ein Sponsor finden lassen. Mein Herz wird schwer, während ich erahne, dass wir es schwer haben werden in diesem Jahr.

Hoffnung

Brennender Schmerz verzehrt ihn. Seine Lunge steht in Flammen, jeder Atemzug schürt das Feuer in seiner Brust. Trotzdem rennt er weiter, immer weiter. Er spürt nichts außer dem Brand der ihn schwächt und gleichzeitig antreibt. Hinter sich hört er schwere Schritte. Verzweifelt spornt er sich an schneller zu rennen. Nur noch ein wenig, verspricht er sich, dann wird das Blatt sich wenden. Atemlos stürzt er auf den See unter dem donnerndem Wasserfall zu. Eisiges Wasser empfängt ihn. Heißes und kaltes Feuer ringen in seiner Brust miteinander, unbeachtet von ihm. Den goldenen Dreizack in den Händen taucht er ein. Wasser ist sein Element. Flink wie die kleinen Fische um ihn her schwimmt er über den niedrigen Grund, bis dorthin wo sein Netz verborgen ist. Geschickt überwindet er die Falle, um hinter ihr aufzutauchen. Silbrig glitzernd perlt das Wasser im Mondschein von ihm ab. Seine Verfolger können ihn nicht übersehen.

Prüfend wiegt er den Dreizack in seiner Hand. Jetzt wird es sich entscheiden. Mit schimmernden Waffen kommen sie aus dem dichten Urwald hervorgeschossen. Ein Pfeil schießt ohne Warnung auf ihn zu. Sein Herz rast, als er sich im letzten Moment duckt. Lachen ertönt. Seine Gegnerin legt einen neuen Pfeil an ihre Sehne, angefeuert von ihrem Verbündeten. Seinem einstigen Verbündeten. Doch das Gefühl von Freundschaft ist längst erstickt. Er kann es sich nicht leisten daran zu denken. Was zählt ist einzig das Überleben. Wieder schießt ein Pfeil knapp an ihm vorbei. Sie spielen mit ihm. Eine Jägerin hätte längst getroffen und sie ist eine Jägerin. Fraglos ist es eine gute Show für die Zuschauer, aber er will es beenden. Jetzt. Aus den Tiefen seines Inneren steigt ein rasselndes Lachen auf und er schüttelt den Kopf. Mit einem Grinsen wird der Bogen fallen gelassen. Diesen letzten Kampf werden sie austragen wie Tiere. Wild und von Angesicht zu Angesicht.

Ganz wie beabsichtigt kommen sie durch das flache Wasser auf ihn zu. Er weicht ein paar kleine Schritte zurück. Feine Gischt von dem Wasserfall prickelt in seinem Nacken. Bis zur Hüfte steht er im See. Die letzten Sekunden vor ihrem Zusammentreffen scheinen sich bis in die Unendlichkeit zu dehnen. Dann tritt sie in die Falle. Verwirrung gleitet über ihr Gesicht, aber da reißt er auch schon an der verborgenen Schnur und sie verliert das Gleichgewicht. Ihr spitzer Schrei zerreißt die sommerliche Nacht. Sie strampelt, doch das Netz schließt sich nur enger um sie. Mit einem Ruck zieht er sein Opfer heran. Knackend durchstößt der Dreizack ihren Brustkorb. Leise pfeifend erstirbt ihr Atem auf den Lippen. Ihre letzten Worte bleiben für immer ungesagt. Gefühle wirbeln in seinem schmerzenden Inneren auf, dennoch hält er nicht inne, um dem Zweifel keinen Raum zu lassen. Er wendet sich von ihr ab, gerade noch rechtzeitig. Klirrend schlägt ein Schwert gegen seinen zur Abwehr erhobenen Dreizack. Der Schock des Schlags vibriert durch seine Knochen. Verbissen fangen er und der nächste Gegner an miteinander zu tanzen, einen Tanz auf Leben und Tod. Sie treiben einander im Kreis, Schlag um Schlag. Sein Gegenüber muss sterben, das ist der einzige Weg. Mit dem Netz gelingt es ihm den Schwertarm des Jungen einzufangen.

Wie ein Scheinwerfer erhellt der Mond die entscheidenden Sekunden ihres Kampfes. Verbissen sieht sein Gegner ihn an und schreckliche Erkenntnis durchflutet ihn, betäubt selbst den stechenden Schmerz in seiner Lunge. Er kann es nicht mehr aufhalten, die Waffe ist längst in Bewegung um ihre Bestimmung zu vollbringen. Sein Dreizack durchbohrt den Jungen mit dem sommersprossigen Gesicht. Edy stürzt herab in das rote Wasser, neben die Leiche von Cordelia.

Donnernd hallt ein Kanonenschuss durch die Arena, doch Finnick hört ihn nicht mehr. Schweiß überströmt wacht er auf. In der Stille der Nacht hört er seinen rasselnden Atem, ansonsten ist alles still. Ein Blick aus dem Fenster zeigt ihm, dass das Kapitol in tiefem Schlaf liegt. Es dauert einen Moment bis sein Herz wieder im Rhythmus schlägt. Der Albtraum versteckt sich immer noch in seinem Inneren und lässt ihn frösteln. Um die Kontrolle über seine zitternden Gliedmaßen zurück zu erlangen atmet er tief ein und aus, ehe er an drei Gründe denkt, weshalb der Albtraum nicht real ist. Eine Technik, die ihm Mags einst beibrachte und die auch jetzt wieder Wirkung zeigt. Lange nicht mehr hat er von seiner Arena geträumt. Heute sind seine schlimmsten Ängste andere als früher. Die Furcht, dass Annie etwas zustoßen könnte ist schlimmer als die Erinnerung an seine Spiele. Nur, dass dieses Mal etwas anders ist. Seine Gegner trugen die Gesichter ihrer Tribute. Anstatt sie zu beschützen hat er sie getötet, im Traum. Ein bitterer Geschmack macht sich in seinem Mund breit. Die Schuld am Tod so vieler seiner Schützlinge ist ebenfalls schlimmer als seine Taten in der Arena. Ihre Namen begleiten ihn stets und wie ein Mantra sagt er sie auf.

Amylin, Flynn, Ephigenie, Titus, Carla, Matthew, Pon, Sia, Gavin, Ylvi, Sam und Eric.

Nur zwei hat er je retten können. Er ist nicht bereit weitere Namen auf die Liste zu setzen. Mags würde ihn schelten, sagen, dass es nicht seine Schuld ist. Die Spiele haben sie genommen und niemand vermag es alle Tribute zu beschützen. Doch jetzt ist sie nicht da, wie er mit Bitterkeit realisiert. Dabei könnten sie ihren Rat wirklich gebrauchen. Sie wüsste, was zu tun wäre, auch in Hinsicht auf Distrikt zwölf. Ob sie wirklich Hoffnung angesichts dieser ungewöhnlichen Tributin haben sollten. Wie viel sie es wert ist zu riskieren. Das Leben der eigenen Tribute? Ihn fröstelt es bei diesem Gedanken. Dieser Preis sollte zu hoch sein und trotzdem – es kann nur einer gewinnen. Was bringt eine zweite Riven wenn sie eine Heldin haben könnten? Zumindest würde Haymitch auf Mags hören und somit selber versuchen können das Leben seiner Schützlinge zu retten. Dessen ist Finnick sicher. Er kann nur versuchen den gleichen Einfluss auf ihn auszuüben.

Seufzend steht er auf um ein Glas Wasser zu trinken. Seine Gedanken drehen sich um sich selbst, diesen Teufelskreis muss er dringend unterbrechen bevor er wahnsinnig wird. Ein Blick auf die Uhr sagt ihm, dass es erst vier Uhr in der Frühe ist, doch für ihn ist die Nacht vorbei. In seinem Kopf fangen die Räder bereits wieder zu rattern an, in eine andere Richtung diesmal. Gedanklich überschlägt er längst den Plan für die nächsten Tage. Irgendwie muss er seine Tribute durch die Trainingswoche bekommen und gleichzeitig nach einem möglichen Ansatz für die Rebellion forschen. Ganz offensichtlich hat es mit dem Plan den bestimmten Jungen aus Zwölf einzuschleusen nicht geklappt. Er fragt sich, ob das wohl seinem Widerstand gegen diesen niederträchtigen Plan zu verdanken ist. Der Junge aus Zwölf ist jedenfalls nicht der, den Distrikt dreizehn sich erhofft hat. Vielleicht ist aber auch nur ihr Versuch die Ernte zu manipulieren fehlgeschlagen. Nun, eventuell wird ein Besuch bei Titania Creed neue Perspektiven eröffnen.

In Gedanken versunken verlässt er sein Zimmer und wandert durch die leeren Gänge. Die frühen Morgenstunden gehören ganz allein ihm. Die Anderen sind eher Langschläfer, was ihm nichts ausmacht. Er genießt die Ruhe im Schatten der Nacht. Mit seinem Tablet setzt er sich in das dunkle Wohnzimmer und scrollt durch die Sponsorenanfragen. Erst nach den Interviews wird es so richtig losgehen, doch ihr inoffizieller Status als kleiner Karrieredistrikt verschafft ihnen zumindest einen Vorsprung. Unter seinen Nachrichten ist auch eine, die ihn über ein angesetztes Treffen mit Titania Creed informiert. Sie lässt wirklich nichts anbrennen, stellt Finnick fest. Gleich nach den Interviews will sie ihn sehen. Er akzeptiert, viel anderes bleibt ihm ohnehin nicht übrig.

Da bemerkt er, dass auch Johanna schon – oder noch – wach zu sein scheint, zumindest leuchtet das Licht neben ihrem Namen im Nachrichtenportal grün. Lächelnd schickt er ihr eine Direktnachricht.

Schlaflos?

Es dauert nicht lange und ihre Antwort blinkt auf.

Vielleicht. Außer morgens hat man hier ja nie seine Ruhe.

Ihr Seufzen kann man förmlich hören.

Und jetzt kommst du und klaust mir das letzte bisschen Ruhe.

Sie meint es nicht so, das weiß er. Schmunzelnd tippt er seine Antwort.

Lass mich raten, du reagierst dich gerade ab.

Ihre Nachricht kommt prompt.

Was auch sonst?

Er fragt nicht erst, ob er ihr Gesellschaft leisten soll, sondern ist keine Minute später im Fahrstuhl Richtung Trainingshalle. Im Keller brennt nichts außer dezenter Notbeleuchtung. Vor dem Eingang zu den ‚heiligen Hallen‘, wie Amber das Trainingscenter nennt, sitzen zwei gelangweilte Friedenswächter. Höflich nicken sie Finnick zu, sobald sie ihn erkennen.

„Moin“, grüßt er freundlich. Es ist normalerweise nicht erlaubt die Halle außer zu den offiziellen Zeiten zu besuchen, aber sie halten ihn nicht auf. „Wie geht‘s deiner Frau, Edmont?“, fragt er den kleineren Soldaten. „Hab gehört ihr habt jetzt eine Tochter?“ Das runde Gesicht des jungen Mannes hinter dem Visier hellt sich auf.

„Hallo Finnick! Ja, vor wenigen Wochen erst ist unsere Kleine auf die Welt gekommen. Wir haben sie Rivenna genannt, in Anlehnung an eure letzte Siegerin. Meine Frau ist sooo ein Fan von ihr. Ist sie vielleicht auch hier?“ Hoffnungsvoll blickt er Finnick an. Der lacht fröhlich.

„Das ist aber eine große Ehre. Aber du kennst doch die Regel, Edmont, keine frischgebackenen Sieger als Mentoren. Sie hat jetzt ihr Jahr Ruhezeit.“ Er zwinkert dem Wächter zu. „Nächstes Jahr wird sie dir bestimmt ein Autogramm geben.“ Etwas enttäuscht tritt der Mann zurück.

„Das will ich hoffen“, sagt er gespielt streng. „Na, dir jedenfalls viel Spaß.“

Und einfach so schlüpft Finnick durch die Türen ins Trainingscenter. So läuft es schon seit Jahren. Edmont ist ein gutmütiger Typ, immer darauf bedacht mit den Siegern einen netten Plausch zu halten. Also ist Finnick nett zu ihm und im Gegenzug erfreut er sich an einigen verbotenen Annehmlichkeiten, wie dem Zutritt zur Halle.

Der Großteil des Trainingsbereichs liegt im Dunklen, nur im hinteren Teil brennt eine Lampe. Die schmale Gestalt Johannas steht von Dummys umringt im Lichtschein und lässt ihre Axt fliegen. Mit einem satten Geräusch dringt sie in den Brustkörper einer Puppe ein. Sie stemmt ihren Fuß gegen den Oberkörper und zieht die Axt mit Schwung heraus. In derselben Bewegung schlägt sie der Figur daneben den Kopf ab. Finnick schnappt sich unterwegs einen schlanken Speer von einem Ständer. Locker wirft er ihn, sodass er sich nur mit halber Kraft in den nächsten Dummy gräbt. Dennoch tritt die Spitze vorne an der Brust wieder aus. Johanna wirbelt herum, ein wildes Grinsen im Gesicht.

„Danke für die Rückendeckung“, sagt sie keuchend. Krachend landet ihre Axt in der Schulter des durchbohrten Dummys, dem Letzten im Kreis der noch steht.

„Ich muss dich ja schließlich vor den bösen Puppen retten“, erwidert er. „Nicht, dass sie nachher meine Lieblings-Johanna auf dem Gewissen haben!“ Schnaubend wendet Johanna sich ab.

„Wovon träumst du eigentlich nachts?“

Lachend zieht er den Speer wieder aus dem Trainingsdummy.

„Das willst du nicht wissen.“

„Wenn es eine deiner Geliebten beinhaltet sicherlich nicht, das stimmt.“

Sinnloses Geplänkel für die Kameras und Wanzen in den Wänden – nicht, dass jemand auf die Idee kommen würde die Aufnahmen mitten aus der Nacht je anzusehen. Trotzdem hält einzig die Vorsicht sie am Leben. Nach all den Jahren haben sie so etwas wie eine Routine entwickelt, ein gut eingeübter Tanz, bei dem jeder die Schritte des Gegenübers vorhersehen kann.

„Für so jemanden hältst du mich?“ erwidert er übertrieben schockiert. „Jo, ich dachte du kennst mich besser. In meinem Leben gibt es nur eine wahre Liebe! Ich glaube es war, hm“, grüblerisch legt er den Finger ans Kinn, „warte kurz, ihr Name fällt mir gleich wieder ein!“

Johanna rollt mit den Augen.

„Schick mir ein Memo, falls es dir wieder eingefallen ist.“ Energisch reißt sie ihre Axt aus dem erledigten Dummy und fängt unter lautem Geklapper an die ramponierten Körper wegzuräumen. Finnick springt ihr zur Seite. Zu zweit haben sie die Spuren des nächtlichen Trainingskampfs schnell beiseite geräumt. Wie durch Zufall stehen sie am Ende in der Mitte des Trainingscenters, unterhalb des Balkons von wo die Spielmacher das Training überwachen. In Wirklichkeit aber haben sie diesen Punkt sorgfältig ausgewählt. Unauffällig lässt Finnick seinen Blick über die stahl-verkleideten Wände gleiten. Neue Wanzen oder Kameras in diesem Teil der Halle kann er nicht entdecken. Zum Glück weiß er dank Beetees Fachwissen, nach welchen verräterischen Zeichen er Ausschau halten muss.

„Scheint ganz so, als wäre dieser Punkt immer noch tot“, murmelt er leise an Johanna gerichtet. Diese nickt bestätigend.

„Ich hab schon gesucht, aber nichts entdecken können.“ Kurz schweigt sie, dann sagt sie: „Snow ist ein verdammter Dreckskerl.“ Für ein paar Sekunden hält sie die Luft an, als fürchte sie, dass Friedenswächter durch die Türen stürmen, doch alles bleibt still. „Ah, tut gut das zu sagen.“ Ein gemeines Grinsen legt sich auf ihr Gesicht. „Der Traum ihm endlich meine Axt in den Schädel zu rammen ist der Schönste, den ich habe und wenn ich hier bin träume ich ihn jede Nacht.“

Unangenehm kalt läuft es Finnick bei der Erinnerung an seinen heutigen Albtraum den Rücken herab. Er lässt sich auf eine Kiste sinken, den Rücken zu den nächsten Kameras. In seinen Jahren nach dem Sieg hat er ganz genau ausgelotet wo das Kapitol überall zuhört oder sieht. Viele tote Punkte gibt es nicht, die Überwachung ist quasi nahtlos. Dass es hier, direkt unterhalb der Spielmacher-Lounge, einen kleinen Punkt gibt an dem keine Wanze mithört, ist natürlich kein Zufall, sondern das Ergebnis gezielter Manipulation durch einen Schläfer im Kapitol. Ein kleiner Erfolg, von ungeheurer Bedeutung für die Rebellion.

„Wie geht es dir, Jo?“ fragt er mit ernster Stimme. Die Zeit des Geplänkels ist vorbei. Sie sieht ihn an, dunkle Schatten unter ihren Augen.

„Beschissen, wie sonst?“ Sie beschäftigt sich damit den Bogen und Pfeil in Augenschein zu nehmen, die auf einem Ständer neben ihr hängen. Prüfend biegt sie einen Pfeil in ihren Händen. Er weiß genau, dass sie nur etwas tun will um ihn nicht ansehen zu müssen, wenn sie über ihre Gefühle spricht. Das hat sie schon immer getan.

„Ich hab zwei Kinder abbekommen, die keinerlei Erfahrung im Kampf haben. Fabrikarbeiter, sie haben ihr ganzes Leben nichts anderes getan als in der Papierfabrik am Band zu stehen und zur Schule zu gehen. Keiner von beiden hat auch nur eine Axt in der Hand gehalten.“ Ihre Stimme ist bitter. „Sie sind tapfer, aber wir wissen alle, dass sie keine Chance haben werden. Höchstens Glück, aber…“ sie lacht trocken auf, „auf Glück kann man sich nicht verlassen.“

Finnick seufzt bei dem Gedanken an seine beiden Tribute.

„Unsere Tribute haben sich freiwillig gemeldet, aber mehr, weil es sonst die Jüngsten und Schutzlosesten getroffen hätte. Sie haben das Herz am rechten Fleck. Genau das könnte ihnen das Genick brechen. Ich habe sie kämpfen sehen, da ist Talent, nur ist es nicht ausgereift. Es bräuchte mehr Zeit“, sein Blick fällt auf den glänzend polierten Boden, „Zeit die wir nicht haben.“ Ein Gefühl als wäre sein Herz von einer eisernen Faust umschlossen macht sich in ihm breit. Ihre toten Gesichter aus seinem Albtraum kommen ihm wieder in den Sinn. Er will sie nicht aufgeben und doch weiß er aus jahrelanger Erfahrung, dass ihre Chancen gering sind. Als er aufblickt sieht Johanna ihn direkt an.

„Verfickte Scheiße“, sagt sie tonlos. Ausnahmsweise ist er ihrer Meinung.

„Sonst irgendwelche Neuigkeiten die mehr Mut machen?“ fragt er, um sich von den verdammten Tributen abzulenken. Johanna dreht den Pfeil geistesabwesend in ihren Händen.

„Tatsächlich ja. Also Neuigkeiten. Ob sie Mut machen, keine Ahnung. Beetee hat mir vor der Wagenparade ein paar Infos zustecken können. Von dem Aufstand in Elf weißt du?“ Bestätigend nickt er. „Gut, denn der Junge aus Elf, er ist der Sohn des Anführers. Hast du ihn mal richtig angesehen?“ Diesmal schüttelt er den Kopf. Bei der Parade sind jedes Mal so viele Menschen, dass man unmöglich alle Tribute erfassen kann, wenn man nur hinter den Kulissen ist. Und in diesem Jahr hat Distrikt Zwölf all seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Johanna lächelt grimmig.

„Er wird dir gefallen. Ist ein großer Junge, Achtzehn, sieht aus als hätte sein Vater ihm das ein- oder andere mitgegeben. Ich wette er kann mit Waffen umgehen. In seinen Augen brennt der Überlebenswille.“

„Was ist mit dem Mädchen?“

Jetzt verändert Johannas Miene sich. „Sie ist zwölf. Winziges Ding, sieht aus als könnte sie bei einem Windstoß davon fliegen.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Beetee meinte sie wäre wohl auch entfernt mit einer vom Aufstand verwandt. Aber nicht wirklich wichtig.“

Langsam nickend verarbeitet er die Informationen. Der eiserne Griff um sein Herz lockert sich etwas, als zarte Hoffnung in ihm erwacht. Ein Achtzehnjähriger mit Waffenkenntnis und einer offenen Rechnung mit dem Kapitol. Vielleicht hat Distrikt dreizehn es doch nicht vermasselt den Jungen aus Zwölf einzuschleusen, sondern die Strategie geändert. Sollte das Kapitol sich sein eigenes Grab schaufeln wäre es natürlich noch besser.

„Also, hat Beetee schon gesagt was die Strategie ist?“

Säuerlich schaut Johanna ihn an. „Nein. Fürs erste Beobachten. Chaff und Seeder wissen, was jetzt in ihren Händen liegt. Also müssen wir wieder einmal untätig herumsitzen und versuchen nicht durchzudrehen, während unsere Tribute hoffen irgendwie zu überleben.“

„Und Distrikt Zwölf? Was denkst du über sie?“ stellt er schließlich die Frage, die ihm schon die ganze Zeit auf dem Herzen lag.

„Zwölf?“ Ihr kurzes Kichern klingt fies. „Ein gutes Paradenoutfit macht noch keinen Gewinner, Finnick.“

Nun ist es an ihm genervt mit den Augen zu rollen. „Das weiß ich“, sagt er harsch, „aber ich habe auch gesehen, wie sie sich freiwillig gemeldet hat. Sie ist bereit alles für ihre Schwester zu geben. Alles. Das ist kein Mädchen wie sonst, das am Füllhorn stirbt. Himmel, sie ist ja nicht mal so unterernährt wie die Zwölfer sonst.“

Wenig überzeugt legt Johanna den Pfeil weg und verschränkt die Arme. „Selbst wenn, mit Abernathy als Mentor hat sie nicht viele Chancen. Solange er lieber säuft als Sponsoren zu umwerben sehe ich schwarz für seine Tribute.“

„Aber was, wenn wir ihn überzeugen können? Du weißt genauso gut wie ich, dass er“ und an dieser Stelle senkt er seine Stimme, „unserer Sache zugeneigt ist. Allein der Frust von mehr als 20 Jahren Hungerspiele hat ihn seiner Motivation beraubt. Doch sie könnte seine Chance sein. Verdammt, Jo, sie hat sich freiwillig gemeldet, ohne ein Karriero zu sein. Wir wissen beide wie selten das ist. Die Zuschauer aus den Distrikten werden auf ihrer Seite sein, sobald ihre Tribute tot sind. Einfach nur, damit nicht wieder dieselben Distrikte gewinnen.“ Unglücklich bemerkt er, dass das auch seinen eigenen Distrikt einschließt. Sie sind nicht so schlimm wie Eins oder Zwei, aber trotzdem sind sie nur im Kapitol Publikumsliebling.

„Glaubst du nicht, dass es ein bisschen spät ist um Abernathy vom Alkohol zu entwöhnen?“

Er zuckt mit den Schultern. „Wir haben es ja noch nicht wirklich versucht. Aber willst du wirklich, dass ihr Schicksal auf den Schultern von Effie Trinket ruht? Ich mein, selbst wenn sie ihr Potential erkennt, alleine wird sie nie so viele Sponsoren gewinnen können. Betrachte sie als… einen Backup-Plan, falls dem Jungen aus Elf was passiert.“

Das scheint Johanna endlich zu überzeugen. Sie lässt die verschränkten Arme sinken. „Gewonnen. Auch wenn ich es nicht gerne tu, aber ich werde dir helfen Abernathy das Saufen zu verleiden. Im Gegenzug dazu fordere ich dich zu einem Duell heraus!“ Auffordern streckt sie ihre Hand nach ihm aus, um ihn von der Kiste hochzuziehen.

„Angenommen.“ Er greift nach ihrer Hand und gemeinsam gehen sie in den überwachten Bereich der Halle zurück. Das Gefühl von Hoffnung in seiner Brust allerdings wird stärker. Er kann nur hoffen, dass es ihn nicht zum Narren hält. Nichts ist schlimmer als jegliche Hoffnung in der Arena sterben zu sehen.

Später am Tag sind die Tribute im Trainingscenter und die Mentoren haben Zeit zur freien Verfügung. Wirklich etwas zu unternehmen gibt es in ihrem abgeriegelten Turm freilich nicht. Entweder man bleibt in seinem zugeteilten Apartment, oder man geht in den Aufenthaltssaal im Keller um sich mit den übrigen Mentoren zu treffen. Da es dort eine Bar und reichlich Alkohol gibt beschließt Finnick dem Saal am Nachmittag einen Besuch abzustatten. Am Vormittag sind die Chancen schlecht Haymitch Abernathy zu treffen, da er meist bis Mittags schläft. Abgesehen davon freut Finnick sich darauf ein paar andere Sieger wieder zu treffen, die er zuletzt auf der Siegestour gesehen hat. Die anderen Mentoren begleiten ihn nicht, sondern bleiben lieber für sich. Amber hat sich in ihrem Zimmer eingeschlossen um die perfekte Strategie für Cordelia auszuarbeiten, während Floogs und Trexler das Gleiche für Edy erarbeiten. Morgen werden sie darüber sprechen und dann versuchen die nötigen Allianzen für ihre Tribute zu schmieden. Trotzdem fühlt Finnick sich schuldig, dass er im Moment keinem von seinen Tributen hilfreich ist. Mit aller Macht muss er sich daran erinnern, dass er all dies tut in der fernen Hoffnung auf ein Panem ohne Hungerspiele, dass es nicht sinnlos ist.

Annie lässt er vor dem Fernseher zurück, wo sie völlig gebannt eine Sendung über den Zoo des Kapitols verfolgt. Begeistert schaut sie den kleinen Pinguinen zu, die durch ihr Wasserbecken treiben. Solche Tiere gibt es nur hier zu sehen. Wie gerne würde er ihr die Tiere in echt zeigen, doch niemand darf das Trainingscenter verlassen. Außer wenn Snow höchstpersönlich es gestattet. Immerhin scheint sie glücklich beim Anblick der Tiere. Neben ihr sitzt Rosetta, oder, wie Annie sie nennt – Kolibrichen. Eifrig zeichnet sie Varianten der Outfits für die Interviews. Hin und wieder fragt sie Annie nach ihrer Meinung, ansonsten schweigen sie. Finnick beschließt, dass Annie ihn nicht vermissen wird, solange sie so beschäftigt ist. Sie alleine zu lassen macht ihn unruhig, gerade hier im Kapitol. Doch er weiß, dass sie stärker ist, als es den Anschein macht. Er muss lernen ihr mehr zuzutrauen.

Im Kellersaal angekommen findet er nur wenige Mentoren vor. Der erste Tag ist ruhig, ehe sich ganz von alleine eine Dynamik entwickelt je näher die Spiele kommen. Johanna kann er nirgends entdecken. Vermutlich kommt sie später dazu. Ganz wie erwartet sitzen Haymitch und Chaff bereits an der Bar. Hoffentlich noch nicht betrunken. Sich mit ihnen unterhalten wenn sie bereits blau sind ist unerträglich. Lässig lehnt Finnick sich neben ihnen an den Tresen und bestellt sich bei dem Avox hinter der Theke ebenfalls einen Drink. Haymitchs Blick schweift zu ihm herüber. Wie immer riecht er nach Alkohol. Wortlos nickt er ihm zu, ehe er den Blick wieder in die Tiefen seines Whiskeys lenkt. Chaff allerdings ist weniger grimmig drauf.

„Finnick mein Junge“, ruft er mit dröhnender Stimme und begrüßt ihn mit einem schweren Schlag auf die Schulter. „Lang nicht gesehen! Was machen die Damen?“ Er lacht anzüglich. Seine Art von Betrunkenheit ist anders als die von Haymitch. Eindeutig ist er mehr der laute Typ. Aber Finnick kennt das Spiel und lächelt nur breit zurück.

„Chaff! Ich wusste doch, dass du dich hier rum treibst. Ich bin extra nur für dich hergekommen, weil ich so Sehnsucht nach dir hatte.“ Das Glas zum Toast erhoben prostet er dem Berg von Mann zu. Dieser lacht laut und erwidert die Geste. In einem Zug leert Chaff sein Glas. Krachend haut er es auf die Theke.

„Also mein Junge, warum hast du Sehnsucht nach dem alten Chaff und nicht nach einem deiner Zuckerhäschen?“

Etwas angewidert verzieht Finnick den Mund. Chaff schafft es seine Verbindung zu den Damen des Kapitols in wirklich unangenehme Worte zu verpacken.

„Na was wohl? Wegen deiner charmanten Art? Das Geschäft natürlich“, antwortet er nur zwinkernd. „Distrikt elf und zwölf haben ein paar nette Tribute in diesem Jahr. Wer sagt, dass es immer dieselben Verbündeten geben muss? Distrikt vier ist offen für alles.“ Es ist ein spontaner Einfall, der ihn diesen Weg einschlagen lässt. Wenn alles glatt läuft kann er sie vielleicht wirklich als Verbündete gewinnen und so doch die Chancen seiner Tribute steigern. Tief in seinem Herzen ahnt er, dass es ein verzweifelter Gedanke ist und will es sich doch nicht eingestehen. Seine Schützlinge sind, wenn überhaupt, Karrieros. Keine Außenseiter wie Elf und Zwölf.

Jetzt lacht Chaff noch lauter. „Dass du offen für alles bist weiß ich schon, da muss man nur den Gerüchten im Kapitol lauschen.“ Empfindlich getroffen zuckt Finnick zurück als Chaff ihm wieder auf die Schulter schlagen will. „Man, nicht, dass ich dir einen Vorwurf machen will. Jeder wie er will“, setzt Chaff verteidigend hinzu. Trotzdem ärgert es Finnick, dass er wieder nur auf seine aufgezwungenen Bettgeschichten zu sprechen kommt. Er weiß, dass es der Alkohol ist, der aus Chaff spricht und dennoch fühlt er sich unangenehm berührt. Zu seiner Überraschung ist es Haymitch, der dem großen Mann plötzlich eine Hand auf den Arm legt.

„Lass gut sein Chaff. Der Junge braucht deine Witze nicht.“

Seine Stimme ist erstaunlich klar. Anscheinend bewahrheitet Finnicks Sorge sich nicht, denn Haymitch ist längst nicht betrunken. Sein Blick sucht den Haymitchs und dieser nickt ihm knapp zu. In seinen grauen Augen erkennt er eine neu aufgelebte Wachsamkeit.

„Du willst übers Geschäft reden?“ Mit einem Seufzen erhebt Haymitch sich, den Whiskey in der Hand. „Dann lass uns über das Geschäft reden.“

Sein Getränk ebenfalls in der Hand folgt er dem älteren Mentoren zu einer Ecke mit gemütlichen Ohrensesseln, Chaff hintendrein.

„Also“, sagt Haymitch und lässt sich in einen Sessel fallen, die Füße auf einen kleinen Beistelltisch gelegt, „was ist das Geschäft?“ Seine Stimme schwankt kein bisschen und der Blick ist fest auf Finnick gerichtet. Dieser lässt sich gegenüber von Haymitch nieder.

„Deine Tribute“, an Chaff gewandt fügt er hinzu, „eure Tribute. Jeder von euch hat in diesem Jahr einen außergewöhnlichen Tribut erwischt. Ich denke ihr wisst, von wem ich spreche. Katniss und Thresh.“ Die Namen hat er in der Datenbank nachschauen müssen. „Ich denke wir wissen auch alle, dass sie gute Chancen haben dürften. Der eine wegen Stärke, die andere wegen ihrer Aura. Aber beide würden bessere Chancen haben wenn sie Verbündete hätten.“ Prüfend blickt der die Mentoren an. „Dafür dürften ihre Mentoren nur nicht zu tief ins Glas schauen“, setzt er leise hinzu, mit einer Spur Schärfe.

Haymitchs Stirn legt sich in Falten. „Rührend, wie sehr du dich um meine Gesundheit kümmerst“, sagt er garstig. „Ist mir neu, dass Finnick Odair jetzt unter die Ärzte gegangen ist.“ Wie um seine Worte zu unterstreichen kippt er seinen Whisky in einem Zug runter.

Noch bevor Finnick antworten kann, kommt ihm jemand anderes zuvor.

„Dazu muss man kein Experte sein um zu sehen wie ein Leberschaden auf zwei Beinen aussieht.“ Johanna lässt sich auf die Armlehne von Chaffs Sessel fallen. „Es werden schon Wetten darauf abgeschlossen wie viele Hungerspiele ihr beide noch erlebt, wisst ihr.“ Sie schaut auf ihre Fingernägel, als würde es sie nicht wirklich interessieren, was sie da sagt. „Momentan ist die Top-Wette, dass einer von euch beiden in den nächsten zwei Jahren einfach tot umkippt.“ Erst jetzt hebt sie den Blick und schenkt Haymitch ein gemeines kleines Lächeln.

Haymitchs Knöchel am Whiskyglas treten weiß hervor. „Johanna. Wenn du nicht aufpasst wirst du deinen Wettgewinn nicht mehr erleben.“

Johannas Grinsen wird größer. „Möchte mal sehen wie du mich triffst mit deinen zitternden Händen.“

Bevor der Streit noch eskalieren kann geht Finnick dazwischen. „Das reicht, alle Beide!“ Sie sind sich einfach zu ähnlich um gut miteinander klarzukommen. Ihre sarkastischen Kommentare könnten sie einander wohl bis in alle Ewigkeit an den Kopf werfen. Zumindest scheinen Johannas harte Anmerkungen einen Nerv getroffen haben, denn Chaff schiebt sein Glas langsam fort von sich. Trotzdem wirft er ihr einen bösen Blick zu.

„Erinnert euch daran worum es hier geht“, zischt Finnick. „Um wen es hier geht.“

„Na schön“, seufzt Haymitch. „Also wollt ihr mein Mädchen?“ Geduldig nickt Finnick. „Schon mal daran gedacht, dass sie eure Tribute nicht will?“ Nun ist es an Haymitch zu lächeln. „Weißt du, sie hat ihren eigenen Kopf. Aber sorge dich nicht, ich werde alles tun damit sie zurückkehrt. Das habe ich schon versprochen.“ Etwas an dem grimmigen Ausdruck in seinen Augen sagt Finnick, dass es nicht das Mädchen ist, dem er etwas versprochen hat. „Ich werds ihr trotzdem ausrichten. Und jetzt entschuldige mich, ich muss mir noch einen Drink holen, damit ich denken kann. Wenn ich trocken bin nutze ich niemandem.“ Fragend blickt Haymitch in Chaffs Richtung.

„Tja, ich glaube mit meinem Jungen habt ihr auch kein Glück. Er ist nicht mal sonderlich gesprächig.“ Chaff zuckt mit den Schultern. „Ich nehms dir nicht übel, Finnick. Aber ohne ein ordentliches Getränk werd ich wahnsinnig.“ Überraschend ernst blickt der Hühne ihm direkt in die Augen. „Wir tun alle unser Bestes.“ Dann erhebt auch er sich.

Haymitch dreht sich ein letztes Mal zu Finnick um. „Denk dran, dass nichts im Übermaß gut tut, auch Hoffnung nicht. Das Leben hat es so an sich, dass man hin und wieder enttäuscht wird.“

Das Eisengefühl in Finnicks Brust kommt langsam wieder zurück. Distanziert nickt er Haymitch zu.

„Hm“, brummt Johanna, während sie betrachten wie die Beiden sich an die Bar zurückziehen. „Sieht so aus als wenn unsere beiden Saufkumpel schon den Kopf gewaschen bekommen haben.“ Sie lässt sich in Chaffs freigewordenen Sessel gleiten. „Mal sehen wie lange der gute Vorsatz hält. Zum Glück bin ich kein allzu hoffnungsfroher Mensch.“

Johannas freudloses Gelächter klingt Finnick noch in den Ohren nach, als er zum Abendessen seine Tribute wieder sieht, die nervös von ihren ersten Erfahrungen im Training berichten. In Momenten wie diesen kann er plötzlich verstehen warum Haymitch zur Flasche greift. Seine Gefühle betrügen ihn, wecken immer wieder die Hoffnung, dass sie überleben könnten, je länger er ihnen zuhört. Er wünschte er könnte seine Gefühle zum Schweigen bringen.

Strategie

Vor meinen Augen verschwimmen die Worte, je stärker ich mich konzentrieren will. Seit Stunden, so fühlt es sich an, sitze ich hier und versuche, Sätze für die elf Kondolenzkarten zu finden. Bisher ist es bei dem Versuch geblieben. Nichts, was ich notiere, kann auch nur ansatzweise meine Gefühle ausdrücken. Wie soll ich eine Trauerkarte für jemanden verfassen, der noch lebt? Ich weiß ja nicht einmal, was man schreiben könnte, wenn unsere Tribute schon tot wären. Floogs hat mir einen Zettel mit den üblichen Formulierungen gegeben, aber sie sind allesamt hohl. Unehrlich. Auf keinen Fall die richtigen Worte für zwei tote Kinder. Umso länger ich hier sitze, desto mehr wird mir klar, warum sich kaum einer der anderen Mentoren solche Mühe mit den Karten macht.

Frustriert starre ich auf meinen Entwurf. Nein, es klingt einfach nicht ordentlich. Seufzend reiße ich das Papier vom Schreibblock und werfe es in den sich stetig füllenden Mülleimer. Eigentlich will ich die Karten bis zu unserem ersten großen Mentorenmeeting fertig haben. Jetzt muss ich einsehen, dass das unmöglich einzuhalten ist. Mein Blick fällt auf die Uhr. Ganze fünf Minuten habe ich noch. Und alles, was mir einfällt, ist, dass es mir leidtut. Was nicht gelogen ist. Mindestens einer von ihnen wird sterben und dieser Tod wird auch meine Schuld sein. Tränen treten mir in die Augen und ich wische sie verschämt weg. Ich will stärker sein. Wenn die Visionen von ihren grausamen Toden mich doch nur nicht verfolgen würden! Spätestens seit ich begonnen habe ihre Trauerkarten zu verfassen, drängen sich die Bilder in immer schnellerer Folge in meine Gedanken. Dabei leben die beiden und sind erst vor einer Stunde hinunter ins Trainingscenter gefahren. Mit einem tiefen Atemzug lehne ich mich zurück, den Blick an die Decke gerichtet. Eindringlich mustere ich die leichte Maserung über mir. Acht, sieben, sechs… bewusst öffne ich die zu Fäusten verkrampften Hände. Fünf, vier, drei… ungeweinte Tränen blinzle ich fort. Zwei, eins, null. Ohne nochmal auf die Karten zu sehen, stehe ich auf und verlasse das Zimmer, Mentoren-Tablet unterm Arm.

Im Flur begegne ich Finnick. Mein Herz beschreibt einen kleinen Satz bei dem Anblick seiner zerzausten bronzenen Haare, die ihm so charmant in die Stirn fallen. Er wirft mir ein zartes Lächeln zu, eine unausgesprochene Liebeserklärung in seinem Blick. Zu wissen, dass ich ihn hier nicht berühren darf, um uns nicht zu verraten, schmerzt. Seit wir im Kapitol angekommen sind, leben wir durch die kurzen Momente, in denen sich ungesehen unsere Hände streifen oder die Blicke sich unbeobachtet treffen. Diese ständige Nähe, ohne Möglichkeit seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, ist unerträglicher, als die wenigen Tage Siegestour waren. Wenigstens konnten wir uns dort ein paar kostbare Minuten stehlen, wenn der Zug einen Stopp machte. Hier dagegen gibt es kein Entkommen vom Kapitol. Mir sind die unsichtbaren Wanzen in den Wänden, die jeden unserer Schritte verfolgen, bewusst, während ich nach seiner Hand greife. Ein Kribbeln scheint von ihm auf mich überzuspringen. Ich schenke ihm einen Blick, in dem alle Empfindungen für ihn liegen. Finnick lehnt sich vor, bis wir nur Zentimeter weit auseinander sind. Unsere Finger berühren sich noch immer. Sein Atem streift meinen Hals und ich unterdrücke einen Schauer. Im tiefen Grün seiner Augen schimmert Sehnsucht. Schmerzhaft langsam lehne ich mich zurück, den Kopf kaum merklich schüttelnd. Zu viel steht auf dem Spiel.

„Dann wollen wir mal gehen, unseren Tributen helfen, nicht?“ Meine Stimme zittert wundersamerweise gar nicht, als ich die Spannung zwischen uns durchbreche.

Er blinzelt langsam und der Ausdruck in seinen Augen verschwindet. Zurück kehrt der Finnick, den das Kapitol kennt, mitsamt dem Lächeln, das Herzen schmelzen lässt. Nur mein Eigenes gefriert bei dem Anblick seiner Maskerade. Bedauernd lasse ich seine Hand frei. Die Rolle, die er hier spielt, kann ich trotz all der Jahre immer noch nicht leiden.

„Ja, wir sollten los“, stimmt er mir zu. Seine Stimme ist rau und ebenso traurig.

Wir treten beide einen Schritt zurück. Leere ersetzt das Kribbeln zwischen uns. Gemeinsam gehen wir schweigend durch den Flur, bis zu einer stählernen Tür an seinem Ende. „Kontrollraum. Zutritt ausschließlich für Mentoren“ steht dort. Hinter Finnick betrete ich den Raum und vor mir öffnet sich eine Welt aus Bildschirmen, blinkenden Lämpchen und der beeindruckendsten Technik, die das Kapitol zu bieten hat. Staunend schaue ich mich um. Von den großen Fernsehern an den Wänden blicken uns Edy und Cordelia an. Im Liveticker sehe ich Wetten, die auf die beiden abgeschlossen werden, neben den eingehenden Sponsorengeldern. Von allen Seiten prasseln Informationen ein. Schier überwältigt brauche ich ein paar Sekunden, um mich zurechtzufinden.

„Willkommen im Herzen der Hungerspiele – dem Kontrollzentrum“, begrüßt Amber uns. Sie scheint meinen Blick richtig zu deuten, denn sie setzt hinzu: „Keine Sorge, irgendwann wird es übersichtlicher.“ Einladend weist sie auf einen Drehstuhl mit hoher Rückenlehne, der vor einem gläsernen Tisch steht. „Mags Platz ist jetzt deiner.“

Deutlicher kann es nicht sein, dass ich in große Fußstapfen trete. Mir ist unwohl dabei, sie zu ersetzen, denn ich habe weder ihre Weisheit noch ihre innere Stärke. Gleichwohl sinke ich in ihren Stuhl. Die anderen nehmen ebenfalls ihre Plätze an dem Konferenztisch ein. Hunderte zarter Flügel scheinen in meinem Magen zu schlagen, so nervös bin ich. Wenigstens sitzt Finnick neben mir, nur eine Armlänge entfernt. Vielleicht steigert das die Nervosität auch nur. Wenn ich an den Moment im Flur denke, dann nimmt das Flattern jedenfalls zu.

Zunächst wissen die anderen Mentoren selber nicht so Recht, wer die Versammlung eröffnen soll. Stumme Blicke werden ausgetauscht, bis Floogs sich erbarmt. Vermutlich hat Mags bisher immer diese Rolle übernommen. Betreten schaue ich auf mein glänzendes Tablet, das ich vor mir auf dem Tisch ablege.

„Nun ihr Lieben, das ist sie also, unsere erste Beratung zu den 74. Hungerspielen“, beginnt Floogs gemächlich. „Heute ist es unsere Aufgabe die finale Trainingsstrategie, beziehungsweise die Anwerbung von Verbündeten zu besprechen.“ Er scheint sich mit der Rolle des Anführers nicht richtig anfreunden zu können. Unglücklich huscht sein Blick über die unzähligen Anzeigen auf den Bildschirmen, während er seine Finger knetet. „Unsere Tribute haben jeder ihre ersten Präferenzen mitgeteilt, sodass wir, denke ich, einen guten Eindruck haben.“

Dankbar greift Amber den Gesprächsfaden auf und bald schon sind wir mitten in einer Diskussion über ein mögliches Karriero-Bündnis. Gespannt lausche ich den anderen Mentoren, die darüber diskutieren inwieweit man den Tributen aus Eins und Zwei in diesem Jahr trauen kann. Ich habe immer angenommen, dass ein Pakt zwischen den Karrieros von alleine entsteht, schließlich war er eine Konstante in allen Hungerspielen, die ich erinnere. Anscheinend ist es doch nicht so selbstverständlich, zumindest was die Beteiligung von Distrikt vier angeht. Eins und zwei haben immerhin Interesse an einem Bündnis mit Cordelia bekundet. Edy hingegen scheint sie nicht zu interessieren.

„Insgesamt würde ich den weiblichen Tribut aus Zwei, Clove, als größtes Risiko bewerten“, sagt Finnick gerade. „Nach allem, was ich von ihr gesehen habe und der Strategie, mit der Distrikt zwei sie beworben hat, sind sie sich ziemlich sicher, dass sie eine Finalistin wird. Ihr Talent zum Messerwerfen muss ebenfalls enorm sein, das hat Cordelia gestern Abend auch hervorgehoben. Wenn wir für Cordelia diesen Pakt schließen, müssen wir sichergehen, dass sie entweder rechtzeitig von Clove wegkommt oder – dass Clove ein Interesse daran hat, sie nicht als Verbündete zu verlieren. Alles was ich bisher Cashmere anbieten konnte, scheint sie noch nicht hundertprozentig überzeugt zu haben. So weit kann ich Cashmere nach all den Jahren wohl einschätzen.“

Auf dem Tablet schaue ich mir besagtes Mädchen aus Zwei an. Schon ihr Blick ist düster und dabei ist sie erst fünfzehn. Ein außergewöhnlich junges Alter für einen Karrieretribut. Ich verstehe, warum die Anderen sie als Risiko sehen, denn wenn sie es so früh durch das harsche Training in Distrikt zwei geschafft hat, dann ist sie besonders gefährlich.

„Hm“, Amber blickt nachdenklich auf ihr Tablet, „nur müssen wir uns die Frage stellen: Was kann Cordelia, was ihre Verbündeten brauchen werden?“

Ratlosigkeit macht sich breit. Eine gute Kämpferin zu sein, reicht eben nicht aus. Wenn es ein Meer – oder einen Fluss – gäbe, dann könnte sie fischen. Andererseits haben die Karrieros immer die Vorräte aus dem Füllhorn zur Verfügung und genug Sponsoren. Sie sind nicht auf die Jagd angewiesen. Mehr Ideen kommen mir nicht. Wenn ich meine Gedanken darauf konzentrieren will, was in der Arena wichtig ist, entgleiten sie mir, wie Wasser, das einem durch die Finger rinnt. Undeutliche Erinnerungen an die eigenen Hungerspiele schwirren mir durch den Kopf. Momente zu schrecklich, um sich ihrer je wieder vollständig zu erinnern. Nicht, solange ich die Kontrolle habe. Abgelenkt von dem Gedankenchaos gleitet mein Blick aus dem Fenster auf den kleinen Himmelstreifen über den Hochhäusern.

Das tiefe Blau erinnert mich an den Tag in der Akademie zurück. Cordelias Auswahl zur Tributin, trotz ihres unausgereiften Kampfgeschicks. Mehr ist mir nicht bekannt von ihr. Ich habe gesehen wie sie, ohne zu zögern, kämpft und anders als Edy keine Angst vor dem Todesstoß hat. Aber das haben alle Karrieros gemeinsam. Zwar hat sie auf der Zugfahrt ein wenig von sich erzählt, allerdings nichts, was nicht mit dem Training beziehungsweise ihren Hoffnungen für die Hungerspiele zu tun hat. Was Edy angeht, fällt mir jetzt schon mehr ein. Er hat auf der Hinfahrt genug über sich verraten, wie die Sache mit dem Wettschwimmen. Oder, dass er gerne Körbe und Seile geflochten hat, die er dann auf dem Markt verkauft hat, um so die Akademie zu bezahlen.

„Ich denk, wir sollten Cordelia da nochma‘ auf’n Zahn fühlen“, durchbricht Trexler brummend die Stille. „Rausfind’n, was sie besonders macht – so als Mensch, nich‘ als Kämpferin.“ Überrascht sehen alle ihn an. Er zuckt mit den Schultern. „Is’ doch wahr. Wir wissen einfach nich‘ genug über sie. Alle war’n so versessen auf’s Kämpfen, dass das Wichtigste vergessen wurd.“

Floogs lächelt ihm dankbar zu. „Danke, Trex. In der Tat denke ich, dass wir uns alle noch einmal Gedanken machen sollten, wie wir die Nützlichkeit von Cordelia für das Bündnis hervorheben – abseits vom Kämpfen. Ich bin mir sicher, wir finden was. Morgen sollten wir überdie Ergebnisse sprechen. Seht es als Art kleine Hausaufgabe.“

Anschließend wendet sich das Gespräch langsam Edy zu. Ohne Zweifel ist er unser Sorgenkind. Während Cordelia im Training wie abgesprochen ihr Können mit den Waffen perfektioniert, ist er noch dabei zu lernen. Bisher haben seine Fähigkeiten niemandes Aufsehen erregt. Trotzdem überlegt er, sich den Karrieros anzuschließen, immerhin hat er seit Jahren dafür trainiert. Bei ihm überlegen wir, wie man ihn überhaupt in das Rampenlicht bringt. Bei der Wagenparade ist er, den Berichten nach, in der Masse untergegangen. Eine ganze Weile wird hitzig diskutiert, ob Edy lieber als sympathischer Außenseiter oder junger Überflieger verkauft werden soll. Im Angesicht der Tribute aus Zwölf, die bereits die Rolle der Überraschungskandidaten übernehmen, einigen wir uns auf die Rolle des Geheimtalents. Edy wird doppelt so hart trainieren müssen, wie alle anderen. Nach dem Abendessen werden Finnick und Amber ihn zur Brust nehmen, um ihm eine Sonderbehandlung angedeihen zu lassen.

Endlich zu dieser Einsicht gelangt ist das Treffen aber längst nicht vorbei. Stattdessen tippt Floogs auf seinem Tablet herum und auf einem großen Bildschirm erscheinen Zeichnungen von einem fliederfarbenen Kleid und farblich abgestimmten Anzug.

„Ihr Lieben, das sind Roans fertige Entwürfe für die Interviews. Wie bereits abgesprochen ein erwachseneres Design für Cordelia, anschließend an ihren Auftritt bei der Wagenparade.“

Erwachsen ist milde ausgedrückt. Ihr Kleid hat einen aufreizenden Rückenausschnitt, der gerade so viel wie noch erlaubt zeigt. Allein der Anblick des figurbetonten Designs lässt mich den Cardigan weiter verschließen, obwohl es nicht einmal um meinen Körper geht. Ich erinnere, wie bei dem Interview mit Caesar Flickerman Szenen aus dem Erneuerungscenter gezeigt wurden. Aber das hier ist anders, es liegt in unserer Hand, wie wir Cordelia präsentieren.

„Ist das nicht etwas... viel?“, frage ich vorwurfsvoll. Rechtfertigend ergänze ich: „Sie ist siebzehn aber...“, hilflos blicke ich zu Finnick, „naja, also, muss das sein?“

Er sieht mich aus traurigen Augen an, langsam nickend.

„Ja, es ist in der Tat viel, aber“ und an dieser Stelle wendet er sich von mir ab, „wir sollten an diesem Entwurf festhalten. Körperbetont und mit einem Rückenausschnitt, das sollte sich von den anderen Outfits abheben dürfen. In den anderen Distrikten wird es genug dramatische Kleider voller Rüschen und Glitzer geben. Mit etwas Schlichterem sollten wir herausstechen und gleichzeitig Cordelia in den Vordergrund bringen.“

Mir ist, als hätte jemand ein Messer in meinen Rücken gerammt. Bevor ich Luft holen kann, um zu einer Erwiderung anzusetzen, springt ihm Amber zur Seite.

„Ich gebe dir Recht, der Entwurf ist schon gelungen. Wir könnten ihn bitten den Rücken ein paar Zentimeter weiter zu bedecken, ohne zu viel von dem Effekt wegzunehmen. Auch würde ich das Kleid weiter unten ausstellen, um mehr einen Meerjungfrauen-Effekt zu erzielen. So ab dem Knie würde ich vorschlagen. Damit ist es nicht ganz zu schlicht, hebt ihre Weiblichkeit hervor und dürfte aufregend genug für die Sponsoren sein.“

Empörung wächst in meinem Inneren. Ich hatte gehofft, man würde mir beipflichten, aber da habe ich mich getäuscht. Ausgerechnet Amber, die immer nur in Trainingskleidung rumläuft und sich keinen Deut für Mode interessiert! Die richtigen Worte, um mein Unbehagen auszudrücken, wollen mir nicht einfallen, trotzdem erhebe ich erneut die Stimme.

„Aber muss es denn unbedingt so sexy sein? Ich mein, ich musste damals auch nicht so ein freizügiges Kleid tragen und habe dennoch Sponsoren bekommen. Oder du, Amber, selbst Riven nicht! Ich meine...“, wieder wandert der Blick zu Finnick, der es vermeidet, mich anzusehen, „wir wissen doch alle, wohin das führt.“

Jetzt ruhen sämtliche Augen auf mir, bis auf Finnicks. Trexler zieht die Augenbrauen zusammen.

„Es is‘ eine Strategie, Annie. Eine, die funktioniert“, sagt er sanft. Die Übrigen nicken zustimmend.

„Alles für das Leben unserer Tribute, falls du dich erinnerst“, ergänzt Amber mit fester Stimme. „Cordelia ist weder ich, noch Riven, noch du. Deswegen kriegt sie auch ihr ganz eigenes Image. Und leider“, sie seufzt, „ist es häufiger erfolgreich, wenn man gewisse Qualitäten der Tribute hervorhebt.“

Unzufrieden beiße ich auf die Unterlippe. Nein, diese Lösung gefällt mir nicht. Ich muss daran denken, wie unwohl ich mich auf der Siegestour in meinem schwarzen Kleid gefühlt habe, Gaffern von allen Seiten ausgesetzt.

Ungewohnt hart mischt Finnick sich in das Gespräch ein: „Man kann nicht an jeder Front kämpfen“, sagt er leise, aber durchdringend. „Cordelia mag dieser Kleidung gegenüber ein anderes Verhältnis haben, als du. Sie hat gelernt mit Strategie zu handeln und wir helfen ihr nur dabei. Also vertrau auch du den Mentoren, die sich für diesen Weg entschieden haben.“

Die ganze Zeit über sieht er mich nicht einmal an. Das nervöse Flügelflattern im Magen erstirbt. Unbefriedigt kreuze ich die Arme vor dem Oberkörper. Dennoch sinken die angespannten Schultern herab. Diesen Kampf kann ich nicht gewinnen. Schon bereue ich, überhaupt etwas gesagt zu haben. Statt weitere Widerworte zu geben, kaue ich auf meiner Unterlippe.

Mitleidig blickt Amber mich an. „Ich verstehe wie du dich fühlst“, sagt sie, „aber manchmal musst du es mit etwas Distanz betrachten. Das Spiel gewinnt, wer sich an die Regeln hält. Und wer gewinnt, überlebt.“

 

Nach dem Abendessen steht die erste Einzelstunde unserer Tribute auf dem Plan. Cordelia und Edy haben sich dafür entschieden getrennt zu trainieren. Besser gesagt, sie hat ihm keine andere Wahl gelassen. Vermutlich hat ihre Entscheidung, nicht gemeinsame Sache zu machen, ihn verletzt, jedenfalls lässt er den Kopf hängen, als wir alle im Fahrstuhl Richtung Trainingscenter stehen. Mich hat auch niemand eingeplant, da ich kaum kriegerisches Talent vorweisen kann. Trotzdem habe ich vor, an der Trainingsstunde teilzunehmen, um unsere Tribute zu beobachten. Morgen brauchen wir die finale Strategie für Cordelia also ist jetzt die beste Chance, noch etwas über sie in Erfahrung zu bringen. Besser, als in meinem Zimmer zu sitzen, in einem weiteren Versuch die Kondolenzkarten zu beschriften. Bei dem Gedanken daran, die große Sporthalle mit all ihren Mordwerkzeugen wieder zu sehen, kribbelt es erneut in meinem Magen, dieses Mal allerdings auf eine Übelkeit erregende Art. Wir sind früh dran, dank Cece die uns förmlich fortgescheucht hat. Distrikt drei ist nicht fertig, wie uns ein rundlicher Friedenswächter mitteilt, den Finnick zu kennen scheint. Locker scherzen beide miteinander, bis endlich die Tribute aus Drei mit ihrem Mentor die Trainingshalle verlassen. Für Cordelia scheinen die mageren Kinder Luft zu sein, doch Edy betrachtet sie, wie ich, mit vorsichtigem Interesse. Angespannt halten sie den Blick unten, darauf bedacht niemanden von uns direkt anzusehen. Mit ihrem Selbstvertrauen ist es nicht weit her. Dahinter folgt, ebenfalls dünn und nervös, ihr Mentor. Haut, so grau wie seine Kleidung, verleiht ihm ein kränkliches Aussehen. Ohne Vorstellung weiß ich, dass der Brillenträger Beetee sein muss. Finnick hat hin und wieder von ihm erzählt, ihn einen Freund genannt. Unablässig bewegt der Mann seine Finger, öffnet und schließt die Faust, während seine Lippen stille Worte formen. Distrikt drei haftet ein eigenartiger Ruf an, den ich bei seinem Anblick zu verstehen glaube. Nicht, dass daran etwas Schlimmes wäre, ich bin selber merkwürdig genug. Gerade in diesem Moment sind auch meine Nerven zum Zerreißen angespannt und es ist ein Wunder, dass ich mich überhaupt so weit zusammenreißen kann. Vielleicht liegt es an den Tributen, vor denen ich möglichst wenig Schwäche zeigen will. Zumindest auf den ersten Blick erscheint Beetee mir schlicht aufgewühlt, mit einem kleinen Tick, was ich nur zu gut verstehe. Sobald er uns sieht, hält er kurz inne, um ein paar Worte zu wechseln.

„Ah, das muss Miss Cresta sein“, grüßt Beetee höflich, ein scheues Lächeln im Gesicht.

Ich nicke ihm zu. „Freut mich sehr“, sagt er etwas überschwänglich und schüttelt mir die Hand. Anders als die Hände von den Meisten daheim ist seine nicht rau, sondern weich, ein Zeichen der fehlenden körperlichen Arbeit in Distrikt drei.

„Mich ebenfalls“, erwidere ich ehrlich.

Seine Augen gleiten immer wieder zu dem Friedenswächter in der Ecke, der nur mäßig interessiert an unserem Gespräch scheint. Er erkundigt sich, wie es Mags geht, doch Cordelia drängt in Richtung Trainingscenter, einen ärgerlichen Ausdruck auf dem Gesicht. Der gutmütige Friedenswächter lächelt ihr verschwörerisch zu.

„Keine Sorge, die fünf Minuten Verspätung schenk ich euch“, sagt er mit einem Augenzwinkern. Frustriert atmet Cordelia aus und stemmt die Hände in die Hüften.

„Ich hoffe es bleibt bei fünf Minuten“, murmelt sie.

„Na wir können auch schon vorgehen“, schreitet Floogs ein und scheucht die beiden Tribute vor sich her in die Halle, „dann könnt ihr euch schon mal warm machen.“

„100 Kniebeugen!“, ruft Amber ihnen schadenfreudig nach.

Beetee sieht entschuldigend in die Runde. „Ich wollte euch keinesfalls aufhalten“, sagt er hastig, „ihr habt ja Arbeit vor euch.“ Nervös richtet er die wacklige Brille auf seiner Nase. Trotzdem scheint er sich nicht recht lösen zu können. Er leckt sich über die Lippen, als wolle er noch etwas sagen, schweigt dann jedoch nur und reicht Finnick die Hand zum Abschied. Es ist nur ein kurzer Augenblick, aber ich sehe einen kleinen Gegenstand in Beetees Fingern aufblitzen, bevor sie die Hände schütteln. Ehe ich mich versehe, ist der Moment vorbei und Finnick schlägt ihm mit der Linken locker auf die Schulter.

„Machs gut, wir sehen uns“, sagt er grinsend, als ob nichts wäre.

Mit zusammengekniffenen Augen verfolge ich seine rechte Hand, die er beiläufig in die Hosentasche steckt. Wieder erhasche ich einen kurzen Blick auf das Teil, dann ist der mysteriöse Gegenstand verschwunden.

Was immer es war, das Beetee ihm gegeben hat, ich vermute, dass es Grund für seine Nervosität war. Denn kaum, dass die Sache sicher in Finnicks Tasche verstaut ist, völlig unbemerkt von dem Friedenswächter, fällt ein Teil der Anspannung von Beetee ab. Mit einem deutlich freudigeren Lächeln als eben verabschiedet der dünne Mann sich von mir und folgt seinen Tributen zum Fahrstuhl. Nachdenklich blicke ich ihm nach. Was hat das zu bedeuten?

Beim Training habe ich nicht genug Zeit, darüber nachzudenken. Um Cordelias Bitte nachzukommen, jedem ein Einzeltraining zu geben, nehmen wir zwei weit voneinander entfernte Ecken der Halle in Beschlag. Ein paar Schutzwände von der Station zum Messerwerfen dienen als Sichtschutz. Amber und Finnick trainieren Edy, Floogs und Trexler hingegen Cordelia. Wenigstens hier fehlt Mags nicht, denn in ihrem Alter ist sie keine große Kämpferin mehr. An ihrer Stelle kann ich guten Gewissens zusehen. Das reicht völlig. Ähnlich wie in der Akademie läuft mir beim Anblick der zahlreichen Waffen ein eisiger Schauer über den Rücken. Nein, dieser Ort hat nichts an Bedrohlichkeit eingebüßt, nur weil ich kein Tribut mehr bin. Umgeben von scharfen Klingen offenbart sich ein erster Vorgeschmack auf das Grauen der Hungerspiele. Um Cordelia nicht zu verunsichern, habe ich mich ein Stück zurückgezogen und sitze im Halbdunkel auf einer Kiste mit Gewichten, während sie uns Mentoren vorführt, was sie die letzten zwei Tage im Training gelernt hat. Konzentriert wirft sie Speere auf Zielscheiben, besiegt Floogs in einem Ringkampf, liefert sich einen Schwertkampf mit Trexler – der erstaunlich behände mit dem Schwert ist – und schießt mit dem Bogen. Anerkennend applaudieren die beiden ihr.

„Wie ich sehe, hast du deinen Fertigkeiten den Feinschliff verpasst“, lobt Floogs. Glücklich strahlt sie ihn an.

„Bis zur Ernte habe ich jeden Tag mit Lana trainiert, aber die Trainer hier haben noch ganz Anderes drauf. Die haben mir Sachen gezeigt, von denen ich vorher nur träumen konnte. Echt schade, dass wir nur so wenige Tage Zeit haben.“

Für jemanden, der sich auf einen Wettkampf auf Leben und Tod vorbereitet, ist sie erstaunlich gefasst. In die Betrachtung von Cordelia versunken lege ich den Kopf auf die angezogenen Knie. Sie bewegt sich mit Selbstbewusstsein und Grazie, immer mit einem Lächeln auf den Lippen. Ihre Wirkung auf den Kameras wird wunderbar sein, erkenne ich. Zusammen mit dem Kleid von Roan werden sich alle Augen bei den Interviews auf sie richten. Trotzdem sträubt sich alles in mir dagegen, sie so schutzlos den Klauen des Kapitols zu überlassen.

Bei den Überlebenstaktiken schneidet Cordelia ebenfalls gut ab. Sie kennt die wichtigsten essbaren Pflanzen, hat die Grundlagen des Fährtenlesens gelernt und zumindest eine einfache Falle kann sie stellen. Die simple Konstruktion aus Schnüren ist zwar ein wenig schief, aber es könnte reichen um ein kleines Tier zu fangen. Verlegen lacht sie.

„Ich hab nicht viel Zeit an den Stationen verbracht“, gibt sie zu, „denn Cato und die Anderen halten nicht viel davon. Sie haben sich schon über die anderen lustig gemacht, das Mädchen aus Zwölf und die paar Versager, die fast ihre ganze Zeit mit so Kleinkram verschwendet haben.“ Sie zuckt betreten mit den Schultern. „Klar, dass ich nicht an so ne Station gehe, wenn die anderen Messer werfen. Nachher denken sie noch, dass ich ihres Bündnisses nicht wert bin, so wie Edy.“ Ein harscher Ausdruck liegt in ihren Augen. „Ich musste mich von ihm trennen, denn Cato sagt, er ist kein echter Karriero.“ Ohne irgendwen direkt anzusehen, reibt sie sich den Unterarm. „Außerdem kann eh nur einer von uns überleben.“

Gutmütig lächelt Floogs ihr zu. „Damit bist du nicht alleine. Dir geht es wie den meisten anderen Tributen, im Training will man sich keine Schwäche geben. Aber dafür sind ja die Einzelstunden da, um dafür zu sorgen, dass du trotzdem vorbereitet bist. Hier geht es nur um dich, um niemand anderen. Wir werden etwas finden, indem du die Beste bist.“ Erleichterung gleitet über Cordelias Gesicht. „Und außerdem gibts kein wildes Schwertgefuchtel mehr, dein Können in dem Bereich hast du ausreichend zur Schau gestellt. Jetzt ist genug Zeit für die Sachen, die dich am Ende wirklich am Leben halten werden“, beendet Floogs die Ausführung.

Erstaunt starrt Cordelia ihn an. „Kein Training mehr?“, fragt sie verdutzt.

Rumpelnd lacht Trexler auf. „Training für’n Kopf, nich‘ für die Arme. Die Köpfe einschlagen tut ihr noch früh genug. Erstma‘ musst du solange überleben. Hat Riven wohl nich‘ erwähnt, das Spezialtraining, was?“

Zögerlich schüttelt Cordelia den Kopf. „Nein, davon hat sie nichts erzählt...“ Ihr Gesicht wird nachdenklich. „Aber eigentlich hat sie sowieso nicht viel erzählt.“ In diesem Moment sieht sie klein und verloren aus zwischen all den Waffen. Sie zuckt mit den Schultern. „Vielleicht hat sie es vergessen, oder es war nicht so wichtig, schließlich hat sie gewonnen.“

„Nun, dafür sind wir Mentoren ja da, wir passen auf dich auf“, beruhigt Floogs sie.

Ich bin ebenfalls überrascht von der plötzlichen Wendung, die unsere Vorbereitung genommen hat. Gerechnet habe ich damit, dass Cordelia lauter Übungskämpfe machen würde, wie ich damals. Floogs winkt zu mir herüber.

„Annie, magst du dich zu uns gesellen? Wir könnten eine helfende Hand gebrauchen.“

Überflüssigerweise schlägt mein Herz schneller, als alle zu mir sehen. Lieber würde ich weiter beobachten, doch das wäre merkwürdig. Immerhin hat es nichts mehr mit Waffen zu tun. Zögerlich rutsche ich von der Kiste und trete zu ihnen ins Licht. Cordelia sieht ebenso angespannt aus, wie ich mich fühle. Sobald sie meinen Blick bemerkt, strafft sie sich, bemüht um einen selbstsicheren Ausdruck.

Gemeinsam mit Floogs und Trexler baue ich einen kleinen Parcours für sie auf. Anscheinend ziehen die Mentoren dieses Programm öfter durch, denn routiniert weisen sie mich an, trockene Zweige von der Feuerstation auf dem Boden zu verteilen oder Hindernisse aus Kisten aufzutürmen. Das Ergebnis sind zwölf Etappen, durch die Floogs Cordelia leitet, jede eingeleitet durch eine vorgegebene Situation, bei der sie eine Entscheidung ohne Waffengewalt fällen muss. Zunächst soll sie einen geeigneten Ort für ein Nachtlager wählen. Ratlos gleitet ihr Blick über die notdürftig improvisierten Umgebungen.

„Ich würde beim Füllhorn übernachten...“, antwortet sie schwach.

Etwas enttäuscht sieht Floogs sie an. „Und wenn ihr auf der Jagd seid? Wenn ihr von eurem Lager fortgelockt werdet? Es gibt hunderte Möglichkeiten, warum ihr das Füllhorn verlassen müsst.“

Nach einigem Zögern entscheidet Cordelia sich für den Fuß eines großen Baums, mit einem weichen Untergrund aus Laub.

„Ein passabler Ort“, nickt Floogs aufmunternd. „Allerdings wäre eine höhere Lage besser, denn am Boden ist man ein leichtes Opfer. Zusammen mit den Karrieros sind eure Überlebenschancen allerdings größer, denn dann habt ihr immer eine Wache. Wenn du von den anderen getrennt werden solltest, musst du aber darauf achten, dass dich niemand im Schlaf überraschen kann.“

So geht es immer weiter. Cordelia soll nach Nahrungsquellen suchen, vorhersagen wo eine Falle der Spielmacher verborgen sein könnte oder bestimmen, in welche Richtung sich der nächste Tribut aufhält. Erstaunlich viel kann ich beantworten. Jede Arena folgt einem sorgfältigen Plan, damit sich Hoffnung und Verzweiflung stets die Waage halten. Wo die offensichtlichen Nahrungsmittel vergiftet sind – wie in meinen Spielen – gibt es kaum giftige Pflanzen, um denen, die vorsichtig sind, eine Chance zu geben. Wenn andere Tribute in der Nähe sind, werden keine Fallen ausgelöst, da die Kämpfe lieber gesehen werden, als der Tod durch die Hand der Spielmacher.

„Auch wenn es dir in der Arena nicht so vorkommt, es gibt immer eine Lösung in deiner Nähe, wenn es dir schlecht geht.“, erkläre ich Cordelia auf Floogs ermunternden Blick hin, nachdem diese auf der Suche nach Wasser gescheitert ist. Röte kriecht in mein Gesicht, als ich weiter spreche. „Manchmal verliert man aber auch seinen Kopf und tut etwas dummes.“ Ich erinnere, wie ich zu Beginn der Spiele eine leere Wasserflasche fortwarf, weil diese mir in jenem Moment wertlos erschien. „Zwischendurch hilft es sich hinzusetzen, sich zu beruhigen, damit man einen Weg erkennt. Mir hat es immer geholfen zum Nachthimmel zu sehen...“, wenn möglich werde ich noch röter, in Gedanken bei Finnick, der mir beim Anblick der Sterne immer als Erstes in den Sinn kam „er ist nicht echt, aber trotzdem schön da drinnen. Und dein Glücksbringer kann dich an zuhause erinnern, wann immer du es brauchst.“ Selbst jetzt tasten meine Finger oft nach der feinen Kette mit dem Medaillon und dem Fischanhänger. In all den dunklen Momenten lassen sie mich nie das Licht vergessen.

Bei der Erwähnung des Talismans schleicht sich ein kleines Lächeln auf Cordelias Gesicht.

„Hoffentlich erinnere ich mich noch daran, wenn es so weit ist.“ Ihre Finger streichen über ein geflochtenes Armband aus bunten Schnüren. Bisher ist es mir nicht aufgefallen, aber es ist ein Band aus dem Viertel der Schiffsbauer. Die meisten in Distrikt vier verdienen ihr Geld mit dem Fischfang oder der Verarbeitung dessen, nur ein paar gehen noch dem Schiffbau nach. Vor allem, weil der Großteil von ihnen nur das Nötigste zum Leben hat, seit ein Teil der Produktion in Distrikt sechs stattfindet. In Ermanglung des Geldes schmücken die Schiffsbauerfamilien sich oft mit Resten aus Segeltuch oder nähen gleich Kleidung daraus. Mit neugewonnenem Interesse betrachte ich Cordelia. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass sie von dort kommt. Ihr Kleid bei der Ernte war jedenfalls keines Selbstgenähtes. Ertappt versteckt sie ihre Hand hinter dem Rücken.

„Dann muss ich es wohl nochmal versuchen“, sagt sie ausweichend.

Insgesamt schlägt Cordelia sich passabel. Es könnte schlimmer sein, wie Trexler zu bedenken gibt, aber an diversen Stellen wäre sie in der echten Arena gescheitert. Natürlich spricht das niemand aus, um sie so kurz vor den Spielen nicht zu demotivieren, dennoch hat sich ein dunkler Schleier über ihr Gesicht gelegt. Am Ende des Abends scheint sie nur fort zu wollen. Ich kann es ihr nicht verübeln. Aber es gibt genug eigene Sorgen, die mich plagen, sobald wir ins Apartment zurückkehren. Die Trauerkarten, unsere Strategie und der mysteriöse Gegenstand verlangen all meine Aufmerksamkeit. Floogs und Trexler waren zwar bemüht, Cordelia in ein lockeres Gespräch während des Trainings zu verwickeln, doch sie war zu sehr konzentriert auf die anstehende Aufgabe. Wenigstens ist mir aufgefallen, dass sie ein Schiffsbauerkind zu sein scheint – nur weiß ich nicht, was mir diese Erkenntnis bringt. Ob die anderen einen geeigneteren Anhaltspunkt haben, bezweifle ich. Völlig erschöpft von dem langen Tag, lasse ich mich auf mein weiches Bett fallen und möchte am liebsten sofort einschlafen. Ich beschließe, die Trauerkarten auf später zu verschieben. Wenn ich mehr von unseren Tributen weiß, kommen mir hoffentlich bessere Worte in den Sinn. Was ich den ganzen Abend zu unterdrücken versucht habe, bahnt sich jetzt seinen Weg nach oben. Längst verdrängte Erinnerungen an meine Zeit im Trainingscenter, an Tage voller Angst und Ungewissheit. Das vertreibt sogar die Gedanken an Beetees seltsamen Gegenstand. Für den Moment erlaube ich mir, schwach zu sein, die Tränen ins Kissen laufen zu lassen. Würde ich es nicht tun, könnte ich unmöglich bis zum Ende der Hungerspiele durchhalten.

Nadel und Faden

Sie warten, ob Elf siegt. Elf Schützen. Zwölf egal.

Die Worte brennen sich in Finnicks Gedächtnis ein, lange bevor er die verschlüsselte Botschaft vernichtet. Kein Beweis bleibt übrig, nachdem das Wasser Tinte und Papier fortspült. Wieder einmal bleiben sie Beobachter. Es liegt einzig an den Mentoren, den Jungen aus Elf zu beschützen, der in diesem Jahr die Aufmerksamkeit der Rebellen errungen hat. Er zweifelt daran, ob sie ernsthaft glauben die Taten des Tributs könnten etwas ändern. Sicher, was immer mit ihm passiert, allein seine Anwesenheit in der Arena wird die Unzufriedenheit in der Untergrundbewegung von Elf weiter befeuern. Nach allem, was Beetee vergangenen Sommer erzählt hat, brodelt es dort gewaltig. Ob der Junge stirbt oder nicht, ist fast schon egal, solange der Hass brennt. Wenn er jedoch gewinnt, wäre es auch ein Sieg für Distrikt elfs Rebellen. Das versteht er. Und alles wird die Schuld des Kapitols sein, die seine Ernte manipuliert haben. Es gibt nicht viel, was Vier unternehmen kann, um sein Leben zu schützen. Er wird seine Tribute davor warnen, sich mit ihm anzulegen. Aber das war es schon. Andere in höheren Positionen als Spielmacher haben mehr Macht zu helfen. Vorausgesetzt es lohnt sich für sie. Bei dem Gedanken daran, sich ausgerechnet auf diese Leute zu verlassen, zieht sich sein Herz zusammen.

Wenig begeistert seufzt Finnick und schwingt die Beine über die Bettkante. Wie in den Nächten zuvor kommt der Schlaf nicht. Ein Blick auf die Uhr zeigt, dass es bereits zwei ist. Alle anderen dürften längst im Bett liegen. Auf leisen Sohlen schleicht er sich an ihren Zimmern vorbei, auf der Suche nach einem Snack, zur Ablenkung. Damit ignoriert er geflissentlich das Diät-Programm, das Cece ihm erst gestern verordnet hat. Bei dem Gedanken daran, wie sie toben würde, sollte sie je von seinen nächtlichen Ausflügen zum Kühlschrank erfahren, grinst er. Wahrscheinlich würde sie ihm vorwerfen, dass er seine Figur und all ihre harte Arbeit ruiniert. Beides ist ihm herzlich egal. Solange er sich bester Gesundheit erfreut, sieht er keinen Grund in einer Diät. Zumal es in den Distrikten kaum möglich ist, übergewichtig zu werden, dafür sorgen die rationierten Lebensmittel schon. Sie hat nur Angst, dass sein Ruf des begehrtesten Junggesellen sich mit ein paar Gramm mehr in Luft auflösen wird und damit ihr größter Triumph. Gedankenverloren schleicht er auf das große Esszimmer mit der Küchenzeile zu, als aus dem angrenzenden Wohnbereich eine wohlbekannte Stimme erklingt.

„Und deine Brüder? Haben sie keine Angst um dich?“

Annies zarte Stimme dringt ihm durch Mark und Bein. Anscheinend ist er nicht alleine schlaflos. Den Atem angehalten bleibt er reflexartig im Schatten des Flurs stehen. Das Gefühl, er dürfe nicht hier sein, erwacht. Er sieht nicht, mit wem sie redet, doch dann spricht ihr Gegenüber.

„Wenn, haben sie es nie gezeigt“, sagt Cordelia leise, sodass er sich anstrengen muss sie zu verstehen. Obwohl lauschen sich nicht gehört, bleibt er. Ein unerklärlicher Drang zwingt ihn, zu verharren.

„Hmm.“ Etwas klappert und Annies nächste Worte werden von dem Geräusch verschluckt.

Erst Cordelias Antwort ist wieder verständlich.

„Möglich. Ich weiß es nicht. Jetzt wäre es eh zu spät zu fragen, schließlich bin ich schon hier. Mein einziger Weg es herauszufinden, ist zu siegen.“

Gefangen in einer unwirklichen Zwischenwelt, lehnt Finnick sich gegen die Wand, den Blick auf den Boden gerichtet, unfähig umzudrehen und wieder in sein Zimmer zurückzukehren. Das Gespräch scheint ihm zu intim, um sie zu überraschen. Sein Herz macht einen Satz, denn aus dem Nichts mischt eine dritte Person sich ein.

„Und wenn wir nicht wiederkommen, Elia? Wenn es alles ein Fehler war?“

Sein Magen verknotet sich, angesichts der Angst in der Stimme. Am liebsten würde er Edy in den Arm schließen, denn er hat erkannt, was unausweichlich ist – die Hungerspiele bringen nur Leid. Er ist doch erst Fünfzehn, fleht er innerlich, aber natürlich ist da niemand, der seine stummen Bitten hört.

„Daran dürfen wir nicht einmal denken, Edy! Denk an Lana zurück, sie hat uns immer eingeschärft, dass wir nur nach vorne blicken dürfen. Bis keiner außer uns übrig ist.“

Cordelias Worte sind kalt wie Stahl, doch selbst Finnick hört das leichte Zittern. Die Stimme von Annie dagegen gleicht der zarten Umarmung des Meeres.

„Ich konnte damals nie aufhören, daran zu denken. Jeden Moment seit der Ernte war mir klar, wie nah ich am Abgrund stand. Der Gedanke alleine wird dich nicht umbringen. Keiner will es zugeben, aber alle haben Angst. Am Ende haben selbst die Karrieros Angst. Ich habe es in ihren Augen gesehen. Nur wollen sie es verbergen, aus Furcht es könnte sie schwach machen.“

Jedes Wort gleicht einem eisigen Stich ins Herz. Die Angst ist Finnick nicht fremd. Vielmehr ist sie ein jahrelanger Begleiter, doch durch Annies Sätze wird ihm schmerzlich bewusst, wie viel Beklemmnis er selbst jetzt empfindet. Seine Beine sind wie gelähmt und so bleibt er in den Schatten verborgen.

„Menschen wie Cato?“ Das Zittern in Cordelias Stimme gewinnt langsam aber sicher die Oberhand.

„Auch Menschen wie Cato“, erwidert Annie. „Das letzte, was ich von Shine sah, waren Augen voller Furcht. In unserem Ende sind wir alle gleich.“ Ihre Worte legen sich über Finnick wie eine schwere, erstickende Decke. Sie spricht nicht oft von der Arena und noch seltener von der Tributin aus Distrikt eins, die eine stetige Begleiterin in ihren Albträumen ist. Meist hört er sie ihren Namen nur schreien, wenn die Panik sie übermannt. Ersticktes Schluchzen dringt an sein Ohr. Jemand steht auf, Schritte auf dem weichen Florteppich.

„Shh“, flüstert Annie leise, „du bist nicht alleine, Edy. Wir Mentoren helfen dir. Euch beiden. Noch ist nichts verloren.“ Wieder einmal fragt er sich, womit sie eine so gutherzige Person verdient haben. Finnick sieht sie vor seinem inneren Auge, wie sie den Jungen voll mitfühlender Trauer ansieht und ihm mit einer Umarmung versucht all ihre Stärke zu leihen. So wie sie es einst bei Pon tat.

Edys gedämpfte Stimme erklingt erneut: „Ich wollte doch nur... der kleine Junge sollte nicht sterben. Nicht wegen mir, nur weil ich ein Feigling bin. Oder ein schlechter Kämpfer.“ Hicksend brechen seine Worte.

„Du bist kein Feigling!“, ruft Cordelia, ihre Stimme so laut, dass Finnick fürchtet, sie könnte die anderen wecken. „Ich kenne dich besser als Cato. Du bist noch viel mutiger als ich. Du hast dich gemeldet, um jemandes Leben zu retten, obwohl du das nicht hättest tun müssen.“

„Ihr seid beide mutig“, beschwichtigt Annie. „Jeder auf seine Art.“

Schweigen und wieder hört er das Klappern von etwas Gläsernem. Edys unterdrückte Schluchzer versiegen nach und nach.

„Warum ziehst du die Karrieros dann mir vor?“

„Die Karrieros... sind meine beste Chance zu überleben. Das hat sogar Amber gesagt.“ Cordelia spricht quälend langsam, als würde sie ihren eigenen Worten nicht trauen.

Größte Hoffnung, aber auch größte Gefahr, denkt Finnick. Beides ist wahr. Edy erwidert nichts, nur trockenes Hicksen ist zu hören.

„Falls ich es mit meinem beschissenen Können nicht sowieso versaue“, setzt Cordelia hinterher.

„So darfst du nicht denken!“ Erstaunlich klar springt Annie dazwischen. „Du hast Talent, nicht nur das mit der Waffe. Jeder hat etwas, das einen einzigartig macht und das kann dir das Leben retten. Ich bin vielleicht eine lausige Mentorin, aber die anderen können dir helfen. Dir, und auch Edy! Aber das können sie nicht, wenn ihr ihnen keine Chance dazu gebt. Ihr müssst offen mit ihnen sein, auch wenn es schwer fällt.“

Cordelias Seufzen trägt bis in den Flur.

„Was für Talent?“

Annie scheint kurz zu überlegen, dann setzt sie zu einer Erklärung an.

„Mir ist dein Armband aufgefallen, beim Training. Du bist aus dem Schiffsbauerviertel, oder?“

Er hört nichts, also nimmt er an, dass sie genickt hat, denn Annie fährt fort.

„Ich als Fischerstochter kann mir nur vorstellen, was du alles gelernt hast beim Schiffsbau. Das ist auf jeden Fall etwas, das dich einzigartig macht, das sind Dinge, die nur du weißt.“

Finnick hält die Luft an, gespannt auf Cordelias Antwort.

„Das ist nichts, was man den Leuten stolz erzählt, außer man will bemitleidet werden. Jeder weiß, wie elend die Schiffsbauer sind, selbst außerhalb des Distrikts.“ Die Bitterkeit in ihren Worten ist unverhohlen. „Du willst meine Talente wissen? Ich kann Schiffssegel nähen, das habe ich jeden Tag nach der Akademie getan, um mir das Training leisten zu können. Jetzt erzähl mir, wie mich das in der Arena retten wird.“

„Ich weiß es nicht“, hält Annie dagegen, „aber die Anderen. Sie wissen viel mehr über die Spiele, als ich. Ich möchte einfach nur vergessen...“ Ihre Stimme verklingt, verloren in Gedanken.

Überrascht starrt Finnick auf das helle Parkett zu seinen Füßen. Annie hat es wirklich geschafft, Cordelia dazu zu bringen, von ihrem Leben außerhalb der Akademie zu erzählen. So viel hatte ihr Schützling bisher niemandem erzählt, allen ihren Versuchen zum Trotz. Seine Mundwinkel zucken unabsichtlich nach oben. Damit hat er nicht gerechnet. Nicht bei zwei so unterschiedlichen Personen.

Ausatmend stößt er sich von der Wand ab, langsam die Beherrschung zurückerlangend. In seinem Kopf nimmt ein Plan Gestalt an. Die folgende Stille hält er für geeignet, um endlich das Wohnzimmer zu betreten. Er streicht sie die Haare aus der Stirn, dann legt er mit deutlichen Schritten die letzten Meter zurück. Sein Kommen ist unmöglich zu überhören. Sobald seine Füße ihn in den nur von Mondschein erhellten Wohnbereich tragen, gibt er vor überrascht zu sein, die drei vorzufinden. Annie kniet auf dem Boden, neben der kleinen Gestalt von Edy. Cordelia hingegen sitzt auf dem luxuriösen Sofa, Knie ans Kinn gezogen. Bei seiner Ankunft schüttelt sie sich hastig die dunklen Haare aus dem Gesicht und wischt sich über die Augen. Vor ihnen auf dem gläsernen Couchtisch stehen drei Schalen aus Kristallglas, gefüllt mit den Überbleibseln des Nachtischs, einer fantastischen Schokoladenmousse.

„Soso, ihr seid meinem Plan die Reste des Desserts zu klauen also zuvor gekommen“, stellt er grinsend fest.

Schuldbewusstsein macht sich auf Annies Gesicht breit, was sein Grinsen nur verstärkt.

„Einmal Nachtischdiebin, immer Nachtischdiebin, was?“, fragt er sie mit einem Funkeln in den Augen.

Mit einem Zucken der Lippen hält sie dagegen: „Selbst Schuld, wenn du zu spät kommst. Cordelia und Edy haben mich vor dir erwischt und sich nur mit Beteiligung am Nachtisch erpressen lassen. Vielleicht gebe ich dir ja trotzdem was ab, wenn du nett bist?“

Die Tribute andererseits schweigen ihn an. Solche Momente ist er nach sieben Jahren des Mentorendaseins nur zu gut gewöhnt. Ohne darauf einzugehen, schnappt er sich Annies halbvolle Schale und bevor sie einen Laut des Protests ausstoßen kann, schiebt er sich einen Löffel der herrlichen Schokoladenmousse in den Mund. Feine Süße macht sich in seinem Gaumen breit. Genüsslich seufzend lässt er sich auf das Sofa fallen, weit genug von seinen Tributen entfernt, um nicht aufdringlich empfunden zu werden.

„Nachtisch klauen ist ein exzellenter Weg, die Stimmung zu heben, schätze ich.“

Verstohlen wischt Edy sich das Gesicht, ehe er mit hängendem Kopf nach seiner eigenen Schüssel greift und das Dessert in sich hineinschaufelt, als gäbe es kein Morgen. Und beinahe ist das ja die Wahrheit. Es bleiben zwei Tage bis zum Start der Hungerspiele. Der Junge hat allen Nachtisch der Welt verdient, würde Finnick bestimmen.

Cordelia nimmt ihm die schwere Entscheidung, wie er das Gespräch aufnehmen könnte, ab.

„Wirklich hier zu sein, ist nur anders, als in unserer Vorstellung.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Das Kapitol übertrifft jede Vorstellung, da kommt man sich... klein vor, irgendwie.“

„Hmm.“ Finnick weiß genau, wie sie sich fühlt. Seine erste Reise in die Hauptstadt hatte ihm die Sprache geraubt und selbst dieser Tage lässt ihn der Anblick des Kapitols oft mit einem Gefühl der Machtlosigkeit zurück. „Umso besser, wenn wir uns den Nachtisch unter den Nagel reißen!“ Verschwörerisch zwinkert er ihr zu. „Manchmal sind es die kleinen Freuden des Alltags, die das Leben besser machen. Außerdem ist es so etwas wie ein Ritus, den jeder unserer Tribute durchmacht.“ Bei diesen Worten lächelt Annie. „Oh, und besonders eine war schlimm“, fährt er fort, „denn sie hat den Nachtisch schon vor dem Hauptgang geklaut. Dagegen ist das hier ein Kavaliersdelikt.“

„Hey, ich hab mich entschuldigt“, sagt Annie mit einem Schnauben.

Das entlockt Edy ein Kichern. Zum ersten Mal, seit Finnick den Raum betreten hat, hebt er den Kopf. Die Augen sind gerötet und seine Wangen glänzen verdächtig.

„Das hätte ich nicht von dir erwartet“, bemerkt der Junge.

„Wir haben alle so unsere Überraschungen“, erwidert er. Einer Eingebung folgend wendet er sich an Cordelia. „So wie du.“ Sein Blick gleitet zu ihrem Handgelenk und entdeckt das bunte, geflochtene Stoffband. „Ich bin ehrlich“, sagt er ernst, „ich habe einen Teil eurer Unterhaltung über deine Talente überhört.“ Er schiebt die Schüssel mit der Schokoladenmousse zurück zu Annie. „Du sagst du bist gut mit Nadel und Faden?“

Verwirrt sieht Cordelia ihn an, eine Hand schützend auf das Armband an ihrem Handgelenk gelegt. Ihr Blick flackert in Richtung der anderen Beiden, ehe sie ihm zunickt.

„Ja, ich habe schon als Kind Segel genäht. Meine Familie hatte eine alte Maschine, aber immer wenn sie den Geist aufgegeben hat, musste ich per Hand nähen. Meistens haben wir eh nur alte Sachen repariert. Die ganzen neuen Segel kommen jetzt aus Distrikt acht.“

Langsam nickt Finnick und der Plan festigt sich. Sein Blick gleitet suchend durch das dunkle Apartment, bis er die Koffer des Vorbereitungsteams in einer Ecke entdeckt. Kurzerhand geht er hinüber, um mit einem Nähetui zurückzukehren. Ohne große Worte wirft er es Cordelia in den Schoß.

„Sagen wir jemand würde sich verletzen – würdest du dich trauen, den Schnitt zusammen zu nähen?“

Ihre Augen werden groß. „W-was soll ich?“

Auch Annie und Edy sehen Finnick mit offenen Mündern an. Der fackelt nicht lange und greift sich eines der über und über mit weißen Bommeln besetzten Sofakissen. Die fand er schon immer hässlich. Mit einem Knirschen zerreißen die Fasern, als er eine Stoffschere hineinsticht und das Kissen der Länge nach aufreißt. Watte quillt aus dem Bezug. Mit einem Grinsen legt er es vor Cordelia auf den Glastisch.

„Entschuldige die Improvisation, aber hier ist dein erster Patient!“

Der Gesichtsausdruck seines Schützlings schwankt zwischen Belustigung und Verwirrung. Schließlich entkommt ihr ein kleines Lachen.

„Nicht dein Ernst?“

„Oh doch. Die Uhr tickt, Cordelia. Wenn du dich nicht beeilst verblutet dein Verbündeter – wie hieß er noch gleich? Cato?“

Sie schluckt, dann zieht sie die Nadel aus dem Etui.

 

„Und du bist dir sicher, dass sie das überzeugen wird?“, fragt Amber Finnick am Nachmittag, im Fahrstuhl auf dem Weg in den Versammlungssaal.

Er zuckt mit den Schultern. „Wir müssen es nur gut genug verkaufen. Selbstverständlich ist sie keine Ärztin - aber hey, das wissen die Karrieros ja nicht. Die Aussicht auf eine Verbündete, die ihre Wehwehchen versorgen kann, sollte ihnen genug Überzeugung sein. Und wenn die Karrieros es glauben, wird es im Sponsorenshop auch das passende erste Hilfe Set für unser Vorhaben geben. So wird aus einer verrückten Idee plötzlich Wirklichkeit.“

Amber verschränkt mit gerunzelter Stirn die Arme vor der Brust. „Du schaffst es immer, dass es sich so leicht anhört...“

Aufmunternd zwinkert er ihr zu. „Die Macht des Glaubens!“

Mit einem Ping gleiten die Türen des Fahrstuhls auf. Seufzend wirft sie ihm einen letzten, langen Blick zu, dann wendet sie sich ab und strafft die Schultern. Er folgt ihrem wippenden Pferdeschwanz durch die Menge, bis hin zu einer gemütlichen Ecke, in der die Mentoren von Distrikt eins und zwei ihre Besprechung halten.

„Heeey, Cash und, oh, Gloss ist auch da“, begrüßt Amber das blonde Mentorenpärchen aus Eins in einem derart unüblichen schleimerischen Ton, dass es Finnick an eine Meeresschnecke erinnert. Breit lächelnd lehnt sie sich über die Lehne des Sofas, auf dem Enobaria sitzt. Diese verzieht ihrerseits den Mund zu einem Grinsen, bei dem sie es schafft, sämtliche scharf angespitzten Zähne zu zeigen. In seinem Nacken prickelt es und nur die antrainierte Fassade lässt ihn höflich aber unbeteiligt weiter lächeln.

„Oh, meine Lieblings-Enobaria ist auch da“, stellt Amber entzückt fest. „Heute ist wohl mein Glückstag.“

„Was wollt ihr?“, fragt Cashmere ohne große Umschweife. „Wir sind gerade mitten in einer Besprechung.“ Sie deutet auf Haymitch Abernathy, der, unbemerkt von den Mentoren aus Vier, in einem Sessel gegenüber der Karrieros sitzt und überhaupt nicht glücklich aussieht. Irritiert sieht Finnick ihn an, doch der Ältere meidet seinen Blick. Stattdessen stiert er in die Tiefen seines Wasserglases, wie in dem Versuch es nur durch seinen Willen in Whiskey zu verwandeln.

„Wenn ihr wieder wegen dem Jungen mit uns reden wollt, dann kann ich gleich sagen, dass da nichts mehr zu machen ist“, fährt Cashmere unbeirrt fort.

Gloss fügt hinzu: „Ich weiß nicht, was er den anderen Tributen erzählt hat, aber ein Bündnis ist definitiv vom Tisch, so viel ist sicher.“

Enobaria gibt ein eigenartiges Geräusch von sich, halb Lachen, halb Knurren. „Nach allem, was ich hörte, hielt er es wohl für schlau, Cato zu erzählen, dass er nicht so gemein sein solle.“ Ihre Zunge fährt über die spitzen Zahnreihen. „Niemand braucht ein Weichei in den Spielen.“

In Finnick brodelt es, doch er zwingt sich zur Ruhe. „Wir sind nicht wegen Edy hier“, wobei er die Betonung auf den Namen seines Schützlings legt, „sondern wegen Cordelia.“

Das verhilft den Mentoren zu einem kleinen Lächeln. „Ah, nun, das hört sich schon anders an“, entgegnet Cashmere.

„Warum setzt ihr euch nicht zu uns? Dann können wir gleich mit Haymitch unser erweitertes Bündnis besprechen.“ Sie schenkt dem Mann einen strahlenden Blick, als wären sie beste Freunde. Der jedoch schnaubt nur.

„Ich hab mir euer Gelaber angehört, weil Effie mich dazu gezwungen hat. Der Höflichkeit wegen, oder so.“ Er verdreht die Augen. „Aber jetzt kann ich es euch ja sagen, bevor wir Zeit verschwenden: Katniss wird nicht mit euren Tributen kooperieren, und auch sonst niemandem.“ Mit diesen Worten erhebt er sich leicht schwankend, ob vor Trunkenheit oder Entzugserscheinungen ist schwer zu sagen. Kurz schaut er zu Finnick und Amber hinüber. „Viel Erfolg euch.“ Dann verschwindet er in der Menge, bevor ihn jemand aufhält.

Enobaria saugt die Luft durch die Zähne ein. „Sieht so aus, als wenn seinem Prinzesschen nichts gut genug ist. Ihr Verlust, nicht meiner.“

Sie gibt sich größte Mühe nonchalant zu klingen. Trotzdem meint Finnick eine Spur Enttäuschung in ihren Worten zu vernehmen. Ihn überrascht wenig, dass sie mit Distrikt zwölf ein Bündnis eingehen wollten, sondern mehr, dass das Flammenmädchen abgelehnt hat. Nicht viele können es sich leisten, einen derartigen Pakt auszuschlagen. Vermutlich ist sie die Erste aus Zwölf, die jemals dieses Angebot bekommen hat.

„Nun“, seufzt Cashmere, „wir haben ja noch Distrikt vier.“ Sie schenkt Amber und Finnick ein gewinnendes Lächeln. „Cordelia erscheint mir ohnehin vielversprechender.“ Sie deutet auf den freien Platz neben Enobaria. „Bitte, setzt euch.“

Die Mentoren aus den Karrieredistrikten geben sich jedes Jahr hart zu überzeugen, so ist es auch diesmal wenig überraschend, dass sie um die Beteiligung von Distrikt vier feilschen. In allen Punkten verlangen sie Vorrang für ihre Distrikte, mehr Anteile an den Sponsorengeldern, mehr Entscheidungsgewalt über die Sponsorengeschenke, mehr Aufmerksamkeit. Wo möglich, zweifeln sie an den Fähigkeiten Cordelias, die sich im Training mittelmäßig schlage. Es ist ein Kampf mit harten Bandagen und Finnick vermisst wieder einmal Mags, die immer ruhig aber bestimmt an ihr Ziel kam. Vermutlich sind es Ambers zornige und dezent übertriebene Worte „Wenn eure Schätze verrecken, dann kann sie ihnen verdammt nochmal den Arsch retten!“, die den Ausschlag geben, doch am Ende besiegeln die Mentoren das Bündnis. Sie vermerken auf ihren Tablets den Zusammenschluss für die Spielmacher. Ein kleiner Sieg, denn der größte Anteil an Geldern ist für Eins und Zwei bestimmt.

Trotzdem löst sich die Anspannung in Finnicks Gliedern nicht gänzlich. Er sieht den unsäglichen Geschwistern nach, die sich mitsamt Enobaria an die Bar zurückziehen – um die übrigen Mentoren zu verspotten. Wie jedes Jahr. Einmal mehr hat er Zweifel, ob das Bündnis eine gute Idee ist.

„Lust auf eine Runde Training?“, fragt er Amber, um auf andere Gedanken zu kommen. „Bis die Bewertungen verkündet werden ist noch Zeit und ich hab wenig Lust beim Abendessen Ceces Gebrabbel wegen der Interviews morgen zuzuhören.“ Oder an seine Verpflichtungen, gegenüber Leuten wie Titania, erinnert zu werden, schiebt er stumm hinterher. An das Treffen versucht er nach Möglichkeit nicht zu denken.

„Klar, warum nicht“, erwidert Amber. „Alles ist besser, als Cece zuzuhören.“

Vor der Halle angekommen tritt ihnen direkt Edmont, der bequemliche Friedenswächter, in den Weg. Finnick hebt grüßend die Hand, doch der sorgenvolle Gesichtsausdruck des Mannes lässt ihn diese gleich wieder senken.

„Sorry, ihr beiden, aber... die Techniker sind gerade da drin, ihr könnt da jetzt nicht rein.“ Edmont wirft ihm ein entschuldigendes Lächeln zu, trotzdem tritt er vor und streckt eine Hand in ihre Richtung aus, um zu signalisieren, dass sie keinesfalls einen Schritt näher treten dürfen. Finnick erinnert sich nicht daran, dass der kleine Mann sich je wie ein ernstzunehmender Friedenswächter aufgeführt hat.

„Techniker?“, echot er.

„Ja, lange Geschichte“, der rundliche Mann ringt die Hände und schüttelt den Kopf. „Tut mir wirklich Leid!“

„Schon gut, schon gut“, beschwichtigt Finnick ihn, um keinen Aufruhr zu erzeugen. „Wir kommen morgen wieder.“ Dennoch traut er sich nicht, Edmont auf die Schulter zu klopfen, wie er es sonst täte. Etwas an seiner Haltung sagt ihm, dass der Mann heute Abend nicht sein Freund ist.

Gerade wollen sie umkehren und zu ihrem Apartment zurück, da ertönt hinter ihnen die schnarrende Stimme von Johanna.

„Sieht aus als hätten wir alle das Gleiche vor.“

Bevor Edmont erneut die Entschuldigung für das geschlossene Trainingscenter vorträgt, schüttelt Amber den Kopf.

„Heute kein Training, heut ist Reparatur angesagt.“

Finnick wendet sich zum Gehen, doch Johanna starrt mit zusammengekniffenen Augen auf die verschlossenen Türen, wie in dem Versuch zu erkennen, was dahinter passiert.

„Hm“, grummelt sie verstimmt. Edmont, der sie stumm anfleht, keinen Aufstand zu machen, ignoriert sie.

„Wirst du es einen Tag aushalten, nicht deine geliebte Axt zu schwingen?“, stichelt Amber.

Die Tatsache, dass Johanna diese Frage schlicht übergeht, ist für Finnick Anzeichen genug, das etwas sie beschäftigt. Langsam folgt sie ihm zurück in die Vorhalle, aber nicht ohne einen letzten Blick zu dem einsamen Edmont zurückzuwerfen.

„Reparatur, eh?“ Sie schlüpft vor den beiden in den Fahrstuhl. „Hat wohl einer der Tribute gezeigt, was er von den Spielen hält. Ich hoffe es hat einen Spielmacher erwischt.“ Wie sie es sagt, hört es sich an wie ein brutaler Scherz. Dennoch fragt er sich, ob es nicht Wirklichkeit geworden ist. Immerhin sind die Spielmacher alleine mit den Tributen dadrinnen ...

Der Aufzug zischt in halsbrecherischem Tempo nach oben, da fällt Finnick ein, dass er Johanna bisher nicht von Beetees Nachricht berichtet hat. Lieber hätte er es unten im toten Winkel der Halle erledigt, wo er offen reden kann, denn jetzt bleibt ihm nichts anderes übrig, als ihr etwas Kryptisches an den Kopf zu werfen. Schon nähern sie sich dem vierten Stock.

„Ach, Jo, was ich dir noch sagen wollte ... deine Tribute täten gut daran, sich von den gewissen Verdächtigen fern zu halten. Nur so eine kleine Empfehlung, weil ich dich gut leiden kann.“

Bei seinen letzten Worten öffnen die Türen sich schon wieder und Amber steigt aus. Johanna grinst ihn an.

„Oh, ich habe immer das Auge offen für potentielle Feinde.“

Hastig hüpft auch Finnick aus dem Fahrstuhl, bevor sich die Türen vor ihm schließen und Johanna nach oben entschwindet. Er hofft, dass sie aus seinen Worten die richtigen Schlüsse zieht. Zumindest scheint sie etwas zu ahnen, sonst hätte sie anders reagiert. Amber wirft ihm einen Seitenblick zu, sagt aber nichts. Gemeinsam betreten sie das Appartement und sie entschuldigt sich in Richtung Wohnzimmer. Finnick dagegen verschwindet in den Flur zu den Zimmern, in Gedanken längst bei einer ausgiebigen Dusche und einem Nickerchen vor der Verkündung der Bewertungen.

Er hört das Schluchzen, sobald er den Flur betritt. Nur gedämpft dringt es aus einem der Zimmer, doch er ist sich sofort sicher, dass es Annie ist. Oft genug haben ihre Panikattacken ihn in der Nacht überrascht. Mit wenigen Schritten ist er bei ihrer Zimmertür und klopft sachte dagegen.

„Annie?“, fragt er zaghaft.

Keine Antwort. Wieder klopft er. Ihre Schluchzer versiegen, aber trotzdem öffnet sie nicht die Tür. Seufzend lehnt er seinen Kopf gegen das Holz.

„Darf ich reinkommen?“

Schritte auf der anderen Seite. Einen Spaltbreit öffnet sich die Tür, genug um einen Blick auf Annie zu erhaschen. Sie verbirgt ihr Gesicht hinter einem Vorhang aus Haaren.

„Alles gut“, sagt sie leise, doch es klingt verschnupft.

„Danach habe ich noch gar nicht gefragt“, stellt Finnick nüchtern fest. „Also, darf ich reinkommen – bitte?“

Wortlos tritt sie zur Seite und lässt ihn ein.

Im Zimmer ist es dunkel. Einzig die kleine Schreibtischlampe brennt. Das Chaos offenbart sich Finnick, sobald die Tür sich hinter ihm geschlossen hat. Rund um den Mülleimer liegen zerknüllte Papierfetzen und der Arbeitsplatz ist übersät mit beschriebenen Bögen Papier. Er dreht sich zu Annie um, die mit um sie geschlungenen Armen dasteht. In ihrer rechten Hand hält sie einen abgenutzten Bleistiftstummel umklammert. Der Graphit hat graue Flecken auf der Haut hinterlassen. Sie scheint schon ewig hier zu sitzen.

„Was wird denn das hier?“, fragt er, in Richtung der Unordnung zeigend.

„Morgen ist doch das Interview“, erwidert sie, „also... muss ich noch die Kondolzenkarten schreiben.“ Mit vorgerecktem Kinn sieht sie ihn an. „Ich werde nicht die Standardsätze schreiben.“

Die Stirn gerunzelt hebt er eine der Seiten hoch, die nicht zerknüllt wurde. In zittriger Schrift stehen dort zusammenhanglose Satzfetzen, alle davon durchgestrichen. An manchen Stellen ist das Papier vom Stift zerrissen worden, oder von Tränen aufgeweicht. Nur grob kann er entziffern, was sie geschrieben hat. Gänsehaut kriecht über seinen Körper und da ist sie wieder, die Angst, die jeden anderen Gedanken verdrängt. Die Befürchtung, dass diese Aufgabe sie brechen wird.

„Annie... das musst du nicht tun.“

Ihre Unterlippe beginnt zu zittern und sie beißt sich darauf. „Doch. Ich kann nicht...“ Tränen sammeln sich in ihren Augen, aber sie fallen nicht. „Ich kann nicht einfach irgendetwas schreiben. Dann könnte ich nie wieder in den Spiegel sehen.“

Eine besessene Entschlossenheit glimmt in ihrem Blick, die Finnick als Starrsinn begreift.

„Die Karten sind doch völlig egal. Glaubst du sie bedeuten den Familien auch nur einen Deut? Sie sind stetige Erinnerung daran, was ihren Kinder widerfahren ist.“ Er schüttelt den Kopf. „Woran sie sich erinnern, sind die persönlichen Worte von uns, auf ihrer Beerdigung. Wenn sie uns in die Augen sehen, dann wissen sie, was keiner von uns in Worte fassen kann.“

Allein der Gedanke daran scheint Annie zu verängstigen, denn ihr Atem beschleunigt sich und ihre freie Hand wandert zu ihrer Ohrmuschel. Sie schüttelt den Kopf so doll, dass die Haare ihr wieder ins Gesicht fallen. Finnick lässt das Blatt los. Langsam tritt er an sie heran, bloß keine hektischen Bewegungen machend. Leise murmelt sie Worte, die er nicht versteht. Prüfend legt er eine Hand auf ihren Oberarm. Sie reagiert nicht, was ihm ein erleichtertes Aufseufzen entlockt. So ist zumindest besser, als wenn sie anfängt zu schreien oder um sich zu schlagen. Sanft bugsiert er sie zu ihrem Bett und setzt sie hin, falls ihre Beine den Dienst verweigern. Wirr vor sich hinredend rollt Annie sich einem Kätzchen gleich zusammen, den freien Arm um die Knie geschlungen.

Normalerweise würde er sich neben sie legen, um sie nicht allein dem Grauen zu überlassen, doch dann fällt ihm die Überwachung wieder ein. Nur mittels seiner Stimme für sie da zu sein ist nicht einfach, vor allem, weil er nicht weiß, ob er überhaupt zu ihr vordringt. Er versucht es mit beruhigenden Worten, von denen jedoch keines den Anfall aufhält. Manche Albträume kann sie nur alleine durchstehen, so sehr er ihr auch helfen will. Um sich wenigstens nützlich zu machen, geht er zu ihrem Schreibtisch und sammelt die verstreuten Zettel ein. Fein säuberlich stapelt er die Entwürfe auf. Sämtliche zerknüllte Seiten wandern in den vollen Mülleimer. Dann setzt er sich, um darauf zu warten, dass ihre Panikattacke verklingt. Sein Blick fällt auf den Packen Kondolenzkarten. Die eigenen hat er längst abgegeben, beschrieben mit denselben Mustertexten wie die Jahre zuvor. Er greift nach der obersten Karte, die ihn mit einer schneeweißen Innenseite begrüßt. Nur die Anrede ist schon vorgedruckt, für Edys Eltern. Unbeweglich starrt er auf die leere Seite, ehe die Neugier ihn überwältigt und er nach einem von Annies Entwürfen greift, der nicht zerstört wurde.

Worte können nicht ausdrücken, wie groß mein Bedauern über den Verlust von Edy ist. Ihr Sohn hat nicht verdient, was ihm widerfahren ist. Die Erinnerung an ihn, an seine Güte und Unbeschwertheit, wird uns immer bleiben. Sie wird mich jeden Schritt meines Weges begleiten -

An dieser Stelle hört der Text abrupt auf und neue Zeilen folgen.

Ihr Sohn war ein wundervoller Mensch. Er hätte zurückkommen müssen und nichts bedauere ich mehr, als mein Versagen.

Die nachfolgenden Sätze sind von feuchten Tropfen zerflossen. Beim Anblick der vielen Zeilen auf der Suche nach Wahrheit wird ihm klar, dass sie hundertfach versucht hat ihr gesamtes Empfinden auf die kleinen Karten zu reduzieren, nur um immer wieder zu scheitern. Für manche Gefühle gibt es kein richtiges Wort und nicht einmal ein ganzes Buch wäre je genug. Es ist Irrsinn, danach zu suchen. Mitunter hilft es nur, das Gefühl gehen zu lassen, um sich selbst zu schützen. Vielleicht, überlegt Finnick, ist er abgestumpft, nachdem er die Karten so oft geschrieben hat. Aber es hält ihn über Wasser, keine Gedanken daran zu verschwenden.

„Annie?“, fragt er, laut und deutlich, in die plötzliche Stille des Raumes hinein.

„Finnick?“, kommt es heiser zurück.

Sie sitzt auf der Bettkante, die Knie ans Kinn gezogen, und späht ihn unter den langen Haaren hindurch an. Wo sie die Hand aufs Ohr gepresst hat, ist ein roter Abdruck zu erkennen.

Für einen Moment sehen sie einander stumm an. Dann deutet er auf das Blatt in seiner Hand.

„Jede einzelne Zeile ist schon mehr als genug. Lass dich davon nicht auffressen. Ich bitte dich.“ Er geht zurück zum Bett, kniet sich vor ihr auf den Boden. „Es darf dich nicht dein Leben kosten. Bitte, Annie.“ Mit seinen Händen umfasst er die ihren und drückt sie fest. „Wir brauchen dich noch.“ Eigentlich meint er „Ich brauche dich“.

Jetzt fallen die Tränen ihre Wangen herab, auf ihre umschlungenen Finger. Der Bleistift, den sie umklammert, bohrt sich schmerzhaft in Finnicks Handfläche, aber er ignoriert es.

„Du musst einen Kompromiss machen, sonst treibt es dich in den Wahnsinn.“ Nickend weist er in Richtung Schreibtisch. „Du hast genug wundervolle Zeilen gefunden, um die beste Kondolenzkarte aller Zeiten zu schreiben. Das kannst du mir glauben, ich habe genug gesehen.“

„Was hast du damals auf meine Karte geschrieben?“, fragt sie ihn unvermittelt und ein Gefühl, einem Elektroschock gleich, durchzuckt Finnick.

Alle aufmunternden Worte sind aus seinem Kopf verschwunden. Sein Mund wird trocken. Stammelnd versucht er die Frage zu beantworten.

„Das kann ... nein, Annie, das solltest du nicht wissen. Wirklich nicht.“

Er will ihr in die Augen zu sehen, aber sie wendet sich ab.

„Versteh doch, das würde nichts ändern“, fleht er.

„Ich dachte nur du könntest nachempfinden, wie ich mich fühle“, stößt sie hervor.

Fester noch als eben drückt er ihre Hände.

„Das tue ich, mehr als du dir vorstellen kannst. Nur muss ich auch versuchen, dich vor dir selbst zu bewahren. Es ist eine der härtesten Lektionen als Mentorin.“ In einer stummen Entschuldigung streicht er ihr über den Handrücken. „Lass uns die Karten beschriften, ja? Ich helfe dir.“

Endlich sieht sie ihn wieder an. „Du bleibst bei mir?“, fragt sie, die Stimme so heiser, dass sie kaum vernehmbar ist.

„Natürlich.“

 

Nachdem alle elf Karten beschriftet sind, ist Annie soweit beruhigt, dass ihr Atem wieder ruhig und stetig ist. Vor der Verkündung der Bewertungen frischt sie sich im Badezimmer auf, ehe sie an Finnicks Seite in das Wohnzimmer zurückkehrt, wo das ganze Team auf sie wartet. Cece strahlt die beiden erfreut an, als sie den Stapel Kondolenzkarten überreichen.

„Wunderbar, endlich einmal alles zur rechten Zeit bereit“, flötet sie gutgelaunt und stopft die Karten in ihre Handtasche, bevor die Tribute einen Blick darauf erhaschen. „Schnell, setzt euch, es geht gleich los!“ Sie zupft an einer herabhängenden orangeroten Locke und zwirbelt diese um ihren Finger. „Ach, ich bin ja so gespannt wer dieses Jahr die Bestenliste anführt!“

Ihre Begeisterung findet kaum Widerhall im Rest des Teams. Edy und Cordelia selber sind weiß wie die Wand hinter ihnen. Lange müssen sie nicht zittern, denn schon erscheint das goldene Siegel des Kapitols auf dem riesigen Fernseher. Die Hymne erklingt und aus dem Augenwinkel sieht Finnick, wie Cece still mitsingt.

Caesar und Claudius machen sich aufgeregt daran, die Tribute ein weiteres Mal kurz vorzustellen und dann ihre Bewertungen zu verkünden. Wie erwartet hagelt es hervorragende Noten für die Karrieros. Erst Distrikt drei dämpft die Begeisterungen der Moderatoren, bevor es weiter zu Edy geht.

„Edy, die Überraschung aus Distrikt vier“, tönt Flickerman aus dem Fernseher. In Finnicks Brust schlägt das Herz schneller. „Noch so jung und schon freiwillig, aber kann er die Erwartungen auch erfüllen?“ Angespannt sitzen sie allesamt da, den Blick auf die Leinwand geklebt. „Hier haben wir, meine Damen und Herren... Acht Punkte!“

Jubel verschlingt die nachfolgenden Worte des Moderators.

„Großartig Edy!“, übertönt Cece alle anderen. „Das ist mein Distrikt vier!“

Doch schon fährt Amber ihr mit einem harschen „Pssshh“ dazwischen. „Cordelia ist an der Reihe!“ Pikiert sieht die Betreuerin sie an, lässt sich dann aber wieder in ihren plüschigen Sessel sinken.

„Wir haben es hier sicherlich mit einer zielstrebigen jungen Frau zu tun, ohne Frage Claudius. Aber kommen wir zu ihrer Bewertung. Das sind... ebenfalls acht Punkte!“

Niemand kann Cece mehr zurückhalten. Überglücklich stürzt sie sich auf die beiden Tribute und drückt sie an sich. Finnick erhascht nur einen kurzen Blick auf Edy, dem langsam die Farbe in die Wangen zurückkehrt. Zaghaft zieht er die Mundwinkel nach oben, scheinbar überrumpelt, dass er es geschafft hat, die Spielmacher zu überzeugen.

Endlich zerstreut sich Finnicks Anspannung. Zweimal acht Punkte, das hilft. Ausatmend fällt er in die weichen Kissen, doch etwas Piksendes lässt ihn sogleich wieder nach vorne schnellen. Er greift hinter sich und zieht ein Sofakissen aus seinem Rücken. Grinsend stellt er fest, dass es das von Cordelia Zusammengeflickte ist, ihr Patient Null. Vor lauter Absurdität würde er am liebsten lachen.

Auf dem Fernseher läuft die Verkündung der Bewertungen weiter. Jetzt, wo er sich keine Sorgen mehr um die eigenen Schützlinge macht, ziehen die übrigen Noten an Finnick vorbei. Große Überraschungen sind ohnehin nicht dabei. Cece lässt eine Flasche Champagner herbei bringen und nestelt umständlich mit ihren langen Fingernägeln am Korken herum. Aber natürlich ist es nicht vorbei, bis die letzten Noten verkündet sind. Und in diesem Jahr sind die übrigen Distrikte nicht wie sonst arme Kinder mit bleichen Gesichtern voll Todesangst. Auf ihre Bewertungen ist er daher ebenso gespannt.

„Für Thresh gibt es... zehn Punkte!“, donnert Flickerman endlich.

Finnicks Blick gleitet zu Amber hinüber, die eine Augenbraue hebt. Zehn. Das Kapitol weiß genau, was sie tun. Sie machen ihn zu einer Zielscheibe für die Karrieros.

„Kommen wir nun zu Distrikt zwölf...“

Der Junge bekommt eine Acht, die erste Überraschung. Er hat weniger Eindruck als das Mächen hinterlassen, obwohl auch er in Flammen stand. Ihre beiden Tribute merken ebenfalls, dass bei den Bewertungen etwas vor sich geht. Jene vorsichtige Freude, die Edy eben zeigte, verschwindet wieder von seinem Gesicht. Gebannt starrt er auf die hohen Punktzahlen seiner Konkurrenten.

Caesar Flickerman verkündet gerade die Note des Flammenmädchens, da ertönt ein durchdringender Knall. Schreiend lässt Annie sich auf den Boden fallen, Köpfe drehen sich zu ihr herum. Cece steht schuldbewusst dreinblickend in der Ecke, die schäumende Champagnerflasche in der Hand. Finnicks Augen aber sind nach wie vor auf den Bildschirm geheftet. Groß schimmernd erscheint dort die Elf. Niemand außer ihr hat elf Punkte.

Während seine Gedanken sich überstürzen, beugt er sich zu Annie herab, die panisch ihre Hände auf die Ohren presst. Beruhigend redet er auf sie ein, bis der Anfall ihren Körper verlässt. Sobald sie sich wieder beruhigt hat, ist das Programm vorbei, die Elf fort und Cece schenkt allen Champagner ein. Doch die Freude über die gute Bewertung ist für Finnick längst verflogen. Wenn Distrikt dreizehn keinen Gedanken an die Tribute aus Zwölf verschwendet, so befürchtet er, dass dies ein Fehler wird. Elf Punkte erringt man nicht alleine durch körperliche Stärke. Ob es etwas damit zu tun hat, weswegen Edmont sie nicht ins Trainingscenter lassen konnte?

Einsames Schicksal

„Halt still Liebes, sonst erwische ich dich noch mit der Nadel!

Tadelnd schüttelt Kolibrichen den Kopf, ihre dunkelgrün gefärbten Augenbrauen zusammengezogen. Ich nicke entschuldigend und richte mich auf, die Luft anhaltend. „Schon besser“, lobt sie. Mit flinken Bewegungen nimmt sie die letzten Änderungen an dem Kleid vor. Ein, zwei Mal spüre ich die kalte Nadel auf meiner blanken Haut, aber sie pikst nicht. „Wunderbar, sitzt wie angegossen.“

Die zarte Frau tritt einige Schritte zurück, um ihr Werk zu begutachten. Auch ich habe jetzt zum ersten Mal freien Blick in den Spiegel, auf das Outfit für die Interviews heute Abend. Blumenranken aus Spitze schlängeln sich über meine Arme und Oberkörper, bevor sie an der Taille in einen weichen, knielangen Chiffonrock übergehen. Um unseren Tributen, vor allem Cordelia, nicht die Show zu stehlen, trage ich flache Schuhe. Perfektes Understatement, wie Cece gesagt hat. Was immer das heißt. Andächtig streiche ich über den teuren Stoff.

„Es ist wirklich schön“, sage ich an meine Stylistin gewandt.

„Oh, das ist noch nicht alles!“ Kolibrichen kramt zwischen ihren Nähsachen und zieht ein fliederfarbenes Schleifenband hervor, das sie mir um die Taille bindet. „Damit man auch erkennt zu wem du gehörst“, erklärt sie zwinkernd. Tatsächlich, der Stoff hat dieselbe Farbe wie der Entwurf von Cordelias Kleid.

„Wirklich, ganz toll“, höre ich eine sarkastische Stimme in meinem Hinterkopf. Oder kommt sie doch aus dem Raum? Irritiert blinzle ich. Dunkle Vorahnung erwacht in mir. Es ist nicht lange her, dass sie scheinbar von den Toten wiederauferstanden ist. Zögerlich schlage ich die Augen wieder auf und sehe Shine, gegen den großen Spiegel vor mir gelehnt. „Süße, unschuldige Annie, auf dem Weg ihre Tribute ins Verderben zu schicken.“ Ihr Mund verzieht sich zu jenem gehässigen Grinsen, das ich schon immer gehasst habe.

Meine Hand fährt zu der Kette am Hals. Mit zitternden Fingern umschließe ich das kleine Medaillon. „Sie ist nicht real“, flüstere ich leise.

„Hm?“, kommt es von Kolibrichen, die inzwischen ihre Utensilien zusammen packt. „Hast du was gesagt, Liebes?“

Ich schüttle den Kopf, denn der Anblick von Shine schnürt mir den Hals zu. Sie stößt sich vom Spiegel ab und tritt bis auf wenige Zentimeter an mich heran. Angst erfüllt verharre ich, als sie ihre Hand nach mir ausstreckt. Doch ihre Fingerspitzen gleiten nur über den Saum des Kleides. Wie von einem Lufthauch ergriffen wellt sich der Stoff unter ihrer unwirklichen Berührung.

„Viel Spaß, kleine Annie“, wispert Shine, deren boshafte Augen sich in meine bohren.

Immer noch das Medaillon umklammernd stolpere ich rückwärts, verliere den Halt und falle zu Boden. Auf klappernden Absätzen kommt Kolibrichen herbei gelaufen und beugt sich herab. Bevor sie Anstalten macht mir aufzuhelfen, springe ich hastig auf die Füße.

„Alles gut?“, ruft die Stylistin besorgt und zwingt mich, sie anzusehen, anstatt nach Shine Ausschau zu halten.

„Äh, ja, klar“, stammle ich. „Nur ungeschickt.“

Sie sieht mir prüfend in die Augen, dann umrundet sie mich, um das Kleid am Rücken zu richten. Erleichtert stelle ich fest, dass von Shine jede Spur fehlt.

„Wie lange haben wir noch?“, frage ich Kolibrichen, um von meinem kleinen Ausfall abzulenken.

Mitleidig sieht sie mich an. „Es ist bald so weit.“ Sie macht sich daran die restlichen Sachen in ihre große Tasche einzupacken. „Ich muss los und nach den Stars der Show sehen“, seufzt sie, „mal sehen ob Roan wieder in letzter Minute durchdreht.“

„Dann komme ich mit“, biete ich schnell an, um dem Zimmer, in dem weiterhin der Schatten von Shine lauert, zu entkommen.

„Ich hatte gehofft du würdest das sagen.“ Lächelnd hält sie mir die Tür auf.

Im Wohnzimmer herrscht Chaos. Überall liegen Lockenwickler, Puderdöschen und anderes Zeug verstreut. Auf dem letzten freien Stück Teppich stehen Cordelia und Edy, umschwärmt von ihren Vorbereitungsteams. Cece gibt ihnen letzte Anweisungen für die Interviews. Die übrigen Mentoren sind nicht da.

Von den Stylisten werde ich gar nicht beachtet, aber Edy lächelt mir erfreut zu. Ich zeige ihm einen Daumen hoch und sein Grinsen verbreitert sich. Es erleichtert mich, dass er nicht weint. Der feine dunkelgraue Anzug mit den fliederfarbenen Akzenten verleiht ihm genug Selbstvertrauen, um das Publikum vielleicht von seiner Rolle des Einzelkämpfers zu überzeugen.

Cordelia allerdings lässt ihn blass aussehen. Ihr Kleid ist genauso enganliegend wie auf den Entwürfen und ich gestehe mir ein, dass es ihre Ausstrahlung komplett verändert. Tüll in verschiedenen Fliedertönen umschmeichelt jede Rundung, bis er in einer langen Schleppe endet. Sie wirkt erwachsen, nicht die geringste Spur mehr von dem zaghaften Mädchen, dem gestern Nacht Tränen in den Augen standen bei dem Gedanken an ihre Familie. Im Gegensatz zu mir läuft sie mühelos auf den hohen Schuhen und hat damit keinen Privatunterricht bei Finnick nötig, anders als ich vor vier Jahren.

Zu Ceces Freude verlassen wir das Trainingscenter ganze fünfzig Sekunden früher, als ihr Plan verlangt. Außer mir ist nur Trexler dabei, die restlichen Mentoren lassen sich nicht blicken. Da Cece beschwingt vor sich hin pfeift, scheint es abgesprochen zu sein. Ich vermisse Finnick an meiner Seite, denn jetzt würde ich nur zu gerne seine Hand halten.

Trotz unserer pünktlichen Abfahrt sind wir nicht die Ersten beim Fernsehstudio. Ein paar „Außenseiter“ warten schon im Vorraum. Wir ignorieren sie und ziehen uns in die extra für uns bereitgestellte Garderobe zurück. Die armen Tribute, die vor Aufregung am ganzen Körper zittern, werden ein letztes Mal von Cece mit der Interviewetikette gequält.

„Setzt euch erst, wenn Caesar euch darum bittet! Vergesst nicht, euch dem Publikum zuzuwenden. Ihr müsst sie überzeugen, nicht Caesar! Achtet darauf, gerade zu sitzen!“ Sie tigert vor ihnen auf und ab, während sie die ermüdend lange Liste vorträgt. „Und ganz wichtig: Vergesst nicht zu lächeln! Aber bitte nicht zu viel Zahn zeigen.“

Es ist Trexler, der die beiden aus ihren Fängen befreit.

„Cece, trink n‘ Beruhigungsschnaps mit mir, okay?“ Er streckt ihr ein daumengroßes Glas mit klarer Flüssigkeit hin, die er aus der Minibar in der Garderobe hat. „Du bis‘ grad aufgeregter als alle vierundzwanzig Tribute z’samm.“

Cordelias Aufatmen ist weithin hörbar. Der breite Mann zwinkert ihr zu, bevor er Cece zwingt sich zu setzen und mit ihm anzustoßen.

„Die ersten fünf Distrikte begeben sich bitte in den Backstagebereich“, durchbricht eine Ansage die Ruhe.

Die Gesichter unserer Schützlinge verlieren endgültig alle Farbe. Obwohl ich heute die Bühne nicht betreten werde, klopft auch mein Herz schneller.

„Na kommt ihr Beiden“, sage ich leise. Hoffentlich tauchen die anderen Mentoren noch auf, denn außer Trexler ist niemand da, um sie angemessen vorzubereiten, und der ist vollauf damit beschäftigt Cece im Zaum zu halten. Den Kopf in den Nacken gelegt stürzt sie einen zweiten Schnaps herunter, mit der Hand gestikulierend, dass wir uns beeilen sollen.

Ein Avox führt uns in den Raum hinter der Bühne, wo längst der Mikrofontest läuft. Außer uns sind nur die beiden Jugendlichen aus Distrikt zwei da, die schon verkabelt sind und gelangweilt neben dem Bühnenaufgang lehnen. Sobald sie Edy und Cordelia erspähen, ändert sich ihr Gesichtsausdruck. Mit einem zuckenden Mundwinkel stößt sich der Junge – Cato, wie ich mir in Erinnerung rufe - von der Wand ab und kommt uns einige Schritte entgegen.

„Scharfes Kleid, Elia“, sagt er und zieht die Augenbrauen in einer Art hoch, die mir einen Schauer den Rücken herab laufen lässt. „Damit könntest du glatt Odair seinen Rang streitig machen.“ Er lacht so laut, dass es in dem leeren Backstagebereich widerhallt.

Ein Hauch von Rosa gleitet über Cordelias Gesicht, dann strafft sie sich und reckt das Kinn.

„Ich muss ja schließlich zeigen, was ich habe“, entgegnet sie. Ihr Blick fällt auf das Mädchen aus Zwei – Clove – , das im Vergleich zu ihr wenig reizvoll daher kommt in ihrem roten Fransenkleid. „Das hebt mich von den anderen ab.“ Sie schafft es tatsächlich zu lächeln, aber nicht auf die Art, wie üblich. Etwas Dunkles liegt in ihren Augen.

„Wie wahr...“, murmelt Cato, „nur muss man aufpassen, dass man den Zuschauern nicht... das Falsche verspricht. Am Ende müssen wir die Erwartungen ja auch treffen können.“

Wenn mich nicht alles täuscht, sieht er aus dem Augenwinkel Edy an. Der guckt entschieden weg von Cato, zur Bühnentür. Von Minute zu Minute wird mir mulmiger, denn der Konkurrenzkampf zwischen dem Karriero und den restlichen Tributen ist offensichtlich.

Cordelia lächelt weiterhin, trotz seiner spitzen Bemerkung.

„Ich bin schon gespannt auf die Auftritte der Anderen“, sagt sie, doch Cato wendet den Blick von ihr ab, ohne zu antworten. Er läuft ein paar Schritte auf Edy zu und bleibt kurz vor ihm stehen, Hände in den Hosentaschen. Seine Augen gleiten abschätzig über den Jungen, der im Vergleich zu seinem durchtrainierten Körper dürr wirkt. Niemand sagt etwas, bis Cato leise lacht.

„Ja, ich bin auch gespannt was die Schwächlinge sich ausgedacht haben.“

Auf dem Absatz dreht er um und marschiert zurück zu seiner Distriktpartnerin, die uns die ganze Zeit über nur düster anfunkelt.

„Wenigstens bin ich kein Monster“, stößt Edy keuchend hervor, nach wie vor auf den Aufgang zur Bühne starrend. Er sagt es gerade so deutlich, dass Cato es hört. Der hält mit dem Rücken zu uns inne, dann dreht er sich langsam um. Das Grinsen ist von seinem Gesicht verschwunden.

„Traust du dich das nochmal lauter zu sagen?“

Edy steht unbewegt da, angestrengt atmend. Scheinbar ringt er mit sich selbst, denn er öffnet seinen Mund nur, ohne, dass ihm Worte über die Lippen kommen. Seine Hände ballen sich zu Fäusten und er schießt einen Blick in Richtung des Karrieros.

„Ich sagte – wenigstens bin ich kein Monster.“

Ich halte den Atem an, solange die beiden einander anstarren. Es ist Edy, der zuerst wegschaut. Clove lehnt sich zu Cato und flüstert ihm etwas ins Ohr, ehe sie sich grinsend zurücklehnt. Er runzelt die Stirn und kommt dann wieder einige Schritte auf Edy zu. Ohne nachzudenken laufe ich zu Edy und stelle mich schützend an seine Seite, eine Hand auf den Rücken gelegt. Unter meinen Fingerspitzen fühle ich seine verkrampften Muskeln. Mit schiefgelegtem Kopf betrachtet Cato uns.

„Nein, du bist kein Monster“, erklärt er herablassend, „du bist ein kleiner Junge, der dachte, er könnte ein bisschen Tribut spielen.“ Seine Augen werden schmal. „Du bist ein Schande für alle von uns, die ernsthaft trainiert haben.“

Ein unterdrücktes Zittern durchläuft Edy. Mit der freien Hand packe ich ihn an der Schulter, um ihn notfalls zurückzuhalten. Aber Edy scheint festgefroren zu sein, denn er bewegt sich keinen Millimeter. Cato indes kommt noch näher, bis er fast direkt vor uns steht. Cordelia wartet untätig am Rande, die Arme verschränkt. Ihr Gesicht verrät keinerlei Gefühlsregung.

„Soll ich dir sagen, was du bist?“ Cato lässt die Fingerknöchel knacken. „Ein Opfer!“

Etwas in mir löst sich. Auf einmal spüre ich Feuer in meiner Brust züngeln. Empfindungen die schon lange nicht mehr präsent waren, erwachen tief in mir. Ich schiebe mich vor Edy, in den schmalen Spalt zwischen ihm und Cato.

„Wage es nicht“, zische ich und sehe ihm direkt in die funkelnden Augen. Wir starren einander regungslos an.

„Es stimmt also, was sie über die Verrückte sagen“, sagt Cato nach kurzer Pause mit Verachtung in jeder Silbe. „Noch so eine Schande für Distrikt vier.“

Mir fallen nur schreckliche Worte ein, die ich bereue, kaum, dass sie ausgesprochen sind.

„Lieber bin ich verrückt, als ein gewissenloses Monster, das sich auf das Töten von Kindern freut! Ich habe meine Spiele wenigstens mit Anstand gewonnen!“

Die Augen des Karrieros werden schmal. Gemächlich nickt er.

„Du hast nur gewonnen, weil du eine von Odairs Lieblingen bist.“ Lässig richtet er seine Manschetten. „Ich dagegen sorge alleine dafür, dass ich meinem Distrikt Ehre bringe. Bald verabschieden wir uns von den Ersten hier.“ Sein Mundwinkel zuckt nach oben. „Und ich weiß schon, bei wem ich anfange.“

Meine flache Hand trifft ihn unvorbereitet, direkt auf die Wange. Laut hallt das saftige Klatschen in dem Raum. Voller Wut sind mir selbst die erschrockenen Blicke der Avoxe egal.

„Du weißt nichts!“, fauche ich. „Du kannst froh sein, wenn du überlebst!“

Ein paar blonde Strähnen haben sich aus Catos sorgfältig gestylten Haaren gelöst und fallen ihm vor die Augen, sodass ich seinen Ausdruck nicht erkenne. Nur ein Zucken der Finger verrät seinen Ärger. Es dauert einen Moment, dann hat er sich wieder gefangen. Er bemerkt das Starren der paar Avoxe und schnaubt nur selbstgefällig, während er seine Haare zurückstreicht. Vollkommen ausdruckslos nickt er Edy zu. Anschließend dreht er sich um und stolziert zurück zu Clove.

Langsam durchdringt mich die Erkenntnis, was ich getan habe. Unbeabsichtigt entfährt mir ein erleichtertes Kichern. Die Wut kocht noch, doch die Energie versickert schlagartig und weicht Schwindelgefühl. Meine Beine werden weich wie Gummi. Den letzten Rest Kraft zusammenkratzend greife ich Edys Hand und ziehe ihn mit mir, vorbei an der Reihe glotzender Avoxe, hinter ein Regal voller Kabeltrommeln. Hauptsache außer Sichtweite von Cato. Kaum, dass die Anderen nicht mehr in Sicht sind, reißt Edy sich los. Er zieht eine undefinierbare Grimasse.

Mein Herz klopft bis in den Hals. Was habe ich nur angerichtet? Das letzte Mal, als Wut die Kontrolle übernahm, habe ich einen Menschen getötet und diesmal also einen Karriero geschlagen. Victorias Gelächter verhöhnt mich in Gedanken. Am liebsten würde ich an Ort und Stelle auf den Boden sinken und die Arme über den Kopf schlagen, doch jemand muss Edy helfen. Erneut lange ich nach seinem Arm, den er mir zu entreißen versucht. Zittrig umklammere ich sein Handgelenk, um mich selber davon abzuhalten, zusammen zu brechen.

„Edy... Bitte.“

Mein Griff ist eisern und er gibt es auf, sich zu befreien.

„Du musst mich nicht verteidigen“, sagt er störrisch, den Blick auf einen Punkt hinter mir gerichtet. „Es ist nicht dein Kampf.“

„Und ob es das ist!“, bricht es aus mir hervor. „Ich bin für dich verantwortlich. Und ich werde nicht zulassen, dass dieser... dieser Junge dich angreift...“

Ein freudloses Lachen entflieht Edy. „Wir werden bald in einer Arena sein, in der er jede Chance dazu hat.“

„Aber die anderen Mentoren, sie können dir trotzdem helfen.“

„Ach ja?“

„Sei ehrlich – was ist zwischen Cato und dir vorgefallen?“

Er versucht wieder, mir seinen Unterarm zu entziehen, aber sobald er mein Gesicht sieht, gibt er auf.

„Es ist nichts...“, sein Blick fällt auf den Boden.

„Edy, ich bin für dich da. Wem kannst du es sagen, wenn nicht mir?“

Ausweichend schüttelt er den Kopf.

„Ist schon in Ordnung, es ändert jetzt eh nichts mehr. Meine Spiele sind gelaufen“, sagt er mit gepresster Stimme. Die nahenden Tränen schimmern in seinen Augen, als er aufblickt.

„Edy...“, flüstere ich mit stiller Verzweiflung, „noch ist dein Schicksal nicht geschrieben. Wir kriegen das irgendwie hin!“

Trotzig zieht er die Augenbrauen zusammen.

„Frag doch Elia, wenn du es so unbedingt wissen willst.“

„Nein, sie würde es nicht so erzählen, wie du. Und hier geht es nicht um sie, sondern um dich.“ Ich gebe mir größte Mühe, meinem Flehen Ausdruck zu verleihen. „Ich bin auf deiner Seite, Edy.“

Er blinzelt, darum ringend nicht die Kontrolle über seine Tränen zu verlieren. Mit zitternder Unterlippe sagt er: „Der Fehler war, Cato beim Training mit seiner...“, er atmet tief ein und aus, „Brutalität zu konfrontieren. Ihm die Stirn zu bieten, anstatt es wie Cordelia zu machen und ihn anzuhimmeln.“ Während er spricht, ballt sich seine Hand zur Faust.

Mein Blick wird weich. Finnick hat recht, er ist zu gut für diese Spiele. In Gedanken höre ich das helle Lachen eines kleinen Jungen mit ähnlich wilden Locken, dessen Tod mich für immer entzweigerissen hat. Ich fürchte, dass es längst zu spät ist. Egal, was mit Edy geschieht, es wird Narben in meinem malträtierten Herzen hinterlassen.

„Die Karrieros... sie waren so unnötig gemein zu anderen im Training, haben immerzu davon gesprochen, was sie den anderen, den Kleinen, antun wollen, wenn die Spiele erstmal begonnen haben.“ Ein Zittern durchläuft seinen ganzen Körper und ich bin mir nicht sicher ob es Wut oder Angst ist. „Ich habe dafür trainiert kämpfen zu können, von Angesicht zu Angesicht“, fährt er fort, „aber nicht um Zwölfjährige zu foltern, bis sie sich den Tod wünschen. Warum macht Elia da mit? Das verstehe ich nicht. So war sie früher nie.“

Tränen treten in meine Augen. Das Gefühl des Verrates ist mir nicht fremd. Mitfühlend streiche ich ihm über den Arm, dann lasse ich los. Wie schon bei den Trauerkarten, fallen mir ausgerechnet jetzt keine passenden Worte ein. Trotzdem rede ich drauf los, in der Hoffnung, dass Edy versteht.

„Es tut mir so leid, Edy.“ Eine einsame Träne bahnt sich ihren Weg herab. „Du hättest nicht hier landen dürfen.“ Der Schwindel verstärkt sich und ich rede hastig weiter. „Niemand ist vorbereitet auf die Hungerspiele. Auch Cordelia wusste nicht, was es bedeutet ein Teil der Karrieros zu werden. Ich wünschte sie würde es nicht tun, aber ich weiß, dass sie ihre Absicherung sind.“ Ein Kloß bildet sich in meinem Hals. Am Liebsten will ich Edy in den Arm nehmen, doch das ist ihm bestimmt nicht recht, nicht hier, wo uns jemand sehen könnte. „Ich bin umso stolzer auf dich, dass du dich nicht den Karrieros beugst.“

In diesem Moment unterbricht uns lautes Absatzklackern. Cece kommt im Stechschritt angelaufen, sodass der Perückenturm auf ihrem Kopf gefährlich schwankt. Ihre Lippen sind ein schmaler roter Strich, der mit dem rosa ihrer Wangen konkurriert, und ihr Atem riecht nach Alkohol.

„Wo bleibt ihr denn? Es geht gleich los, zack zack, ab mit euch zum Bühnenaufgang!“ Ungeduldig klatscht sie in die Hände. „Versaut mir das ja nicht“, höre ich sie halblaut zischen, bevor Edy und ich zurück zur Bühne eilen, wo die übrigen Tribute bereits warten.

Cato schenkt uns ein Grinsen, doch seine Augen bleiben kalt. Er stößt Clove an, deren fiese Fratze sich ebenfalls amüsiert verzieht. Es kostet mich alle Kraft den Blick abzuwenden, aber ich gönne ihnen keine weitere Sekunde Aufmerksamkeit. Eisern umklammere ich Edys Handgelenk und ziehe ihn mit ans Ende der Schlange, wo wir uns mehr schlecht als recht hinter den schmächtigen Kindern aus Distrikt drei verstecken. Cordelia steht steif da, alleine. Auf den ersten Blick macht sie einen gefestigten Eindruck, aber bei näherer Betrachtung fallen mir ihre Hände auf, die sie so fest ineinander verschlungen hat, dass ihre Knöchel weiß hervortreten. Das kleine Lächeln, mit dem sie uns begrüßt, verschwindet viel zu schnell wieder von ihrem Gesicht.

„Wo sind denn die anderen?“, fragt sie vorwurfsvoll, während ihr Blick suchend durch die Gegend gleitet. „Sollten sie nicht auch hier sein?“ Mit keinem Wort erwähnt sie den Vorfall von eben.

„Die kommen bestimmt gleich“, versuche ich so beruhigend wie möglich zu sagen, aber meine Stimme verrät mich.

Ein Avox macht sich daran, Edys Revers mit einem Mikrofon auszustatten. Cordelias Blick fällt auf ihn, der immer noch bleich ist. Für einen Moment scheint sie mit sich zu ringen, dann drückt sie mit einer Hand seine Schulter.

„Wir schaffen das schon“, sagt sie mit unterdrückter Stimme, damit die Tribute vor uns es nicht hören. „In der Akademie waren wir die Besten.“

Anstatt ihn aufzuheitern, wird Edys Blick düster. „Nein, Riven war die Beste.“

Ihre Hand gleitet schlaff von seiner Schulter. „Ja, sie war die Beste. Aber wir haben von ihr gelernt. Wir sind genauso stark.“

Edy schnaubt abfällig. „Nur, dass es kein wir mehr gibt. Nur du oder ich-“

„Aber, aber, meine Lieben, so dürft ihr nicht reden!“, mischt sich Cece entrüstet ein. „Wo ist euer Lächeln, eure positive Energie?“ Sie stemmt die Hände in die Hüften. „Das sind eure Interviews, ihr müsst stahlen!“ Im affektierten Akzent des Kapitols zieht sie das letzte Wort lächerlich lang.

Seufzend tauschen die Tribute einen genervten Blick, ein Moment geteilten Leids. Kurzzeitig scheint ihr Streit vergessen. Cordelia schenkt unserer Betreuerin ein äußerst künstliches Lächeln und flötet: „Natürlich werde ich stra-a-a-hlen, Cece!“
 

Finnick und die anderen tauchen erst auf, als Distrikt zwei an der Reihe ist. Sie erwähnen mit keinem Wort, warum sie so spät auftauchen. In dem Moment ist es mir egal, denn ich bin froh, dass überhaupt jemand da ist, um sich unserer Tribute anzunehmen. Nach der Konfrontation mit Cato ist es ein Wunder, dass ich nicht direkt zusammengebrochen bin. Auch Cordelia sieht sofort glücklicher aus und bestürmt Floogs mit letzten Fragen.

Erleichtert atme ich auf. Fragend schaut Finnick mich an, aber ich schüttle nur den Kopf. Von der Begegnung zwischen Cato und mir erzähle ich lieber nicht. „Keine Zeit für Erklärungen“, flüstere ich ihm zu. „Kümmer dich besser um Edy. Wir reden später, okay?“

Er sieht mich unglücklich an, bevor sein Blick zu Edy und wieder zurück wandert.

„Ich würde gerne, aber nach den Interviews ist eine Aftershowparty angesetzt und... ich habe noch ein Treffen.“ Als er meine Miene bemerkt, setzt er hinzu: „Es muss leider.“

„Schon okay, klar.“ Mit einem Kloß im Hals nicke ich tapfer. Ob der Termin etwas mit einer anderen Frau zu tun hat? Besser, ich weiß es nicht. Kurz streift er mir über die Schulter, doch es reicht aus, um ein Kribbeln in die Magengegend zu senden.

„Danke.“

Zusammen mit Amber schlendert Finnick zu Edy und sie reden in gedämpften Ton mit ihm. Ich folge ihnen nicht, sondern lehne mich gegen die Betonwand. Die vielen aufgeregten Stimmen von Tributen und Mentoren verklingen zu einem Summen, kaum, dass ich die Augen schließe. Kühler Beton unter meinen Handflächen lindert den Schwindel.

In dieser Position verharre ich solange, bis Cordelia endlich an der Reihe ist. Stumm drücke ich sie an mich, denn alle Worte für diesen Tag sind endgültig verbraucht. Jeder wünscht ihr viel Erfolg und mit einem letzten Blick zu uns schreitet sie hinaus ins Rampenlicht. Wir hören tosenden Beifall und Caesar Flickermans aufgeregten Ruf, dann fällt die Tür zur Bühne zu und die Geräusche werden abgeschnitten.

Die Interviews sind, nach allem, was ich beurteilen kann, ein anständiger Erfolg. Wie zu erwarten liebt das Publikum Cordelias Kleid und Edys Charme. Sie ernten Lacher und Seufzer, erzählen Geschichten aus Distrikt vier, winken fleißig den Zuschauern und am Ende ihrer Auftritte schnellen die Sponsorenanfragen in die Höhe. Nachdem wir sie wieder in Empfang genommen haben, ziehen wir uns in den privaten Backstagebereich zurück, um die übrigen Interviews zu verfolgen. Den meisten Tributen sieht man die Nervosität an der Nasenspitze an. Ich versuche, nicht allzu genau hinzusehen, denn es ist genug, mit Edy und Cordelia zu leiden.

In einem Werbeblock vor dem Auftritt von Distrikt zehn erzähle ich Finnick schließlich leise, was zwischen Cato und mir vorgefallen ist. Seine Miene verdüstert sich bei meiner Schilderung von Catos Drohung.

„Oh Annie“, seufzt er schwer. „Du darfst es einem Jungen wie ihm nicht nachtragen, dass er so ist. Er hatte vermutlich nie eine Wahl, er ist dazu erzogen worden, der perfekte Tribut zu werden. Ich weiß, es ist hart. Und er hat die Ohrfeige sicherlich verdient. Aber am Ende ist er auch nur ein Opfer der Spiele.“

„Das weiß ich doch alles“, verteidige ich mich, „aber in dem Moment konnte ich nicht anders. So ein widerwärtiger...“

„Shhh.“ Finnick streicht beruhigend über meinen Handrücken und ich spreche nicht weiter.

„Jetzt weiß ich jedenfalls, was Enobaria meinte“, fährt er nachdenklich fort und erzählt mir, was die Mentorin aus Zwei am Vortag behauptet hat. „Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob wir ihm noch weiter helfen können“, gibt er im Flüsterton zu „Das Interview war okay, aber ihm fehlt ein Bündnis.“ Das habe ich mir schon gedacht, doch es zu hören, macht es nur schrecklicher. Finnick drückt wortlos meine Hand.

Zur allgemeinen Verblüffung sind es in diesem Jahr die letzten Distrikte, die Überraschungen bieten. Ausgerechnet das kleine Mädchen aus Distrikt elf gewinnt die Herzen des Publikums mit ihrer ehrlichen und intelligenten Art. Ein wenig erinnert sie mich an Pon. So jung, aber nicht wehrlos. Ihr Partner ist das komplette Gegenteil, ein schweigsamer Koloss, der sich den Zuschauern überhaupt nicht anbiedert. Seine Muskeln unter dem Anzug sprechen ihre eigene Sprache. Doch die Spannung erreicht ihren Höhepunkt erst, als das Mädchen aus Distrikt zwölf auf die Bühne gerufen wird. Wie wird sie sein, das Flammenmädchen, das alle Augen bei der Wagenparade auf sich zog? Das Mädchen mit den elf Punkten?

Mein erster Eindruck ist ernüchternd. Die unnahbare Aura von der Parade ist verflogen. Sie stolpert über ihre eigenen Worte, bittet Caesar Fragen zu wiederholen. Kurzum, sie ist normal. Ihre Hände zittern kaum merklich bei den Erzählungen. Ich verstehe sie, ganz ähnlich war mein Interview. Flickerman schafft es, die Stimmung zu lockern, indem sie von den kleinen Annehmlichkeiten des Kapitols plaudern. Die unverblümte Meinung der Tributin scheint dem Publikum zu gefallen, denn sie lachen herzlich. Sie erzählt von ihrer Schwester, für die sie gewinnen will, was den Leuten begeisterte Seufzer entlockt. Doch es ist nicht sie selbst, die ihr Interview unvergesslich macht. Wie schon bei der Parade, ist es das Kleid.

Die vielschichtigen Stoffe aus unzähligen Rottönen schimmern aufregend im Licht der Scheinwerfer, aber ihr wahres Geheimnis enthüllt sich erst, sobald Caesar sie bittet, sich für das Publikum zu drehen. Und wie sie sich dreht. Das Kleid scheint in Flammen aufzugehen und da ist er wieder, der Anblick, der einem den Atem stocken lässt. Ich starre sie an und weiß sofort, dass niemand sich an Cordelia erinnern wird. Ihr Feuer verbrennt die Erinnerung an die vorangegangenen Tribute zu Asche. Kein Wunder, dass der Applaus für sie lauter ist, als alles, was wir an diesem Abend gehört haben.

Ich werfe einen Blick in die Runde und sehe, wie jeder von dem flammenden Kleid gefesselt ist. Selbst Cordelia stiert mit offenem Mund auf den Bildschirm. Roan muss blass vor Neid sein.

Zuletzt folgt der blonde Junge. Sein Anzug ist passenderweise ebenfalls mit Feuerzungen verziert, geht allerdings nicht in Flammen auf. Nicht, dass er es nötig hätte. Denn wo ihr Kleid brannte, zünden seine Worte eine Bombe.

Wir sind zusammen hier.

Mit diesem einen Satz lässt er den Saal aufschreien. Caesar hat ihn nur gefragt warum er nicht für das Mädchen, das er liebt, siegen kann. Diese Antwort ist skandalös, nie dagewesen. Das Publikum ruft nach ihr, will sie wiedersehen, Details hören, aber die Interviews sind vorbei. Es gibt keine Ausnahme für Distrikt zwölf. Der Bildschirm wird abrupt schwarz und lässt uns schweigend zurück.

Erst jetzt merke ich, wie schnell mir das Herz rast. Er liebt sie? Mein Blick wandert zu Finnick, der unverwandt auf den dunklen Fernseher sieht. Wenn es etwas gibt, das schlimmer schmerzt, als unser Schicksal, dann das. Zu wissen, dass man niemals zusammen sein wird, denn einer von beiden muss sterben. Mir wird schlecht. Gleichzeitig bin ich dankbar, dass wir in unbeobachteten Momenten beieinander sind und nicht mehr um das Leben des Anderen fürchten. In all dem Elend der Distrikte haben wir noch Glück.

Cece scheucht uns zurück in den Wagen, der ins Trainingscenter fährt, wo im Kellergeschoss die Aftershowparty stattfindet. Sobald wir vorfahren, erhasche ich die Sicht auf Bürger des Kapitols in Abendgarderobe, die anscheinend zu der Feier geladen sind. Ihre begierigen Blicke verfolgen den Wagen und ich presse mich tiefer ins Polster, um nicht begafft zu werden. Zwischen den Leuten erkenne ich auch einige von Rivens Siegerfeier wieder, darunter die rundliche Politikerin Titania Creed, heute ganz in Grün gewandt. Für einen Moment habe ich das unangenehme Gefühl, dass sich unsere Blicke treffen, und wende mich hastig ab.

Bisher bin ich dem Versammlungssaal im Keller ferngeblieben und nach den Geschehnissen des Tages habe ich keine Lust, daran etwas zu ändern. Zu meinem Glück verkündet Cece, dass wir nicht alle an der Party teilnehmen können, damit die Tribute, die nicht eingeladen sind, keinesfalls alleine im Appartement sind. Morgen beginnen schließlich die Spiele und sie müssen ausgeruht sein. Bevor mir jemand zuvorkommt, melde ich mich freiwillig. Trexler schließt sich mir an und wir fahren mit unseren schweigsamen Schützlingen zurück ins Apartment. Aus dem gläsernen Fahrstuhl heraus erhasche ich einen letzten Blick auf Finnick, der Titania Creed mit einer Umarmung begrüßt.

Goldene Worte

Titania Creed steht mit einem breiten Lächeln auf den tiefroten Lippen vor Finnick, kaum, dass er das Trainingscenter betreten hat. Ihr Aufzug lässt einige der Anwesenden den Kopf verdrehen, so enganliegend ist das tiefgrüne Kleid. Mit einem Hüftschwung, der allzu verheißungsvoll ist, läuft sie auf ihn zu. In seinem Magen bildet sich ein eisiger Kloß und es kostet ihn einige Überwindung, ihr ebenso freudig entgegenzugehen. Zum Glück ist Annie bereits auf dem Weg ins Appartement und muss das nicht mit ansehen.

„Hallo Finnick“, grüßt sie ihn mit schwerer Stimme, voll Verheißung auf eine Nacht, der er gerne entfliehen würde. Vor all den Partygästen ist ihm diese Show mehr als unangenehm, obwohl vermutlich jeder der Anwesenden weiß, was zwischen ihm und Titania ist – oder glaubt es zu wissen. Berechnend legt er ihr eine Hand an den Rücken und zieht sie an sich, im Bewusstsein, dass ihr genau das gefällt. Sie wird an diesem Abend im siebten Himmel schweben, doch für ihn ist es die Hölle.

„Tita, meine Liebste“, raunt er, die Stimme tief gehalten, damit er anziehender wirkt. Oft genug wundert er sich, so wie jetzt, warum keine seiner Liebschaften dieses Spiel durchschaut. Wird es nie langweilig, immerzu denselben Tango mit ihm zu tanzen? Gibt es ihnen irgendeine Form der Erfüllung, sich seine Aufmerksamkeit zu erkaufen?

Titania jedenfalls pflanzt ihm einen Kuss auf die Wange und raunt nur für ihn hörbar „Ich freue mich schon auf heute Abend.“

Nachdem Finnick sich aus der Umarmung löst, realisiert er mit Erleichterung, dass die anderen Mentoren sich mitsamt Cece aus dem Staub gemacht haben. Sie wollen nichts mit seinen Liebschaften zu tun haben. Er kann es ihnen nicht verübeln.

Zumindest für eine Weile spielen er und Titania brave Partygäste, die sich mit Sponsoren über die Interviews unterhalten und ordentlich für Distrikt vier werben. Doch das Interesse an seinen Tributen ist kaum da.

„Wissen Sie, ob Mr. Abernathy heute Abend noch auftaucht?“, fragt ein junger Mann Finnick, „Ich würde wirklich gerne wissen, was Katniss zu dem Liebesgeständnis von Peeta sagt. Ich meine“, er lacht laut auf, „ich muss doch wissen, ob sie ihn auch liebt, bevor ich mein Geld auf sie setze! Oder gar auf beide, damit sie eine Chance haben.“

Säuerlich verzieht Finnick das Gesicht. „Leider bin ich kein Teil von Distrikt zwölf, also kann ich ihnen nur raten, meinen Distrikt nicht unterschätzen. Distrikt vier würde sich sehr über ihre Spende freuen.“

Doch der Sponsor hört ihm nicht mehr zu, sondern stiert mit einem Leuchten auf dem Gesicht in die Menge. „Oh, das ist Cinna, der Designer von Distrikt zwölf“, entschuldigt er sich, „ich muss ihm unbedingt zu der Idee mit den Flammen gratulieren!“ Ohne ein weiteres Wort verschwindet er in einer Menschentraube, die sich um einen schlanken Mann mit dunkler Haut gebildet hat. Im Gegensatz zu seiner Kreation ist er unscheinbar, nicht operiert und in einen schwarzen Anzug gekleidet. Mit einem zurückhaltenden Lächeln nimmt er die Glückwünsche der Umstehenden an.

„Ich muss sagen, die Flammen waren aufregend“, sagt Titania an Finnicks Seite. „So gut hat Distrikt zwölf noch nie ausgesehen. Und sie waren schon mal nackt.“ Sie kichert leise. Dann bemerkt sie seinen grimmigen Gesichtsausdruck. „Keine Sorge, Cordelia war auch hübsch. Sehr sogar. Wenn die Spiele erstmal begonnen haben, werden sich die Anderen daran erinnern. Die Kleine aus Zwölf aber ist dann ganz auf sich alleine gestellt... so ganz ohne Bündnis. Da hilft ihr auch kein flammendes Kleid.“

Er nickt nur geistesabwesend. Es fällt ihm schwer, ihren Worten Glauben zu schenken. Ablenkung naht in Gestalt Beetees, der sich durch die Massen zu ihnen schiebt. Der Mann lässt sich nicht von Titanias Anwesenheit irritieren, sondern grüßt sie nur höflich, ehe er sich Finnick zuwendet.

„Aufregendes Interview heute Abend, nicht wahr?“ Finnick meint, etwas wie Besorgnis herauszuhören. Aber Beetee ist ja nicht blind und genauso Zeuge des Trubels um Zwölf, wie er selbst.

„Ja und unerwartet“, seufzt er. Zu seiner Schande erinnert er sich jetzt schon nicht mehr an die Tribute aus Distrikt drei und kann nichts Nettes über sie sagen. „Scheint als würde die Bühne heute Abend jemandem gehören, der nicht einmal anwesend ist.“

Zustimmend brummt Beetee. „Wundert es dich? Abernathy war nie ein großer Freund von dieser Veranstaltung. Vielleicht taucht er später für die Getränke auf... oder Trinket schleift ihn her, wie es ihre Aufgabe wäre“. Finnick ist jetzt sicher, dass er sich Sorgen macht, warum der Mentor ausgerechnet seinen größten bisherigen Triumph versäumt. Innerlich pflichtet er ihm bei, da es kaum einen Grund gibt, die Chance auf mehr Sponsoren zu verpassen.

Titania tappt ungeduldig mit ihrer Fußspitze auf den Boden, daher greift Finnick nach ihrem Arm und entschuldigt sich bei seinem Freund. „Vielleicht sehen wir uns später noch einmal?“, fragt er unverfänglich, obwohl er genau weiß, dass es eher früher Morgen sein wird, wenn er endlich von ihr loskommt.

Aber Beetee nickt ihm nur knapp zu. „Ich werde noch ein Weilchen hier sein“, sagt er. „Solange die Party geht.“ Mit diesen Worten wendet er sich ab und spaziert zur Bar. Finnick hofft, dass er lange genug auf ihn warten wird, um zu hören, ob er in der Nacht etwas Interessantes in Erfahrung bringen konnte.

Zusammen mit Titania schleicht er sich rasch fort von der Party und überlässt das Feld den restlichen Mentoren. Je schneller er es hinter sich bringt, desto besser. Ihre Treffen verschaffen ihm immerhin einen Vorteil, denn sie sind ein seltener Ausflug aus der Enge des Appartements von Distrikt vier. Nur dann ist es ihm erlaubt, sich mit ihr in ein eigens angemietetes Penthouse zurückzuziehen. Ein goldener Käfig im Tausch gegen den Anderen, mehr ist es letztlich nicht. Der größte Trost sind die neue Aussicht auf das Kapitol – und die Tatsache, dass er von ihr wertvolle Informationen für die Untergrundbewegung sammeln kann.

In der Wohnung angekommen schaut er aus dem nachtschwarzen Fenster hinüber zu dem hell erleuchteten Trainingscenter, das wie ein Feuer in der Dunkelheit erstrahlt. Irgendwo dort ist Annie und er wünscht sich mit jeder Faser seines Körpers, er könnte heute Nacht bei ihr sein. Zu wissen, was wahre Liebe ist, macht diesen Betrug nur härter.

Stattdessen geht er zu Titania hinüber und verwandelt seinen Schmerz in Schauspiel. „Was habe ich dich vermisst“, seufzt er und zieht die kleine Frau in seine Arme. „Endlich sind wir alleine.“ Zum Glück ist sie Annie kein bisschen ähnlich, was es ihm erleichtert, diesen Betrug aufrecht zu erhalten. Er ist sicher, dass er sie niemals lieben wird. Nicht für alles Geld der Welt. „Ich habe mir oft dein Gesicht vorgestellt und doch bist du in Wirklichkeit immer schöner, als in meiner Erinnerung.“ Während Annie diese Worte höchstens Lachen lassen, strahlt Titania ihn an, als gäbe es nichts, was sie sich mehr wünscht.

„Ich habe dich auch vermisst“, kommt es atemlos über ihre Lippen und Finnick reißt sich zusammen, um nicht zu lachen, so befremdlich erscheint es ihm, dass Titanias Augen bei diesen Worten in Tränen schwimmen. Damit sie sein angestrengtes Gesicht nicht sieht, zieht er sie enger an sich und legt das Kinn auf ihren Kopf. „Zum Glück führen die Hungerspiele uns jedes Jahr wieder zueinander“, säuselt sie weiter gegen seine Brust. In Gedanken zählt er von zehn herunter.

„Solange wir uns lieben, wird der Weg uns immer wieder zusammenführen.“ Sein Blick wandert erneut aus dem Fenster, zu der erleuchteten Stadt. In seinem Herzen ist jedes Wort für Annie bestimmt.

Lange kann er Titania nicht festhalten. Sie entzieht sich seinen Armen und streift ihre hohen Schuhe ab. Sie ist ohnehin nicht groß und ohne die Absätze kommt sie ihm winzig vor. Trotzdem vollbringt sie es, auf Zehenspitzen hinüber zur Bar zu tänzeln und den vollen Hintern zu schwenken, wie auf der Flaniermeile. Bei aller Absurdität wäre es sogar witzig, wenn er nicht genau wüsste, wo dieser Abend endet. Scheinbar missinterpretiert sie seinen Blick als Begehrlichkeit, denn sie lehnt sich mit einem Kichern über den Tresen, um nach zwei Gläsern und einer Flasche Champagner zu greifen.

„Unser Wiedersehen müssen wir beide feiern! Und natürlich den wundervollen Auftritt deiner Tribute heute Abend!“, verkündet sie. „Ich habe ja bereits ein hübsches Sümmchen auf die beiden gewettet. Etwas mehr natürlich auf Cordelia.“ Feierlich stoßen sie an. „Auf das glorreiche Siegerteam aus Distrikt vier“, ruft Titania breit strahlend.

„Und auf uns“, fügt Finnick mit einem Zwinkern hinzu. Der prickelnde Alkohol wärmt sein Inneres. In seltenen Momenten wie diesen versteht er, warum das Trinken Haymitch Linderung verschafft. Aber nicht einmal die ganze Flasche Champagner wird die Intimitäten, die ihm bevorstehen, erträglich machen. „Ich kann nur hoffen, dass das Glück in diesem Jahr erneut mit unseren Tributen ist.“

Fast schon gekränkt sieht Titania ihn an, die Lippen zu schmalen Strichen verzogen. „Na hör mal, deine Schützlinge bekommen von mir so viel Unterstützung, genug, dass man sich einen neuen Wagen davon kaufen könnte. Zusammen mit eurer guten Ausbildung ... ich wüsste nicht, was noch schief gehen soll.“

Das ist nicht die Wahrheit und es ist ihr bewusst. Ihre lächerliche Spende für Edy zeigt genau, wie gering ihre Hoffnungen in den Jungen sind. Sie kennt die Wetten in- und auswendig.

„Das weiß ich auch sehr zu schätzen, Liebes. Aber dieses Jahr ist ... besonders. So viele starke Konkurrenten, die Karrieredistrikte und...“, seine Stimme verhallt. Distrikt zwölf. Nach dem Auftritt heute Abend hat sich das Blatt gewendet, das hat die Aftershowparty gezeigt. Er verübelt es Haymitch nicht. Eine Liebesgeschichte, das berührt die Leute. Diesen Plan hätte er nicht besser ersinnen können. Dazu ein brennendes Kleid und sie sind das Gesprächsthema Nummer eins.

Titania fängt an zu lachen, als würde sie seine Gedanken hören. „Machst du dir immer noch Sorgen wegen der beiden Kohlekinder?“ Sie winkt mit einer beringten Hand ab. „Trinket und Abernathy sind ein reines Verliererteam.“ Ihre Augen rollen in Richtung Decke. „Jedes Jahr will die kleine Trinket uns weiß machen, dass ihre Tribute die tollsten Helden sind und dann liegen sie tot im Schlamm des Blutbads.“ Mit einem Blick zu Finnick scheint sie sich wieder zu besinnen, warum sie hier ist. „Ich weiß, dass einige momentan ganz verrückt nach ihnen zu sein scheinen, doch ich werde immer für deinen Distrikt brennen. Ihr seid wahre Sieger.“

Um ihrem Blick auszuweichen, nimmt er einen weiteren Schluck Champagner.

Sie lehnt sich vor. „Du bist süß, wenn du dir Sorgen machst“, flüstert sie in sein Ohr. Ihr warmer Atem brennt auf der Haut wie Säure. Innerlich stählt er sich, bevor er sein Sektglas abstellt und sie mit einem Ruck an sich zieht.

„Und du bist sexy, wenn du für meinen Distrikt brennst.“ Von alleine schleicht sich ein anzügliches Grinsen auf sein Gesicht. „Erzähl mir doch noch mal, was dir so sehr an Distrikt vier gefällt.“

„Aber gerne“, kichert Titania, „da wären deine Augen, deine Lippen, deine Muskeln“, ihre Hände fahren über seine Brust, hinab zu den Hüften und sie grinst frech, „dein Hintern...“

„Und ich dachte immer, das schönste an Distrikt vier ist das Meer“, haucht er zurück.

Er zieht sie mit sich, in Richtung des Schlafzimmers. Trotz ihres aufreizenden Gehabes warten Damen wie sie immerzu darauf, dass er den ersten Schritt macht. Und da er ein braver Sklave des Kapitols ist, folgt er seinen Befehlen.

Vom Mondschein gebadet liegt er schließlich in den seidigen Laken neben Titania, die sich eng an ihn drückt. Finnick spürt ihre nackte Haut und das rasende Herz in ihrer Brust. Der eisige Kloß in seiner Magengegend ist mittlerweile so groß, dass er ihm den Atem nimmt. Nur mit Mühe unterdrückt er den Gedanken an Annie. Der Wunsch nach einer Dusche wächst in ihm, aber das muss warten, bis er wieder zurück ist.

Grinsend zwickt Titania ihn in seinen unbedeckten Bauch. „Na, hat da jemand Frustessen betrieben?“ Ihr schallendes Lachen klingelt ihm in den Ohren. Es gäbe eine Menge, was er ihr dazu sagen könnte, aber um des Friedens willen schweigt er. In seinem Kopf hallt Ceces rechthaberische Stimme wieder, die ihn an seine Diät erinnert, obwohl sich die Bauchmuskeln immer noch unter der Haut abzeichnen. Anscheinend hat sie doch recht, dass jedes Gramm mehr auffällt.

„Warum erzählst du mir nicht lieber, wie es dir in den Monaten ergangen ist, in denen ich nicht bei dir sein konnte?“, fragt er zur Ablenkung und um endlich den Lohn für diese Nacht zu bekommen.

Sie stützt ihr Kinn auf den Handballen und sieht ihn nachdenklich an. „Eigentlich ist in meinem Leben gar nichts tolles passiert“, seufzt sie. „Ich weiß, du findest irgendwie alles interessant was hier passiert, aber es waren unendlich langweilige Monate, bis ich dich endlich wiedersehen konnte.“ Sie beugt sich vor und küsst ihn mit einem Lächeln auf die Brust.

„Na gut, ich bin ehrlich“, sagt er, „ich möchte einfach nur deine Stimme hören, wie du mir von deinem schrecklich langweiligen Leben erzählst, dich vielleicht über deine Kollegen beschwerst oder so, nur um mir vorstellen zu können, dass es jeden Abend so sein könnte.“

Er streicht ihre Haare aus dem Gesicht und sieht sie eindringlich an. „Bitte. Ich möchte so viel von deiner Stimme aufsaugen wie möglich, damit ich sie nie vergesse.“

Trotz der Schatten erkennt er, wie Titania errötet. „Tita“, setzt er leise hinzu. Ihrem Spitznamen wohnte schon immer die Kraft inne, sie dahin schmelzen zu lassen. Wie beabsichtigt wird sie auch jetzt weich. Mit einem verschämten Lächeln legt sie sich wieder auf seine Brust und fängt an zu erzählen. Zunächst von außerordentlich langweiligen Begebenheiten. Von ihrem Sekretär, den sie für unfähig hält, weil er immerzu vergisst, den Himbeersirup zu ihrem Kaffee hinzuzufügen, oder von dem neuen Avoxmädchen, die ihr einen Teller Suppe auf ein teures Kleid geschüttet hat. Nichts, was seine Zeit wert ist.

Je länger sie redet, desto mehr Gefallen findet sie daran, sich selber zuzuhören. Schon bald zieht ihr Gejammere größere Kreise und sie beklagt sich über ihr schweres Leben.

„Und die Party bei Iphigenie Wilcox, ich sag es dir, ein Fiasko! Versprechen ohne Ende hat sie uns gemacht, von einem Riesenbuffet geschwärmt, mit Spezialitäten aus dem ganzen Land – angeblich. Nun, in Wirklichkeit fehlte die Hälfte. Von den exotischen Früchten gab es eine nur Handvoll, unglaublich enttäuschend. Kannst du dir das vorstellen? Ich musste mich mit Astoria Crane um ein bisschen Mango streiten. Kaum zu glauben, nicht wahr? Da arbeitet man für eine der wichtigsten Frauen im Lande und bekommt nicht einmal ein Stück Mango!“

Endlich hält Titania inne, um Luft zu holen.

„Liegt es eventuell daran, dass sie wieder all ihr Geld verwettet hat und sich nicht mehr leisten kann?“, nutzt er seine Chance, eine Frage zu stellen. Iphigenies Spielsucht kennt er von seinen früheren Verabredungen mit ihr. Zuletzt hat er sie gesehen, als fast ihr ganzes Mobiliar gepfändet wurde. Vermutlich ist genau das der Grund, warum seine Besuche bei ihr beendet wurden.

„Oh, darauf möchte ich wetten“, springt Titania auf seine Frage an, da sie nie eine Chance auslässt, ehemalige Konkurrentinnen in ein schlechtes Licht zu rücken, „sie konnte ja noch nie mit Geld umgehen, nur ausgeben oder wetten. Aber dann sollte sie nicht zu Parties laden. Vor allem nicht in Zeiten wie diesen, wo doch jeder weiß wie teuer alles geworden ist, vor allem Früchte.“

Es ist nur ein kleiner Hinweis, für Finnick aber mehr als genug, um weiter zu drängen.

„Sind die Früchte wirklich so teuer, oder Iphigenie so arm?“

Titania seufzt. „Wenn man nicht all sein Geld verspielen würde, könnte man sich auch Früchte leisten, die das Doppelte kosten. Immerhin ist es nur ein Aufpreis für die schwierigen Erntebedingungen.“ Sie schnaubt. „Iphi glaubt doch wirklich, dass schwierige Erntebedingungen heißen, dass unten in Elf so viel die – halt dich fest – Sonne scheint. Aber mir kann sie mit dieser Entschuldigung nicht kommen. Hat wohl vergessen, dass ich die rechte Hand von Ministerin Egeria bin.“ Mehr selbstgefälliges Lachen. „Dabei werden von dem Geld die zusätzlichen Friedenswächter bezahlt, die dort stationiert sind. Jedenfalls...“, Titania setzt sich auf und deutet auf ihren Rücken, „Wärst du so lieb?“

Pflichtbewusst rutscht Finnick hinter sie, um sie zu massieren. „Hört sich an, als wenn die Arbeit ziemlich anstrengend ist in letzer Zeit“, sagt er, „deine zarten Schultern sind ja völlig verspannt. Manchmal denke ich wirklich, dass du etwas kürzer treten solltest, Tita.“

„Ach, das ist noch harmlos“, winkt sie ab, „die Arbeit haben die Friedenswächter in dem Moloch da unten. Die Ministerin und ich waren ganz darauf konzentriert die Brandanschläge im zweiten Stadtring unter Kontrolle zu bekommen, das war viel anstrengender.“

Er befindet, dass die Brandstifter von denen sie erzählt, die des Nachts Modeboutiquen angesehener Designer niederbrennen, nicht von Belang sind für ihn, oder Distrikt dreizehn. Seine Gedanken wandern fort von Titanias Sorgen zu den neuen Friedenswächtern in Elf. Alles fügt sich zusammen mit den rebellischen Vorfällen aus dem letzten Jahr. Jetzt wo mehr Soldaten vor Ort sind, wird sich die Lage nicht entspannen. Erst recht nicht, wenn zwei ihrer Kinder erneut in den Hungerspielen sterben.

„Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen ist dann auch noch eine Fabrik in Distrikt acht in Flammen aufgegangen! Kann man sich das vorstellen? All die wertvollen Stoffe für die Parade und Interviews wurden dort hergestellt und nicht einmal einen Monat vor den Spielen mussten die Leute von vorne anfangen. Angeblich war ein Kurzschluss Schuld. Naja, auf meinen Nachdruck hin haben die Friedenswächter doch einen Schuldigen ausfindig gemacht“, sie gestikuliert wild mit ihren Händen, „so einen armen Irren, der die ganze Zeit nur den Namen seiner Tochter schrie und irgendwas von Rache faselte.“ Ihre dunklen Haare peitschen ihm ins Gesicht, als sie energisch den Kopf schüttelt. „Kaum zu glauben, dass so einer vor lauter... Verwirrung einen Brand herbeigeführt hat. Tja, jetzt ist er ein Avox und niemand muss mehr sein Geschrei ertragen.“

Jedes Wort versetzt Finnick einen unsichtbaren Hieb in die Magengrube. „Rache?“, fragt er wie betäubt, überrumpelt von der saloppen Erzählung.

„Ach, du weißt doch, wie die Leute sind. Sein Kind ist tot und jetzt gibt er uns die Schuld dafür.“ Sie schüttelt wieder den Kopf. „Als könne ich etwas dafür, dass sie in die Hungerspiele musste.“

„Oh“, entfährt es ihm. Seine sorgsam errichtete Fassade bröckelt und er ist froh, dass Titania mit dem Rücken zu ihm sitzt.

Das war eine stressige Woche auf der Arbeit“, redet sie unbeirrt weiter, seinen Aussetzer bemerkt sie überhaupt nicht. „Deswegen bin ich froh, extra für die Spiele Urlaub bekommen zu haben. Ich hoffe ja, dass wir uns nochmal sehen können?“

Sie dreht sich zu ihm herum und er küsst sie schnell, bevor sein Gesichtsausdruck ihn verrät. „Bestimmt werden wir das, aber zuerst muss ich mich um meine Tribute kümmern.“ Damit sie nicht antwortet, bedeckt er ihren Hals und die Schultern mit unzähligen Küssen. Kichernd lässt sie sich zurück in die Laken fallen.
 

Als Finnick ins Trainingscenter zurückkehrt, ist es vier Uhr morgens. Das Foyer liegt komplett still da und die Fenster der Appartements sind schwarz. Doch im Halbdunkel vor den Fahrstühlen sieht er das Aufblitzen von Brillengläsern im Schein der schwachen Nachtbeleuchtung, dann tritt Beetee aus den Schatten.

„Hallo Finnick“, grüßt er mit einem Gähnen, „hab schon gedacht ich seh dich heute gar nicht mehr.“

„Oh, ich habe mir eine andere Aussicht auf das Kapitol gegönnt“, gibt dieser zwinkernd zu, um seinem Ruf gerecht zu werden, selbst wenn Beetee das längst weiß.

Der schmale Mann hüstelt und sieht von ihm weg, offenbar unangenehm berührt. Gemeinsam warten sie auf den Fahrstuhl. Obwohl es reichlich Platz gibt, rückt er eng an den Mentoren aus Drei heran, bis sie nur eine Handbreit weit auseinanderstehen. Die Kameras dürfen auf keinen Fall sehen, wie er ihm das Stück Papier zuschiebt. Sein kleines Geheimnis ruht fest umschlossen in der Faust und lauert nur auf einen günstigen Moment.

Anhaltende Unruhe Elf - Friedenswächter verstärkt. Brand Fabrik Acht? Verdächtig. Mehr passt nicht auf den schmalen Streifen Papier, den er feinsäuberlich beschrieben hat, sobald Titania endlich eingeschlafen war. Wie immer ist es Beetee überlassen, die richtigen Schlüsse zu ziehen.

„Und, hat die Meute dem armen Cinna noch ein Ohr abgekaut?“

„Oh, ich fürchte ja, sie waren ganz auf ihn konzentriert. Jedenfalls bis Abernathy aufgetaucht ist. Hätte Effie Trinket ihn nicht gerettet, wäre er wohl nicht von ihnen losgekommen. Jeder wollte die Geschichte von dem tragischen Liebespaar hören. So haben sie die beiden getauft.“ Kaum hörbar seufzt Beetee. „Diese Interviews waren ihr Erfolg. Wir anderen konnten nur zusehen.“

„Immerhin ist er noch aufgetaucht“, entgegnet Finnick. „Wer hätte das gedacht. Scheint, als hätten unsere Worte etwas bewegt.“ Er drückt den Zettel mit seinen Informationen fester, jederzeit bereit ihn weiterzureichen.

„Fragt sich nur, zu welchem Preis.“ Beetees Blick verfolgt den gläsernen Fahrstuhl, der geräuschlos zu Boden sinkt. „Nach dir.“

Der Moment genügt. Wie durch Zufall rempelt Finnick ihn an und ihre Hände berühren sich für den Bruchteil einer Sekunde. Mit pochendem Herzen lässt er den Zettel durch die Fingerspitzen gleiten. Sein Atem stockt kurz, als er merkt, wie der andere ihn ergreift. Dann steht er im Fahrstuhl und Beetee folgt ihm, die Informationen jetzt fest in seiner Faust. Trotz aller Erfahrung durchströmt Finnick ein Gefühl der Leichtigkeit. Er lehnt den Kopf gegen das kühle Glas.

„Ich denke, wir tun gut daran, Distrikt Zwölf im Auge zu behalten. Nur zur Sicherheit.“

„Ja“, stimmt Beetee zu und stupst die Brille auf seiner Nase höher, „ich erwarte einige Überraschungen beim Blutbad heute.“ Wenn Finnick nicht alles täuscht, lächelt sein Gegenüber kurz.

Zurück im Appartement beschließt er aufgrund der weit fortgeschrittenen Uhrzeit, dass es nicht mehr lohnt, zu schlafen. Stattdessen wäscht er sich endlich den Schmutz der Nacht vom Körper, ein verrücktes Duschprogramm nach dem anderen. Bunte Seifen schäumen ihn ein, um von siedend heißen Wasserstrahlen fortgespült zu werden. Unter dem Wasser erlaubt er seinen Tränen ungehindert zu fließen. Er sitzt eine ganze Weile da und gibt seinem Drang nach, alles herauszulassen, in der Hoffnung, dass auch der Hass auf ihn selbst weggewaschen wird. Am Ende ist seine Haut rosa und empfindlich, aber das Gefühl von Titanias Berührungen bleibt. Wenigstens riecht er nicht mehr ihr schweres Parfüm an sich.

Im Wohnzimmer lässt er sich auf der Couch nieder und es dauert nicht lang, bis ihm vor Erschöpfung doch die Augen zu klappen. Er wird erst aufgeschreckt, als die frühen Sonnenstrahlen den Raum schon erhellen. Die schmächtige Gestalt Edys steht vor dem großen Fenster, den Blick auf den letzten Sonnenaufgang vor der Arena gerichtet. Er trägt bereits das Outfit der Tribute, schlichte khakifarbene Hosen und ein schwarzes Shirt.

Finnick scheint er nicht bemerkt zu haben, denn kaum, dass er sich räuspert, macht der Junge einen Luftsprung. „Oh man, hast du mich erschreckt!“

„Entschuldige, ich bin wohl hier eingeschlafen“, sagt Finnick und gähnt. Er fühlt sich wenig erholt und würde am liebsten direkt ins Bett fallen, aber jetzt steht die Eröffnung der Spiele unmittelbar bevor. Edy ist schrecklich bleich im Gesicht, in Gedanken offenbar schon in der Arena.

„Ich kann nicht mehr schlafen“, sagt er leise, „immerhin sind es meine letzten Stunden und dann kann ich sie nicht mal genießen.“

Finnick öffnet gerade den Mund, um Edy zuzureden, da kommt ihm jemand anderes zuvor.

„Sag sowas nicht!“ Cordelia stiefelt ins Wohnzimmer, genauso gekleidet wie ihr Gegenpart. „Letzte Stunden, wofür haben wir trainiert? Wir überleben das Blutbad!“ Sie tritt vor ihn, der einen ganzen Kopf kleiner ist als sie, und packt seine Schultern.

„Lass mich“, stößt er hervor. „Mach es nicht noch schlimmer.“

„Nein, Edy, jetzt hörst du mir zu“, verlangt Cordelia. „Mir ist etwas klar geworden.“ Ihr Blick schießt zu Finnick und wieder zurück. „Wir müssen zusammen halten. Wir sind Distrikt vier!“ Betreten beißt sie sich auf die Unterlippe. „Du bist mir wichtiger als die Karrieros. In der Arena bist du der Einzige, dem ich wirklich vertrauen kann. Cato und die anderen... würden mich als Erste erledigen, sobald nicht mehr genug Tribute übrig sind.“

Eine eisige Hand schließt sich um Finnicks Herz. „Cordelia“, er steht auf und läuft ein paar Schritte auf sie zu, bevor er stehen bleibt. „Es ist zu spät, um das Bündnis noch zu ändern! Wenn du ihnen am Füllhorn den Rücken kehrst, werden sie euch töten. Ich sage es nicht gerne, aber du bist ein Versprechen eingegangen.“

Cordelia stemmt die Hände in die Hüfte. „Edy ist aus unserem Distrikt! Wollt ihr etwa nicht, dass wir beide eine Chance auf den Sieg haben? Zusammen sind wir stärker!“ Ihre Stimme wird immer lauter und schriller. „Ich kann ihn doch nicht einfach zurücklassen!“ Auf ihren Wangen zeichnen sich rote Flecken ab. „Wir sind Freunde!“

„Und nur einer von euch kann überleben“, fährt Finnick sie an, Wut und Furcht gleichermaßen in ihm brodelnd. „Glaubst du mir gefällt das? Glaubst du, es ist einfach hier zu stehen und euch anzusehen, in dem Wissen, dass wir mindestens einen nie wiedersehen werden? Nein“, er schüttelt heftig den Kopf, „Natürlich wollen wir, dass ihr beide so lange wie möglich überlebt. Und wenn ihr euch die Karrieros zu Feinden macht, dann kann ich als Mentor wenig tun, um euch zu retten. Dann springen die Sponsoren ab und ehe ihr euch verseht, seid ihr Außenseiter. Du musst ihr Spiel mitspielen, zumindest am Anfang. Bis du eine Chance hast, zu verschwinden.“

„Und Edy?“, schreit Cordelia beinahe. Der Tribut selber steht mit hängenden Armen da, den Blick gen Boden gerichtet.

„Wenn du ihn beschützen willst, dann sorg dafür, dass die Karrieros ihn nicht jagen können. Verschaff ihm eine Möglichkeit zu fliehen am Füllhorn, lenk sie von ihm ab. Finde einen Weg, wie du ihm Nahrung und Wasser hinterlassen kannst. Aber am allerwichtigsten: Mach dem Publikum klar, was du willst. Gewinne ihr Interesse, ihr Mitleid.“

Sein Blick ruht auf dem Jungen, der bisher nichts gesagt hat. „Du bist tapfer, Edy. Wir haben dir alles beigebracht, was wir konnten. Besorg dir einen Speer und einen Rucksack. Dann sind deine Überlebenschancen genauso groß, wie die der anderen. Du hast das Zeug in dir, du darfst nur nicht zögern. Wenn es so weit ist, musst du zuschlagen, um zu überleben.“ Endlich schaut er ihn an. Finnick schenkt ihm das ehrlichste Lächeln, was er nach dieser Nacht zustande bekommt. „Und wie du siehst, bist du nicht alleine, wir alle sind bei dir, sogar Cordelia. Haltet euch am Ende nur von den Karrieros fern. Und nicht nur von denen, sondern auch von den Tributen aus Elf und Zwölf. Vertraut mir, sie sind gefährlich für euch. Zu zweit aber könnt ihr es schaffen.“

Edy nickt langsam. „Ich habe trotzdem Angst.“

„Ich weiß. Jeder von uns hat Angst.“ Mehr als Furcht aber empfindet Finnick im Moment Wut. Auf das Kapitol, das dieses Elend zu verantworten hat. Er denkt an den Zettel für Beetee. Je eher die Informationen Distrikt dreizehn erreichen, desto besser.

„Ich bin stolz auf euch“, ergänzt er mit Blick auf Cordelia, „dass ihr nicht so seid, wie die Karrieros. Was auch immer heute passiert, vergesst nie, dass euer Herz am richtigen Fleck ist.“

Machtlos

„Edy wir sehen uns bald wieder, versprochen!“

Die letzten Worte von Cordelia, bevor sie zur Arena gebracht wurde, gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Wie ein Echo hallen sie durch meine Gedanken, als wir Mentoren längst auf einer Tribüne am Korso sitzen und die Eröffnung der 74. Hungerspiele erwarten. Auf der großen Leinwand über der breiten Straße läuft ein Countdown. Nur wenige Minuten, bis die Sendung beginnt. Ich denke an unsere Tribute, die jetzt in den gefliesten Räumen unterhalb der Arena warten. Ist es wirklich schon so weit? Es kommt mir vor wie gestern, dass wir im Trainingscenter angekommen sind. Und gleichzeitig habe ich das Gefühl, Cordelia und Edy ewig zu kennen. Ich wollte es nicht, aber sie sind mir ans Herz gewachsen. Wie Pon.

Die Tribüne ist randvoll mit Mentoren, Stylisten und Gästen des Kapitols. Hinter den Absperrungen drängen sich hunderte Bürger, ausgestattet mit Fähnchen und Spielzeugwaffen. Von überall sind Kameras auf uns gerichtet, um die Reaktionen auf das Blutbad einzufangen. Obwohl die Sommersonne uns wärmt, durchläuft mich alleine beim Gedanken daran ein eisiger Schauer. Meine Finger klammern sich fester an die kleine Handtasche mit der einzelnen Morfixspritze.

„Für alle Fälle“, wie Cece gesagt hat. Am liebsten würde ich es jetzt schon nehmen, denn mein Herz schlägt so schnell, dass ich glaube, es zerreißt mich. Der Anblick der Mentoren aus Distrikt sechs in der Reihe vor uns erinnert allerdings an die Gefahren des Medikaments. Wenigstens sitze ich neben Floogs, dessen Anwesenheit ein bisschen beruhigt. Lieber wäre mir Finnick, doch den hat Cece ans andere Ende der Sitzreihe verfrachtet. Ob bewusst oder nicht kann ich nicht sagen. Vielleicht will er es so? Seit er heute früh wieder im Trainingscenter aufgetaucht ist, haben wir kein Wort miteinander gewechselt.

Selbst jetzt sieht er nicht zu mir herüber, sondern plaudert mit Beetee, der neben ihm sitzt. Seine Haare glänzen bronzen in der Sonne, als er lachend den Kopf in den Nacken wirft, und ich fühle einen Stich in meinem Magen. Liegt es an Titania Creed? Der Gedanke kommt unvorbereitet. Schließlich ist sie seine neuste Verpflichtung. Ich schelte mich sofort für diese Überlegung.

Nein, rede ich mir gut zu, du weißt, wie sehr er diese Menschen hasst. Es ist nur eine Rolle, die er spielt – spielen muss. Doch der Zweifel nagt weiter im Herz. Warum nur hat er dich heute nicht einmal angesehen? So unmittelbar habe die Reihen an Liebschaften nie zuvor gesehen und es fällt mir schwer, die ungewollten Bilder zu vergessen.

Egoistischerweise wünschte ich, dass Finnick von Cece gefordert hätte neben mir zu sitzen, damit er meine die Hand hält, anstelle von Floogs. Der versucht zumindest sein Bestes, indem er und Amber mich auf die verrücktesten Outfits der Zuschauer um uns herum aufmerksam machen. Dankbar lächle ich ihnen zu.

Auf einer Bühne unterhalb der Leinwand beziehen mittlerweile Caesar Flickerman und Claudius Templesmith Stellung. Ausnahmsweise kommentieren sie nicht aus dem Studio, sondern unter freiem Himmel. Rechts und links davon werden in Echtzeit die Wettquoten und Vitalfunktionen der Tribute angezeigt. Hinter Edys Namen sehe ich, wie sein Puls rast. Damit ist er nicht alleine, selbst die Karrieros sind unruhig. Bei ihnen ist es wahrscheinlich Vorfreude.

„Meine Damen und Herren, es ist soweit!“ Caesars verstärkte Stimme schallt über den Platz. „Machen Sie sich bereit, wir fangen jeden Moment an!“ Das Publikum bricht in Jubelschreie aus. Grinsend nimmt das Moderatorenduo den Applaus auf.

Ein Angestellter des Fernsehsenders gibt uns ein Handzeichen, dann werden die Kameras eingeschaltet und wir sind live.

„Guten Morgen Panem“, brüllt Caesar, „ich heiße Sie herzlich willkommen zur Eröffnungszeremonie der 74. alljährlichen Hungerspiele! Wieder ist ein Jahr um und das spannendste Event des Jahres steht an! Von heute an wird sich das Schicksal unserer 24 Tribute entscheiden. Wer wird leben, wer sterben?“

Die Zuschauer aus dem Kapitol wedeln wie wild mit ihren Fähnchen, auf denen die Siegel ihres favorisierten Distrikts prangen. Einige haben sogar Plakate mit den Gesichtern ihrer Lieblinge und Sprüchen wie „Möge das Glück stets mit Distrikt eins sein“ oder „Katniss und Peeta für immer“ angefertigt. Ich zähle erstaunlich viele Fans der beiden Tribute aus Zwölf. Auf den Schultern eines großgewachsenen Mannes sitzt sogar ein Mädchen, keine zehn Jahre alt, das ein offenbar selbstgemachtes Flammenkleid trägt. Aber es gibt auch Unterstützung für Cordelia und Edy. Roans lächerliche Paradenoutfits scheinen einigen im Kapitol so gut gefallen zu haben, dass sie die Kronen unserer Tribute nachgebastelt haben. Mich beschleicht das Gefühl, dass sie alle nur zum Spaß und Verkleiden hergekommen sind. Ob überhaupt einer von ihnen realisiert, dass in wenigen Minuten die Leben von ein paar Kindern für immer beendet werden?

Bevor es richtig losgeht, stellen die Moderatoren ein letztes Mal die Tribute vor und Highlights von der Ernte bis zu den gestrigen Interviews werden gezeigt. Gänsehaut erfasst mich, als ich erneut zuschaue, wie Cordelia und Edy sich freiwillig melden. Ihre stolzen Gesichter scheinen weit in der Vergangenheit zu liegen.

„Also dann, wer von ihnen will die neue Arena sehen?“ Lautes Geschrei beantwortet Caesars Frage. Lachend sieht er Claudius an. „Also, was meinst du, sollen wir es enthüllen?“

„Wir?“, fragt dieser zurück. „Nein, ich denke“, er zieht ein rotes Tuch von einem Podest zwischen den Moderatoren, auf dem ein überdimensionierter goldener Knopf prangt, „ich denke die Ehre gebührt Präsident Snow.“

Im Grunde ist es jedes Jahr das gleiche Geplänkel, ob man auf dem Festplatz in Distrikt vier zusieht oder live vor Ort. Trotzdem bin ich angespannt wie nie. Auf die Worte von Claudius Templesmith hin fährt ein einzelner Wagen mit dem Staatsoberhaupt vor. Galant winkt er in Richtung der Zuschauer. Der Blick, mit dem er die Tribüne streift, spricht allerdings nicht von Freude.

„Vielen Dank, Claudius“, bedankt er sich und tritt hinter das Podest mit dem Knopf. „Lassen sie mich vorher nur einige Worte an das Publikum richten.“ Es folgt die übliche Rede, die uns Distrikten jegliche Schuld am Krieg und den Hungerspielen gibt. Ein weiteres Mal erinnert er daran, dass die 24 Tribute eine ewige Warnung sind. Am Ende seiner Drohrede angekommen legt Snow seine Hand fast schon zärtlich auf den Knopf. „Nun denn, lassen sie uns sehen was meine fleißigen Spielemacher sich für dieses Jahr ausgedacht haben.“

Der Countdown auf der Leinwand verblasst und nur Schwärze bleibt zurück. Stille senkt sich über den Platz. Er drückt den Schalter. Einen Moment lang glaube ich, dass nichts passiert, doch dann wird mir klar, dass langsam die Sonne in der Arena aufgeht. Zunächst ist es nur ein blasser Lichtstreif im Inneren der Kuppel, aber allmählich erreichen die ersten Strahlen das Füllhorn. Von da ergießt sich das Licht über eine flache Grasebene mit 24 leeren Sockeln. Kräftige Laubbäume taucht aus dem Dunkel auf, ein großer See und dahinter ein wogendes Feld. Alles scheint Frieden zu versprechen. Leider wird sich das schnell ändern.

Wir bekommen einen Kameraflug durch die Arena zu sehen. Einen Wald wie diesen habe ich noch nie gesehen. Riesige Bäume mit ausladendem Geäst stehen dicht an dicht, sodass an manchen Stellen kaum Licht den Boden erreicht. Kleinere Wasserläufe bieten reichlich Gelegenheit, um Durst zu stillen, und immer wieder huschen Wildtiere durchs Bild. Kein Vergleich zu meiner Arena mit ihrer trockenen Steppe und den kargen Bergen oder Rivens verschneiter Ruinenstadt. Nicht unbedingt vorteilhaft für unsere Tribute, aber auch nicht von Nachteil. Im Grunde ein neutrales Gelände. Der See scheint tief zu sein, vielleicht könnten die Beiden das nutzen, überlege ich.

„Okay, das ist gut“, höre ich Amber murmeln. „Besser als die verdammte Eiswüste. In dem See leben hoffentlich Fische.“

„Wunderschön, nicht wahr?“, durchbricht Caesar die andächtige Stille. „Präsident Snow, sie haben eindeutig fähige Spielmacher ausgewählt. Diese Arena ist eine Pracht!“ Wir müssen alle auf ein Zeichen hin applaudieren, ehe die Moderatoren den ersten Eindruck des Geländes besprechen.

„Aufregend, sehr aufregend! Ich bin gespannt, wie die Tribute darauf reagieren werden. Und das ist auch schon das Stichwort, denn in diesem Moment begeben sie sich auf die Startplätze!“ Caesar strahlt wie ein Fischer, der einen besonders fetten Thunfisch gefangen hat.

Der Countdown wird wieder eingeblendet. Zwei Minuten. In schneller Abfolge sehen wir von oben in die Glasröhren, in denen die Tribute darauf warten in die Arena zu fahren. Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich hinsehen soll, oder nicht. Das Schlucken fällt mir schwer, so trocken ist der Mund. Eine Hand legt sich beruhigend auf meine und ich sehe Floogs an, der mir zulächelt.

„Alles wird gut“, flüstert er. Ich schenke ihm keinen Glauben.

Die Röhren werden an die Oberfläche gefahren. 24 Kinder erblicken jetzt zum ersten Mal die Arena. Manche starren mit offenem Mund auf die Landschaft, aber andere haben nur Augen für die Waffen. Und dann ist da Edy, der sich verzweifelt im Ring der Tribute nach Cordelia umsieht. Diese hat ihren Blick fest auf Cato geheftet, der ihr genau gegenüber steht. Zwischen ihnen liegt das Füllhorn mit seinen glänzenden Schwertern, Speeren und Messern, die uns nun in Großaufnahme gezeigt werden.

„Fünf“, zählt der Countdown laut herunter.

„Vier.“ Unermessliche Angst packt mich.

„Drei.“ Wie gelähmt sitze ich da.

„Zwei.“ Ich schließe die Augen.

„Eins.“ Meine Hände drücken sich auf die Ohren.

„Die 74. alljährlichen Hungerspiele sind eröffnet!“ Der Schrei von Caesar Flickerman ist so laut, dass ich ihn trotz der Fäuste auf den Ohrmuscheln höre.

Keuchend beuge ich mich vor, denn ohne Vorwarnung ist mein Kopf erfüllt mit Schreien. Renn fort, drängen sie. Du musst fliehen! „Nein, ich darf nicht“, entkommt mir ein Stöhnen, „ich bin kein Tribut. Ich bin kein Tribut. Ich bin kein Tribut!“

Die Spritze! Hektisch reiße ich mit einer Hand die Tasche auf und greife blindlings nach dem Morfix. In diesem Moment höre ich einen Schrei, gefolgt von einem qualvollen Würgen und dann – ein Jubelschrei. Handtasche und Phiole entgleiten mir. Floogs bückt sich schnell und hebt das Beruhigungsmittel auf. Schützend schiebt er sich vor die Kameras und greift meinen zitternden Arm. Ich wünsche so, stärker zu sein, doch die Stimmen der Vergangenheit drohen, mich zu ersticken. Den Schmerz vom Einstich fühle ich kaum. Erst, als ein dämpfendes Tuch jegliche Erinnerungen verhüllt, dringen wieder Empfindungen durch meine Panik.

Erleichtert atme ich ein und aus. Der Horror aber ist nicht vorbei. Einige Tribute haben das Füllhorn erreicht. Sofort bereue ich es, den Blick gehoben zu haben, denn auf der Leinwand sehe ich das eben noch grüne Gras, bedeckt von tiefrotem Blut. Die ersten Opfer des Blutbads liegen reglos am Boden. Schnell schaue ich hinüber auf die Liste. Vier ... nein fünf sind tot. Aber Cordelia und Edy leben!

Ich kralle mich an Floogs Arm fest, wie eine Ertrinkende an der rettenden Planke. Alle Mentoren um uns herum starren unbewegt auf das Geschehen, in Gedanken sicherlich bei ihren eigenen Tributen. Die Schreie im Kopf sind jetzt leiser, dafür dröhnen die Geräusche des Blutbads umso lauter. Mein Magen macht einen Satz, als wir in Großaufnahme sehen, wie Clove einen Jungen mit einem gezielten Messerwurf tötet. Eben noch war seine Hand um einen Rucksack geschlungen, den auch Katniss ergriffen hat, jetzt liegt er schon mit starrem Blick im Gras. Dem Flammenmädchen gelingt die Flucht.

„Das ist das Ende von Distrikt neun“, brüllt Caesar, „ein frühes Aus, wie schade!“ Ich glaube ihm keine Sekunde lang.

Zum Glück habe ich nichts gegessen, sonst würde sämtlicher Mageninhalt in der Reihe vor mir landen. So steigt nur der saure Geschmack von Galle in meiner Kehle hoch. Die Übertragung wird jetzt in viele kleine Kacheln aufgeteilt, eine eigene Perspektive für jeden Tribut. Die Ersten fliehen vom Füllhorn hinein in den Wald mit dem Wenigen, was sie erbeutet haben. Waffen hat keiner von ihnen.

Cordelia hingegen steht an der Seite der Karrieros, einen Speer in der Hand. Sie verteidigen ihr Revier, strecken diejenigen nieder, die so mutig – oder dumm – sind und sich vorwagen. Wie das Mädchen aus Distrikt zehn, die sich von hinten an das Füllhorn anpirscht. Ehe ich blinzeln kann, ist Cordelia über ihr. Der Speer durchbohrt das schmächtige Kind glatt. Binnen eines Wimpernschlags erlischt das Licht in den Augen der Tributin, bevor ihr lebloser Körper auf dem Boden aufschlägt. Aber Cordelia bemerkt das nicht mehr, denn sie hat sich längst abgewendet, um einem anderen Feind entgegenzutreten. In ihrem Blick ist nicht eine Sekunde des Zögerns zu erkennen. Ich sehe fort.

Wie gebannt beobachte ich stattdessen Edy, der ebenfalls das Füllhorn erreicht hat. Im blutigen Chaos rollt er sich von einer Vorratskiste zur nächsten, geschickt den älteren Tributen ausweichend. Cato, der in seiner Nähe auf den Jungen aus Distrikt sechs einsticht, bemerkt nicht, wie er auf allen vieren in das Horn kriecht. Wohl aber die Moderatoren.

„Oh oh, Claudius, sieht aus, als hätte jemand die Verteidigung unseres Freiwilligenbündnisses unterwandert! Der kleine Edy schleicht sich doch tatsächlich ins Füllhorn. Eigentlich hätte er auch bei diesem Bündnis dabei sein müssen, meinst du nicht?“

Zielsicher greift Edy nach einem großen Messer und reißt es von der Wand.

„Er hätte sicherlich das Zeug dazu, also können wir nur Vermutungen anstellen, warum er sich entschieden hat alleine zu kämpfen. Ich glaube ja, dass er noch einige Überraschungen für uns parat hat, Caesar.“

Edy schiebt sich das Messer in den Gürtel. Seine Augen gleiten über die Reihe an unberührten Waffen im hintersten Teil des Füllhorns. Er wirft einen Blick zu den Karrieros, die sich vor der Öffnung verteilt haben und die letzten Nachzügler zusammentreiben. Mit einem grimmigen Gesichtsausdruck zwängt er sich auf die größeren Schwerter zu.

„Und das war es mit Distrikt sechs, beide Tribute sind raus“, johlt Caesar so laut, dass ich zusammen zucke.

Die Augen lasse ich allerdings nicht von Edy. Der Speer fällt wie in Zeitlupe, Sekunden bevor er selber seinen Fehler registriert. Klirrend schlägt der lange Metallschaft gegen eine Vorratskiste. Seine Hände zittern, als er hastig den Schnürsenkel befreit, der sich an der Spitze verfangen und die Waffe aus der Halterung gezogen hat. Floogs neben mir stöhnt auf. Doch Edy gibt sein Vorhaben nicht auf, sondern robbt zur Rückwand des Füllhorns. Ein triumphierendes Lächeln streicht über sein Gesicht, kaum, dass er nach einem Schwert greift.

Es geschieht alles ganz schnell. Plötzlich steht Cato hinter ihm. Edys Augen weiten sich, sobald er den riesigen Karriero sieht und das Blut, das von seiner Klinge tropft. Dieses Mal kann ich ihn nicht beschützen. Der Tribut grinst breit und erhebt die Waffe. Panisch krabbelt Edy rückwärts, den Blick auf Cordelia gerichtet. Er öffnet den Mund zu einem Schrei in genau dem Moment, da ihn Catos Schlag trifft. Seine letzten Worte verlassen nie die Kehle und er sackt blutüberströmt zusammen.

Mir scheint, dass die Welt in tausend Scherben zerfällt. Das Morfix hält es nicht auf. Ich suche den Blick von Floogs, ein Spiegel meines Entsetzens. Dem älteren Mentoren weicht jede Farbe aus dem Gesicht. Er greift nach mir, um mich in eine Umarmung ziehen, aber ich schlage seine Hände panisch weg. Ich sehe kaum etwas, alles verschwindet hinter einem Tränenschleier. Hilflos kämpfe ich darum zu atmen, denn Hals und Herz sind wie zugeschnürt. Schmerzen schießen durch die Brust und zwingen mich vorneüber. Als ich Galle hoch würge, fühle ich das Ersticken nahen. Alles endet. Eiserne Hände packen meine Oberarme, zerren an mir, doch ich reagiere nicht.

„Lasst sie in Ruhe“, schreit jemand, „unser Tribut ist gerade gestorben! Natürlich ist sie verzweifelt!“ Finnick, erkenne ich.

Hustend übergebe ich mich erneut und bleibe dann vornübergebeugt sitzen. Selbst, als die eisernen Hände mir eine Nadel schmerzhaft in den Arm stechen, unternehme ich nichts. Um uns herum ist Geschrei. Etwas passiert mit mir, aber ich bringe keine Kraft auf, nicht einmal um mich zu wehren. Ich habe das Gefühl, dass mein Blut gefriert und eine unfassbare Trägheit schleicht sich durch die Adern bis in den Kopf. Neblige Finger greifen nach den Gedanken. Man hat mir etwas injiziert, das sicher kein Morfix ist, doch bevor ich diese Überlegung erfasse bedeckt der schwere Nebel alles und lässt nichts als Gleichgültigkeit zurück. Ich will schlafen, wäre da nicht der Trubel um mich herum.

Feste Griffe packen meine Oberarme und ich werde auf die Beine gezogen. Sie sind weich wie Wackelpudding. Mir entweicht ein Kichern, während sie sich weigern, ihr eigenes Gewicht zu tragen. Die Friedenswächter zu beiden Seiten ziehen mich unsanft höher.

„Huch, halten sie gut fest“, bringe ich zwischen dem Glucksen hervor, „meine Beine mögen mich nicht mehr.“ Schon beim Sprechen merke ich, dass auch die Zunge nicht mehr ihren Befehlen folgt. Ein lustiges Gefühl, finde ich und kichere unweigerlich erneut.

Die beiden Soldaten tragen mich schweigend fort. Durch die dumpfe Watte, die meine Sinne verhüllt, höre ich, wie uns jemand etwas hinterherruft, verstehe aber nichts, weder die Worte, noch warum die Leute so wütend sind. Wo bin ich überhaupt? Der Gedanke hält sich nicht lange, da fallen mir schon die Augen zu. Glücklich versinke ich in der wattig weichen Gleichgültigkeit, die mich erfüllt.
 

Da ist Licht. Wie durch eine angelehnte Tür hindurch scheint es in mein dämmerndes Bewusstsein. Von wo kommt es? Ich habe das Gefühl, unter schweren Decken begraben zu sein. Etwas hält mich zurück, aber die Neugier ist stärker. Mit aller Kraft kämpfe ich gegen den Nebel, der mein Inneres vom Licht trennt. Stimmen flüstern mir zu, dass ich umdrehen soll. Sie locken mit dem Versprechen auf traumlosen Schlaf, in dem jegliche Sorgen verschwinden. Ich erinnere nicht, welche Ängste mich erfüllen. Dennoch wird das Gefühl deutlicher, etwas vergessen zu haben.

Ist es wichtig? Keine Ahnung. Der Schlaf erscheint wieder so verführerisch und nur mit Mühe ringe ich den Drang nieder. Meine Augenlider wiegen tonnenschwer, als ich sie langsam öffne. Mit voller Wucht blendet das gleißend helle Licht mich. Für einen Moment sehe ich nichts außer weißer Endlosigkeit. Dann wird der Gedankennebel von den Lichtstrahlen zerrissen. Erinnerungen fluten in einem reißenden Strom in den Kopf zurück. Auf meiner Brust scheint ein Gewicht zu liegen, das mir den Atem nimmt. Jegliche Leichtigkeit ist verschwunden und im schonungslosen Licht aus der Neonröhre über mir erkenne ich die Welt wieder in voller Grässlichkeit.

Überwältigt liege ich da, an die weiß verputzte Decke starrend. Gedanken an einen Ort wie diesen tauchen auf. Damals, nach den Hungerspielen, war ich das erste Mal hier. Ein Krankenzimmer. Oder ist es dieselbe Situation? Vielleicht belügt mein Gedächtnis mich? Ich suche die Wahrheit, kann aber nicht sagen, was passiert ist. Wie ich hierhergekommen bin. Doch dann dringt eine einzelne Erinnerung aus der Flut an Bildern und Wortfetzen hervor. Ein kleiner Junge mit blonden Locken, den ich schon wieder nicht gerettet habe. Das Erste, was ich richtig erinnere, ist der tote Edy. Unser Tribut. Die Ernüchterung sinkt langsam ein. Er ist tot, obwohl ich ihm versprochen habe, ihn zu beschützen. Ich habe meine Hungerspiele vor Jahren gewonnen, aber es hat sich nichts geändert. Das Kapitol hat mich fest im Griff und mir wieder einen geliebten Menschen genommen.

Ich will die Hand heben, um die aufkommenden Tränen fortzuwischen, doch da ist ein Widerstand. Verwundert wende ich den Blick von der Zimmerdecke ab. Ein karger Raum, in Weiß und Grau gehalten, gelangt in mein Blickfeld. Neben dem Bett, in dem ich liege, stehen ein einzelner Stuhl und irgendein Gerät mit blinkenden Lichtern sowie unheilvoll aussehenden Schläuchen. Keine Anzeichen, dass außer mir noch jemand hier ist.

Meine Hand ruht auf dem Bett und ich versuche erneut, sie zu bewegen. Ein breiter Riemen am Handgelenk hält sie zurück. Ungläubig starre ich darauf, rüttle wieder. Ohne Erfolg. Mehr als wenige Zentimeter Spielraum bleiben mir nicht. Rasch hebe ich die linke Hand, doch hier genau das Gleiche. Man hat mich gefesselt! Die Erkenntnis vertreibt die Trauer um Edy aus meinen Gedanken.

Zuerst überlege ich, laut zu schreien. Aber die Chance, dass es jemand hört, ist wohl gering, der schweren Tür nach zu schließen. Und selbst wenn, wen würde das Geschrei anlocken? Friedenswächter? Die werden mir sicherlich nicht helfen. Ich prüfe, ob ich mich aufsetzen kann, erkenne jedoch, dass auch über der Brust ein breiter Riemen gespannt ist, genauso wie bei den Beinen. Offenbar bin ich dazu verdammt wie ein Fisch auf dem Trockenen zu liegen und darauf zu warten, dass mich jemand erlöst.

So weit es mir möglich ist, hebe ich den Kopf. Mein Gefängnis hat nicht ein Fenster, nur eine Tür gegenüber vom Bett. Sie hat keine Klinke oder Knauf. Ansonsten entdecke ich nur eine Kamera in der Zimmerecke, an der ein rotes Licht leuchtet. Gut, dann wissen sie, dass ich wach bin. Ich sinke zurück ins Kissen und schließe die Augen, alleine mit meiner Angst. Vermutlich ist es nur der Nachwirkung des Mittels, das sie mir gespritzt haben, zu verdanken, dass ich nicht davon überwältigt werde.

In der Stille erinnere ich mich an die letzten Ereignisse des Tages zurück. Morgens haben wir das Frühstück in gedrückter Atmosphäre zu uns genommen. Kaum einer brachte etwas herunter. Selbst Ceces ewig frohes Geplapper war leiser als sonst. Finnick sah müde aus. Wenn er merkte, dass ich ihn ansah, wandte er den Blick ab. Niemand verlor ein Wort darüber, dass er gestern nicht mit den Anderen von der Party wieder kam. Ich schwieg ebenfalls, obwohl ich mich am liebsten in seinen Armen verkrochen hätte, damit er mir die Angst vor der Eröffnungsfeier nimmt.

Anschließend begleiteten wir die Tribute zum Hovercraft, mit dem sie zur Arena flogen. Ein letztes Mal schloss ich Edy und Cordelia in die Arme. Die Angst in ihren Gesichtern erinnere ich deutlich und wie Cordelia versprach die Karrieros für Edy zu verlassen, sobald möglich. Das kleine Flämmchen der Hoffnung, das ihre Worte in mir entzündeten, ist von dem Wissen ausgelöscht, dass er nicht einmal das Blutbad überlebt hat.

„Schon komisch, nicht wahr?“ Ich öffne die Augen. Auf dem freien Stuhl neben dem Bett sitzt Shine, in die weißen Kleider einer Ärztin gehüllt. Sie hält ein Klemmbrett, wie es die Doktoren in Distrikt vier bei sich tragen. Anstatt mich anzusehen, kritzelt sie darauf herum, aber ich kann nicht erkennen, was sie schreibt. Sie erinnert sehr an ihre ältere Schwester Glista, nur fehlen ihr jegliches Mitgefühl oder Sanftheit, die diese hat.

„Immer wieder überrascht einen der Tod, obwohl man doch meinen sollte, dass man sich nach all den Jahren daran gewöhnt hat.“ Ihre Hand hält kurz inne und sie lächelt mich an, was mir einen Schauer über den Rücken jagt. „Mein eigener Tod hat mich schließlich auch überrascht.“ Ich wende den Blick ab und schließe wieder die Augen.

„Warum nur habe ich das Gefühl, dass du dich nicht freust, mich zu sehen?“ Kurzes Kichern. „Wäre Victoria dir lieber? Ich kann gerne mit ihr den Platz tauschen.“

„Lass mich in Ruhe“, sage ich. „Ihr beide.“ Trotzdem erwacht die Furcht davor, dass eine rachsüchtige Victoria hier auftauchen könnte, an einem Ort, wo ich mich nicht wehren kann, nicht fliehen kann. Shine war schon immer die Umgänglichere der beiden. Wenn man das überhaupt so sagen kann.

„Ich dachte mir, ich leiste dir Gesellschaft, wo du so ganz alleine bist. Bevor dich die Einsamkeit in den Wahnsinn treibt.“ Sie lacht laut über ihren eigenen Witz.

„Danke, aber ich bin schon verrückt.“

„Oh, daran zweifle ich nicht, aber es gibt noch ganz andere Arten, den Verstand zu verlieren. Bis man alles vergisst, was einem wichtig ist, wer man ist oder... wen man liebt.“

Verstohlen sehe ich wieder hinüber zu Shine, die mich wissend betrachtet. „Das werde ich nicht.“

„Glaubst du wirklich, dass du das bestimmen kannst? Dich überwältigen doch so schon jedes Mal die Erinnerungen und zwingen dich zu schreien.“ Auch jetzt droht ein Schrei in meiner Kehle emporzusteigen, aber ich schlucke ihn herunter.

„Finnick sagt mir jedes Mal, was real ist, oder nicht. Er ist mein Anker“, halte ich mit zittriger Stimme dagegen.

„Und was, wenn er verschwindet? Dich nicht mehr beschützen will?“

Ich schüttle den Kopf. „Das wird nicht passieren.“

„Und doch ist er jetzt nicht hier.“

Angestrengt hole ich tief Luft, in dem Versuch, mich zu beruhigen. Vor meinem inneren Auge sehe ich wieder wie Finnick Titania Creed umarmt. Aber dann erinnere ich genauso, wie er die Friedenswächter angeschrien hat, voller Wut und Sorge. „Weil er nicht kann“, gebe ich zu. Das Kapitol würde nie zulassen, dass er an meine Seite eilt, wo er doch der begehrteste Junggeselle sein muss.

Siedend heiß fällt mir ein, dass jedes Wort, was ich sage, mitgehört wird. Ich starre zu der Kamera, an der noch immer das rote Licht blinkt. Habe ich gerade all unsere Vorsicht zu Nichte gemacht? Angsterfüllt verkrampfen alle Muskeln. Was wird das Kapitol aus diesen Worten schließen? Werden sie es als das Stammeln einer Verrückten abtun? Ich hoffe es.

Shine folgt meinem Blick. „Du solltest auf deine Geheimnisse besser acht geben. Nicht nur er beschützt dich, du musst auch ihn beschützen. Und gib bloß nicht mir die Schuld!“ Stumm schüttle ich den Kopf, fest entschlossen, dass mir kein weiteres Wort über die Lippen kommt.

Die Vision meiner einstigen Erzfeindin lächelt, als könne sie die Gedanken lesen. Was nur Sinn macht, denn sie lebt ja in mir drinnen. „Vielleicht sollten wir lieber von etwas anderem reden? Zum Beispiel den Spielen?“

Natürlich, die Hungerspiele. Für eine Weile habe ich sie beinahe vergessen. Was ist in der Zwischenzeit alles passiert? Wie viel Zeit ist überhaupt vergangen, seit man mich weggesperrt hat? Lebt Cordelia noch? Sie ist jetzt schließlich unsere einzige Hoffnung. Und, hinter all diesen Sorgen verborgen, überlege ich kurzzeitig, ob die Tribute aus Distrikt zwölf leben. Ich weiß nur, dass Katniss vom Füllhorn fliehen konnte, mit dem Rucksack als Beute, den sie dem toten Jungen aus Neun entrissen hat.

Shine sitzt ruhig da und beobachtet mich. „Ich weiß auch nicht mehr als du“, sagt sie mit einem Schulterzucken.

„Vielleicht sind die Spiele ja schon vorbei“, überlege ich hoffnungsvoll. Was immer ihr Ausgang wäre, wenigstens würde es bedeuten, dass ich nach Hause darf. Sie können mich ja nicht auf ewig hier festhalten. Je länger ich daran denke, desto stärker wird die Hoffnung, dass es wahr ist. Nachhause fahren und vergessen klingt traumhaft.

„Vergessen? Ich glaube nicht, dass sie das zulassen. Die Spiele gehen weiter, Jahr für Jahr, für Jahr... so wie du mich nicht loswirst, wirst du den Tod nicht loswerden. Und jedes Jahr musst du deinen Liebsten gehen lassen, in dem Wissen, was hier passieren wird. Kannst du das vergessen?“ Shines Lippen verziehen sich zu dem grausamen Grinsen, das sie schon bei der Jagd in der Arena trug. „Irgendwann wird es euch zerreißen, so wie die Piranhas mich zerrissen haben, ein Stückchen nach dem anderen, bis nichts mehr übrig blieb, das meine Familie hätte beerdigen können. Und alles ist wieder deine Schuld.“ Ihre Worte hängen in der Luft wie ein giftiges Gas.

„Nein“, flüstere ich hilflos. Meine Hände sind zu Fäusten geballt und ich reiße an den Fesseln, doch sie geben kein Stück nach. Ich drücke den Kopf zurück in das Kissen und verschließe die Augen fest in dem Wunsch, dass Shine verschwinden wird.

„Habe ich dir je erzählt wie schmerzhaft mein Tod war?“

Reglos liege ich da und zwinge mich keine Reaktion zu zeigen. Auf dem Gang draußen werden Schritte laut. Jemand kommt, aber ist es die Rettung oder sind es wieder die Friedenswächter mit den eisernen Händen? Ich reiße die Augen auf und starre in Richtung der verschlossenen Tür. Kurzzeitig bin ich versucht zu schreien.

„Sieht so aus, als wenn du Besuch bekommst.“ Shine lächelt mich noch einmal an. Binnen eines Wimpernschlags ist jede Spur von ihr verschwunden – bis auf die Angst in meinem Herzen.

Dornen im Herzen

Die Friedenswächter tauchen wie aus dem Nichts auf. Binnen Sekunden sind sie an Annies Seite, jagen ihr eine Nadel in den Arm und heben sie, abgeschirmt von den Blicken des Publikums, hoch. Die Kameras halten beharrlich auf die jubelnde Masse unten auf dem Korso, die wie ein buntes Meer wogt. Sie feiern das Ende des Blutbads, dessen letztes Opfer Edy war.

Finnick ist auf den Beinen, als die meisten Mentoren um ihn herum noch gar nicht begriffen haben, was geschieht. Ihre Blicke sind festgesaugt an der Leinwand, auf der die Karrieros alle Opfer des Kampfs zusammentragen. Er hingegen sieht nur Annie, die schlaff zwischen den weiß gekleideten Soldaten des Kapitols hängt, das Gesicht so bleich wie ihre Uniformen.

Protestierend versucht er, die Männer zu überreden, sie loszulassen. Die Friedenswächter beachten ihn nicht. Annies Blick trifft seinen, aber in ihren Augen ist nur Leere, die mit eisigen Fingern nach seinem Herzen greift. Ihr eigenartig hohes Lachen klingelt in seinen Ohren. Das ist nicht mehr seine Annie.

Die Sitzreihe ist zu eng, sodass er nicht schnell genug zu ihr gelangt und die Männer wenden sich schon zum Gehen. Finnick macht das Einzige, was ihm bleibt. Er schreit, so laut er kann.

„Lasst sie los!“ Bei dem Klang seines Zorns dreht sich die Reihe vor ihnen um. Er hört leises Getuschel, doch es ist ihm egal. „Sie hat nichts getan, lasst sie runter!“

Einer der Friedenswächter kehrt sich zu ihm. „Mr. Odair, setzen sie sich!“ Seine Stimme ist beherrscht, aber die Worte sind scharf wie die Waffen, mit denen sich die Tribute bis eben bekriegt haben. „Sonst müssen wir sie auch entfernen.“

Floogs steht jetzt ebenfalls, zwischen Finnick und den Soldaten. Beschwichtigend hebt er die Hände und versucht, sie davon zu überzeugen, Annie in seiner Obhut zu lassen. Aber die Männer hören ihm gar nicht zu, sondern arbeiten sich rückwärts durch die Reihe, in Richtung Ausgang. Von Annie in ihrer Mitte ist kein Schrei mehr zu vernehmen. Was immer sie ihr gespritzt haben, es muss stärker als die mächtigste Dosis Morfix sein. Weitere Friedenswächter tauchen an den Treppen auf. Sie sind unbewaffnet, doch ihre alleinige Präsenz sorgt dafür, dass die übrigen Mentoren sich hastig von der Szene abwenden, zurück zu Flickerman und Templesmith. Keiner traut sich, etwas zu unternehmen.

Finnick ignoriert die leisen Rufe seines Teams und drängt sich an ihnen vorbei zur Treppe. Er hört Ceces entsetztes Luftschnappen und hektisch klickende Absätze hinter sich. Dadurch angespornt nimmt er immer zwei Treppenstufen nacheinander, bis er den Ausgang erreicht. Zum Glück sind ihre Stöckelschuhe so unerhört hoch und ihr Rock so eng, dass sie ihn nur mit Trippelschritten verfolgen kann.

Ein letzter Blick auf die Leinwand zeigt ihm die Karrieros und Cordelia, vor einem aufgetürmten Berg Leichen. Sie wird klarkommen, irgendwie. Alle seine Gedanken gelten Annie. Cece ruft seinen Namen, doch er hält geradewegs auf den Friedenswächter zu, der vor dem Ausgang Position bezogen hat. Wie erwartet stellt sich dieser ihm in den Weg.

„Die Eröffnungszeremonie ist nicht beendet.“

„Das sehe ich, aber Sie können doch sicher eine Ausnahme machen. Dort“, Finnick wedelt mit der Hand in Richtung der riesigen Leinwand, „passiert eh nichts mehr und ich muss mir nur kurz die Beine vertreten.“ Mit seiner letzten Kraftreserve gelingt es ihm, dem Mann gewinnend zuzuzwinkern.

„Meine Anweisungen sind klar und deutlich. Niemand verlässt die Feier, bevor der Präsident sie nicht beendet hat.“ Wie aus einem Roboter kommen die Worte von dem Friedenswächter. Er sieht Finnick nicht einmal an. Die Geduld am Ende, strengt dieser sich an, die Hände nicht zu Fäusten zu ballen.

„Ich glaube nicht, dass Präsident Snow hiervon je erfahren wird. Nicht, wenn sie es ihm nicht sagen.“ Den Mund zu einem falschen Grinsen verzogen legt er den Finger an die Lippen. „Ich behalte es jedenfalls für mich.“

Endlich wandert der Blick des Manns kurz zu ihm. Hellblaue Augen, wie so viele in Distrikt zwei. Mit den strohblonden Haaren und Aknenarben im Gesicht sieht er definitiv nicht aus, wie ein Sohn des Kapitols. Trotzdem hier zu dienen ist eine Anerkennung, ebenso wie die Abzeichen, die an seiner akkurat gebügelten Paradeuniform glänzen.

„Setzen Sie sich“, sagt er harsch und wendet die Augen wieder ab.

Ein braver Schoßhund von Snow also, denkt Finnick bitter. Lächeln und Schmeichelei stoßen auf taube Ohren, anders als bei Wächtern wie Edmont. Die Sprache von Distrikt zwei spricht er aber genauso. Betont lässig tritt er einen Schritt näher an den Mann heran.

„Schön, sagen Sie das lieber ihren Kollegen, die eine Mentorin meines Teams entführen. Für sie gelten die Regeln anscheinend auch nicht.“ Jede Sekunde, die er mit ihm feilscht, entfernt sich Annie weiter von und Cece nähert sich dafür. „Und ich werde nicht zusehen, wenn mein Team auseinander gerissen wird. Ein paar Rechte haben sogar wir Mentoren.“

Kurzentschlossen packt er den Soldaten an der Schulter und bohrt seinen Daumen schmerzhaft unter dessen Schlüsselbein. Dem Mann weicht jegliche Farbe aus dem Gesicht. Für Außenstehende sieht es nach einem kumpelhaften Schulterklopfer aus – aber in Wirklichkeit schießen Schmerzen durch seine Nervenbahnen wie Nadelstiche. Dank Ambers rigorosem Training kennt Finnick das Gefühl aus eigener Erfahrung.

„Ich gehe jetzt.“ Bevor der Friedenswächter etwas erwidert, schiebt er ihn kraftvoll beiseite. Mit hängendem Arm stolpert der Soldat ein paar Schritte zur Seite, leise fluchend. Ehe er reagieren kann, ist Finnick an ihm vorbei und verlässt die Zuschauerränge. Außer Sicht von Kameras und Zuschauern fängt er an zu rennen.

Hinter der Tribüne warten bloß ein paar Avoxe, die ihm mit großen Augen nachsehen. Im Schatten der Aufbauten parkt ein unauffälliger Wagen, auf den die Männer mit der zusammengesackten Annie zusteuern. Finnick ignoriert die Forderung seiner Lungen nach mehr Luft und sprintet noch schneller.

Er ist auf der Hälfte der Strecke, da erreichen sie das Auto. Die Tür wird aufgerissen und Annies schmale Gestalt auf die Rückbank fallen gelassen. In seiner Kehle formt sich ein Schrei, doch ihm mangelt es an Luft. Stolpernd hält er inne und ringt nach Atem.

„Stopp“, ruft er, so laut seine brennenden Lungen es erlauben, „Stopp!“

Trotz dem Stechen in seiner Brust läuft er ein paar letzte Schritte. Weit kommt er nicht, denn ein Arm schlingt sich um seinen Oberkörper. Der Friedenswächter von eben hat aufgeholt.

„Tun Sie das nicht“, zischt dieser, ebenfalls atemlos. Finnick will ihn abschütteln, doch sein Griff ist eisern.

Die Soldaten, die Annie entführen, steigen in den Wagen und schlagen die Türen zu.

„Miss Cresta wird zu Ihrem eigenen Wohl ins Krankenhaus gebracht.“

„A-aber... Annie!“ Fassungslos sieht Finnick dem Auto hinterher, das rasch an Fahrt gewinnt. Wütend wirft er sich gegen den Mann und versucht auszubrechen, doch der ist erstaunlich kräftig, trotz seines Angriffs auf ihn. Erst, als der Wagen um die nächste Ecke verschwindet, lockert der Friedenswächter den Griff. Immer noch keuchend schüttelt Finnick seinen Arm von sich. „Welches Krankenhaus?“

„Ich habe keine Befugnis Ihnen Auskunft zu geben.“

Er überlegt, den unglückseligen Mann zu packen und schütteln, bis er mit der Sprache rausrückt, da hört er in der Ferne das harsche Klappern von Absätzen auf Asphalt. Cece.

„Finnick Odair“, ruft sie wütend, „was ist nur in dich gefahren?“

Seufzend tritt er einen Schritt zurück und beschränkt sich darauf, dem Speichellecker aus Distrikt zwei einen vernichtenden Blick zu schenken. Dann wendet er sich an seine Betreuerin, deren hochrotes Gesicht sich schrecklich mit der knallorangenen Perücke beißt.

„Cece...“, sagt er entschuldigend, „meine liebe Cece...“ Aber ihm fallen keine Worte ein, um sie zu beruhigen. Nicht, solange in seinem Inneren der Sturm tobt.

„Meine Liebe?“, faucht sie, sobald sie vor ihm steht und auf ihn herabblickt. Dem Friedenswächter schenkt sie keine Beachtung. „Was hast du dir nur dabei gedacht?“ Ausnahmsweise sind alle Emotionen in ihrem Gesicht echt. „Das wird ein Nachspiel haben.“

Finnick ist nicht sicher, ob Wut ihre Stimme zittern lässt, oder Angst.

 

Das Kapitol hat Annie. Wieder und wieder kreist dieser Gedanke durch Finnicks Kopf. Fortgezerrt wie eine Verbrecherin. In seiner Vorstellung tun sie ihr die schlimmsten Dinge an, in irgendeinem dunklen Folterkeller tief unter der Erde. Er glaubt nicht eine Sekunde, dass sie wirklich im Krankenhaus ist.

Am liebsten will er losstürmen, um sie zu befreien. Stattdessen ist er gefangen in diesem schrecklichen Appartement, das er schon immer gehasst hat, und hört Ceces Litanei an Vorwürfen zu.

„Vor laufender Kamera!“, ruft diese theatralisch. „Zum Glück ist es nicht direkt an das ganze Land übertragen worden. Wie hätte das ausgesehen? Ihr beide seid Sieger, Mentoren!“

Wie schon in der letzten Stunde, seit das Blutbad vorbei ist, läuft sie wieder von einer Seite des Wohnzimmers zur anderen. „Ich hätte es wissen müssen. Sie hätte das Morfix gleich nehmen müssen, dann wäre das alles nicht passiert. Sie ist einfach nicht ganz richtig-“

„Wage es nicht, Annie zu beleidigen“, fährt Finnick ihr dazwischen.

Erschrocken weiten sich die Augen der Betreuerin. Die pink geschminkten Lippen zu einem stummen O geformt starrt sie ihn an, ehe sie die Hände in die Hüften stemmt.

„Genau Cece, halt die Fresse“, springt Amber ihm zur Seite. „Und das ist noch nett gesagt.“

Ceces perfekt gezupfte Augenbrauen verschwinden beinahe in ihrer wilden Lockenpracht, so hoch zieht sie diese. „Ihr... ihr wagt es frech zu werden?“ Mit lautem Stampfen tritt sie ein paar Schritte auf die versammelten Mentoren zu, die dichtgedrängt auf demselben Sofa sitzen. Den Zeigefinger anklagend erhoben setzt sie zu einer neuerlichen Predigt an.

Blitzschnell erhebt Amber sich und verschränkt die breiten Arme vor der Brust. „Falls du es noch nicht gemerkt hast, Cece“, sie spuckt ihren Namen förmlich aus, „wir sind ein Team und Annie ist ein Teil davon. Wir halten zusammen. Wenn du nichts Hilfreiches zu sagen hast, schlage ich dir vor, dass du endlich abhaust. Du bist hier nicht willkommen.“

„Das werden wir ja noch sehen!“ Wütend schnaubt Cece und packt ihre glitzernde Handtasche. „Vergesst nicht, was ich alles für eure Tribute getan habe! Ich denke doch, dass ich hilfreicher bin, als eure arme, verrückte Annie.“

Sie kreischt laut auf, denn Finnick ist mit einem Satz bei ihr und packt ihr Handgelenk. „Noch ein Wort und du wirst es bereuen“, grollt er. „Und wage es ja nicht, das an Cordelia auszulassen. Du magst doch schließlich den Sieg so gerne.“

Er sieht die Furcht in ihren Augen aufflackern, als würde sie sich zum ersten Mal daran erinnern, dass er nicht nur der gutaussehende Junggeselle ist, sondern auch ein Mörder, der ohne Zögern getötet hat. Schlagartig gibt er ihr Handgelenk frei und spürt Scham in sich aufwallen. Die Spiele sind ein Teil der Vergangenheit und er würde ihr nie etwas antun, selbst wenn sie noch so widerliche Dinge sagt. Einen Moment lang sehen sie einander stumm an. „Sorg lieber dafür, dass unser Team wieder vollständig ist. Bring Annie zurück.“ Bei diesen Worten ist die Schärfe aus seinem Tonfall verschwunden. „Bitte“, setzt er fast schon flehend hinzu. „Du bist die Einzige, die hier raus kann.“

Ceces Unterlippe zittert leicht und selbst durch die dicke Schicht Make-up erkennt er, wie sie errötet. „Keine Sorge“, sagt sie schrill, „das hatte ich eh vor. Und ihr bleibt hier und passt besser auf Cordelia auf. Nicht...“, ihre Stimme bricht kurz ab, „ nicht, dass ihr auch etwas passiert.“ Kurzzeitig meint er, ein feuchtes Schimmern in ihren Augen zu sehen, doch Cece schenkt ihm rasch ein strahlendes Lächeln. „Sie ist schließlich unsere kleine Gewinnerin.“

Niemand antwortet und sie schreitet mit größtmöglicher Grazie aus dem Zimmer. Alle verharren stumm, bis ihre Schritte auf dem Gang verklingen. Finnick merkt, wie die Energie seinen Körper verlässt. Kraftlos lässt er sich rücklings in einen plüschigen Sessel fallen, den Kopf gesenkt. Trotz allem hätte er Cece nicht so angehen dürfen. Sie gehört zum Kapitol und ihr Wort kann jederzeit sein Verderben bedeuten. Ambers Hand landet auf seiner Schulter.

„Du wirst schon sehen, Annie ist in Windeseile wieder bei uns.“ Überzeugt klingt sie allerdings nicht. „Sie haben sie ja nicht ins Gefängnis gebracht“, fügt sie hinzu.

Vom Sofa kommt ein Räuspern. „Trex und ich wir, hm, gehen rüber in die Zentrale und sehen was mit Cordelia ist.“

„Schon gut, ich gehe“, entgegnet Finnick an Floogs gewandt. „Die Hungerspiele gehen weiter. Ich kann wenigstens ihr helfen.“ Er spürt ihre mitleidigen Blicke im Rücken, als er sich aufrafft und hinüber zur Mentorenzentrale läuft. In seinem Kopf wummern die Schmerzen, doch alleine in einem dunklen Zimmer zu liegen wäre noch unerträglicher.

In der Kommandozentrale sieht er Cordelia auf den Bildschirmen, den Rücken ans Füllhorn gelehnt. Die Leere in ihren Augen lässt ihn frösteln. Innerhalb der ersten Stunden haben die Spiele seinen Schützling gebrochen. Körperlich ist sie wohlauf, wie die Sensoren ihn informieren. Kein Hunger, kein Durst, keine Verletzungen. Nur seelische Qualen. Ihm ist klar, dass Edys Tod sie von heute an verfolgen wird, selbst wenn sie gewinnt. Und sie weiß nicht mal, dass es Cato war. Besser, sie findet es vorerst nicht heraus.

Wahllos klickt er sich durch die neuen Sponsorenanfragen. Der frühe Tod von Edy hat eine tiefe Kerbe in die Spendenbereitschaft geschlagen. Zumindest Titania ist bereit, ihr Sponsoring für Cordelia zu verdoppeln, wenn er sich ein weiteres Mal mit ihr trifft – so schnell wie möglich. Entmutigt lässt er den Kopf in seine Hände sinken. Ehe er Annie nicht in Sicherheit weiß, kann er sie keinesfalls treffen. Hinter ihm kommen die anderen in den Raum, aber keiner spricht ein Wort.

Stunde um Stunde verstreicht, ohne, dass etwas passiert. Wie in echt senkt sich in der Arena die Sonne und langsam verblasst das Licht. Falsche Sterne schimmern matt in der Ferne. Unter lautem Gelächter schichten die Karrieros ein Feuer auf, bevor die erste Jagd beginnt. Am Himmel werden die Opfer des Blutbads verkündet, elf an der Zahl.

Teilnahmslos registriert Finnick, dass auch seine Freunde Schützlinge verloren haben, Johanna sogar beide. Dafür haben alle Tribute aus Elf und Zwölf überlebt. Ein schwacher Trost, der nur knapp die kleine Flamme der Hoffnung am Leben erhält. Peeta ist jetzt mit den Karrieros verbündet, Thresh schlägt sich alleine durch und sowohl Katniss, als auch Rue, sind unbewaffnet unterwegs. Er fürchtet, sie könnten die erste Nacht nicht überleben, wenn sie Pech haben.

Die Tribute rüsten sich gerade zur Jagd, da klopft es. Cece schiebt ihren Lockenkopf durch die Tür. Ihr Blick gleitet prüfend über die stummen Mentoren.

„Sollten sich nicht ein paar von euch ausruhen? Wir brauchen eure Kräfte für die Nachtschicht!“ Kein Wort zu Annie.

Finnick hebt den Kopf und schaut sie vorwurfsvoll an. Die Betreuerin beißt sich auf die Unterlippe. Schnell sieht sie in einen der großen Bildschirme und überprüft den Sitz ihrer Perücke in der Reflexion.

„Nun, also, ihr fragt euch sicher was mit“, räuspert sie sich, „Annie ist.“ Sie tupft sich verschmierten Lidschatten aus dem Augenwinkel und vermeidet es dabei tunlichst, einen der Anwesenden anzusehen. „Das... Krankenhaus hat mir gesagt, dass sie noch etwas länger in Behandlung bleiben muss. Die Geschehnisse des Tages haben sie zu sehr aufgewühlt, aber-“, und an dieser Stelle sieht sie ihn endlich an, „ich versichere euch, es geht ihr gut. Den Umständen entsprechend.“

„Du hast sie gesehen?“, fragt Finnick knapp.

Cece hält inne. Unter seinem strengen Blick schmilzt ihr Selbstvertrauen dahin. Ein zartes Pink schießt ihr in die Wangen. „Nein, aber das Personal hat mich selbstverständlich informiert!“

Bitter denkt er daran, wie oft das Kapitol die Bürger Panems belügt. Warum sollte es jetzt nicht genauso sein?

„Im Übrigen“, fährt sie fort, „hat uns diese ganze Sache eine Vorladung zum Präsidenten eingebracht.“ Bei diesen Worten verschränkt sie schützend die Hände vor dem Bauch.

„Snow?“, entkommt es Amber. Sie schaut von ihrem Tablet auf und starrt Cece mit großen Augen an.

„Keine Sorge, du nicht. Nur Finnick und ich“, erklärt diese. Selbst sie kann das nicht schönreden und anstatt des üblichen künstlichen Lächelns bringt sie nur ein Zucken der Mundwinkel zustande. „Eine reine Formalie, da bin ich sicher.“

Ihn beschleicht das Gefühl, dass sie nicht nur die Mentoren mit ihren Worten beruhigen will. Mit einem müden Seufzen sieht er sie an. „Wann?“

Sofort.“

Eine stachlige Dornenranke windet sich um sein Herz. Von jetzt auf gleich bedeutet jeder Atemzug ein Stechen in seiner Brust. Auf ein Treffen mit dem alten Tyrannen ist er nicht vorbereitet. In Snows Büro zitiert zu werden verheißt niemals etwas Gutes. Steif steht er auf und folgt Cece zur Tür. Die anderen Mentoren sehen ihm bestürzt hinterher. Sogar in Trexlers ewig grimmigen Gesicht zeichnet sich Sorge ab.

 

Snows Palast befindet sich unweit des Trainingscenters, mitten im Herzen der Stadt. Ein prächtiger Prunkbau auf einem künstlichen Hügel, umgeben von Gärten. Davon bekommt Finnick nichts zu Gesicht, denn er und Cece werden von zwei Friedenswächtern durch ein verschachteltes unterirdisches Labyrinth direkt in die untere Etage des Palastes geführt. Er kommt nicht umhin, sich wie ein Sträfling zu fühlen.

Auch seine Begleiterin sieht verstimmt aus. Auf ihre Versuche, eine Konversation anzufangen, hat keiner reagiert und jetzt sind ihre Lippen fest aufeinandergepresst. Das harsche Klackern ihrer Absätze hallt von den grauen Betonwänden wieder.

„Können wir nicht hier abkürzen?“, herrscht sie die Friedenswächter urplötzlich an. Sie weist mit einem langen Fingernagel einen weiteren, identisch aussehenden, Gang hinab. „Ich habe keine Lust ewig hier herumzuspazieren. Ich habe Arbeit zu erledigen, eine Tributin zu betreuen!“

Der Größere der Soldaten lässt ein Seufzen hören. „Mrs. Sae, bitte folgen sie uns. Wir haben direkte Anweisungen sie in den Rosengarten zu bringen.“

Bei diesen Worten wird Finnick hellhörig. In der Vergangenheit hat Snow ihn ausnahmslos in sein Büro bestellt, aber nie in den Garten. Cece scheint davon ebenfalls verwirrt. Langsam lässt sie ihre Hand sinken und folgt den Männern in die andere Richtung, ihre Augenbrauen beunruhigt zusammengezogen.

Am Ende des Gangs wartet ein Fahrstuhl auf sie, der direkt vor die gläsernen Tore eines gewaltigen Gewächshauses fährt. Von draußen drückt die Nacht sich an die Fenster, doch im Inneren brennt Licht. Schon im Vorraum ist der süßliche Blumenduft allgegenwärtig. Als die Friedenswächter die Türen öffnen und Finnick eintritt, überwältigt ihn der Geruch. So viele Rosen wie hier hat er nie zuvor gesehen. Links und rechts des Weges drängen sich Rosenbüsche in den unterschiedlichsten Farben. Rot, gelb, rosa. Im Zentrum wachsen allerdings ausschließlich weiße Blüten, Snows Markenzeichen.

Genau darauf steuern sie zu. In der Ferne hört Finnick Wasser plätschern, sieht aber keine Quelle. Auf einem gewundenen Pfad laufen sie zu einer großen Terrasse mit einem Pavillon. Ranken voller schwerer Rosen wachsen über das Dach und zarte Blütenblätter bedecken die Pflastersteine davor.

Inmitten seiner Blumen erwartet der Präsident sie. Er trägt einen schlichten Anzug, wie immer mit einer einzelnen Rose am Revers. Ihre Ankunft scheint er nicht zu bemerken, denn er sitzt zurückgelehnt in einem Gartenstuhl, ein aufgeschlagenes Buch in seinen Händen.

Die Friedenswächter führen sie bis vor den Pavillon, ehe sich einer von ihnen verlegen räuspert. Snow sieht auf, sein Gesicht völlig reglos. Knapp nickt er den Soldaten zu und stumm verschwinden sie zwischen den Büschen. Einen Moment lang betrachtet der Präsident sie schlicht. Finnick bemerkt, dass Cece begierig einen der freien Stühle beäugt, aber er bietet weder ihr noch ihm einen Platz an. Schließlich schlägt er gemächlich das Buch zu.

„Mrs. Sae, Mr. Odair. Ich danke Ihnen, dass sie zu mir gekommen sind.“ Weiterhin zeigt sich keine Emotion auf der unnatürlich glatten Haut. „Ich denke es ist Ihnen bewusst, in welcher Sache ich mit Ihnen das Gespräch suche.“

Neben sich hört Finnick, wie Cece energisch einatmet und der steife Stoff ihres Kleides raschelt, als sie die Schultern strafft.

„Natürlich, Mr. Präsident. Ich bin hier um die volle Verantwortung für Miss Cresta zu übernehmen. Wenn Sie mir gestatten-“ Weiter kommt sie nicht. Abwehrend hebt Snow die Hand.

„Mrs. Sae, wir wollen doch nicht voreilig sein.“

Aus dem Augenwinkel sieht Finnick, wie sie rasch den Blick senkt.

„Offen gestanden haben wir wohl unterschätzt, in welcher Verfassung sich Miss Cresta befindet.“ Snow lächelt schmallippig. „Dafür möchte ich mich bei Ihnen beiden, als auch bei Ihrem Team, entschuldigen. Es hätte unsere Aufgabe sein müssen, vor den Hungerspielen dafür zu sorgen, dass Miss Cresta angemessen behandelt wird.“

„Es tut mir wirklich Leid, Mr. Präsident, ich hätte ehrlicher-“ wieder wird Cece von Snow unterbrochen.

„Meine Liebe Mrs. Sae, ich verstehe ihre Aufregung, doch ich bin noch nicht fertig.“

„Natürlich.“ Verlegen sieht sie wieder hinab auf ihre Hände.

„Wir haben uns entschlossen, diesen Fehler unsererseits zu korrigieren. Es ist nicht meiner Aufmerksamkeit entgangen, dass sie von dem Personal verlangt haben, dass Miss Cresta freigelassen wird. Es schmerzt mich, Ihnen das sagen zu müssen, aber in ihrem gegenwärtigen Zustand, bedarf es weiterer Behandlung. Wir werden Miss Cresta zurück in das Trainingscenter schicken, sobald ihr Zustand sich stabilisiert hat. Ich verspreche Ihnen, dass es nicht allzu lange dauern wird.“

Bei den letzten Worten sieht er Finnick direkt an, als wolle er ihn herausfordern, sein wahres Gesicht zu zeigen. Nur die jahrelange Erfahrung hilft ihm, nicht die Fassung zu verlieren. Stattdessen nickt er dem Präsidenten zu. Innerlich aber zieht sich die Dornenranke um sein Herz enger.

„Ich habe Ihnen meine Befürchtung geschildert, dass sie nicht bereit ist, Mentorin zu sein, wie Sie sicherlich erinnern. Für alle wäre es besser, wenn Annie nicht weiter gezwungen ist, dieser Tätigkeit nachzugehen.“

Snows Lächeln gewinnt, noch während er spricht, an Boshaftigkeit.

„Mr. Odair, ihre Besorgnis um Miss Cresta ist wirklich rührend. Und dennoch wiederhole auch ich mich, wenn ich sage, dass wir von jedem Sieger Einsatzbereitschaft erwarten. Die besten Ärzte des Landes kümmern sich um Miss Cresta und werden genau das sicherstellen.“

Mit welchen Mitteln nur, fragt Finnick sich. Manche Wunden können nicht geheilt werden, man lernt höchstens, mit ihnen zu leben. Von der Seite wirft Cece ihm einen strengen Blick zu, der es ihm verbittet, mehr zu sagen.

„Mr. Präsident, vielen Dank, dass Sie uns noch eine Chance geben. Dieses Mal werde ich Sie nicht enttäuschen“, sagt sie bestimmt. „Ich werde sicherstellen, dass sie ihre notwendigen Medikamente erhält, bevor sie einen Fernsehauftritt hat und sollte sich ihre... Konstitution verändern, werde ich sie selbstverständlich informieren lassen.“

„Vielen Dank, Mrs. Sae. Ich sehe, Sie verstehen, warum das hier so wichtig für uns ist. Ein derartiger Aufall vor den Kameras darf sich nicht wiederholen. Das wäre vorerst alles, für Sie. Sie können gehen.“ Cece senkt höflich den Kopf und Finnick gewinnt den Eindruck, dass sie beinahe einen Knicks macht. Aber dabei bleibt es nicht.

„Mr. Odair“, fährt Snow fort, „mit Ihnen möchte ich allerdings noch eine andere Sache besprechen.“

Cece wirft Finnick einen langen Blick zu, ehe sie sich abwendet und den gewunden Weg entlang verschwindet. In der Ferne verhallt das Klackern ihrer Absätze. Zurück bleibt nur das Plätschern des unsichtbaren Wassers.

„Kommen Sie heran, Mr. Odair und setzten Sie sich.“ Snow deutet auf den freien Stuhl gegenüber von sich. „Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen und ich hoffe, dass Sie mir ehrlich antworten werden.“

Steif geht Finnick hinüber zu dem Stuhl. Lieber würde er Distanz wahren, aber ihm bleibt nichts anderes übrig. Im Herzen seines Rosengartens hält Snow alle Fäden in der Hand.

„Natürlich werde ich ehrlich sein, was sollte ich Ihnen auch sonst erzählen?“ Er schenkt dem Präsidenten ein künstliches Lächeln.

„Lügen, Mr. Odair. Lügen. Sie glauben gar nicht, wie oft die Menschen mir Lügen erzählen, in dem Glauben, dass ich Sie nicht durchschauen würde. Aber ich werde ehrlich zu Ihnen sein und im Gegensatz würde ich es begrüßen, wenn sie genauso ehrlich zu mir sind. Das würde uns einiges ersparen.“

„Natürlich.“

Ein schmales Lächeln legt sich auf Snows Lippen und er lehnt sich in seinem Stuhl zurück, die Hände im Schoß verschränkt. „Wir beide kennen einander nun eine lange Zeit. Sie haben viele meiner Wünsche erfüllt und das rechne ich Ihnen zweifellos an. Sie sind ein würdiger Sieger. In letzter Zeit komme ich allerdings nicht umhin mir... Sorgen zu machen. Können Sie sich denken, warum?“

In Finnicks Kopf dreht sich alles und es ist unmöglich, sich auf einen Gedanken zu konzentrieren. Mit einem Stechen melden sich die Kopfschmerzen zurück. Die Leere in Annies Augen kommt ihm wieder in den Sinn. Er muss sie vor Snow beschützen, nur wie?

Sein Schweigen scheint dem Präsidenten Antwort genug zu sein. „Es betrübt mich, aber es geht um ihre Verbindung zu Miss Cresta. Selbstverständlich ist mir aufgefallen, dass Sie oft an ihrer Seite sind, nicht nur heute.“ Finnick öffnet den Mund, um etwas zu sagen – irgendetwas – doch Snow kommt ihm zuvor.

„Ich weiß, die Sieger sind Ihre Familie und dazu gehört, dass man sich umeinander sorgt, so wie Sie sich alle um Ms. Flanagan gesorgt haben. Und dennoch müssen wir beachten, dass Sie, als Sieger, in einer besonderen Position sind. Sie sind etwas Besonderes und damit geht Verantwortung einher. Stimmen Sie mir zu?“

„Ich bin mir dieser Verantwortung als Vorbild und Mentor durchaus bewusst“, gibt Finnick zu. „Und meiner Verantwortung Ihnen gegenüber, Sir.“

„Gut. Sagen Sie mir, welche Person tragen Sie derzeit im Herzen?“

„Titania Creed“, sagt er, wie aus der Pistole geschossen.

Snows eisige Augen bohren sich in seine eigenen. Einen Moment lang starrt er ihn nur an, wie ein Raubtier kurz vor dem Sprung – oder eine Schlange, die darauf wartet ihre Zähne in das Opfer zu schlagen.

„Sehen Sie, das Problem ist, dass ich Ihnen nicht glauben kann. Sie sagen es schnell, doch, mit Verlaub, Ihnen fehlt die Überzeugung eines Verliebten. Andere, einfältigere Geister, mögen allein den Worten glauben, aber ich erkenne, dass eben nur das sind – Worte. Und mit der Zeit werden vielleicht auch andere erkennen, dass es ihnen an Gewicht mangelt.“

„Ich denke, dass ich meine Worte mit genug Taten untermauert habe.“ Finnicks Kiefer verkrampft sich, als er dem Präsidenten direkt in die Augen sieht. „Mit Ihnen darüber zu reden ist nicht dasselbe, wie mit ihr zusammen zu sein. Das werden Sie doch verstehen?“

„Werde ich das?“ Endlich löst Snow seinen Blick von ihm. Stattdessen schaut er zu den Rosen, die vom Dach herabranken. Scharrend schiebt er seinen Stuhl zurück und tritt auf eine Ranke zu. Aus einer Hosentasche zieht er eine kleine, goldene Gartenschere. Mit einem leisen Schnipp trennt er eine weiße Blüte ab.

„Ich halte es mit Panem, wie mit meinem Rosengarten. Wenn ich einen faulen Trieb oder eine verwelkte Blume entdecke, empfiehlt es sich, diese zu stutzen, bevor der Verfall sich ausbreitet. Es täte mir leid, dasselbe mit Ihnen zu tun, Mr. Odair. Aber Panem wird immer an erster Stelle stehen.“ Langsam dreht er die abgetrennte Rose in seiner Hand. Dann sieht er ihn direkt an. „Ich werde eine weitere Ausschreitung dieser Art nicht dulden.“

Er weiß es. Natürlich. Finnick fragt sich, warum er so naiv war und dachte, es verbergen zu können. Snows Augen und Ohren sind überall. Jetzt hängt alles von ihm ab. Er lehnt sich im Stuhl zurück und breitet die Arme aus.

„Sagen Sie, was Sie von mir wünschen und ich werde es tun.“

Snow lässt ein trockenes Hüsteln hören und tupft sich den Mund mit einem Taschentuch. „Mr. Odair, ich würde es sehr begrüßen, wenn Sie mich darüber informieren, was Miss Titania Creed bewegt. Ich habe gerne einen guten Überblick von meinen Ministern und ihren Angestellten. Noch halten Sie Miss Creed in der Hand. Es wäre doch schade, das nicht zu nutzen.“

Es braucht einen Moment, bis Finnick wieder ein Lächeln zustande bringt. „Wie passend, dass meine herzallerliebste Tita mich gerade erst nach einem Treffen gefragt hat. Vielleicht könnte ich Sie ja mal an einen neuen Ort ausführen?“

„Nein, Ihre Belohnung wird es diesmal sein, dass Miss Cresta zu Ihnen zurückkehrt. Schließlich schreit sie die ganze Zeit nach Ihnen.“

Die Dornenranke um Finnicks Herz zieht sich ruckartig zusammen und treibt ihre Spitzen tief in sein Innerstes. Unbewegt starrt er Snow an, der ihn immer noch mit seinem Schlangenlächeln mustert. Hunderte Möglichkeiten kommen ihm in den Sinn, wie er den Mann tötet. Was könnte er dagegen tun? Er ist achtzig Jahre alt, kein Gegner. Die kleine Gartenschere, mit der könnte er ihn einfach erstechen.

In seinen Gedanken breitet sich schon Snows Blut aus, als dieser zum Tisch zurückkehrt und die abgetrennte Rose vor ihm ablegt.

„Mr. Odair, lassen Sie nicht zu,dass ihre Gefühle ihr Leben bestimmen. Handeln Sie klug und Sie werden belohnt. Setzen Sie noch einmal Gewalt gegen meine Friedenswächter ein und Sie werden bestraft. Es liegt ganz bei Ihnen.“

Finnick starrt auf die Rose, blütenweiß, bis auf einen schmalen bräunlichen Rand, wo die Blume welkt. Den Kampf gegen seine Gefühle hat er längst verloren, spätestens seit er Annie in den Ruinen ihres Lebens gefunden hat. Doch auf seinem Gesicht liegt die jahrelang antrainierte Maske, die ihn lächeln lässt, wenn er weinen will und die ihm die Worte verdreht, bis sie das Gegenteil sagen von dem, was sein Herz verlangt.

„Gefühle können mich nicht bestimmen, wenn sie nicht existieren“, sagt er leichthin, „ein Vorteil, wenn man so viele Menschen glücklich machen will, wie ich.“ Er schenkt Snow sein bestes, widerliches Grinsen. „Ihre Friedenswächter brauchen sich keine Sorgen machen. Ich bin ein braver Sieger. Das Kämpfen überlasse ich den Tributen.“

Der Präsident nickt langsam. „Gut. Dann gehen Sie lieber und sehen, was Ihre Tributin macht.“

Wieder und wieder

Mein Herz ist vor Angst verknotet. Gebannt starre ich auf die Zimmertür, hunderte Gedanken im Kopf, wer gleich hereinkommen wird. Keiner davon sieht eine schmale junge Frau voraus, die in ihrem weißen Arztkittel fast seriös aussieht. Bis auf die zartrosa gefärbten Haare, die sie zu einem lockeren Dutt hochgesteckt trägt. Ansonsten verrät nichts ihre Zugehörigkeit zum Kapitol, kein ausfallendes Make-up oder verrückte Kleidung.

Ihr Blick trifft meinen und sie lächelt. „Ah, gut, du bist wach.“

Stumm sehe ich sie an, unfähig ihrer Freundlichkeit zu trauen. Schließlich liege ich gefesselt in einem fensterlosen Raum, nachdem sie mir wer-weiß-was in den Arm gejagt haben.

Die junge Ärztin – sie kann nicht viel älter sein als ich – zückt eine kleine Taschenlampe und leuchtet damit ohne Vorwarnung in meine Augen.

„Gut“, murmelt sie, „sieht aus, als wäre alles in Ordnung.“ Sie steckt das Lämpchen wieder weg. „Schön, ich schicke dir gleich Tia herbei, sie wird sich um dich kümmern, solange du bei uns bist. Mir wurde gesagt ihr kennt euch schon?“

Ich versuche, mich daran zu erinnern, warum mir der Name so bekannt vorkommt. Eine Erinnerung will sich aber nicht aus dem Nebel lösen, deshalb zucke ich mit den Schultern.

Unbeirrt lächelt die Frau. „Na, sonst wirst du sie gleich kennenlernen“ Sie zwinkert mir zu, ehe sie wippenden Schrittes das Zimmer verlässt.

Erleichtert sinke ich auf das Kissen. Erst jetzt spüre ich, dass meine Hände die ganze Zeit über zu Fäusten geballt waren. In der unheimlichen Stille dieses Gefängnisses wünsche ich mir fast Shine zurück, nur um nicht alleine zu sein.

Lange warte ich nicht, denn kurz danach öffnet sich die Tür schon wieder. Meine neue Besucherin ist weit weniger zurückhaltend als die Erste. Von ihrem himmelblauen Haar, über ihre farblich passende Bluse bis hin zu den silbernen Schuhen ist sie gekleidet wie eine Eskorte. Und in dem Moment trifft mich die Erkenntnis. Ich kenne sie tatsächlich!

Die Erinnerung an die „emotionale Beraterin“, wie sie sich selber nannte, habe ich in die hinterste Ecke meines Kopfs verbannt. Bis eben. Mit vor Angst klopfendem Herzen starre ich die Frau an, die mich nach dem Sieg in den Hungerspielen jeden Tag mit Fragen zu dem Erlebten folterte, nur um sich dann eifrig Notizen zu den darauffolgenden Zusammenbrüchen zu machen. Ihr liebliches Lächeln passt so gar nicht zu dem, was ich mit ihr verbinde.

„Hallo Annie. Ich hoffe, du hast mich noch nicht vergessen?“ Sie lacht albern. „Ich hatte gehofft, dich nicht wiedersehen zu müssen, aber manche unserer Sieger brauchen eben besondere Zuwendung. Falls du dich wirklich nicht erinnerst – Ich bin Tia, deine emotionale Beraterin!“ Da ich nichts sage, fährt sie fort. „Du erinnerst dich vielleicht nicht, aber nach Edys Tod hast du einen... Ausfall gehabt. Zu deinem Schutz – und dem der anderen – bist du jetzt hier in unserer Station für Verhaltentherapie.“

Es stimmt nicht, was sie sagt. Ich erinnere mich an alles, an Catos Grinsen, Edys Blut und jeden Schrei, der meine Kehle verlassen hat. Trotzdem sage ich es ihr nicht. Es geht sie nichts an, beschließe ich.

„Keine Sorge, wir sind Spezialisten. Präsident Snow höchstpersönlich hat die Order gegeben, dass dir nur die beste Behandlung zuteilwird. Du wirst schon sehen, bald bist du wieder auf den Beinen.“

Bei dem Klang von Snows Namen werde ich hellhörig. Wenn sogar er seine Finger im Spiel hat, ist es schlimmer als befürchtet. Meine Gedanken gleiten zu Finnick. Ich hoffe inständig, dass es wenigstens ihm gutgeht.

Mit einem Scharren zieht Tia sich Shines Stuhl heran. Nervös mustere ich sie. Was wird sie mir jetzt antun? Mich unter Drogen setze, bis ich alles vergesse?

„Da die Spiele laufen und du Mentorin bist, haben wir leider nicht allzu viel Zeit. Es tut mir leid, aber die Zeiten der sanften Methode sind vorbei. Wir müssen uns deinen Ängsten stellen.“

Während sie spricht, zieht sie ein kleines Gerät hervor. Auf einen Knopfdruck hin erwacht die Wand gegenüber meines Betts sprichwörtlich zum Leben. Es stellt sich heraus, dass sie in Wirklichkeit eine geschickt verborgene Leinwand ist. Wo bis eben vermeintlich weißer Putz war, sehe ich jetzt Caesar Flickerman und Claudius Templesmith in ihrem Studio.

Ich presse die Lippen fest aufeinander. Wird sie nun enthüllen, was geschehen ist, solange ich ohnmächtig war?

„Claudius, heute war ein wundervoller Tag, nicht wahr? Wir haben die 74. Hungerspiele eröffnet und ich kann nur sagen, es war ein Fest! Falls sie die Eröffnung nicht sehen konnten, verzagen sie nicht, wir haben hier eine Zusammenstellung der Highlights, extra für Sie!“

Anscheinend sind die Spiele längst nicht vorbei. Wieder erblicke ich die unberührte Arena mit den 24 Tributen auf ihren Sockeln. Obwohl ich weiß, was kommt, versteifen meine Muskeln sich. Von der Seite her betrachtet die Ärztin mich prüfend und pausiert dann die Aufnahme.

„Gemeinsam werden wir die bisherigen Geschehnisse der Spiele durchgehen, Stück für Stück. Sobald du eine Attacke hast, werden wir einen Gegenimpuls schicken.“

Wenn möglich beiße ich die Zähne noch fester zusammen. Von mir soll sie kein Wort hören. Das scheint sie ohnehin nicht zu interessieren, denn sie fährt ungerührt damit fort, mir kleine Metallplättchen an Schläfen und Handgelenk zu kleben. Ich betrachte sie skeptisch, aber mir wird nicht erklärt, wozu sie dienen. Zum Schluss zwingt sie mir ein merkwürdiges Gummistück in den Mund, das meine Zunge nach unten drückt, egal wie sehr ich dagegen drücke.

„Gut, dann legen wir los.“ Ihre Stimme klingt so fröhlich, als wollten wir zu einem Picknick losziehen.

Erneut zählt der Countdown runter. Drei, zwei, eins. Kurzzeitig bin ich versucht, einfach die Augen zu schließen. Dann fällt mir ein, dass sie mich dafür vermutlich bestrafen würde und ich lasse es bleiben.

Alles wiederholt sich. Das Flammenmädchen und der Junge aus Distrikt neun, die um einen Rucksack kämpfen. Cordelia, die der Tributin aus Zehn den Speer in die Brust rammt. Zu wissen, was passieren wird, macht es nicht weniger schlimm. Mein Herz schlägt so schnell, wie in der Arena, auf der Flucht vor den Karrieros. Ich warte nur auf den Moment, wo es geschieht.

Anders, als bei der Liveübertragung, werden in diesem Zusammenschnitt nicht sämtliche Perspektiven gezeigt, sondern nur die aufregenden Ereignisse. Bei der Eröffnungsfeier habe ich längst nicht alles mitbekommen, wie sich herausstellt.

Der Junge aus Distrikt drei zum Beispiel versteckt sich hinter einem Stapel Kisten und Peeta aus Zwölf läuft ebenfalls nicht vom Füllhorn weg. Er rennt nach vorne, zu den Waffen. Auf halber Strecke kollidiert er mit dem Mädchen aus Distrikt sieben und fast glaube ich, dass er sterben wird.

Mit bloßen Fäusten schlägt sie auf ihn ein. Den Atem angehalten verfolge ich, wie er sie niederringt, doch es gelingt ihr, ihm eine Platzwunde an der Stirn zu verschaffen, bevor er ihr den Arm auf den Rücken dreht und sie, zu meiner Verwunderung, liegen lässt. Er zieht ein Messer aus dem Rucksack, den sie bei sich trägt, und rennt weiter vor zum Füllhorn, während rechts und links die Tribute von den Karrieros niedergemetzelt werden.

Cato, der Fleißigste von allen, schlitzt Kehlen auf, sticht in Herzen und schlägt Köpfe ein. Er lässt gerade erst von seinem letzten Opfer ab – dem Jungen aus Sechs, sein Blut tropft noch von der Schwertklinge – da fokussieren sich die Kameras auf Edy, der den Speer aus der Halterung gerissen hat.

Ich schaue direkt in die Augen eines Toten. Es ist das letzte Mal, dass ich sie sehen werde und der Blick in ihnen ist angsterfüllt. Ein Knoten schnürt mir die Kehle zu, obwohl ich am liebsten seinen Namen schreien möchte, ihn vor Cato warnen will.

Wie schon beim ersten Mal passiert alles rasend schnell. Der Karriero dreht sich um, stapft ins Füllhorn und erspäht Edy auf dem Boden. Mit einer brutalen Bewegung fährt sein Schwert herab.

In meinem Inneren entfesselt sich der Sturm von neuem. Trauer, Furcht und Wut wirbeln durch mich, rasen mir die Kehle hinauf und entladen sich in einem einzigen, langgestreckten Schrei, trotz des Gummistücks im Mund.

Als er endlich verklingt, liege ich schweißüberströmt da, das Rauschen von Blut in den Ohren. Die lächerliche Psychologin sitzt still an meinem Bett und betrachtet mich ausdruckslos.

Auf der Leinwand ist der Moment von Edys Tod eingefroren, eine zusammengesackte Gestalt mit rotblonden Locken in einem See aus Blut. Bei diesem Anblick versucht ein neuer Schrei aus mir hervorzubrechen, aber meine Stimmbänder versagen und mir entkommt nichts, außer eines jämmerlichen Krächzens.

„Annie, du wusstest, was passieren würde“, meldet sich Tia zu Wort, „und trotzdem schaffst du es nicht, diese Szene anzusehen. Was fühlst du, wenn du diese Szene siehst?“ Erwartungsvoll sieht sie mich an.

Ich wende den Kopf ab. Alles, ich empfinde einfach alles. Da ich keine Antwort hervorbringe, spult diese angebliche „emotionale Beraterin“ die Szene zurück. Wieder werde ich Zeugin von Catos Mord. Tränen strömen mir über die Wangen, denn mein Hals wird von den vielen Schreien wund. Es fühlt sich an, als müssten die Schreie mich von innen heraus zerreißen, da drückt die Ärztin erneut einen Knopf auf ihrer Fernbedienung.

Die Szene stoppt jedoch nicht. Gleißende Schmerzen schießen stattdessen durch meine Glieder und ich weiß nicht mehr, ob es Laute der Trauer oder Qual sind. Dafür sind die Metallplättchen also. Jeder Nerv steht in Flammen. Ich werfe mich gegen die Fesseln, ohne Erfolg.

„Lass deine Gefühl gehen!“, verlangt Tia herrisch.

Wieder lässt sie die Szene abspielen. Ein blitzendes Schwert und Edys Leben endet zum vierten Mal, auch wenn ich die Augen im letzten Moment fest verschließe. Derselbe Schmerz wie eben rast durch meinen Körper.

„Was empfindest du?“ Voller Ungeduld feuert sie die Worte auf mich ab und drückt im gleichen Atemzug schon den Wiederholungsknopf.

Das Geräusch von Edys Tod, ein merkwürdig feuchtes Reißen, klingelt mir in den Ohren. Ich will meine Hände auf sie drücken, doch die Fesseln schneiden nur schmerzhaft in die Gelenke ein. Frustriert schreie ich wieder, trotz der brennenden Kehle, die von Muschelsplittern erfüllt zu sein scheint. Aber dieser Schmerz ist nichts im Vergleich zu dem Feuer, das die Psychologin durch mich schickt.

Mir entgleitet die Kontrolle über meinen Körper und er bäumt sich verzweifelt auf, in dem Versuch, den Qualen zu entgehen. Vor meinen Augen explodieren rote Lichter.

FINNICK!“

Alles was ich will, ist seine Umarmung zu spüren. Er würde mich vor diesen Schmerzen retten.

Am Rande des Bewusstseins registriere ich einen kaum wahrnehmbaren Stich und dann greifen Nebelfinger wieder nach meinen Gedanken. Dieses Mal fühlt es sich nicht schön an, sondern wie ertrinken. Mit letzter Kraft wehre ich mich dagegen und schaffe es geradeso, nicht in die Wogen zu gleiten. Die Sicht verschwimmt und meine Zunge gleicht einem nassen Lappen, aber ich bin nicht ohnmächtig. Verschwitzt liege ich auf dem Rücken. Die Droge rast durch meine Adern und löscht das Feuer der Schmerzen aus.

„Es... zerreißt mich“, bringe ich umständlich hervor.

„Wie bitte?“

„Wenn... ich es... sehe, zerreißt es...“ Die paar Worte kosten unendlich viel Mühe, auch wegen des Gummis auf der Zunge. „Es zerreißt mich... im Herzen.“ Ich glaube nicht, dass Tia das versteht. Aber wenn meine Antwort der einzige Weg aus dieser Qual ist, dann bleibt mir nichts anders als die Wahrheit.

„Tut dein Herz wirklich weh, oder rein gedanklich?“, fragt sie mit eifrigem Interesse.

„Beides.“

„Schön, schön“, höre ich sie murmeln, „das kriegen wir in den Griff. Alles eine Frage der Dosis. Jetzt sind die Schmerzen weg, nicht wahr?“

Ich horche in mich hinein und tatsächlich, alles verschwindet wieder hinter einer dicken Decke aus Gleichgültigkeit. Langsam nicke ich.

„Gut. Dann ruhe dich jetzt aus.“

Scharrend schiebt sie den Stuhl zurück. Ihre klappernden Absätze entfernen sich und die Tür fällt hinter ihr ins Schloss, genau in dem Moment, da ich in den Schlaf gleite. Dieses Mal ist er erfüllt von Albträumen.
 

Sobald ich erwache, steht Tia wieder an meinem Bett. Wie lange ich geschlafen habe, kann ich nicht sagen. Es können Stunden sein, oder nur Minuten. Zumindest trägt sie immer noch dieselbe Kleidung.

„Wunderbar, du bist wach, dann können wir ja weiter machen.“

Edys Tod wiederholt sich, wieder und wieder und wieder. Irgendwann nach dem achten Mal verliere ich den Faden und weiß nicht mehr, wie oft sie mich damit gequält hat. Meine Welt besteht ausschließlich aus Schreien und Schmerzen. Wenn es nicht länger erträglich ist, kommt die Erlösung in Form einer Spritze.

Von Mal zu Mal wird die Wirkung allerdings schwächer, bis die langersehnte Linderung ausbleibt und mich nur eine Woge der Trägheit lähmt. In meinem Kopf wummert der Schmerz, selbst wenn Tia die Metallplättchen nicht aktiviert. In einem scheint das Kapitol aber recht zu behalten - mit jedem Mal dränge ich die Gefühle weiter zurück. Die Schreie werden leiser und versiegen schließlich endgültig, aus Angst vor neuer Pein. Auch die Tränen trocknen schneller und mit ihnen verschwindet der Schmerz, bis er nicht mehr als ein kurzer Schock ist, der daran erinnert, was das Kapitol von mir erwartet.

Lautes Klappern neben mir lässt mich instinktiv zusammenzucken. Ich erwarte weitere Folter, aber sie bleibt aus. Stattdessen sehe ich eine strahlende Tia applaudieren. Ihre rasselnden Armreifen sind die Ursache des scheppernden Geräuschs.

„Sehr gut“, lobt sie.

Irritiert sehe ich sie an, bis mir klar wird, dass eben erneut Edys ablief. Nur, dass meine Wangen trocken geblieben sind und ich teilnahmslos hingesehen habe, erschöpft von den pausenlosen Schmerzen.

Die Bilder haben sich ohnehin in mir eingebrannt, mitsamt allen Details. Jede Sommersprosse auf Edys Gesicht, jeder Blutstropfen auf Catos Kleidung. Doch ich habe keine Kraft mehr, um zu reagieren. Anscheinend ist das meine Rettung.

„Fürs erste sind wir fertig“, verkündet die Psychologin.

Sobald sie weg ist, wird mir klar – es gibt etwas Schlimmeres als die Karrieros. Ja, sogar schlimmer als die Hungerspiele. Die Macht des Kapitols.

 

Die Nacht über – oder zumindest glaube ich, dass es Nacht ist – werde ich in Ruhe gelassen. In meinem Zimmer ist es stockdunkel, bis auf das rote Licht an der Kamera. Erst nach Stunden bekomme ich wieder Besuch, dieses Mal von der Ärztin mit den rosa Haaren. Bei ihrem Anblick atme ich erleichtert auf. Sie trägt ein Tablett in den Händen, auf dem eine dampfende Schüssel und ein Glas Wasser stehen. Ein himmlischer Geruch steigt davon auf und zum ersten Mal seit einer Ewigkeit fühle ich etwas anderes außer Schmerzen und Müdigkeit.

„Du bist bestimmt hungrig“, sagt sie mit dem gleichen sanften Lächeln wie bei unserer ersten Begegnung. „Ich dachte, ich bringe dir was aus der Kantine. Es gibt Besseres, aber es macht satt.“

Dankbar nicke ich. Die Furcht ihr gegenüber ist für den Moment besänftigt. Was könnte sie mir schon Schlimmeres antun als Tia?

Sie platziert das Tablett recht wacklig auf meinen Beinen und ich erkenne geradeso, dass Eintopf mit Gemüse in der Schüssel ist. Speichel sammelt sich an dem Gummistück im Mund, das ich bereits vergessen habe.

„Lass mich dir helfen.“ Die Frau nimmt mir das Stück ab und dann – mein Herz macht einen Hüpfer – löst sie die Fesseln an den Händen.

Am liebsten will ich gierig das Essen herunterschlingen, aber ich halte inne, aus Angst, dafür bestraft zu werden. Ich warte ab, was die Besucherin tut, doch sie setzt sich nur an mein Bett und sieht mich erwartungsvoll an.

„Magst du keine Suppe?“

Ich schüttle schnell den Kopf und greife mit zittriger Hand nach dem Löffel. Der erste Bissen schmeckt himmlisch. Fast so gut wie das Essen am Ende eines anstrengenden Tags auf hoher See.

„Oh wie unhöflich von mir“, sagt die Frau plötzlich, „ich hab mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Dr. Gaia Gaul, aber du kannst mich gerne Gaia nennen.“

Aus dem Augenwinkel betrachte ich sie und frage mich, ob sie ebenfalls Menschen foltert. Ihr herzförmiges Gesicht mit den strahlenden Augen wirkt zu freundlich dafür. Andererseits geben sich Leute wie Tia oder Cece auch immer fröhlich. Und sie arbeitet für das Kapitol.

„Ich arbeite erst seit kurzem hier, bin frisch von der Akademie“, plaudert sie vergnügt weiter, als würde mir das irgendwas sagen.

Stumm löffle ich die Suppe, bis nicht einmal die kleinste Pfütze übrig bleibt.

„Danke“, flüstere ich heiser. Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit höre ich meine Stimme und erschrecke darüber, wie rau sie klingt.

„Kein Problem“, entgegnet Dr. Gaul, „du schlägst dich tapfer, habe ich gehört. Da hast du es dir verdient.“

Draußen auf dem Gang höre ich Schritte. Ob das Tia ist?

„Wann darf ich zurück?“, frage ich schnell.

Dr. Gauls Blick wandert an mir vorbei in Richtung Tür.

„Bald, wenn du dich weiter so gut schlägst.“ Ihre Stimme erscheint mir eine Spur höher als eben. „Entschuldige, aber ich muss dich jetzt wieder festmachen ... bevor deine Therapie weitergeht.“

Nur widerwillig lasse ich mich am Bett festketten. Nach der frischen Brühe schmeckt das Gummistück umso widerlicher. Enttäuscht sehe ich Dr. Gaul hinterher, die eilig aus dem Zimmer schlüpft. Erst jetzt, wo sie weg ist, fällt mir auf, dass das rote Licht an der Kamera nicht mehr leuchtet.
 

Es dauert eine Weile, bis Tia auftaucht. Mit meiner Vermutung, dass eine Nacht vergangen ist, liege ich wohl richtig, denn sie trägt jetzt ein hellgelbes Kleid. Sonst hat sich nichts geändert. Sie nimmt am Bett platz, zückt ihre Fernbedienung und die Leinwand erwacht.

Ich fürchte schon, erneut Edys Tod zu sehen, aber stattdessen zeigt sie mir eine andere Szene. Die Karrieros und Cordelia stehen vor den letzten Überlebenden des Blutbads am Füllhorn, die sie in ihrer Mitte zusammengetrieben haben – darunter auch Peeta, der übel zugerichtet aussieht. Aber er hält immer noch das Messer von dem Mädchen aus Sieben in der Faust, im Gegensatz zu den beiden Jungen neben ihm. Die sind vollkommen unbewaffnet. Ich ahne, dass die Karrieros sie nicht gehen lassen werden.

Mein Blick gleitet weiter zu Cordelia. Getroffen starre ich in ihr Gesicht. Ihre Augen sind gerötet und ich erinnere mich an ihr Versprechen gegenüber Edy. Die Freude, sie lebend zu sehen, verlischt angesichts ihres Schmerzes. Teilnahmslos sieht sie zu den Gefangenen, als würde nichts davon sie interessieren.

Cato allerdings hat den Ausdruck eines hungrigen Raubtiers, mit dem er die Tribute begutachtet, wie sie im Gras vor ihm knien. Nur Peeta nicht, der darf zumindest stehen. Macht er etwa gemeinsame Sache mit den Karrieros? Er scheint kein Gefangener zu sein, sonst hätte er nicht das Messer in der Hand. Aber warum? Was ist mit Katniss?

Cato mustert die Jungen der Reihe nach und dreht abwägend das Schwert in der Hand. Die Furcht vor dem Unbekannten erwacht in mir. Was wird gleich schreckliches geschehen? Es muss furchtbar sein, denn sonst würde Tia es mir nicht zeigen. In meinem Magen rumort es und ich bereue es, die Suppe gegessen zu haben.

„Ich kann mich nicht entscheiden, wen ich zuerst umbringen soll“, sagt er höhnisch. „Was meint ihr?“, wendet er sich an seine Truppe, „wem gebührt die Ehre?“

Auf den Lippen seiner Partnerin Clove zeichnet sich schon ein Lächeln ab, da schreit der Junge aus Distrikt drei auf.

„Bitte, ich kann euch helfen!“

„Du willst uns helfen?“ Die Blonde aus Distrikt eins bricht in Gelächter aus. „Womit? Du hast doch schon bei den Interviews fast geflennt.“

„Nein wirklich, ich kann – die Bomben! Ich kann die Bomben ausgraben, ich weiß, wie man das macht, ohne, dass sie explodieren!“

„Ja klar, als ob das geht.“ Abwertend kichern die Karrieros.

„Nein wirklich!“, beteuert der Junge. „Ich hab daheim in einer Fabrik gearbeitet wo wir sowas hergestellt haben.“

„Und was gibt uns die Sicherheit, dass du sie nicht einfach gegen uns verwendest? Wir haben Waffen, da brauchen wir keine Bomben.“ Clove schüttelt den Kopf.

Da geht Peeta dazwischen. „Denkt doch mal nach!“, fordert er aufgebracht. „Die Bomben sind in der Erde vergraben. Was, wenn sie an einer anderen Stelle wieder vergraben werden? Rund ums Füllhorn? Wenn jemand ins Lager einbrechen will dann –“, er deutet mit seinen Händen eine Explosion an, „eine Sorge weniger.“

Also macht er wirklich gemeinsame Sache mit den Karrieros. Die Erkenntnis liegt schwer in meinem Magen, wie ein Stein. Wozu die ganze Liebesgeschichte in den Interviews? Ist alles nur gelogen?

Cato hält inne und mustert den Jungen aus Drei mit neugewonnenem Interesse. „Geht das? Du gräbst sie aus und dann können wir sie wieder vergraben?“

Der schmächtige Tribut nickt heftig.

„Hm, nicht schlecht.“ Cato wendet sich an den zweiten Jungen. „Und du?“

Hilflos schaut der Angesprochene in die Runde. „I-ich... kann... kämpfen?“ Seine Stimme verklingt leise. Die Karrieros aus Eins und Zwei brechen in Gelächter aus.

„Ich glaube eher nicht.“ Mit einem breiten Grinsen im Gesicht sieht Cato sich in seiner Anhängerschaft um. Sein Blick kommt auf Peeta zur Ruhe.

„Mir fallen da zwei Leute ein, die sich noch ein bisschen mehr anstrengen könnten“, verkündet er. „Du“, er zeigt mit der Schwertspitze auf Peeta, „und du!“ Er deutet auf Cordelia. „Nur los, ich schenk ihn euch. Verdient euch euren Platz.“

Für einen Moment kreuzen sich Peetas und Cordelias Blicke. Keiner von beiden sieht willens aus, den Jungen zu töten. Im Hintergrund gucken sich die Tribute aus Eins kichernd an.

„Ich würd schon gern sehen, wie Loverboy jemandem den Garaus macht. Ich glaub, er hat’s gar nicht in sich.“

Cordelia wirft einen vernichtenden Blick in ihre Richtung und schnappt sich ihren Speer. Sie tritt vor den knienden Tribut, der am ganzen Leib zittert. Er ist so verängstigt, dass er nicht einmal versucht zu fliehen.

„Bitte“, wimmert er, ignoriert von allen.

Peeta beugt sich überflüssigerweise zu ihm herab und hält ihn an der Schulter fest. Trotz der Blutergüsse in seinem Gesicht erkenne ich, wie sehr ihm diese Situation zuwider ist.

Mein Körper versteift sich und obwohl Tia noch keinen Knopf gedrückt hat, fühle ich den Schmerz näherkommen.

„Nur, dass du es weißt, Cato“, sagt Cordelia kalt, „Zehn ging auf mein Konto.“

Ihr Speer fährt in den Leib des Jungen, direkt ins Herz. Der Kanonendonner ertönt, bevor sie ihn herausgezogen hat.

„Gern geschehen.“

Ein eisiger Schauder läuft meinen Rücken herab. Die Schreie aber halte ich diesmal mit fest zusammengebissenen Zähnen zurück. Nur ein paar einzelne Tränen laufen die Wangen hinab und der heiße Schmerz erinnert mich, dass ich stärker sein muss. Wenigstens lebt Cordelia, dieser Gedanke hilft.

Sie wirft ihre Haare über die Schulter und verschwindet zurück ins Füllhorn. Auf Catos Gesicht aber zeichnet sich dasselbe brutale Lächeln ab, dass er schon vor den Interviews hatte. Er wendet sich an Peeta.

„Tja Loverboy, deine Heldentat steht noch aus. Los, hilf Drei beim Ausbuddeln, dann machst du dich wenigstens nützlich. Aber pass auf deine Finger auf!“

Lachend ziehen sich die übrigen Karrieros zurück und beobachten aus sicherer Entfernung, wie Peeta und der Junge aus Distrikt drei sich an die Arbeit begeben, die Bomben rund um die 24 Podeste auszugraben.

Die Aufnahme kommt zu einem Stopp.

„Ich bin stolz auf dich, Annie. Es scheint, dass unsere erste Lektion schon gefruchtet hat.“ Die Psychologin klatscht aufgeregt in die Hände. „Oder ist der Tod des Jungen aus Distrikt fünf weniger schlimm?“

Hat sie mich das gerade wirklich gefragt? Ich schüttle den Kopf.

„Und doch bist du vermutlich erleichtert, dass Cordelia noch lebt?“

Ehrlich nicke ich. Tias Zähne blitzen bei ihrem Lächeln auf.

„Das ist die richtige Einstellung! Fokussiere dich darauf, nicht auf jene, die zu schwach zum Überleben sind! Nur dann kannst du zu einer besseren Mentorin werden.“

Sie tätschelt meinen Handrücken und trotz der Fesseln zucke ich zurück, so weit möglich. Zwischen ihren Augenbrauen zeichnet sich eine Falte ab, mehr lässt sie sich nicht anmerken.

„Kommen wir zur nächsten Szene.“

Anstelle des Füllhorns sehe ich die Karrieromeute, die durch den Wald streift. In der Arena ist es tiefe Nacht, doch Cato und der Junge aus Distrikt eins tragen jeder eine Fackel, die ihnen Licht spendet. Die anderen haben Taschenlampen dabei. Ihre gezückten Waffen zeigen – sie sind auf der Jagd.

In der Ferne scheint das Mädchen aus Eins etwas entdeckt zu haben, denn sie deutet aufgeregt zu einer Stelle zwischen den Bäumen. Dank eines geschickten Schnitts sehen wir Zuschauer, dass es sich um die Tributin aus Distrikt acht handelt, welche neben einem kleinen Lagerfeuer schläft.

Die Karrieros formen einen Halbkreis und nähern sich dem Lager, ohne sich Mühe zu geben, leise zu sein. Immerhin sind sie in der Überzahl. Als das Feuer in Sicht kommt, rennen sie los.

Ihr Opfer erwacht viel zu spät, da ist sie längst umstellt. In Panik fleht sie darum, verschont zu werden, aber ihre Worte stoßen auf taube Ohren. Innerlich stähle ich mich dafür, ihren Tod mit anzusehen. Hoffentlich machen sie kurzen Prozess. Hoffentlich ist es nicht wieder Cordelia. Ich will nicht, dass sie zu einer gewissenlosen Mörderin wird.

Der erste, der sie erreicht, ist der braunhaarige Junge aus Distrikt eins. Ich erinnere mich urplötzlich daran, ihn auf der Siegestour gesehen zu haben. Er hat es also wirklich geschafft. Wie erwartet packt er das Mädchen und rammt ihr sein Schwert in den Oberkörper. Mit einem Knacken bricht irgendein Knochen.

Mir ist speiübel. Ich konzentriere mich ganz auf dieses Gefühl, versuche, es im Zaum zu halten. Bloß nicht übergeben. Beim Anblick der klaffenden Wunde, unterlegt von dem Jubelschrei des Jungen, kann ich es nicht länger zurückhalten. Heftig würgend krümme ich mich. Tia entreißt mir das Mundstück, bevor ich ersticke, und ich erbreche geräuschvoll auf den Fußboden.

„Es ist noch nicht vorbei“, höre ich meine ärztliche Foltermeisterin sagen.

Verwirrt sehe ich zurück auf die Leinwand. Ist in der Nähe ein weiterer Tribut? Erst, als die Karrieros es aussprechen, fällt es auch mir auf.

Die Kanone hat nicht gedonnert. Das Mädchen aus Acht lebt noch. Zu meiner größten Überraschung ist es Peeta, der auf einmal sagt „Ich gehe zurück und erledige sie und dann nichts wie weiter!“

Falls ich dachte, es würde nicht schlimmer kommen, lag ich falsch. Ein neuerlicher Perspektivwechsel offenbart Katniss, hoch oben in einem Baumwipfel in einen Schlafsack gerollt, die alles mitangehört hat. Selbst im Dunkel der Nacht erkenne ich die Wut in ihrem Gesicht. Auch sie hat nichts von Peetas Seitenwechsel geahnt.

Der unterdessen, kehrt zu dem Lager der Tributin aus Acht zurück, die röchelnd in einer Blutlache auf dem Waldboden liegt. Er kniet sich neben sie. Ich keuche überrascht auf, denn er greift nach ihrer Hand.

„Es tut mir so leid“, wispert er kaum vernehmbar. „Du hast es gleich geschafft.“

Blut quillt aus ihrem Mund und sie sieht ihn an. Anstatt sie zu töten, hält er ihre Hand, bis das Licht in ihren Augen erlischt.

Der Schmerz macht mich darauf aufmerksam, dass ich heftig schluchze. Dieses Mal allerdings nicht wegen des toten Mädchens, sondern wegen Peeta, der, genau wie Edy, zu sanft für diese Spiele ist.

Tia betrachtet mich scharf. „Was ist an diesem Tod anders?“, fragt sie und klingt unverhohlen verwundert.

Ich schaffe es nicht, ehrlich zu sein. Sie würde es eh nicht verstehen. „Mehr Blut“, antworte ich schlicht.

Sie nickt und lässt mich das Ganze ein weiteres Mal ansehen. Jetzt bin ich vorbereitet und behalte meine Trauer wie durch ein Wunder in mir.

„Ausgezeichnet, dann können wir ja bald zum nächsten Thema übergehen“, verkündet sie vergnügt. „Fürs erste war das alles, was in der Arena passiert ist.“

„Kann ich nicht einfach ... gehen?“

„Nun, wir wollen nichts übereilen. Etwas Festigung scheint mir angebracht. Aber keine Sorge, ich weiß schon, wie wir das hinkriegen.“

Verbündet - Verfeindet

„Ich nehme das, was Abernathy immer trinkt.

Resigniert lehnt Finnick sich an den Bartresen in der Lounge und lächelt der diensthabenden Avox matt zu. Sich betrinken ist nicht die beste Idee, aber die Einzige. Die stumme Dienerin weicht seinem Blick aus, als sie ihm ein Glas klarer Flüssigkeit zuschiebt.

„Ich würd dir wirklich nicht empfehlen das zu trinken, Junge“, erklingt eine Stimme hinter ihm. „Das zieht dir den Boden unter den Füßen weg.“

Da steht Haymitch Abernathy selber, die Hände in den Hosentaschen. Sein Haar ist gekämmt, der Bart rasiert und das Hemd richtig zugeknöpft. Kein Vergleich zu dem Haymitch von früher.

„Das braucht’s nicht mehr“, entgegnet Finnick, vielleicht eine Spur zu schroff.

Aber der ältere Mentor ist Heftigeres gewöhnt. Er zieht nur eine Augenbraue hoch. „So schlimm?“

Finnick bleibt ihm die Antwort schuldig, da er sein Glas in einem Zug leert. Das Zeug brennt sich seinen Weg hinab in den Magen und es schüttelt ihn.

„Ich sag’s ja“, grinst der ältere Mentor, „das ist was für Erwachsene.“

„Bist du nur hier, um zu nerven, oder willst du was?“

Haymitch zieht seine Stirn in nachdenkliche Falten. „Ich wollt eigentlich mit dir über unser frisches Bündnis reden. Aber wenn’s dir grad nicht passt, kann ich auch später wiederkommen?“

„Entschuldige. Klar können wir darüber reden. Ich würd tatsächlich gern erfahren, was da vor sich geht und warum ich nicht eingeweiht war“, beschwichtigt Finnick ihn. „Es ist nur –“, er schüttelt den Kopf und dreht sich zurück zum Tresen. „Geben Sie mir noch einen von den netten Drinks mit Schirmchen und so, bitte?“

Mit seinem zweiten Getränk in der Hand suchen er und Haymitch sich eine ruhige Ecke in der brechend vollen Lounge, was dadurch erschwert wird, dass sie alle paar Meter von einem Sponsoren aufgehalten werden. Nicht wegen ihm, sondern wegen Haymitch. Auf einmal scheint die gesamte Kapitol-Elite brennend daran interessiert, seine Hand zu schütteln.

Ein Mann, der letztes Jahr noch von ihm angepöbelt wurde, ist nun ganz heiß darauf, Katniss zu sponsern. Dass Haymitch zudem auch den Mageninhalt auf seine Schuhe entleert hat, scheint er völlig vergessen zu haben. Und eine kleine Frau mit tätowierten Augenbrauen und schlaff herabhängenden Mundwinkeln klebt förmlich an seinem Arm. Inbrünstig schwärmt sie davon, wie sehr sie seine Tribute liebt.

Finnick muss zweimal hinsehen, um sie als Iphigenie Wilcox wiederzuerkennen. Die Frau, die einst an seinen Lippen hing, würdigt ihn keines Blickes.

„Da gibt’s nichts zu holen“, raunt er seinem Begleiter ins Ohr, ehe dieser seine Zeit an sie verschwendet.

Als Haymitch sie höflich abwimmelt, bohren sich ihre Augen wütend in Finnicks und allein der Hass für sie bringt ihn dazu, ihr zuzuzwinkern. Zumindest diese kleine Rache gönnt er sich.

„War das nicht eine ehemalige Flamme von dir?“, fragt Haymitch neugierig, sobald sie endlich eine kleine private Ecke ergattert haben.

„Solange sie Geld hatte. Daher weiß ich auch aus erster Quelle, dass sie eine hoffnungslose Spielerin ist. Von ihr bekommst du höchstens noch genug für ein nasses Streichholz.“

Haymitch lacht. „Dann muss ich mich wohl bei dir bedanken.“ Sein Lachen wird zu einem Seufzen. „Ich weiß, dass ich all diese Leute kennen müsste, aber ... naja, die Erinnerung meint es nicht unbedingt gut mit mir.“

Finnick nickt. „Kein Ding. Ich kenne diese Leute in- und auswendig. Manche besser, als mir lieb ist.“ Er nimmt einen Schluck von seinem Drink. Dieser brennt schon weit weniger in seiner Kehle, aber immerhin genug, um ihn von dem Gedanken an Annie abzulenken. Zum Glück sieht er Titania nirgends. Sie würde gerade noch fehlen.

„Siehst du ihn dadrüben?“, er deutet auf einen Mann, breit wie hoch, der in einen samtenen Anzug gekleidet ist. „Everard Notting. Der alte Sack hat Geld wie das Meer Fische. Aber er hasst es, auf die Mentoren zuzugehen. Wenn du ihn allerdings nach seiner preisgekrönten Koizucht fragst, läuft die Sache wahrscheinlich schneller, als du Koi sagen kannst – oh, aber er sponsort nur weibliche Tribute.“

„Da ist er nicht der Einzige“, entgegnet Haymitch verdrießlich. „Alle wollen Katniss und keiner Peeta.“

„Wem sagst du das. Die Jungs habens oft schwer.“ Erinnerungen an Edy drängen in Finnick hoch und er wechselt lieber schnell das Thema. „Aber für Peeta wüsste ich auch schon jemanden. Shania da drüben – auch eine alte Bekannte von mir – hat ein Faible für blonde, muskulöse Tribute. Sie sponsert wahrscheinlich Cato, aber du kannst ihr Peeta genauso schmackhaft machen, wenn du ihr nur genug Komplimente für ihren überragenden Intellekt machst. Nur solange Peeta bei den Karrieros ist, wird ein Teil des Geldes in die Gemeinschaftskasse wandern und dann kannst du zusehen, wie Cashmere alles ausgibt. Ich spreche da aus leidiger Erfahrung.“

„Womit wir wieder beim Thema Bündnis wären.“

Nickend nimmt Finnick einen weiteren Schluck. „Also, worüber wolltest du sprechen?“

Haymitch beäugt für einen Moment das Glas Alkohol, dann lehnt er sich mit verschränkten Händen zurück. „Ich glaube, unsere beiden Tribute sind nicht wirklich willkommen unter den Karrieros.“

„Richtig.“ Abwartend schwenkt Finnick das Getränk in seinem Glas umher.

„Es war eine Schnapsidee von mir, den Jungen da rein zuschicken. Im wahrsten Sinne des Wortes. Die Entscheidung ist ihm nicht leichtgefallen. Deswegen konnt‘ ich dich nicht warnen. Der Deal mit Eins und Zwei stand erst in der Nacht vor den Spielen endgültig. Aber ich will ehrlich mit dir sein, Finnick. Er ist nicht da, um den Karrieros zu helfen, Katniss zu jagen. Er will sie beschützen, weil er verdammt gut weiß, dass sie auf ihrer Liste ganz oben steht. Sie ist gut, das weiß er. Aber eben auch alleine.“

Überrascht ist Finnick nicht. Selbst wenn Peetas Handeln am Füllhorn ihn verwundert hat, so hat er keinen Moment geglaubt, dass Haymitch die Liebesgeschichte einfach über Bord werfen würde. Dafür ist sie viel zu meisterhaft inszeniert.

„Was mich zu dem Punkt führt: dein Mädchen ist auch nicht so übel. Sie hat den Jungen aus Fünf getötet und Peeta diese Tat erspart. Cato hat ihren Partner auf dem Gewissen. Wenn sie das erfährt, ist das Bündnis Geschichte.“ Haymitch legt die Fingerspitzen aneinander und holt Luft. „Wenn es so weit ist – warum dann nicht gemeinsam abhauen?“

Tief ausatmend sieht Finnick in die Ferne, über das Meer aus Mentoren und Sponsoren hinweg. Natürlich hat er letzte Nacht gesehen, wie Peeta das Mädchen aus Distrikt acht in den Tod begleitet hat. Er hat es nicht in sich, zu töten. Das ist spätestens seit gestern klar. Aber er ist fest entschlossen, Katniss zu retten.

Und wenn Thresh es nicht schafft, ist Distrikt zwölf eventuell die nächstbeste Wahl, überlegt er. Zumindest ist da etwas an ihr, dem Flammenmädchen, was ihn nicht in Ruhe lässt. Eine vage Hoffnung, aber besser als nichts.

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Cordelia herausfindet, wer Edy umgebracht hat. Dann ist sie auf sich gestellt. Ihre Chancen würden sich mit einem Verbündeten erheblich verbessern.

„Aber wäre Peeta überhaupt bereit, gemeinsame Sache mit ihr zu machen? Immerhin ist sie für ihn auch nur eine weitere Karriero.“

„Jetzt noch nicht, aber wenn ich ihm einen Hinweis schicke, warum nicht? Ich habe ihm versprochen, dass ich nüchtern bleibe während der Spiele und er mir, dass er auf mich hört, wenn Katniss schon so stur ist. Und an Sponsoren mangelt es mir – ausnahmsweise – einmal nicht.“

Das erklärt zumindest, warum er nicht mehr nach Alkohol riecht.

„Was hältst du von einem Brötchen? Eins mit – was backt ihr noch gleich in eure fischigen Brötchen?“, fragt Haymitch.

„Algen. Was willst du damit?“ Skeptisch die Augenbraue erhoben, trinkt Finnick einen kleinen Schluck. Der Geschmack bleibt widerlich.

Ein durchtriebenes Grinsen erscheint auf Haymitchs Gesicht. „Eine nette Botschaft überbringen, ganz altmodisch. Wir wollen ja nicht die Regeln verletzen. Er ist nicht blöd, er wird schon wissen, was ich ihm sagen will. Wenn er nachts Wache hält, wird es keiner mitbekommen. Und andersrum für deine Tributin.“ Selbstzufrieden fährt er sich über das glattrasierte Kinn. „Ja, jetzt, wo ich so drüber nachdenke, könnte diese verrückte Idee tatsächlich funktionieren. Ich dachte immer, ich wäre ein Genie, wenn ich getrunken habe, aber vielleicht hat Elfchen recht und ich bin besser, wenn ich nüchtern bin.“

Finnick zuckt mit den Schultern. „Klingt zumindest nicht verrückter, als andere verzweifelte Pläne. Eine Frage habe ich trotzdem noch“, er lehnt sich vor und senkt seine Stimme leicht, „Warum vertraust du ausgerechnet mir? Immerhin ist Distrikt vier doch genauso schlimm, wie die anderen Karrieredistrikte.“

Haymitch sieht ihn einen langen Moment an. „Ich sehe es in den Augen eines Menschen, wenn er wirklich, wirklich gerne tötet. Weder du, noch deine Tribute sind solche Menschen. Jeder von uns versucht, das Beste rauszuholen. Und außerdem haben wir, wenn ich mich recht entsinne, das gleiche Ziel.“ Mit klopfendem Herzen erwartet Finnick fast, dass Haymitch es ausspricht. Rebellion. Doch er sagt bloß ernst: „Überleben.“

„Hm“, brummt Finnick, „es gab schon Bündnisse mit weniger Grundlage, schätze ich.“

Er reicht Haymitch seine Hand. „Besiegeln wir es.“

Mit einem erfreuten Lächeln schlägt dieser ein. „Und solltest du dich entscheiden mich zu verraten, kannst du dir sicher sein, dass ich dich das nicht vergessen lasse.“

Freudlos lacht Finnick auf. „Keine Sorge, ich hab ohnehin gerade andere Probleme.“

Haymitch, der schon aufgestanden ist, sieht ihn mit gerunzelter Stirn an und setzt sich dann wieder.

„Ich hab mitbekommen, was passiert ist.“ In seinen grauen Augen schimmert Verständnis. „Es tut mir leid ...“, er wählt die nächsten Worte mit Bedacht. „Such dir nicht den einfachen Ausweg. Lass dir den Rat von jemandem geben, der sich mit dem Teufelszeug auskennt.“ Er deutet auf den Drink in Finnicks Hand.

„Ich weiß“, seufzt dieser geschlagen, „der Mist schmeckt ja nichtmal.“ Missmutig sieht er in die letzte Pfütze seines Getränks. „Ich hatte gehofft, es hilft beim Vergessen.“

Verlegen kratzt Haymitch sich am Hinterkopf. „Tut es nicht. Es betäubt, für eine Weile und dann ist alles wieder da, bis zur nächsten Flasche und zur nächsten ... und ehe du dich versiehst, kannst du nicht mehr ohne.“

Stumm sehen beide für einen Moment auf den Tisch zwischen sich, ehe Haymitch leise ergänzt:

„Gib sie nicht auf. Sie ist eine Kämpferin.“

Finnick spürt die Tränen in seinen Augen aufsteigen und sieht schnell fort. „Könnte ich niemals.“

„Gut. Also dann –“, ächzend erhebt Haymitch sich wieder, „ich werd‘ dich wissen lassen, wann ich die Botschaft abschicke.“ Die Andeutung eines Lächelns auf seinen Lippen, verabschiedet er sich und verschwindet in der Sponsorenmenge.

Mit hängenden Schultern lehnt Finnick sich in seinem Stuhl zurück. Er fragt sich, was er noch groß für Cordelia tun kann. Kraft, mit den Reichen und Schönen des Kapitols zu flirten, hat er keine. Die anderen Mentoren haben ohnehin fast alle abgeklappert.

Müde und ausgelaugt sieht er zu dem riesigen Fernseher, hoch oben an der Wand, auf dem das aktuelle Arenageschehen übertragen wird. Wenig Interessantes passiert an diesem Mittag. Die meisten Tribute durchstreifen den Wald.

Entweder auf der Suche nach Nahrung, oder auf der Jagd nach Opfern. Bis auf die Karrieros haben sich keine weiteren Allianzen gebildet. Angesichts der scheinbaren Ruhe überlegt er ernsthaft, ob er nicht einfach ins Bett gehen sollte.

Aber da wechselt das Fernsehbild unvermittelt und er sieht Caesar Flickerman, der in einem klinisch weißen Raum steht, hinter sich eine Runde ebenso hell gekleideter Männer und Frauen, die sich allesamt eifrig über leuchtende Schalttafeln beugen. In der Mitte von ihnen schwebt ein blasses Hologramm der Arena.

„Heute begrüße ich Sie, werte Damen und Herren, einmal nicht aus meinem Studio, sondern vom Ort des Geschehens, dem Hauptquartier der kreativen Köpfe hinter den Spielen – die Rede ist natürlich von der Zentrale der Spielmacher! Bleiben Sie dran für einen exklusiven Einblick in die Welt hinter der Arena!“

Interessiert verfolgt Finnick, wie Caesar Flickerman den Kreis aus Spielmachern entlang schreitet. Nur selten lassen diese jemanden von außen in ihr Zentrum, aus Angst, dass ein Geheimnis der Spiele zu früh offenbart wird.

Die 34. Hungerspiele sind heute noch allen Siegern ein Begriff. Nicht wegen der Arena oder den Tributen, sondern aufgrund des Mentoren Alastair Caulder aus Distrikt sechs. Dank eines unvorsichtigen Spielmachers, der während einer Fernsehübertragung im Hintergrund zu sehen war, konnte Caulder seinen Tribut vor dessen Falle warnen. Als sein Schützling die Spiele infolgedessen gewann, verschwand Alastair Caulder für immer und das Kapitol überprüft seitdem sorgfältiger, was es sendet.

Nichtsdestotrotz ertappt Finnick sich dabei, intensiv auf den Ring aus Spielmachern zu starren. Eine einzige kleine Information könnte alles ändern. Aber natürlich ist aufgeräumt worden. Er kann nur zusehen, wie die Tribute überwacht werden, hier ein Baum umgestürzt wird oder dort ein wilder Bär ausgesetzt.

„Aber selbstverständlich ist das noch nicht alles, meine Damen und Herren. Heute Abend wird unser erste große Arenanacht stattfinden! Sein Sie dabei, wenn Mentoren, Stylisten, Sponsoren und Spielmacher aufeinandertreffen, um die ersten Tage der Hungerspiele zu besprechen. Merken Sie es sich besser gut vor!“

Ein leeres Studio mit einem großen Halbkreis aus gemütlichen Polstersesseln wird eingeblendet.

„Sie können sich auf einen absoluten Ehrengast freuen – unser oberster Spielmacher höchstpersönlich, Seneca Crane wird da sein! Und wenn Sie einer unserer fleißigsten Sponsoren sind, dann haben Sie sogar die Chance auf ein persönliches Treffen mit ihm! Spenden Sie jetzt für einen Tribut ihrer Wahl und Sie haben die Chance, ausgewählt zu werden. Je höher ihr Beitrag, desto größer die Chance!“

Überrascht hält Finnick die Luft an. Der höchstrangige Spielmacher wird ein Interview geben? Das ist ungewöhnlich. Üblicherweise sind sie nur darauf konzentriert, die Arena zu überwachen.

Aber für Seneca Crane ist es schließlich das erste Jahr. Er muss sich dem Kapitol noch beweisen. Bei den letzten Spielen war er zwar ein Assistent von Philus Ludovic, dem langjährigen Speichellecker Snows, doch dessen plötzlicher Tod beförderte ihn ungeplant schnell an die Spitze seiner Zunft. Zweifel an seinem Aufstieg sind die natürliche Folge.

Finnick hat nicht gerade Lust auf diese Scharade unter der Regie von Flickerman, aber wenn ein Treffen mit Crane in Aussicht steht, sehen die Dinge anders aus. Denjenigen kennenzulernen, der das Schicksal in seiner Hand hält, ist nie verkehrt.

Titania scheint ihm perfekt geeignet um diesen kleinen Bonus zu gewinnen. Und wo sie ist, da darf er sein ... schließlich will Snow selber es so.

Wie sagt Mags immer? „Sei gut über deine Verbündeten informiert, aber noch besser über deine Feinde.“

Und der Fernsehauftritt wird ihn – zumindest für den Moment – von Annie ablenken. Sich freiwillig zu melden wird ihm auf jeden Fall Bonuspunkte bei Cece einbringen. Was er wahrlich gebrauchen kann, nach dem Fiasko bei der Eröffnungsfeier.
 

Wieder im Apartment, zieht Finnick sich in sein Zimmer zurück und ruft Titania direkt an. Ihre Privatnummer ist für besondere Fälle reserviert, was unzweifelhaft einer sein dürfte. Lange muss er es nicht klingeln lassen, bevor es in der Leitung klickt.

„Tita, Liebes“, säuselt er, „ich weiß, wir waren erst für heute Abend verabredet, aber meine Sehnsucht nach dir ist unermesslich.“

„Oh, äh, hallo“, dringt ihre Stimme an sein Ohr. Das hört sich definitiv weniger freundlich an als erwartet.

„Alles in Ordnung bei dir?“

Verlegenes Lachen. „Ja, natürlich, ich bin nur gerade auf der Arbeit.“ Er hört förmlich, wie die Röte in ihre Wangen kriecht.

„Oh nein, verzeih, ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen. Warum musst du Arme arbeiten? Ich dachte, du hast Urlaub für die Spiele?“

„Nun, eigentlich ja. Leider ist ein Sonderfall dazwischengekommen.“

Interessant, schon wieder etwas Unvorhergesehenes im Innenministerium. Ob es erneute Brandstiftungen gab, oder geht es doch um Distrikt elf?

„Schade“, sagt er mit einem überdeutlichen Seufzen, „denn ich muss gerade ununterbrochen an dich denken und habe gehofft, wir könnten ein netten kleinen Ausflug machen. Du wirst es ja wahrscheinlich selbst sehen, die Tribute sind heute nicht besonders aktiv und es hier sooo langweilig, wenn man gerade frei hat.“ Er seufzt übertrieben. „Heute Abend muss ich an der Show von Flickerman teilnehmen, also werden wir nicht so viel Zeit zusammen haben. Sehen wir uns denn wenigstens da?“

Am anderen Ende der Leitung rauscht es, dann seufzt auch Titania.

„Ich habe ja genauso Sehnsucht“, gibt sie mit leiser Stimme zu. „Ich werde sehen, dass ich hier schnell wegkomme. Ministerin Egeria wird schon ohne mich klarkommen, hoffe ich. Immerhin ist das Problem quasi schon gelöst.“ Sie scheint einen Moment zu überlegen. „Ist es denn in Ordnung, wenn ich dich mit dem Wagen abhole und wir ... wohin gehen?“

Zufrieden lehnt Finnick sich zurück. „Keine Sorge, ich denke ich habe ein wenig Freigang bekommen.“ In schmeichelhaftem Tonfall fügt er hinzu: „Extra für dich habe ich Snow darum angefleht.“

Sie kichert. „Oh, das klingt wunderbar. Irgendwelche Vorstellungen wohin wir gehen sollen? Ein Café, Shoppen oder was anderes?“

Ihm schießt der Zoo in den Kopf, dessen Videos Annie so liebt. Eigentlich will er die Erinnerungen von ihr nicht mit Titania vermischen. Doch bei dem Gedanken, dass sie diese Tiere vielleicht nie sehen wird, drängt es ihn, sie wenigstens für sie anzusehen. Damit er ihr von ihnen erzählen kann, wenn sie wieder da ist.

„Was hältst du von dem Zoo?“

„Zoo?“, fragt Titania überrascht. Anscheinend hat sie selber nicht einmal an diese Möglichkeit gedacht. „Tja, warum nicht? Ich werde dich in einer Stunde ungefähr abholen kommen!“

 

Der Zoo ist an diesem Nachmittag unter der Woche recht leer, wie Finnick befriedigt feststellt. Nur vereinzelte Familien mit jungen Kindern schauen sich die Tiere an und sind zum Glück vollkommen auf sich konzentriert. Selbst die Hungerspiele, die auf großen Leinwänden an jeder Ecke übertragen werden, finden wenig Beachtung.

Trotzdem ist er dankbar für das hellblaue Oberteil mit der Kapuze, die ihn vor allzu neugierigen Blicken abschirmt. Nicht auffällig schlicht, da Roan sich natürlich an den allerneusten Trends orientiert hat, aber gerade richtig, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Für den ersten Eindruck sieht er aus wie ein einfacher Kapitolbewohner.

Titania an seiner Seite trägt ihre dezente Arbeitskleidung, sodass auch sie kaum Augen auf sich zieht.

Es ist schon einige Zeit her, dass er zuletzt das Trainingscenter verlassen hat, abgesehen von den Vorladungen bei Präsident Snow und Nächten in fremden Appartements. Interessiert beobachtet er die Menschen um sich herum, die fröhlich miteinander reden, Eis essen und frei von Sorgen scheinen.

Zwei kleine Jungen jagen den Weg entlang und ihr Lachen wärmt sein Herz. Wenn die Kinder in Distrikt vier doch nur öfter Anlass zum Fröhlichsein hätten. Er erinnert sich an seine Kindheit, in der es nie viel Freude gab.

„Ich kriege dich!“, ruft einer der Jungen. Die Wärme in Finnicks Innerem schwindet, als er sieht, dass beide Kinder kleine Plastikwaffen tragen, exakte Miniaturen von denen aus der Arena. Schwert und Speer sehen verkehrt aus in den Händen von knapp Sechsjährigen.

Der hintere Junge schließt zu seinem Bruder auf und stürzt sich unter Gebrüll auf ihn. Sein Plastikschwert bohrt sich in dessen Seite, aber so wie das Kind lacht, ist klar, dass es höchstens etwas kitzelt.

„Du bist tot“, ruft der Sieger triumphierend und tanzt ausgelassen in einem Kreis um den am Boden liegenden Jungen herum. „Hahaha, ich bin wie Cato, niemand kann sich mir in den Weg stellen“, brüllt er, bis seine Eltern aufschließen und die beiden einsammeln.

Titania folgt Finnicks Blick. „Kinder sind schon etwas Schönes“, stellt sie fest. „Manchmal sehe ich Kinder und wünschte, ich hätte eigene.“

Überrascht sieht er sie an. Er war ganz auf das traurige Spiel konzentriert, dass er nicht einmal überlegt hat, was andere dabei empfinden.

In Distrikt vier sind Kinder nichts Schönes, eher etwas Nützliches. Manche Leute versuchen regelrecht, es zu vermeiden, sie zu bekommen. Damit sie sich keine Sorgen über die Hungerspiele machen müssen. Aber natürlich ist das nicht immer möglich.

Er zuckt zur Antwort mit den Schultern. „Darüber hab ich ehrlich gesagt nie nachgedacht. Schließlich kann ich keine eigenen Kinder haben.“

Dafür hat das Kapitol gesorgt. Nicht, dass man ihn gefragt hätte, bevor er unfruchtbar gemacht wurde. Sie haben schlichtweg beschlossen, dass es das Risiko nicht wert ist, wenn nachher all seine Geliebten schwanger würden.

Und was er will, ist seit jeher nebensächlich. Es ist besser, nicht darüber nachzudenken. Mehr Kinder braucht diese elende Welt ohnehin nicht. Selbst liebende Eltern können ihren Nachwuchs nicht vor der grausamen Wirklichkeit beschützen.

„Oh“, erwidert Titania angemessen betreten, „nun, bei mir steht auch der Beruf im Weg.“

„Apropos Job – was hat dich heute so Schreckliches geplagt, dass du deinen Urlaub dafür unterbrechen musstest? Hat Ministerin Egeria wieder Probleme mit aufmüpfigen Getreidebauern?“, lenkt Finnick stattdessen das Gespräch in interessantere Bahnen.

„Oh, ach, das ...“, Titania wedelt mit ihrer Hand, „das hatte nicht wirklich was damit zu tun. Nur ein kleiner Notfall, aber jetzt haben wir alles unter Kontrolle, ja.“ Zur Bekräftigung nicht sie nochmal. „Ich will jetzt lieber nicht an die Arbeit denken.“

Enttäuscht kickt Finnick ein Steinchen vor sich her. Er hat fest darauf gebaut, dass sie ihm, wie sonst, all ihr Leid klagen würde. „Tita, du solltest auf dich achten, du arbeitest immer so hart. Was ist schon so wichtig, dass du dafür deinen Urlaub unterbrechen musst?“

Sie kichert. „Ach, du bist süß. Jetzt entspanne ich mich ja.“ Glücklich strahlt sie ihn an. „Nichts ist wichtiger, als ein Tag mit dir ganz alleine.“

Es fällt ihm schwer, die Enttäuschung aus seinem Gesicht fernzuhalten. Rasch nimmt er ihre Hand und zieht sie weiter, um das unangenehme Gefühl abzuschütteln, dass sie ihm etwas vorenthält.

Schweigend wandern sie den hübsch gepflasterten Weg entlang, an einem Käfig voller fauler Affen vorbei, die in großen Hängematten dösen.

Finnick kennt die Tiere nur aus Schulbüchern und bleibt stehen, um ihnen eine Weile lang zuzusehen. Anders als die wilden Bestien, die regelmäßig in den Spielen eingesetzt werden, machen diese Affen keinerlei Anstalten, jemanden zu beißen. Wenn überhaupt scheinen sie gelangweilt.

Neben dem Käfig erregt ein großes Schild Finnicks Aufmerksamkeit.

 

Historischer Affenkäfig

Dieser Käfig ist Teil des umfassenden Restaurationsprogramms zur Erhaltung des traditionsreichen Kapitol-Zoos. Bis zu den dunklen Tagen wurden hier echte Japanmakaken gehalten. Nach Kriegsende blieben alle Bemühungen, diese ausgestorbene Rasse mittels Gentechnik nachzuzüchten, erfolglos.

In den Nachkriegsjahren wurden die Tribute der Hungerspiele in diesem Käfig verwahrt. Trauriger Höhepunkt dessen war der Tod von Arachne Crane, die während der Vorbereitung auf die zehnten Hungerspiele von einer Tributin hinterrücks erstochen wurde.

In Gedenken an Arachne Crane beherbergt dieser Käfig nun eine neue Affenart, hervorgegangen aus dem Genetikprogramm des Kapitols, die erstmals erfolgreich in den elften Hungerspielen eingesetzt wurde.

 

Ein bitterer Geschmack breitet sich in Finnicks Mund aus. Selbst hierhin verfolgen ihn die Spiele. Er ist dankbar, dass das Kapitol seine Tribute nicht länger in einem Käfig hält. Da drinnen zu stecken, muss die Hölle gewesen sein.

„Crane?“, fragt er Titania interessiert. „Doch nicht etwa wie Seneca Crane?“

Sie nickt. „Oh doch. Ich glaube, sie war die ältere Schwester seines Großvaters. Erklärt vielleicht, warum seine Familie so viele Spielmacher hervorgebracht hat.“

Eine Info über den jungen neuen Spielmacher, die Finnick sich einspeichert. Wer weiß, wann es einmal nützlich wird.

„Vermutlich. Weiß man sonst viel von Seneca Crane?“

Titania verzieht das Gesicht. „Wenn man der Klatschpresse Glauben schenkt, aber abgesehen davon ist er noch ein ziemlich unbeschriebenes Blatt. Kam völlig aus dem Nichts, dass ausgerechnet er der nächste oberste Spielmacher geworden ist. Alle haben mit Plutarch Heavensbee gerechnet.“ Sie schnaubt. „Ich war so überzeugt, ich hab Geld auf ihn gesetzt. Wenn du mich fragst“, sie lehnt sich näher an ihn, „dann hatte da jemand seine Finger im Spiel.“

Fast bricht Finnick in Lachen aus. Eher ist es andersrum – Distrikt dreizehn hat ein nicht unerhebliches Interesse, Heavensbee als obersten Spielmacher zu sehen. Ironisch, dass jetzt ausgerechnet Crane der Verdächtige ist.

„Ach wirklich“, murmelt er zurück. „Hast du schon mitbekommen, dass er heute Abend bei Flickermans Show sein wird?“

Sie nickt. „Ich finde es sehr merkwürdig, dass er seine Arena einfach den Angestellten überlässt. Hat er denn gar nichts Spannendes für die Zuschauer geplant? Wenn ich ehrlich bin, dann zweifle ich doch sehr an seinen Fähigkeiten als Spielmacher.“

„Du ... könntest ihn treffen und dir ein Bild davon machen“, sagt Finnick unverfänglich, den Blick wieder zu den Affen gerichtet.

„Und dafür Unmengen meines kostbaren Sponsorengeldes einsetzen?“ Titania schnalzt mit der Zunge. „Ich werd mir lieber erst anhören, was er in der Show zu sagen hat. Er muss mich erstmal mit seiner Arbeit überzeugen.“

Er sieht sich um, ob niemand sie beobachtet, und lehnt sich dann näher an sie heran, bis nur wenige Zentimeter Luft zwischen ihnen sind.

„Nicht einmal für mich? Für Cordelia, unsere Gewinnerin?“ Seine Hand gleitet in ihre und er zieht sie an seine Lippen, um einen zarten Kuss darauf zu hauchen. „Tita, Liebes, du würdest mich damit sehr glücklich machen.“

Zwischen ihren Augenbrauen zeichnet sich eine Falte ab. „Du weißt, dass ich alles für dich tun würde“, sie leckt sich die Lippen, „aber es ist noch zu früh in den Spielen, um so viel Geld zu setzen. Ich muss sehen, wie es sich entwickelt, wenn ich nicht wie Iphi enden will.“

Normalerweise zieht diese Taktik, aber er gibt nicht auf. Er schenkt ihr seinen besten, traurigen Blick, den er fast genauso gut drauf hat, wie das schmachtende Lächeln. „Tita, du brichst mir das Herz. Keine hat so wie du die Schönheit meines Distrikts erkannt, niemand ist so eine große Unterstützerin von uns, wie du.“

Ihre Hand in seiner wird zusehends schwitziger. „Oh Finnick, ich weiß, aber sieh mal ...“, sie lächelt vage, „Edy ist so früh gestorben, da musste ich überlegen, ob ich nicht noch einen anderen Distrikt ...“ Unsicher verklingt ihre Stimme. „Bitte, sei mir nicht böse.“ In ihren Augen schimmern doch tatsächlich Tränen.

Ruckartig lehnt Finnick sich zurück, in dem Wunsch möglichst viel Distanz zwischen sie zu bringen. Jetzt bricht sie ihm wirklich das Herz. „So dankst du es mir also“, sagt er anklagender als beabsichtigt. „Na schön, raus damit, mit wem gehst du mir fremd?“

Titania beißt sich auf die tiefrot geschminkten Lippen. „Du kannst dir sicher sein, dass ich niemals jemanden außer dir lieben würde ...“

„Du weißt, wie ich das meinte.“

„Distrikt zwölf.“ Sie weicht seinem Blick aus. „Ich hab mich wohl geirrt, was ihren Erfolg anging. Trotzdem!“ Fest drückt sie seine Hand. „Ich setze immer noch darauf, dass Cordelia gewinnt. Ich wette nur darauf, dass ein Tribut aus Zwölf es unter die letzten Acht schafft. Dann kann Cordelia ihnen den Rest geben.“

Widerstreitende Gefühle kämpfen in Finnicks Brust miteinander. Einerseits will er Titania stehen lassen, andererseits ist es immerhin Distrikt zwölf, dem das Geld zugutekommt. Am Ende aber ist klar, dass er sie natürlich weiter umgarnen muss, für Snow, für Annie.

Er entringt seiner Kehle ein trockenes Lachen. „Und du hast mich einen Dummkopf geschalten, weil ich dir gesagt hab, Distrikt zwölf wäre Konkurrenz. Sieh mal einer an.“ Einen Finger unter ihr Kinn gelegt, sieht er ihr fest in die Augen. „Dann wird es dich sicher freuen zu hören, dass ich heute ein interessantes kleines Gespräch mit Haymitch hatte. Aber pssst.“ Mit einem Zwinkern gibt er ihr einen kurzen Kuss. „Behalte das bloß für dich.“

In seinem Kopf fangen die Räder wieder an zu rattern, auf der Suche nach einem anderen Weg, dem obersten Spielmacher auf den Zahn zu fühlen. Für den Moment fällt ihm nichts ein, daher konzentriert er sich lieber darauf, das zu tun, worin er am besten ist: Titania Creed umgarnen.

„Also, Tita, welche Tiere möchtest du dir ansehen?“, fragt er sie, um das Gespräch wieder in angenehmere Bahnen zu lenken.

Erleichtert atmet sie auf. „Ich muss ehrlich sagen, ich war ewig nicht mehr im Zoo. Die Pinguine vielleicht? Als Kind mochte ich die immer am liebsten.“

Wie Annie, realisiert Finnick mit einem Stich im Herzen. Rasch schiebt er den Gedanken fort.

„Pinguine also!“ Er hält Titania seinen Arm hin und sie hakt sich ein.
 

Der Nachmittag verfliegt förmlich. Nach den Pinguinen, die gemächlich durch ihr Wasserbecken tauchen, sehen Finnick und Titania sich alle anderen Tiere an, die meisten davon eigene Züchtungen des Kapitols.

Viele von ihnen kommen ihm aus den Hungerspielen bekannt vor – große Raubkatzen und farbenprächtige Schlangen etwa. Aber so interessant wie die Pinguine ist sonst keins der Zootiere. Die kleinen weiß-schwarzen Geschöpfe schließt er ins Herz, sobald er ihr ungeschicktes Watscheln sieht.

Auch wenn Finnick sich bemüht, Titania geschickt zu umgarnen, scheint selbst diese sein außergewöhnliches Interesse an den Pinguinen bemerkt zu haben. Mehr zum Scherz kauft sie ihm im Andenkenladen des Zoos einen kleinen Stoffpinguin, als Andenken an den Tag.

Für gewöhnlich würde er sich albern vorkommen, doch nicht dieses Mal. Er beschließt, ihn Annie zu schenken, wenn sie endlich wieder frei ist. Näher wird sie den Pinguinen vielleicht nie kommen.

Vom Zoo aus fahren er und Titania direkt zum Hauptgebäude des staatlichen Fernsehsenders. Die Sonne versinkt in der Ferne hinter den gläsernen Hochhäusern und sobald sie die kühle Lobby betreten, verschwindet der letzte Rest Wärme, den Finnick im Zoo empfunden hat.

Umgeben von Tieren und endlich außerhalb des Trainingscenters sind die Hungerspiele in die Ferne gerückt, aber angesichts der fleißigen Vorbereitungen auf die abendliche Show kehren alle seine Sorgen um Cordelia mit voller Wucht zurück.

Er verabschiedet sich von Titania, zumindest bis zum Ende der Veranstaltung. Danach wartet zweifellos eine weitere Nacht in ihrem Bett auf ihn.

In seiner Garderobe erwartet ihn dafür Cece, einen vorwurfsvollen Ausdruck im Gesicht.

„Finnick, schön, dass du dich auch nochmal blicken lässt“, pfeffert sie ihm entgegen. „Sieh lieber zu, dass du dich anziehst, in diesen Sachen können wir dich ja schlecht auf die Bühne lassen.“

Verwundert sieht er die Betreuerin an. Laut der Uhr auf einem Display an der Wand ist es noch eine Stunde bis zum großen Auftakt.

„Ist irgendwas passiert, Cece?“

Sie schnaubt. „Ich hätte dich gerne vorbereitet auf dieses Interview! Oder braucht der große Finnick Odair seit Neustem keine Vorbereitung mehr?“

Er zieht sich sein Oberteil über den Kopf und Cece dreht sich taktvoll von ihm weg.

„Ist heute Abend irgendetwas anders, als in den letzten – lass mich überlegen – zwanzig dieser Sendungen?“

Zwar sieht er ihren Gesichtsausdruck nicht, dafür hört er, wie sich ihre Nasenflügel vor Entrüstung aufblähen.

„Jede Sendung ist einzigartig“, faucht sie. „Du musst für alle Eventualitäten gewappnet sein!“

Seufzend schlüpft er in das steife Hemd, das Roan für ihn designt hat und zieht das glänzende Jackett drüber. „Cece, es tut mir leid. Aber du weißt, Tita –“

„Oh, jetzt komm mir nicht mit deiner Liebschaft!“ Sie wirft einen Blick über die Schulter, um zu sehen, ob er fertig ist, sieht aber hastig weg, als er seine Hose runterzieht.

Finnick ist sich nicht sicher, ob es nur seine Abwesenheit ist, die sie so angefressen hat oder ob es etwas gibt, das sie ihm verschweigt.

„Lieb, dass du dir Sorgen machst, aber ich weiß schon, was ich tue. Das ist nicht die erste Arenanacht und auch nicht die letzte.“ Er zieht die Hose an und betrachtet sein Spiegelbild. In einem Anflug von Selbstironie schneidet er eine Grimasse. Titania wird der neue Anzug sicherlich gefallen.

Cece hat sich mittlerweile umgedreht und beäugt ihn kritisch. „Nein, es ist nicht dein erster Auftritt. Und trotzdem gibt es Dinge, die selbst gestandene Mentoren aus der Bahn werfen können.“

Misstrauisch zieht Finnick seine Augenbrauen zusammen. „Die da wären?“

Mit einem kleinen Seufzer wendet Cece sich wieder von ihm ab. „Ich sag einer der Stylistinnen Bescheid, dass sie sich um dein Make-Up kümmern soll.“ Ohne weitere Worte verschwindet sie aus der Garderobe.

Jetzt ist er sich sicher, dass sie ihm etwas verschweigt. Nur was?

Bis zum Beginn der Sendung wartet Finnick in seinem Raum, während er auf einem kleinen Bildschirm die Spiele verfolgt. Seit dem Mittag ist nichts Nennenswertes in der Arena geschehen.

Cordelia und die Karrieros haben ihre Vorräte zu einer Pyramide aufgetürmt, umgeben von den frisch verbuddelten Tretminen. Flickermans Show wird heute Abend höchstwahrscheinlich das Spannendste an den Hungerspielen sein.

Ein Gong ertönt – das Zeichen, dass alle sich auf der Bühne einzufinden haben. Da Cece nicht mehr zurückgekommen ist, macht Finnick sich alleine auf den Weg. Im Gewühl vor den Studiotüren findet er sie ebenso wenig, dafür ein paar andere Bekannte.

„Bitte begeben Sie sich sofort auf ihre Plätze, in einer Minute sind wir live“, herrscht eine Angestellte des Senders die Menge an und hastig suchen alle ihren Sitzplatz.

Erfreut stellt Finnick fest, dass er neben Beetee gelandet ist und keinem Sponsoren. Sie tauschen ein knappes Lächeln, da senkt sich bereits Dunkelheit über die Bühne. In allerletzter Sekunde huscht noch jemand auf den Platz zu Finnicks anderer Seite. Er hört das Klimpern von Armreifen.

„Hast dir ja ganz schön Zeit gelassen, Cece“, murmelt er aus dem Mundwinkel.

Keinen Augenblick zu früh, denn mit einem lauten Brummen erwachen die Scheinwerfer zum Leben. Geblendet kneift er die Lider zusammen.

„Herzlich Willkommen zur ersten großen Arenanacht“, brüllt Caesar Flickerman.

Finnick aber hat nur Augen für die Person neben ihm – die nicht Cece ist. Es ist Annie.

Scherben der Erinnerung

Das Lächeln in Tias Gesicht, als sie mein Zimmer betritt, lässt nichts Gutes ahnen. Offenbar hat sie etwas Neues gefunden, mit dem sie mich foltern kann – oder festigen, wie sie es nennt.

Obwohl ich den Prozess mittlerweile gewöhnt bin, verfolge ich jede ihrer Bewegungen argwöhnisch.

Wie immer schaltet sie summend die Leinwand gegenüber vom Bett ein.

Ein neuer Ausschnitt der Arena, den ich nicht zuordnen kann, wird gezeigt. Heftiger Regen prasselt auf zwei Tribute ein, die sich ihre Kapuzen tief ins Gesicht gezogen haben. Den Spielmachern ist wohl langweilig, wenn sie solche Wetterextreme hervorrufen.

Ein Blitz erhellt die Gegend und ich erkenne eine steinige Ödnis. Wo sind wir bloß in der Arena? Zu der waldigen Umgebung, die ich erst vor kurzem gesehen habe, passt es nicht.

Mühsam erklimmen die Tribute einen schmalen Felsvorsprung.

Mein Herz schlägt schneller. Etwas daran kommt mir nicht richtig vor.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Plateaus taucht eine andere Gestalt auf. Schon bevor der nächste Blitz die Szenerie beleuchtet, weiß ich, dass sie rote Haare und Sommersprossen hat.

„Victoria!“

„Nein“, stöhne ich, beim Anblick des kleinen Tributs, der auf seine ehemalige Verbündete zuläuft. Ich habe diese Aufnahme nie zuvor gesehen und erkenne trotzdem, was geschehen wird.

Es sind nicht die 74. Hungerspiele, sondern die 70. Spiele. Meine Hungerspiele.

Mich selber zu sehen, Momente bevor die Welt für immer zerbricht, ist ein eigenartiges Gefühl. Alles was passiert, ist fest in meine Erinnerung eingebrannt, und trotzdem ist die Perspektive neu.

Ich bin unfähig, wegzusehen, als die Kameras Pon zeigen. Sein strahlendes Gesicht erinnert mich so sehr an Edy. Ich schluchze, bevor überhaupt etwas geschehen ist. Er hätte nie sterben dürfen. Selbst nach all den Jahren kann ich mir nicht vergeben, ihn nicht gerettet zu haben.

Von Schmerzen gepeinigt sehe ich zu, wie wir drei Tribute uns begrüßen. Vermeintliche Verbündete, die einander scheu gegenüberstehen, bis Pon die Spannung löst.

„Vic! Ich bin so froh, dich gefunden zu haben!“

„Oh Pon“, erwidert das Mädchen, ihr eigenartig verzerrtes Lächeln erleuchtet von einem Blitz, „auch ich bin froh.“

Dieses Mal ist der Schmerz verdient. Könnte ich nur diese jüngere Version von mir anschreien, nicht so zögerlich zu sein. In ihrem – meinem – Gesicht sehe ich die Angst vor Victoria, die ein gewaltiges Messer in der Hand hält und doch stolpert sie nur hilflos einen Schritt nach vorne, anstatt Pon beiseite zu stoßen.

Ich erinnere mich genau, ihn von ihr fortstoßen zu wollen, aber jede Bewegung war viel zu langsam, als hätte sich die Luft in klebriges Gelee verwandelt.

In der Aufnahme sehe ich meine kleine Gestalt ihre Arme ausstrecken, nur Sekunden zu spät, nicht die Ewigkeiten, nach denen es sich anfühlte.

Wie schon bei Edy, passiert es am Ende schnell. Victorias Machete zischt durch die Luft. Der Kanonendonner geht beinahe im Donnergrollen unter.

Ich schreie wie ein verwundetes Tier, heute wie damals.

Mein altes Ich macht ihren letzten Atemzug, als sie Pons Speer in das Herz seiner Mörderin bohrt und alles verrät, woran sie jemals glaubte. Wie in einem Spiegel sehe ich mich schreiend zusammenbrechen. Tia und unsere Umgebung sind vergessen.

Eiskalter Regen durchweicht meine Kleidung, doch das ist egal. Vor mir liegt Pons Leichnam.

Ich halte ihn in den Armen, wiege seinen Körper wie ein kleines Kind. Bleib bei mir, versuche ich zu flehen, aber es kommen keine Worte aus meiner Kehle. Sein Kopf ist fort, einfach weg. Ich stoße die leblose Erinnerung an ihn von mir und kralle die Finger stattdessen in die Unterarme.

Ich will den Schmerz spüren, bohre die Fingernägel tief ins Fleisch, bis warmes Blut sich mit dem Regen vermischt. Vielleicht vergeht es dann. Ich presse meinen Kopf zwischen die Knie, um alle Geräusche zu vertreiben. Womöglich hört die Welt so auf, sich zu drehen.

Eine Lüge zum Überleben. Die Erinnerungen bohren sich wie Glasscherben ins Herz, zerreißen es und lassen mich verbluten. Dieser Schmerz ist für immer Mein.
 

Aus tiefster Dunkelheit klettere ich empor. Blinzelnd kämpfe ich um Orientierung. Über mir erstrahlt die weiße Decke im Licht einer grellen Leuchtröhre. Was ist geschehen?

Verwundert lasse ich den Blick durch das sterile Zimmer wandern. Nur mein Atem ist zu hören. Konzentriert auf dieses vertraute Geräusch forsche ich nach Anhaltspunkten. Mir scheint, ich müsse tot sein, aber hier bin ich und lebe, atme, denke.

Ich war in der Arena – halt, nein, das ist eine Aufnahme gewesen. Ein wichtiger Unterschied. Die Spiele sind Vergangenheit.

Zögerlich lasse ich den Gedanken an Pon zu. Aber nicht nur diese Erinnerungen kehren zurück, sondern auch die an meine Muschel daheim, am Muschelbaum.

Fast ein Jahr her, dass ich sie gemeinsam mit Finnick aufgehängt habe. Ob Wind und Wetter sie schon abgetragen haben? Falls ja, dann haben die guten Wünsche Pon erreicht. Vielleicht hat er mir längst vergeben. Ich hoffe es inständig.

Wenn ich etwas habe, wofür es sich lohnt, weiter zu leben, sind es die anderen Sieger, Isla – und Finnick. Die Menschen, die ich liebe. Der Gedanke wärmt mein Herz. Ich habe die Hungerspiele überlebt. Dann werde ich das hier ebenfalls überleben.

Diese neue Entschlossenheit wird jedoch mehr als einmal auf die Probe gestellt. Alle paar Stunden kommt Tia herein und zeigt mir Pons Tod, wieder und wieder, wie schon bei Edy.

Die Angst vor dem Schmerz ringt in meiner Brust mit der unendlichen Trauer. Tias Fragen schlagen ein wie Geschosse, mit jedem weiteren Mal vorwurfsvoller.

Ich versuche, mir die anderen Sieger vorzustellen, wie ich wieder bei ihnen bin und klammere mich an diese erfundene Glückseligkeit. Im Kopf beschwöre ich unseren Garten hinauf und bilde mir den Geschmack von frischen Erdbeeren auf meiner Zunge ein, anstelle des Gummistücks. Ich rufe mir das Gefühl der kühlen Erde unter den Fingern in Erinnerung, genauso wie das Summen der Insekten.

Trotzdem fällt es mir schwer, die Emotionen zurückzuhalten. Nicht nur hinsichtlich Pon, sondern auch mir gegenüber. Wegen dem, was ich Victoria angetan habe, deren Stimme in meinem Kopf Rache nimmt.

Ich verabschiede mich von dem unschuldigen Mädchen, das so gerne mit ihrem Vater fischte. Das am Meer saß und Blumenkränze flocht. Das in ihrer kleinen, halbwegs heilen Welt, zufrieden war. Sie ist fort, für immer.

Ich bin jemand Neues, aber das ist in Ordnung. Bei dem Gedanken an Finnick wird klar, dass ich trotzdem glücklich bin. Nur anders als vorher. Es gibt Sachen, für die es wert ist, zu leben, für die es sich lohnt, die Panik zu überwältigen.

Cordelia ist ebenfalls Teil meiner Vorstellung. Für sie muss ich stark sein, damit sie eine Chance hat. Und wenn sie weg ist – dann für alle, die danach kommen. Tue ich das nicht, gewinnt das Kapitol.

Und da lässt Tia endlich von mir ab. Sie verschwindet nach einer Sitzung und taucht nicht mehr auf. Wie lange ich daliege, den Blick auf die Decke gerichtet und doch nichts sehend, ist schwer zu sagen. Die Nebelfinger, inzwischen alte Bekannte von mir, lähmen meinen Körper, aber nicht den Verstand. Im Kopf habe ich mich eng zusammengerollt, eine dicke Decke aus Watte um das Bewusstsein gewickelt. Mags wäre stolz.

Der Zustand endet damit, dass Dr. Gaia Gaul ohne Vorwarnung auftaucht. Anders als Tia, lächelt sie bei meinem Anblick nicht, sondern seufzt nur.

„Hallo Annie“, sagt sie leise und mustert mich wachsam. „Ich habe gute Neuigkeiten für dich. Du hast es hinter dir. Tia meint, dass du bereit bist.“

Ich brauche einen Moment, um meinen Blick auf sie zu fokussieren.

„Bereit?“, krächze ich. „Wofür?“

Die junge Ärztin dreht geistesabwesend einen ihrer Ringe zwischen den Fingern. „Mit der Wirklichkeit konfrontiert zu werden.“

Mehr Szenen aus den Spielen. Ermattet lasse ich den Kopf zurück ins Kissen sinken und ziehe die mentale Schutzdecke wieder enger.

„Ich bringe dich zu deinem Vorbereitungsteam.“

Es dauert, bis die Worte zu mir durchsickern. Vorbereitungsteam. Das hat nichts mit der heimlichen Folter hier zu tun. Dafür muss ich nicht gut aussehen. Aber wofür dann?

„Was?“, frage ich Dr. Gaul verwirrt.

„Eigentlich sollten Friedenswächter dich hinbringen, aber ich dachte, das kann ich auch erledigen und dich schon ein wenig darauf ... einstimmen.“

Eine wirkliche Erklärung ist das nicht. Wieder versuche ich, mich aufzurichten, damit ich die Ärztin ansehen kann.

„Oh, entschuldige“, sagt sie beim Anblick meiner Verrenkungen, „lass mich erst die Restriktionen entfernen.“ Routiniert löst sie die Fesseln.

Endlich sitze ich wieder aufrecht. Erschöpft reibe ich die schmerzenden Handgelenke, während Dr. Gaul ein Paket neben mir ablegt. Neue Kleider, klärt sie auf. Etwas zu essen hat sie ebenfalls dabei, dieses Mal jedoch nur unappetitliche Riegel aus einer definitionslosen Masse. Es ist das erste Gericht im Kapitol, das nicht schmeckt. Trotzdem sättigen sie, sehr sogar.

Ich lasse den Blick unauffällig zu der Kamera gleiten. Wieder ist das rote Licht aus. Was hat diese Frau vor?

Solange ich esse, sitzt Dr. Gaul lediglich neben meinem Bett und spielt gedankenverloren an ihrem Ring herum.

„Also, Annie, Tia hat deinen Auftritt heute Abend bei Caesar Flickermans Arenanacht freigegeben. Das Programm ist dir sicher ein Begriff.“

Natürlich kenne ich es, jeder in Panem ist damit vertraut – schließlich ist es Pflichtfernsehen. Die Show findet drei, vier Mal abends statt und immer sind unterschiedliche Gäste geladen, die über die aktuellen Hungerspiele diskutieren.

„Keine Sorge, außer dir werden noch viele andere Leute da sein. Dein Redeanteil sollte nicht allzu groß ausfallen. Wichtiger ist, dass du eine fröhliche Präsenz zeigst. Nach deinem ... Zwischenfall während der Eröffnungszeremonie sorgen sich viele um dich, daher wollen wir ihnen zeigen, dass es dir gut geht.“

Statt zu antworten schiebe ich mir noch ein Stück von dem Riegel in den Mund. Schon wieder soll ich den Zuschauern präsentiert werden. Leere macht sich in meinem Bauch breit. Ich fühle mich ausgebrannt. Allein bei dem Gedanken an eine Bühne voller Scheinwerfer, die alle auf mich gerichtet sind, verliere ich den Mut.

„Nachdem du gelernt hast, deine Panik zu unterdrücken, sollte es kein Problem sein, dort über die Spiele zu reden. Es werden ein paar Ausschnitte gezeigt, aber da der letzte Tag vollkommen ereignislos war, brauchst du dir keine Sorgen machen. Es ist ein harmloser Test, um zu sehen, wie du damit klarkommst. Selbstverständlich bekommst du vorher eine Spritze, nur um ganz sicherzugehen.“ Sie lächelt mich an. „Das Oxyfix hat gute Ergebnisse erzielt, daher vertrauen wir darauf, dass es eine zuverlässige Unterstützung im Genesungsprozess sein wird.“

Anscheinend weiß Dr. Gaul nicht, was sie sonst sagen soll, denn in der entstehenden Stille nickt sie bloß bestätigend. Unsere Blicke kreuzen sich kurz und ich spüre unverhohlenes Interesse in ihrem. Ich schaue wieder zu Boden, doch ihre Augen ruhen weiterhin auf mir.

„Du bist die erste Siegerin, die ich getroffen habe“, sagt sie unvermittelt, „aber du scheinst die Einzige zu sein, die –“ sie stockt.

Vorsichtig sehe ich zu ihr. Dr. Gaul hat den Blick in ihren Schoß gerichtet, genauer auf den Ring an ihrem Finger, den sie schon wieder vor und zurück dreht.

„Die Einzige, die so stark betroffen ist.“ Sie verzieht ihr Gesicht. „Die Einzige, die ich je so schreien gehört habe.“ Als hätte sie bemerkt, was sie tut, lässt sie von ihrem Ring ab und faltet die Hände im Schoß. „Ich frage mich nur, woran das liegt. Tia hat da ihre These, aber ich weiß nicht, ob ich dem zustimmen kann. In Anbetracht der starken Traumatisierung und der ungewöhnlichen Realitätsverschiebung ...“

Dr. Gaul bemerkt meinen Blick, der sich bei ihren letzten Worten unweigerlich verdunkelt hat. „Es tut mir leid, das ist vermutlich taktlos, so über dich zu reden. Ich will nur unbedingt fragen – weil ich nicht weiß, ob wir uns je wiedersehen – naja, ich frage mich halt, was du über deine ... Reaktion denkst?“

Sie beißt sich auf die Unterlippe, doch in ihren Augen brennt die Neugier.

Ich kaue auf einem Bissen des pappigen Riegels herum, unsicher, ob ich antworten soll. „Ich weiß nicht, wie es anders wäre“, sage ich schließlich, „aber jeder von uns Siegern hat seine eigenen Probleme. Ich will nicht tauschen, oder so. Es ist einfach ... Ich. Ein Teil von mir.“

Bedächtig nickt Dr. Gaul. „Interessant“, murmelt sie, ehe sie mich wieder anlächelt. „Entschuldigung, manchmal geht die Forscherin mit mir durch. Wie dem auch sei, wenn alles gut läuft – dann darfst du heute zurück ins Trainingscenter.“

Bei diesen Worten verschlucke ich mich fast an meinem Essen. Irgendwie hatte ich erwartet, dass die Folter noch länger dauern würde. Auf einmal wird die Leere in mir von einem Gefühl der Vorfreude durchflutet. Bin ich heute Abend schon wieder bei den anderen? Hastig schlinge ich die letzten Bissen hinunter und ziehe die neuen Kleider an.

Dr. Gaul hat nicht gelogen. Sobald ich fertig bin, öffnet sie tatsächlich die Tür. Mir war nicht klar, wie wenig ich daran geglaubt habe, bis wir einen vorsichtigen Schritt über die Türschwelle setzen.

Vor uns liegt ein langer Gang voll weißer Türen, der nur von einigen nackten Leuchtstoffröhren an der Decke beleuchtet wird. Nach Krankenhaus sieht es kein bisschen aus. Ein stechender Geruch von Reinigungsmitteln kitzelt meine Nase und ich niese. Gespenstisch hallt das Geräusch zwischen den kahlen Wänden wieder.

Ich folge Dr. Gaul durch den scheinbar endlosen Gang. Unterwegs gibt es nicht das geringste Anzeichen, wo wir sind. An den Türen hängen keine Schilder, die mir einen Hinweis geben könnten. Wir scheinen die Einzigen in dem Trakt zu sein, zumindest begegnen wir niemandem. Nicht einmal ein Flüstern ist zu vernehmen.

Dr. Gaul kümmert das alles wenig. Sie lotst mich mit großen Schritten durch den Gang und seine Abzweigungen. Offensichtlich weiß sie genau, wohin wir unterwegs sind. Ich hingegen verliere bei der dritten Gabelung die Übersicht.

Die Ärztin plaudert fröhlich über die Hungerspiele, wie sehr sie die Tribute bewundert, und fragt mich zu der Mentorenarbeit aus. Ich antworte zumeist einsilbig, denn in Gedanken bin ich schon bei der Show heute Abend und versuche, mich für alle möglichen Geschehnisse zu wappnen. Für Cordelia muss ich den besten Auftritt hinlegen, das bin ich ihr schuldig.

Der Gang vor uns öffnet sich alsbald zu einem großen Raum, von dem weitere Türen und ein schmaler Weg abgehen. Etwas, das aussieht wie ein gläserner Käfig, steht auf einem Rollwagen in der Ecke, sonst ist auch hier alles eintönig weiß. In den Geruch nach Sauberkeit mischt sich ein anderer, unidentifizierbarer. Ich bin mir fast sicher, dass er aus dem Glaskasten wabert, dessen Boden mit einer dichten Schicht aus Stroh zu bedeckt sein scheint.

Dr. Gaul verzieht nicht einmal das Gesicht, von daher gehe ich nicht davon aus, dass es sie überrascht. Wir halten vor einer großen Flügeltür, die keinerlei Klinke oder Knauf hat. Sie fummelt einen Schlüsselbund aus der Tasche ihres Kittels, seufzt dann aber. „Verdammt!“ Verlegen sieht sie mich an. „Bitte warte doch hier kurz hier, ich hab den Zugangschip in meinem Büro liegen lassen. Ich bin sofort wieder da!“

Bevor ich den Mund aufgemacht habe, verschwindet Dr. Gaul bereits im Laufschritt um die nächste Biegung. Die Arme um den Oberkörper geschlungen, ziehe ich mich in eine Ecke, möglichst weit von dem merkwürdigen Glaskäfig entfernt, zurück. Es ist so leise, dass man die Fische sprechen hören könnte, wie mein Vater immer gesagt hat, wenn es ihm zu still war.

Schon bilde ich mir ein, ein Rascheln gehört zu haben. Misstrauisch sehe ich zu dem Käfig hinüber, erkenne aber nichts. Bestimmt ist es nur Einbildung. Ich muss über mich selber lachen. Wahrscheinlich höre ich wirklich die Fische sprechen. Es würde ausgezeichnet zu meinem Ruf als „Verrückte“ passen.

Doch lange dauert es nicht, bis ich tatsächlich Geräusche vernehme. Schwere Schritte poltern durch den schmalen Gang gegenüber von dem, aus dem Dr. Gaul und ich gekommen sind. Eine dunkle Stimme sagt etwas Unverständliches.

Sofort habe ich das Bild von Friedenswächtern vor dem inneren Auge, die gleich über mich stolpern werden. Mein Herz klopft schneller. Die Erinnerung an die Behandlung bei dem letzten Zusammentreffen mit Snows Soldaten ist noch präsent. Bloß weg hier, befiehlt die Angst mir.

Ich taste hinter mir über die nackte Wand, aber natürlich gibt es hier keine Deckung. Bis meine Fingerspitzen den Rahmen einer Tür streifen und einen kühlen Lufthauch wahrnehmen. Sie ist angelehnt, nur einen Spaltbreit, doch das bedeutet, ich habe eine Fluchtmöglichkeit.

Die Schritte sind fast bei mir. Wieder höre ich die herbe Männerstimme, diesmal klar und deutlich. „Kann’s gar nicht erwarten, wenn die Jammerlappen endlich krepieren. Das hält man ja im Kopf nicht aus.“

Als bräuchte es noch irgendeinen Grund, drücke ich die Tür auf und schlüpfe hindurch. Der Raum dahinter liegt in tiefer Dunkelheit. Bevor meine Augen sich daran gewöhnt haben, rieche ich es. Irgendwie holzig - und lebendig.
 

Starr blinzle ich in die Schwärze meiner Zuflucht. Hier drinnen bin ich nicht alleine. Bei dem Geruch regt sich eine Erinnerung, aber es braucht einen Moment, bis ich die Empfindung zuordnen kann. Nur einmal im Leben habe ich es gerochen und doch nie vergessen.

Gelbe Augen, schimmernder Pelz und scharfe Krallen blitzen in meinem Kopf auf. Ein Berglöwe. Nur eine von vielen monströsen Kreaturen, die unsere Arena terrorisiert hat. Aus seinem aufgerissenen Maul roch es genauso, als er sich auf mich und Aramis stürzte, um uns zu verschlingen.

Am liebsten würde ich aus dem Raum fliehen, wären da nicht die Männer, die nun genau vor der Tür zu stehen scheinen. Ich höre das Knarzen ihrer Schuhsohlen auf dem blanken Boden und dann, zu meiner Überraschung, eine helle, weibliche Stimme.

„Das ist der Letzte auf unserer Liste. Sein Sie bloß vorsichtig mit dem Käfig, nicht, dass er noch entwischt. Dann reißt Dr. Gaul uns allen den Kopf ab!“

Ein Quietschen ertönt. Vermutlich bewegen sie den Rollwagen.

Den Atem angehalten verharre ich im Dunkeln, während die Männer draußen darüber diskutieren, wer den Kasten anpackt. Anscheinend haben sie Angst, vor dem, was darin ist. Genauso wie ich mich fürchte, herauszufinden, in wessen Behausung ich gelandet bin.

Zaghaft lösen sich erste Schemen aus der Dunkelheit, als meine Augen sich an die Schwärze gewöhnen. Es scheint ein riesiger Raum zu sein, zumindest verliert er sich in den Schatten. Neben mir erkenne ich einen großen Käfig, nicht aus Glas, sondern aus metallenen Gitterstäben, von der Decke bis zum Boden. Für einen Berglöwen ist er zu klein.

Leises Flügelraschen erschreckt mich fast zu Tode. Ich presse mir die Hand auf den Mund, um das Keuchen zu ersticken.

Nur eine Armlänge entfernt von mir sitzt ein dunkler Vogel hinter dem Gitter und starrt mich an. In dem kalten Luftstrom, der von irgendwoher durch den Raum weht, fröstle ich. Es ist albern, aber ich lege einen Finger an die Lippen, in der Hoffnung das Tier stumm zu halten.

Der Vogel legt den gefiederten Kopf schief und hüpft näher an die Gitterstäbe heran. Er kommt mir vage bekannt vor, obwohl ich nicht glaube, dass er in Distrikt vier heimisch ist. Interessiert mustert er mich aus glänzenden Augen und breitet dann raschelnd seine Flügel aus, schwarz mit hellen Spitzen.

Ich kann nicht verhindern, dass er seinen Schnabel öffnet. Statt eines Krächzens oder Zwitscherns aber dringen Worte aus seiner Kehle. Menschliche Worte.

Ich behalte euch im Auge! Ich behalte euch im Auge!

Wie versteinert stehe ich da. Weitere Vögel hüpfen aus dem Dunkel und greifen den Schrei auf, wiederholen ihn in ihren eigenen Stimmen, die kein bisschen nach Vogelzwitschern klingen.

Den Krach können die Leute draußen unmöglich überhören. Gleich werden sie hereinplatzen und nachsehen, was vor sich geht! Mein Herz droht aus der Brust zu hüpfen. Ich sehe mich nach einer Zuflucht um.

„Diese verdammten Biester! Immer nur am rumschreien. Ich verstehe echt nicht, was Gaul an den Viechern findet. Am liebsten würd ich denen den Hals umdrehen, aber sie findet es auch noch witzig, denen solche Sprüche beizubringen.“

Das ist wieder die herrische Frauenstimme.

„Haltet den Schnabel“, brüllt sie laut. Offensichtlich haben die Schreie sie kein bisschen überrascht.

Die Vögel hören jedoch nicht auf sie, sondern übersteigern sich gegenseitig in einem unheimlichen Konzert aus immer demselben Satz. Ich behalte euch im Auge!

Von diesen Tieren habe ich nur in den Schulbüchern gelesen. Schnattertölpel. Die misslungene Züchtung des Kapitols, die zur größten Waffe der Rebellen in den dunklen Tagen wurde. Kein anderes Lebewesen ahmt die menschliche Stimme derart getreu nach.

„Lasst uns sehen, dass wir fertig werden“, keift die Frau draußen, „je eher, desto besser. Und seid vorsichtig! Wenn Puffin euch beißt, bin ich nicht schuld.“

Einer der Männer brummt etwas und sie setzen sich endlich in Bewegung. Ich höre wie sich ihre Schritte entfernen, ebenso wie das Quietschen des Rollwagens.

Mit ihnen schwinden auch die Rufe der Schnattertölpel. Einer nach dem anderen klappen sie ihren Schnabel zu. Nur der Erste, sitzt immer noch auf seiner Stange und mustert mich interessiert.

Ich habe alles unter Kontrolle, sagt eine glatte Männerstimme, als das Tier seinen Schnabel öffnet, und überhaupt, seit wann ist das Ihre Sorge? Sie versorgen uns mit den richtigen Bestien und das war’s. Wir hingegen werden den Leuten geben, was sie brauchen. Das wird sie beschäftigen - dann kehrt auch Elf bald zur Normalität zurück. Bis dahin werden diese Tiere einen großartigen Einsatz haben. Ich erwarte Ihren Bericht, wenn unser Prachtstück vorbereitet ist. Genug Probenmaterial sollten sie ja mittlerweile haben.

Erschrocken stolpere ich einige Schritte von dem Schnattertölpel fort, der mich unschuldig ansieht, ehe er sein Gefieder putzt. Was immer der Vogel da wiedergegeben hat, es ist sicher nicht für meine Ohren bestimmt.

Ein anderer Tölpel fängt jetzt an zu sprechen. Mit Tias Stimme.

Unterschätzen Sie es nicht. Die Sieger sind gefährlich. Sie geraten außer Kontrolle. Besser, das Problem wird schnell behoben. Wir können nicht alle ruhig stellen.

Mein Hals schnürt sich zu. Nein, das ist sicher nicht für Außenstehende gedacht. Ich sollte den Raum schleunigst verlassen, aber ich bleibe wie festgefroren stehen. Diese Informationen sind wertvoll, selbst wenn ich keine Ahnung habe, worum es geht. Gespannt warte ich, ob die Schnattertölpel noch mehr zu sagen haben.

Beschaffen Sie mir einfach die Wolfsmutationen. Um den Rest kümmern wir uns. Bald.

Ich presse mir die Hand noch fester vor den Mund. Dr. Gaul darf niemals erfahren, was ich gehört habe.

Schlimmer kann es nicht kommen, denke ich, doch weitgefehlt. Hinter mir erklingt ein kehliges Knurren.

Wolfsmutation, echot es durch meinen Kopf. Der Geruch, der so stark an einen Berglöwen erinnert, kommt mir wieder in den Sinn.

Langsam drehe ich mich um. Bloß keine hektischen Bewegungen.

Hinter mir ragt ein weiterer Käfig mit massiven Gitterstäben auf. Dazwischen leuchten zwei blaue Augen aus der Dunkelheit. Gerade so erkenne ich die Konturen eines gewaltigen, zotteligen Tiers, das die Zähne gebleckt hat.

Der Wolf ist riesig, beinahe so groß wie ich. Auf mächtigen Pranken schleicht er näher an das Gitter heran, bis er seine Schnauze zwischen die Stäbe pressen kann. Mit seinen ungewöhnlich hell strahlenden Augen taxiert er mich. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Ich habe noch nie einen Wolf gesehen, aber ich bin mir sicher, dass sie kleiner sind und ... ich kann es nicht wirklich bestimmen, doch er wirkt gespenstisch menschlich. Wieder grollt er leise.

Abwehrend trete ich einen Schritt zurück und halte die leeren Hände offen in seine Richtung, in der Hoffnung, ihn zu beruhigen. Ich traue mich nicht, beschwichtigend zu ihm zu sprechen, aus Angst, dass die Schnattertölpel meine Stimme aufzeichnen könnten.

Das Monstrum legt seinen pelzigen Kopf schief und sieht mich unverwandt an. Wenn ich nicht wüsste, dass es eine grausame Züchtung des Kapitols ist, die nur aufs Töten aus ist, würde ich fast sagen, dass er nachdenklich aussieht.

Ich schnappe laut nach Luft. Auf einmal erscheint es glasklar, was an dem Tier nicht stimmt. Die Augen, aus denen er mich mustert, sind die eines Menschen. Und nicht von irgendwem. Ich habe sie schonmal gesehen, in einem sommersprossigen Gesicht voller Angst. Ich habe das Licht in ihnen erlöschen sehen.

Die Mutation hat Edys Augen.

Ohne das Monster noch einmal anzusehen, stürze ich aus dem Raum. Keuchend sinke ich an der Wand neben der Tür zu Boden und versuche, die aufsteigenden Gefühle zu unterdrücken. Ein trockener Schluchzer bebt unaufhaltsam durch mich. Was haben sie Edy angetan?

Das Phantom der Schmerzen, die Tia heraufbeschworen hat, jagt durch jede Faser und hämmert in meinem Kopf. Denken ist unmöglich. Bloß eins ist klar – ich muss hier raus.

Irgendwie schaffe ich es, aufzustehen. Nervös versichere ich mich, dass die Tür hinter mir fest verschlossen ist und gehe dann auf wackligen Beinen zurück zu dem Flur, in dem Dr. Gaul verschwunden ist.

Bleib stark, fordere ich von mir selber, während mein Herz eine wilde Schiffsfahrt auf stürmischer See unternimmt. Nur, dass es ein niemals endender Sturz ins Wellental zu sein scheint.

Als Dr. Gaul kurze Zeit später auftaucht, rast es immer noch so heftig, dass ich fürchte sie bemerkt es, doch sie lächelt nur fröhlich und schwenkt triumphierend einen runden Chip.

„Jetzt können wir los. Oh, und wir sollten uns beeilen, wir wollen dein Vorbereitungsteam ja nicht warten lassen!“ Sie hält den Schlüssel vor ein kleines Panel in der Wand und die Tür gleitet auf, um den Blick in einen Fahrstuhl freizugeben. „Nach dir!“

 

Das Vorbereitungsteam erwartet uns in einem überirdischen Raum, der einfach ausgestattet ist. Eine große Badewanne wartet in der Ecke, mitsamt rosa Schaumkronen.

Kaum, dass Dr. Gaul und ich eingetreten sind, umschwirren die Stylisten mich aufgeregt schnatternd, zupfen mit gerümpfter Nase an meinen ungewaschenen Haaren und kommentieren die dunklen Augenringe.

Ich bekomme nicht einmal mit, dass Dr. Gaul geht, aber als ich mich umdrehe, ist sie verschwunden. Mit einem dumpfen Gefühl im Magen betrachte ich die geschlossene Tür. Was da unten geschehen ist, begreife ich nicht. Eins ist allerdings sicher: Ihr ist nicht zu trauen.

Sobald ich fertig gebadet bin, ist meine Haut wieder rosig und weich. Einzig dort, wo die Metallplättchen befestigt waren, sind von der Folter dunkelrote Flecken zurückgeblieben.

Ich bin nicht sicher, ob das Team irgendeine Ahnung hat, was sie bedeuten. Vivette lässt bei dem Anblick der Stellen an Schläfen und Handgelenken jedenfalls ein leises Seufzen hören.

„Oh je, da brauchen wir aber all unser Können, um das zu verstecken“, murmelt sie zu sich selbst.

Eifrig machen sie sich daran, verschiedene Puder in Grün auf die Stellen aufzutragen. Stück für Stück verschwinden so die letzten Spuren, die Tia an meinem Körper hinterlassen hat.

Endlich darf ich in den Spiegel sehen. Die Frau, die mich ansieht, scheint eine Fremde zu sein. Ihre Haare fallen in weichen Locken über die Schultern und auf ihren Wangen liegt ein zarter rosiger Schimmer. Als wäre nie etwas geschehen. Das Publikum bei Caesar heute Abend wird nicht einmal ahnen, wie es mir wirklich geht.

Eilig stopfen sie mich in einen Wagen, der direkt zum Studio fährt. Vor den Türen wartet bereits Cece, ein breites Strahlen im Gesicht.

Sie begrüßt mich überschwänglich und tatsächlich bin auch ich froh, sie zu sehen. Nach den Tiefen der Kellerlabore erscheint Cece mir wirklich freundlich.

In einer kleinen Garderobe drückt sie mir einen Stapel bedruckter Karten in die Hand, die ich lesen und mir einprägen soll.

Es dreht sich alles um Cordelia. Warum sie ein toller Tribut ist, ein Aufruf an die Sponsoren sie weiterhin zu unterstützen und so weiter. Nur mit einem Nebensatz wird erwähnt, wie tapfer Edy war und wie plötzlich sein Tod kam.

Irgendwie schaffe ich das schon. Hauptsache, wir kehren anschließend ins Trainingscenter zurück. Selbst die Spritze, die Cece mit einer Präzision, die ihr gar nicht ähnlich sieht, in meinen Unterarm setzt, ertrage ich pflichtschuldig.

Es dauert nicht lange, bis die Wirkung sich einstellt. Ergeben lasse ich mich von der Gleichgültigkeit einlullen. Je weniger ich heute Abend ich selbst bin, desto besser.

Bis zur letzten Sekunde präge ich mir den Text ein, sodass wir laufen müssen, um es rechtzeitig zur Bühne zu schaffen. Die übrigen Showteilnehmer sitzen bereits auf ihren Plätzen, als ich atemlos zu meinem Sessel husche.

„Hast dir ja ganz schön Zeit gelassen, Cece“, sagt eine nur allzu bekannte Stimme zu mir, kaum, dass ich sitze.

Trotz des Medikaments, das mir durch die Adern kriecht, macht mein Herz einen Satz. Ich war so sehr mit mir selbst beschäftigt, dass ich mich überhaupt nicht gefragt habe, wer außer mir an der Sendung teilnehmen wird. Mit Finnick habe ich nicht gerechnet.

Caesar Flickerman begrüßt die Zuschauer überschwänglich und die Scheinwerfer hüllen uns in gleißendes Licht, aber ich habe nur Augen für Finnick – und er für mich. Bestürzt starrt er zu mir herüber. Meine Gefühle sind ein reines Chaos.

Um uns herum nimmt die Show ihren Lauf und ich erinnere mich an die Bedingung, unter der ich ins Trainingscenter zurückdarf: Ein anständiges Interview ohne Ausfälle.

So schwer es mir fällt, ich wende meinen Blick von Finnick ab. Nach der Sendung, verspreche ich mir.

Die Show beginnt mit einer Einlage von irgendeiner Mentorin aus Distrikt eins, die ihr neustes Lied vorstellt. Begeistert schwenken die Zuschauer aus dem Kapitol kleine Leuchtstäbchen, während die Siegerin schmalzige Lobgesänge auf die Hungerspiele zum Besten gibt.

Von da aus eröffnet Flickerman die Diskussion zu den Spielen, vor allem über die Tribute, die gleich zu Beginn „ausgeschieden“ sind. Ich schaffe es, Ceces vorgefertigte Worte zu Edys Tod vorzutragen, als wäre es nichts. Wie ein Roboter antworte ich dem Moderator auf seine Fragen und zwinge mich zu allem Überfluss zu einem höflichen Lächeln in die Kameras.

Abgesehen davon spricht Flickerman zum Glück nicht mit mir. Wenn, dann ist er interessiert an der Meinung von Finnick, den er immer wieder ins Rampenlicht holt, unter dem begeisterten Kreischen einiger Zuschauerinnen.

Innerlich leer sitze ich da und fixiere den Perückenturm einer Zuschauerin in der ersten Reihe und warte nur darauf, dass es endlich vorbei ist. Bei jeder Szene aus der Arena werden meine Hände heiß und schwitzen, aber ich starre nur umso intensiver auf die hellblonden Kringel, die mit silbrigem Glitzerpuder bestäubt sind.

Zum Schluss wartet allerdings eine Überraschung auf mich.

Seneca Crane, der oberste Spielmacher höchstpersönlich, wird von Caesar Flickerman auf die Bühne gerufen. Er ist ein schlanker Mann mit einem exzentrisch gestutzten Bart in einem feuerroten Anzug. Ich weiß nicht wieso, aber es überrascht mich, dass er so jung ist.

Mit einer eleganten Verbeugung nimmt er seinen Applaus entgegen. „Meine Damen und Herren, es ist mir eine große Ehre, heute Abend hier zu Gast sein zu dürfen. Sie sind ohne Frage ein reizendes Publikum und darum will ich Sie in ein kleines Geheimnis einweihen.“

Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken, kaum, dass er den Mund aufmacht. Ich habe seine Stimme schon früher an diesem Tag gehört. Aus dem Schnabel eines Schnattertölpels.

Ich verknote meine Hände fest im Schoß, um sie vom Zittern abzuhalten. Er ist also verantwortlich für die Edy-Mutation. Abscheu wallt in mir auf.

„Die 74. Hungerspiele sind besonders, ohne Frage. Aber was sagen Sie, wenn ich Ihnen erzähle, dass wir uns noch eine Überraschung aufgehoben haben? Etwas nie Dagewesenes, das diese Spiele unvergesslich machen wird.“ Er legt eine kunstvolle Pause ein und scheint das angespannte Schweigen des Publikums zu genießen.

Ich fühle mich ohnmächtig, gefangen in diesem Körper und unfähig zu reagieren, während ich an das dunkle Kellerlabor denke. Der Spielmacher sieht harmlos aus, aber es ist definitiv seine Stimme, die angekündigt hat, das „Problem“ mit den Siegern zu bereinigen.

„Oh bitte“, fleht Flickerman im Namen aller Zuschauer, „spannen Sie uns nicht so auf die Folter!“

„Na gut, Caesar“, lacht der Spielmacher, „in diesem Jahr wird es erstmals eine Regländerung geben.“

„Eine Regeländerung?“, fragt der Moderator mit so ehrlicher Verwunderung, dass ich ihm glaube. Auf den Rängen wird leises Flüstern laut. Auch auf der Bühne werden fragende Blicke getauscht. „Welche Regel?“

„Das, meine Damen und Herren, liegt in Ihren Händen“, erklärt Seneca Crane. „Sie im Kapitol haben die Wahl. Was wollten Sie schon immer ändern? Wir werden in Kürze eine Liste mit Vorschlägen veröffentlichen, aus denen Sie für ihren Favoriten stimmen können.“

„Wie aufregend“, platzt aus Caesar Flickerman genau das heraus, was wir alle denken. In 74 Jahren Hungerspielen ist dies eine Premiere. So etwas gab es noch nie. Manch einem Zuschauer steht vor Überraschung sogar der Mund offen. Für den Moment ist mein Hass gegenüber dem Spielmacher vergessen.

„Natürlich sind wichtige Grundregeln davon ausgenommen“, ergänzt Crane. „Wir wollen ja schließlich nicht den Grundgedanken der Spiele missachten. Genauere Informationen entnehmen Sie bitte dem Infotext, den wir auf ihren Fernsehgeräten bereitstellen.“

„Und ... wann wird diese Änderung eingeführt?“, fragt Flickerman begierig.

„Das“, entgegnet Crane mit einem selbstzufriedenen Grinsen, „werden wir Spielmacher entscheiden. Und auch erst dann werden Sie erfahren, welche Regeländerung gewonnen hat.“

Ohrenbetäubender Applaus wird dem jungen Mann zuteil, so laut, dass Caesar Flickermans verzweifelte Abmoderation kaum zu hören ist. Wie betäubt sitze ich da, bis die Scheinwerfer erlöschen und eine Angestellte des Senders uns mit deutlichen Worten hinauskomplimentiert.

Finnick! Ich sehe mich in der Menge an Leuten nach ihm um. Er ist direkt vor mir. Eilig dränge ich in diese Richtung und will gerade seinen Arm ergreifen, da erkenne ich Titania Creed, die großzügige Sponsorin, die zielgerichtet auf ihn zukommt.

Ich lasse die Hand sinken und sehe stattdessen zu, wie sie gierig einen Arm um ihn legt. Kichernd flüstert sie etwas in sein Ohr. Er schickt sich an, mit ihr fortzugehen, dreht sich dann aber noch einmal um.

Unsere Augen treffen sich und falls ich Zweifel hatte, sind sie wie weggewischt.

Die Unglücklichkeit steht in seinem Gesicht geschrieben, doch Titania Creed lässt ihm keine andere Wahl. Mit einem letzten besorgten Blick in meine Richtung geht er langsam von dannen. Ich bin frei, aber Finnick nicht.

Wie gerne würde ich jetzt wieder weinen.

Tausendfach zerbrochen

Der verletzte Blick in Annies Gesicht geht ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er wollte sie aus allem raushalten, aber stattdessen ist sie jetzt tiefer in diese Sache verstrickt, als ihm lieb ist. Zum ersten Mal, seit sie ein Paar sind, ist er sich nicht sicher, ob ihre Beziehung eine gute Idee ist. Was hat sie seinetwegen durchgemacht?

Wenn das Kapitol sie verletzt hat, dann haben sie ihre Spuren sorgfältig getilgt. Nicht ein einziger Kratzer verunstaltet sie, das haben sie auf der Bühne bewiesen. Aber tief in Annie drinnen, hat er einen Sprung in ihrer Seele gesehen. Er erkennt es in der Art wie sie sich bewegt, wie sie ihren Kopf hochgereckt hält und mit ihren Augen doch in eine andere Welt blickt.

Endlich ist sie wieder frei, nur, damit das Schicksal Finnick einen ungnädigen Streich spielt und ihn tiefer in die Arme von Titania Creed schubst. Vor Annies Augen. Was das für sie bedeutet, will er sich gar nicht vorstellen.

Seufzend starrt Finnick in das nachtschwarze Fenster, in dem sich sein jämmerliches Selbst spiegelt. Nackt sitzt er auf der Bettkante und fühlt sich so zerbrechlich wie seit langem nicht. Je mehr seines Körpers dem Kapitol gehört, desto weniger erträgt er den Anblick. Gleichmäßig gebräunte Haut spannt sich über den harten Muskeln, die er sich in Jahren des Trainings erarbeitet hat, nur um den Leuten, die sich einen Dreck um ihn scheren, besser zu gefallen.

Von dem einfachen Jungen, der von der Hand in den Mund lebte, ist nichts mehr übrig. Die zarten Sommersprossen, die nach einem wolkenlosen Sonnentag seine Schultern zierten, sind schon lange weg. Die kleine Narbe an seinem Schlüsselbein, von einem unachtsam ausgeworfenen Angelhaken – ebenfalls fort. Auch die Lücke zwischen seinen Schneidezähnen ist dem Perfektionismus zum Opfer gefallen.

Wieder einmal fragt er sich, wie viel an ihm wirklich er ist. Oder ob am Ende alles nur dazu dient, seine Liebschaften – seine Schänder – zufriedenzustellen. Ob Finnick Odair nur eine große Lüge ist.

Gedankenverloren spielen seine Finger mit dem Gürtel des Bademantels, der achtlos weggeworfen zu seinen Füßen liegt. Wie von alleine schnürt er einen komplizierten Knoten in das Stoffband, um ihn sogleich wieder zu entwirren.

„Fin, willst du lieber Wild oder Fisch?“, ruft Titania aus dem angrenzenden Wohnzimmer.

Bei dem Klang des Spitznamens zuckt er unwillkürlich zusammen. Niemand, außer Annie, darf ihn so nennen. Trotzdem scheint Titania es sich in den Kopf gesetzt zu haben, ihn neuerdings damit zu necken.

„Egal, was immer dir schmeckt“, ruft er leidenschaftslos zurück und windet einen neuen Knoten. Ihm ist unbegreiflich, warum sie schon wieder an Essen denkt. Es ist schließlich nicht so, als wären während der Arenanacht keine Häppchen an die Zuschauer in der VIP-Lounge verteilt worden. Andererseits merkt Titania nie, wann es genug ist.

Er hört, wie sie leiser eine Bestellung ins Telefon murmelt. „Brauchst du noch lange?“

„Bin sofort bei dir!“ Sein Blick fällt auf den verknoteten Bademantelgürtel. Aus irgendeinem Grund treten ihm schon wieder Tränen in die Augen. Er kann Annie nicht vergessen, wie sie ihm voller Schmerz nachblickt.

Bisher war das Verdrängen von jeder Erinnerung an sie das Letzte, was ihn bei seinen nächtlichen Ausflügen über Wasser gehalten hat. Wenn er sich eingeredet hat, dass es sie nicht gibt, nur für eine Nacht, konnte er seinen Körper hergeben, als wäre er nichts wert.

Doch dieses Mal gelingt ihm das nicht. Heute kann er sich Titania nicht ergeben, egal wie sehr sie ihn zu reizen versucht. Weshalb sie jetzt im Nebenzimmer ist und ihnen Essen bestellt. Aber länger wird er sie kaum hinhalten können. Es muss weitergehen, irgendwie.

Mit einem Ruck löst er den Knoten auf und zieht den Bademantel an, bevor er eine kleine weiße Dose vom Nachtisch nimmt. Nur eine Pille und dann läuft alles wieder nach dem Plan des Kapitols. In all den Jahren ist es nie soweit gekommen, dass er eine der blauen Tabletten, die Cece ihm einst wortlos zugeschoben hat, nehmen musste.

Er öffnet die Dose und schüttelt sich eine kleine Kapsel in die Handfläche. Den Kopf in den Nacken gelegt, würgt er sie hinunter und kippt noch einen Schluck kaltes Wasser hinterher. Eine Stunde, steht auf der Packung, bis die Wirkung einsetzt.

In diesem Moment kommt Titania ins Schlafzimmer, in nichts als einen seidenen schwarzen Morgenmantel gehüllt, der einen tiefen Einblick in ihr üppiges Dekolletee gewährt.

„Ich hab einfach beides genommen“, verkündet sie und lehnt sich aufreizend in den Türrahmen.

„Gute Wahl“, brummt Finnick zurück und lässt das Medikamentendöschen schnell in eine Tasche des Bademantels gleiten.

Da er Titania keinen zweiten Blick schenkt, gibt sie ihre unbequeme Pose auf und kommt auf ihn zu. „Was ist los?“, fragt sie, während sie nach dem Gürtel seines Mantels greift und ihn zu einem ordentlichen Schleifchen verknotet. „Ich merk das doch, irgendwas ist anders, als vorhin.“ Sie legt kritisch ihre Stirn in Falten. „Ist es die Sache mit der Regeländerung?“

Dankbar nimmt er die Ausrede an. „Tita, Liebes ... es tut mir leid.“ Er seufzt, diesmal jedoch mit Berechnung. „Die Sache will mir einfach nicht aus dem Kopf. Ich überlege schon die ganze Zeit, was wohl passieren wird. Ob es eine Chance für uns wird. Wir haben schon Edy verloren ...“

Den Rest des Satzes lässt er absichtlich in der Luft hängen. Es ist nur die halbe Wahrheit. Die Sorge hat die Regeländerung, ganz gleich wie ungewöhnlich und aufregend, in seinen Hinterkopf verbannt. Nur eine Sache mehr, über die er sich beizeiten den Kopf zerbrechen muss.

In Titanias Augen aber tritt ein Funkeln. „Du hast recht, es könnte ganz neue Möglichkeiten für euch eröffnen.“ Mit einem Lächeln, das ihm nicht behagt, drängt sie sich an ihn. „Überleg nur, was alles passieren könnte! Seit der Verkündung muss ich die ganze Zeit überlegen, wie ich den Spielmachern einen Vorschlag unterbreiten könnte. Ich hab bestimmt schon fünf Ideen – aber das muss sitzen! Ich will, dass sie meine Idee nicht ausschlagen können.“

„Ich bin sicher, ein Vorschlag von dir kann nur umwerfend sein.“

Titania sieht aus wie eine Katze kurz vor dem Sprung auf den fangfrischen Fisch. „Vielleicht sollte ich dir beim Essen mehr von meinen Ideen erzählen?“ Sie zwinkert ihm zu und stolziert mit einem Hüftwackler zurück ins Wohnzimmer. Nun, wenigstens kann sich dieser Abend noch als nützlich erweisen.
 

Das Essen ist sicherlich gut, doch für Finnick schmeckt es schon seit langer Zeit alles gleich. Er überlässt einen Großteil seiner Portion Titania, die es nicht einmal zu bemerken scheint, dass er nur auf seinem Teller herumstochert. Gierig schlingt sie die Gerichte herab und als es zu viel wird, genehmigt sie sich ein kleines Gläschen von dem Wundermittel, das einen weiter essen lässt.

Sie sind gerade beim Nachtisch angelangt – eine süße Creme mit frischen Erdbeeren – da wird der Ton des Fernsehers unvermittelt lauter.

Finnick hat sich schon lange daran gewöhnt, dass im Kapitol die Flimmerkiste den ganzen Tag in Dauerschleife läuft, und hat ihm keine Beachtung geschenkt. Über alles Wichtige wird er durch sein Tablet auf dem Laufenden gehalten und das liegt mit schwarzem Bildschirm auf dem Tisch vor ihm.

„Wer hat mein Messer genommen?“, vernimmt er eine fordernde Stimme. „Wer von euch?“

Überrascht wandert sein Blick zur flachen Leinwand, die eine komplette Seite des Raums in Beschlag nimmt.

„Wer auch immer der Idiot ist, er rückt besser mein Messer raus“, ruft ein zorniger Cato, der mit geballten Fäusten vor dem Füllhorn steht. „Und zwar sofort!“

Titania gibt ein aufgeregtes Keuchen von sich und dreht den Fernseher lauter.

Die Karrieros sitzen ebenfalls zum Abendessen beisammen und rösten ein paar ihrer Vorräte über dem Lagerfeuer. Cordelia sitzt zwischen Glimmer und Clove. Sie sieht elend aus, mit tiefen Ringen unter den Augen, aber abgesehen davon fit. Mit stillem Vorwurf im Blick mustert sie Cato, sagt allerdings nichts, sondern isst ungerührt weiter ihr Brot.

Der kleine Junge aus Distrikt drei hingegen ist bleich im Gesicht. „Ich habe es nicht Cato, ich schwöre“, piepst er, an Panik grenzend. „Aber du kannst meins haben!“

Der große Karriero schnaubt undankbar. „Klappe, Jaxley. Dein Buttermesser kannst du behalten. Ich will mein Messer wieder haben.“

Als bräuchten seine Worte weiteren Nachdruck, lässt er die Fingerknöchel knacken. Sein Blick wandert die Runde der Verbündeten entlang. Finnick meint zu merken, dass er bei Cordelia kurz innehält. Doch schlussendlich kommt er auf Peeta zu ruhen, der als einziger nichts isst, sondern ein paar Schritte abseits auf einer Vorratskiste sitzt und seinen verletzten Arm neu verbindet.

„Oooh“, haucht Titania leise, „das verspricht aufregend zu werden.“ Vor lauter Spannung vergisst sie sogar, den Löffel zum Mund zu führen.

„Ey, Loverboy, hörst du zu?“, bellt Cato an Peeta gewandt.

Ohne den Blick von seinem amateurhaften Verband zu heben, nickt der Tribut. „Ich höre dich laut und deutlich. Und wahrscheinlich alle anderen in dieser Arena ebenfalls.“

Catos Augen werden schmal. „Hältst dich wohl für ganz schlau, was?“

Peeta seufzt und windet die Verbandsrolle ein weiteres Mal um seinen Arm. „Nein.“

„Also schön, wo hast du es versteckt?“

Selbst von hier aus erkennt Finnick, wie sich Peetas Gesichtsausdruck verhärtet.

„Ich habe dein Messer nicht genommen“, entgegnet er mit Nachdruck hinter jedem Wort. „Warum sollte ich auch? Ich habe mein eigenes.“

„Vielleicht dachtest du ja, ich merke es nicht?“, schlägt der Karriero vor. „Willst uns verraten, dich zu deiner Liebsten davon machen ...“

„Dann wäre ich wohl sehr dumm.“ Haymitchs Schützling ist endlich fertig mit der Bandage und hebt seinen Kopf, um Cato direkt anzusehen. „Oder lebensmüde. Ich bin keins von beidem.“

Finnick wendet seinen Blick vom Bildschirm ab, denn Titania rammt ihm ihre Fingernägel in den Arm. „Oh, ich hoffe Haymitch hat nicht zu viel versprochen“, sagt sie.

Sanft löst er ihre Klauen aus seinem Arm und hält stattdessen ihre Hand. Auf Kratzspuren verzichtet er liebend gern. Er kann aber nicht verhehlen, dass auch er gespannt ist, ob Peeta dieser Situation entrinnen wird. Nach allem, was er und Haymitch geplant haben, ist er nicht bereit, ihn sterben zu sehen.

„Nein, du bist liebesblind“, lacht Cato höhnisch auf. „Bisher hast du uns noch nichts gebracht. Also, nochmal: Warum sollte ich dir glauben?“

„Wie wollt ihr Katniss ohne mich finden? Hast du etwa vergessen, warum wir dieses Bündnis geschlossen haben? Du willst sie aus dem Weg haben, nicht ich. Sie glaubt, dass ich sie liebe, mir würde sie nichts antun. Ich helfe euch das Mädchen mit der Elf in der Bewertung auszuschalten“, erklärt Peeta, jetzt ebenfalls zornig, „und im Gegenzug bin ich ein Teil dieses Bündnisses.“

Harte Worte, im Vergleich zu den Interviews. Das scheint auch Titania so zu empfinden, denn in ihren Augen glitzern Tränen.

„Hoffentlich kann er Katniss beschützen“, murmelt sie. „Er muss!“

Für das Kapitol ist es ein offenes Geheimnis, dass Peeta nicht wirklich auf Seiten der Karrieros ist. Dafür hat Haymitchs geschickt inszeniertes Spiel gesorgt. Wenn kein anderer Tribut guckt, wirft der Junge einen bedeutungsvollen Blick in die Kamera, schüttelt kurz den Kopf und schon wissen die Zuschauer, dass er immer noch für Katniss spielt.

Nun meldet sich endlich eine der restlichen Karrieros zu Wort. „Lass ihn doch, Cato“, ruft Glimmer und muss ein Kichern unterdrücken, „er kann ja nichts dafür, dass die kleine Everdeen so doof ist, das zu glauben.“

„Im Übrigen hat er geholfen, unsere Vorräte mit Jaxley zusammen zu sichern“, merkt Cordelia ernst an. „Etwas, das du dich nicht getraut hast.“

Auf Catos Stirn zeichnet sich eine steile Zornesfalte ab und er brummt irgendwas Undeutliches, ehe er Peeta den Rücken zuwendet und zurück zum Feuer stapft.

„Elia, wenn dir so viel an Loverboy gelegen ist, warum hilfst du ihm dann nicht mit seinem Verband? Sieht nämlich aus, als wenn ihm sonst der Arm abfault.“

Cordelias Lippen werden zu einem dünnen Strich, aber sie sagt nichts weiter, sondern geht selber zu Peeta hinüber, um sich seinen stümperhaften Verband anzusehen.

Zum Glück haben Floogs und Trexler genügend Zeit in ihr weiteres Training investiert und sie verbindet seinen Arm etwas geschickter. Finnick kann nicht anders, als ein wenig stolz zu sein.

Am Feuer unterdessen stellt sich heraus, dass Catos Messer nur in eine Lücke zwischen zwei Kisten gefallen ist. Eine Entschuldigung kommt ihm freilich nicht über die Lippen. Stattdessen schießt er immer noch düstere Blicke in Richtung von Peeta, der sich mit einem aufrichtigen Lächeln bei Cordelia bedankt. Vielleicht wird aus seinem und Haymitchs notdürftigem Pakt doch mehr, hofft Finnick bei dem Anblick.

Titania neben ihm atmet stoßartig aus. „Wow, so wenig habe ich Distrikt zwei selten gemocht“, sagt sie mit einem Kichern. „Dieser Cato bringt wirklich mein Blut zum Gefrieren.“ Sie erinnert sich, dass sie noch Nachtisch hat, und schiebt sich einen großen Löffel in den Mund.

In der Arena unterdessen bereiten sich die Tribute auf die Nachtwache vor. Peeta übernimmt freiwillig die erste, unter der strengen Überwachung von Marvel aus Distrikt eins, der am glimmenden Lagerfeuer zurückbleibt und ihn im Auge behält.

Zwischenzeitlich hat Titania auch die letzten Reste aus der Schüssel gekratzt und mustert Finnick mit neuem Begehren. Sie stellt den Fernseher wieder leiser, jetzt da die meisten Karrieros sich zur Ruhe legen.

„Eure Elia wäre wirklich eine hübsche Ergänzung in einem Bündnis mit Haymitchs Tributen“, stellt sie fest. „Das wäre jedenfalls spannender als das Bündnis mit den üblichen Distrikten.“ Sie leckt ihren leeren Löffel nachdenklich ab. „Es wäre aber auch interessant, wenn Bündnisse zwischen den Tributen verboten wären. Jeder für sich alleine“, sinniert sie. „Oder was hältst du von einem Verbot, das nur ein Bündnis mit dem Tribut des eigenen Distrikts erlaubt?“

Ermattet seufzt Finnick. Die Regeländerung hat er beinahe wieder vergessen nach dem Streit in der Arena. „Ich weiß nicht, Tita, du solltest uns das Leben nicht schwerer machen, als nötig. Denk nur an deinen ganzen Wetteinsatz für Cordelia.“

Sie schnalzt mit der Zunge. „Schon, aber Distrikt zwölf –“, mit einem Blick zu Finnick besitzt sie immerhin so viel Takt, den Satz nicht zu beenden.

Er hätte sich denken können, dass keine von ihren Ideen sich als nützlich erweist. Alles, wofür Titania sich interessiert, ist ihr Vergnügen. Verstohlen wirft er einen Blick auf die Uhr. Eine Stunde ist fast vorbei.

„Tita, warum gehst du nicht schon einmal ins Schlafzimmer“, schlägt er ihr mit tiefer Stimme vor, „die Spiele sind zwar interessant, aber du bist heute Abend noch aufregender.“

Sie lächelt. „Ach, jetzt auf einmal doch?“ Dennoch folgt sie seinem Vorschlag und tänzelt davon.

Finnick schnappt sich sein Mentorentablet. Ein Blick zum Fernseher zeigt ihm, dass Marvel, wenn auch unbeabsichtigt, langsam eindöst, während Peeta am Rand des Camps Wache hält.

Jetzt?, ist alles, was er Haymitch in seiner Nachricht schreibt. Es braucht keine Minute, bis dessen Antwort da ist. Fallschirm unterwegs.

Still und leise segelt das silbrige Behältnis zu Peeta herab in die Arena. Zumindest ein Anfang. Über alles andere wird er sich später Gedanken machen. Der Rest der Nacht gehört Titania Creed.

 

Wenige Stunden später liegt das Kapitol in tiefem Schlaf, als Finnick in das Trainingscenter zurückkehrt. Er sieht Annie sofort, kaum, dass er im Halbdunkel durch die Türen des Distrikt-Appartements schlüpft.

Sie sitzt mit angezogenen Knien an dem großen Fenster im Essbereich, das einen prächtigen Ausblick auf den Korso und die glänzenden Häuser in der Ferne eröffnet. Ihre langen dunklen Haare fallen ihr vor das Gesicht.

Er steht nur da und starrt sie an, unsicher, ob er sich ihre Rückkehr nicht bloß eingebildet hat. Aber nein, da sitzt sie wirklich, in Fleisch und Blut. Sein Herz flattert vor Aufregung, drängt ihn, sie in seine Arme zu reißen. Das ist alles, was er will. Doch der letzte Rest verdammter Vernunft hält ihn zurück. Tu es nicht, wispert sie in seinem Kopf, denk an Snow.

Hätte er ihm doch nur die Gartenschere ins Herz gerammt. Nicht zum ersten und sicher nicht zum letzten Mal wünscht Finnick sich, ihm ein Ende bereitet zu haben. Seine Hände zittern und er ballt sie hilflos zu Fäusten.

Langsam dreht Annie ihr Gesicht zu ihm. Sie sieht ihn an, aus diesen meerblau-grünen Augen, in denen er ertrinken könnte. Ihr Ausdruck ist unergründlich. Abneigung? Enttäuschung? Er wartet darauf, dass sie etwas sagt – und wenn es nur Vorwürfe sind. Hauptsache, er hört ihre Stimme. Dann kann er sich sicher sein, dass sie zurück ist.

Genau wie er schweigt sie jedoch bloß. Ihre Hände zittern wie seine und sie drückt sie an ihre Brust. Es kommt ihm vor wie Stunden, die sie einander einfach ansehen, voller Angst und Verlangen.

Endlich traut Finnick sich, ein paar Schritte in den Raum zu gehen, aber auf halber Strecke verlässt ihn der Mut. Nicht hier, schreit wieder die Vernunft, nicht vor den verborgenen Augen des Kapitols!

Annies Lippen zittern, als sie schließlich spricht. Sie sagt nur ein Wort:

„Finnick.“

Eine Stimme wie Muschelscherben, tausendfach gebrochen, rau und doch vertraut. Geliebt. Wärme steigt in ihm auf. Seine Sicht verschwimmt. Die Tränen bahnen sich unaufhaltsam ihren Weg und dann bricht schlussendlich die Vernunft.

Er stürzt auf sie zu und presst sie an sich, bis er ihren wilden Herzschlag an seiner Brust spürt. Niemals wieder will er sie gehen lassen. Finnicks Tränen fallen auf ihre Wangen und vermischen sich mit ihren eigenen.

„Annie“, versucht er zu sagen, aber seine Stimme versagt und er beschließt, dass es warten kann. Jetzt reicht es, sie einfach nur in den Armen zu halten. Er vergisst sogar, dass der Geruch von Titania noch an ihm klebt. Kameras, Snow, sie alle sind in diesem Moment egal.

Nach einer viel zu kurzen Ewigkeit findet ausgerechnet Annie als erste ihre heisere Stimme wieder. „Ich bin so froh, dass du hier bist.“ Sie blinzelt ihn aus tränenverschleierten Augen an. Eine Träne tropft von ihrer Nasenspitze, was ihr ein kleines zersplittertes Kichern entringt.

Alle Anspannung und Angst von Finnick entlädt sich bei dem Anblick. Der Moment ist so absurd, so eigenartig und gerade deshalb kann er das Lachen nicht unterdrücken. Überglücklich und erfüllt von Leichtigkeit umfasst er ihr Gesicht. Ihr Kuss ist salzig wie das Meer.

Es gibt so vieles, das er ihr sagen will, doch als er sie ansieht, verschwinden die Worte schlicht aus seinem Kopf. Er lacht und weint zugleich und dann küsst er sie einfach nochmal. Und nochmal.

„Ich liebe dich“, wispert er auf ihre Lippen. Soll Snow es doch mitbekommen. Seine Beteuerungen werden dieses Appartement nie verlassen. Das Kapitol wird nichts außer falscher Versprechungen zu hören bekommen. Nur hier drinnen, alleine zwischen ihm und Annie, kann er keine Lüge mehr leben.

Er streicht eine Träne von ihrer Wange. „Es tut mir so leid“, setzt er erneut an, aber sie schüttelt den Kopf.

„Entschuldige dich nicht.“ Sie wischt sich die Augen. „Du hattest keine Wahl.“

„Und trotzdem wollte ich dich schützen.“ Er lockert seine Umarmung etwas, um ihnen Luft zum Atem zu geben.

Erst jetzt kommt Finnick dazu, sie richtig zu betrachten. Gestern Abend hatte das Vorbereitungsteam sich jegliche Mühe gegeben, sie herauszuputzen, mit allem, was die Welt des Make-ups bietet. Im frischen Morgenlicht ist nichts davon übrig und stattdessen sieht er die tiefen Schatten unter ihren Augen – und die roten Ringe an ihren Schläfen. Eine ganz andere Angst brodelt in ihm hoch, begleitet von hunderten neuer Sorgen.

Annie scheint in seinem Gesicht zu lesen. Bevor ihm die erste Frage über die Lippen kommt, schüttelt sie wieder sanft den Kopf. „Nicht jetzt.“

Mühsam unterdrückt Finnick den Drang und drückt sie stattdessen noch einmal an sich, froh, dass selbst das Kapitol sie nicht besiegen konnte. Erst in diesem Augenblick wird ihm klar, wie groß seine Furcht war, dass nach der Behandlung nicht mehr als eine leere Hülle von ihr bleiben würde.

Zwischen seine freudigen Gedanken mischen sich viel zu schnell die ersten Unangenehmen. Er trägt denselben Anzug wie letzte Nacht, dem der schwere Geruch von Titanias Parfüm anhaftet. Auf einmal kommt er sich unrein vor. Überzogen mit den Berührungen einer Fremden, wie ein dreckiges Hemd, das auch nach dem hundertsten Waschgang nicht mehr sauber wird. Und all das mutet er Annie zu.

Er traut sich kaum, seine Umarmung zu lösen, aber schließlich gewinnt das juckende Gefühl auf seiner Haut die Oberhand. Behutsam löst er seine Hände von Annies Rücken und tritt einen Schritt zurück.

Fragend sieht sie ihn an.

„Es ist nur – der Anzug. Ich –.“ Unglücklich zieht er eine Grimasse. Aber sie schafft es, wie immer, ihn zu überraschen.

„Geh ruhig duschen. Ich habe nicht vor, zu verschwinden.“ Irgendwo aus der tiefsten Reserve ihrer Kraft holt sie ein schwaches Lächeln auf ihr Gesicht, aber ihre Lippen zittern dabei und es fällt rasch in sich zusammen.

Es bedeutet Finnick mehr, als er je in Worte fassen könnte. „Danke“, bringt er nur hervor und küsst sie noch einmal, fast schon verlegen.

Sie nickt wissend und sieht dabei beinahe so weise aus wie Mags, gezeichnet von den Spuren eines Lebens, das sie lange vor ihrer Zeit hat reifen lassen.

Er versucht, sich bei der Dusche zu beeilen, doch es dauert eine Weile, bis er den Juckreiz fortgewaschen hat. Zurück im Wohnzimmer ist die Sonne bereits am Aufgehen und zu seinem Leidwesen wachen die übrigen Bewohner des Apartments auf. Und nicht nur das, auch die Arena ist wieder zu Leben erwacht.

Annie sitzt auf dem Sofa, die Knie ans Kinn gezogen und fest die Arme um ihre Beine geschlungen, während auf dem Fernseher Katniss durch den Wald rennt – der lichterloh in Flammen steht.

Anscheinend ist es den Spielmachern nach einem weiteren Tag ohne Tote doch zu langweilig, selbst wenn Seneca Cranes gestrige Ankündigung Wellen geschlagen hat.

Finnicks Herz beschleunigt erneut seinen Takt, dieses Mal allerdings nicht vor Freude. Das Flammenmädchen, umgeben von einem Flammenmeer. Das Kapitol liebt seine pathetische Ironie.

Unsicher sieht er zu Annie herüber. Sie schenkt ihm einen gequälten Blick. „Die Spielmacher haben sie im Schlaf überrascht“, sagt sie mit einer Handbewegung in Richtung Katniss. „Sie ... machen Jagd auf sie.“

Zischend rast ein Feuerball auf die angesengte Gestalt der Tributin zu und sie wirft sich im letzten Moment zu Boden.

»Ich kann einfach nicht wegsehen«, flüstert Annie mit ihrer neuen zerbrochenen Stimme, die Finnick einen Schauer über den Rücken jagt.

»Aber du darfst«, erwidert er leise und tritt an ihre Seite, schützend eine Hand auf ihrer Schulter. Suchend tasten ihre kühlen Finger danach und umschließen sie.

Gemeinsam betrachten sie stumm Katniss Kampf ums Überleben. Sie ist indes nicht die Einzige, die von den Flammen überrascht wurde.

Die Kamera wechselt die Perspektive und nun sind es die Karrieros, die gezeigt werden. Unter seinen Fingern spürt Finnick, wie Annies Muskeln sich spannen.

Mit gezückten Waffen laufen die Tribute durch den dichten Wald, auf der Suche nach ihren nächsten Opfern. Noch sehen sie den Brand nicht. Als die ersten panisch davonspringenden Eichhörnchen ihren Weg kreuzen, ist es zu spät.

Mitfühlend stöhnt Annie bei dem Anblick von Cordelias grimmigen Gesicht auf.

Tatenlos müssen sie zusehen, wie die Karrieros einander verwundert anschauen. Da lassen die Spielmacher auch schon die ersten Flammen durch die Büsche züngeln. Das trockene Laub auf dem Boden um sie herum entflammt rasend schnell. Keuchend fliehen die Tribute vor der Feuerzunge, die ihnen aus dem Wald entgegenschlägt. Sie sind geradewegs in die Falle getappt.

Auf einer kleinen Karte werden ihre gegenwärtigen Positionen eingeblendet. Natürlich ist nichts in den Spielen ein Zufall und so erstaunt es Finnick wenig, dass sie in Richtung Katniss fliehen. Nach dem gestrigen Streit zwischen Peeta und Cato wollen die Spielmacher es offenbar wissen. Womöglich haben sie sogar Kenntnis von dem Bündnis mit Haymitch und arbeiten darauf hin, ihnen den Moment zu nehmen.

Amber kommt aus der Küche dazu, ein Stück Brötchen und ihr Tablet in der Hand.

„Wir sollten in die Zentrale gehen“, sagt sie ohne Begrüßung.

„Ja.“ Finnick richtet sich auf und sieht hinunter zu Annie. Ihr Gesicht ist weiß, aber auch sie nickt mit zaghafter Entschlossenheit.

„Ich komme mit.“ Der Ausdruck in ihren Augen duldet keinen Widerspruch.

»Aber du kannst jederzeit gehen, in Ordnung?«

Annie versucht es mit einem zuversichtlichen Lächeln. »Okay.«

Sie folgen Amber in Richtung der Zentrale und wie von alleine finden ihre Hände wieder zueinander. Amber bemerkt es, sagt aber nichts.

Umgeben von Cordelias Vitaldaten, unzähligen verschiedenen Kameraperspektiven der Feuersbrunst und der hektisch blinkenden Karte der Arena nehmen sie ihre Plätze an dem Glastisch ein.

Annies Hand lässt Finnick dennoch nicht los. Ihr Atem geht schnell und ihre Finger sind schweißnass, trotzdem hält sie das Kinn hochgereckt und sieht nicht weg.

Floogs und Trexler kommen ebenfalls angestürzt, herbeigerufen von dem Alarm aus ihren Mentorentablets.

Routine ergreift Finnick, während sie sich einen Überblick der Situation verschaffen. Die Flammen bilden einen großen Ring mitten im Herz des Waldes. In ihm eingeschlossen sind die Karrieros, Katniss – und die kleine Tributin aus Distrikt elf, wie er beunruhigt feststellt.

Er ruft ihre Perspektive auf und sieht sie geschwind von Ast zu Ast springen, flink wie ein kleiner Vogel und genauso unsichtbar in den hohen Baumwipfeln. Aber um sie kann er sich jetzt keine Gedanken machen.

„Sie treiben die Tribute vermutlich in Richtung der Lichtung hier“, sagt Floogs und tippt auf eine freie Stelle an der Karte, „die würde sich perfekt für einen Showdown eignen.“ Etwas unglücklich dreinsehend kratzt er sich am Kinn. „Die Frage ist – wollen wir das? Den Showdown, wie ihn sich die Spielmacher vorstellen?“

Grummelnd schüttelt Trexler den Kopf. „Nich’ so, wenn’s sich vermeiden lässt. Wir könnt’n Peeta noch gebrauch’n. Sollten das nich‘ auf’s Spiel setzen.“

Amber pflichtet ihm bei. „Wir sollten es rauszögern, solange wie es geht. Ich hab wenig Lust auf die Liebesschnulze, aber wenn Cordelia später mit Distrikt zwölf abhaut, kann es auch sie am Leben halten. Die Frage ist nur – was können wir tun?“

Finnick seufzt. „Vielleicht nichts, jetzt, wo sie um ihr Leben rennen. Aber das Feuer wird nicht ewig brennen. Vielleicht können wir sie im richtigen Augenblick mit einem Sponsorengeschenk ablenken, sodass sie die Verfolgung aufgeben – oder Katniss die Chance zur Flucht hat.“

Er sieht auf, als Annie aufgeregt nach Luft schnappt. „Ein Bündnis mit Zwölf? Wirklich?“ Mit großen Augen schaut sie in die Runde.

Erst jetzt wird ihm bewusst, dass sie die Entwicklungen der letzten Tage nicht mitbekommen hat. Entschuldigend nickt er. „Ja, es ist eine lange Geschichte, aber Haymitch und ich haben da einen Notfallplan, wie unsere Tribute das Karriero-Bündnis verlassen könnten. Weil Cato Edy ...“, zögerlich bricht er ab. Die Erinnerung an Annie, zusammengesunken in den Armen der Friedenswächter, drängt sich ihm auf.

Doch sie schreit nicht. Konzentriert blickt sie auf das Tablet vor sich und nickt langsam. „Ja, Cordelia kann nicht bei den Karrieros bleiben. Wenn sie bleibt, verrät sie sich selbst. Dann passiert wieder das, was mit dem Jungen aus Distrikt fünf geschehen ist.“ Ihr Blick gleitet in die Ferne und darüber hinaus in ihre eigene Welt. Gedankenverloren spielt sie mit einer langen Strähne ihres Haars.

Alle anderen am Tisch schweigen. Offensichtlich weiß Annie, was in der Arena vorgefallen ist. Hat das Kapitol sie die Spiele sehen lassen? Unruhe packt Finnick bei dem Gedanken daran. Aber jetzt ist nicht der Zeitpunkt, darüber nachzudenken. Er drückt ihre Hand in einer Geste unausgesprochener Unterstützung.

„Könnte das die Chance für Cordelia sein, das Bündnis zu verlassen? Ich meine, falls ... falls die Karrieros verletzt werden ...“, Annie beißt sich verlegen auf die Unterlippe, da alle Blicke auf ihr kleben, „naja, dann könnte sie ... mit Peeta flüchten. Vielleicht?“

In dem folgenden Schweigen kriecht ihr Röte in die Wangen. „Entschuldigt“, murmelt sie. „Ich wollte nicht ... ich will bloß, dass sie überlebt.“ Ihr Blick fällt auf die gläserne Tischplatte, auf die sie in einem beständigen Rhythmus mit den Fingerspitzen tappt. Tipp-Tapp, Tipp-Tapp.

Doch Floogs Gesicht hellt sich auf. „Entschuldige dich nicht, Annie, du hast recht. Wenn wir es geschickt drehen, dann können wir das Bündnis beenden, ein für alle mal. Immerhin gibt es nichts, was die Karrieros uns länger bieten können. Haymitch hat den Charme der Außenseiter für sich und jeder will Teil ihrer Geschichte sein. Dort fließen genauso viele Sponsorengelder wie bei den Karrieros. Wenn nicht bald sogar mehr.“

„Das Problem ist nur“, meldet sich Amber zu Wort, „Cordelia weiß noch nichts von ihrem Glück. Haymitch hat gestern Abend Peeta einen Hinweis schicken können, aber wir hatten noch keine Chance, dasselbe für Cordelia zu tun. Und wie könnten wir das in diesem Chaos noch tun?“ Sie verschränkt ihre breiten Arme vor der Brust, als ein unheilvolles Zischen alle Mentoren herumfahren lässt.

Ein Feuerball, von der Größe einer geballten Faust, rast bedrohlich knapp über die Köpfe der rennenden Karrieros hinweg und explodiert in einem Funkenregen an einem Baum. Krachend stürzt seine Baumkrone hinab. Die trockenen Äste fangen sofort Feuer. Fluchend stoppen die Tribute und sehen sich nach einem Ausweg um.

„Da drüben!“, ruft Marvel und sie flüchten durch eine schmale Lücke in der Feuersbrunst, bevor ein neuer Feuerball den Rest des Waldbodens hinter ihnen in Flammen aufgehen lässt.

Herabfallende Äste hinterlassen Kratzer und blutige Striemen in ihren Gesichtern. Glühende Funken brennen sich durch ihre Kleidung. Mehr als einmal verfangen sich dornige Ranken an Schuhen und Hose. Wertvolle Sekunden vergehen, bis sie sich befreien können, und mit jedem Mal nähern sich die Detonationen der Feuerbälle.

Zum ersten Mal bekommen die Karrieros die volle Wucht der Arena zu spüren. Ihr Leben liegt nicht mehr in ihrer Hand. Einzig ihr Überlebensdrang lässt sie weiterrennen, ohne ihrem Schmerzen Raum zu geben. Cordelias Puls auf den Überwachungsbildschirmen rast im Gleichtakt mit Finnicks eigenem.

Wie ein einziges Wesen stöhnen die Mentoren auf, als ein brennender Ast Cordelias Jackenärmel aufreißt. Verbrannte Haut ist zu sehen. Der Geruch von angesengtem Fleisch dringt Finnick aus dem Nichts in die Nase, eine ferne Erinnerung an seine Hungerspiele. Er drückt Annies Hand noch fester, falls das möglich ist, und sie umklammert ihn ebenfalls.

Katniss ergeht es nicht besser. Blind rast sie durch den Wald. Funken versengen Jacke und Haare, jeder Einschlag näher als der vorherige. Schwer atmend bricht sie schließlich zusammen. Einen Moment gönnen ihr die Spielmacher Ruhe. Fast glaubt Finnick, dass sie es geschafft hat, obwohl er es besser wissen müsste.

Dann – ein Zischen. Der nächste Feuerball erwischt Katniss Unterschenkel und hinterlässt eine tiefrote Wunde. Mit schmerzverzerrtem Gesicht läuft sie weiter. Lange wird sie das Tempo nicht durchhalten können.

Das scheinen auch die Spielmacher zu begreifen, denn sie schicken zumindest keine neuen Feuerbälle in Richtung der Tribute. Der Wald jedoch brennt immer noch lichterloh und entwickelt sich zur Todesfalle.

Hände und T-Shirts vor Nase und Mund gepresst stolpern die Karrieros durch den verrauchten Wald. Die Schwaden hängen tief zwischen den Bäumen und rauben ihnen die Sicht. Mit kratzigen Stimmen rufen sie einander, um sich nicht zu verlieren. Ihre Waffen behalten sie trotzdem in den Händen, jederzeit bereit.

Ihre Kontrahentin hat mehr Glück, sie findet einen Weg hinaus aus dem Rauch und stolpert geradewegs in ihre Rettung, einen kleinen Teich, hinein. Die Augen geschlossen bricht Katniss stöhnend im Wasser zusammen und rollt sich auf den Rücken.

Ihr Leichtsinn lässt Finnick ärgerlich mit der Zunge schnalzen. Jeden Moment könnten die Karrieros über sie stolpern, doch das scheint sie nicht zu kümmern. Vielleicht denkt sie nicht daran. So oder so kann es sie das Leben kosten. Für den Augenblick muss er sich vorerst abwenden, denn Cordelia verlangt seine Aufmerksamkeit.

Glimmer hat einen verirrten Sonnenstrahl ausgemacht und mit tränenden Augen laufen die Karrieros ihm nach, fort von dem Brandherd. Sie landen auf einer vom Feuer unberührten Lichtung.

Nervös schaut Finnick auf die Karte. Nur etwas mehr als ein Kilometer trennt sie von Katniss Position. Sie sind genau dort, wo die Spielmacher sie haben wollen.

Zunächst sind sie indessen mit sich selbst beschäftigt. Cato reißt sich den prall gefüllten Rucksack vom Rücken und gräbt seine Wasserflasche aus. Ein Seufzer, zur Hälfte Schmerz, zur anderen Hälfte Erleichterung, entrinnt seiner Kehle, sobald er mit dem Wasser Augen und Mund auswäscht.

Die übrigen Karrieros tun es ihm gleich. In der Arena herrscht gespenstische Stille. Die Tiere sind fast alle vom Waldbrand vertrieben worden und nicht ein einziger Vogel singt, während die Tribute schwer atmend im Gras liegen.

Lediglich die schmale Tributin aus Distrikt elf sitzt unbemerkt im hohen Geäst und späht mit großen Augen hinab auf ihre Feinde. Ein kleines Lächeln in die Kameras und sie hüpft geräuschlos weiter. Entgegen Finnicks Befürchtungen hat das Feuer ihr nichts anhaben können. Rue. Er beschließt, sich endlich ihren Namen einzuprägen, sie hat es verdient.

Amber trommelt mit den Fingern auf den Glastisch, wie Annie. „Sieht aus, als wär’s das mit dem Feuer. Also, was jetzt?“ Sie schaut in die Runde.

„Wir warten“, entgegnet Finnick entschlossen. „Lass Cashmere ihr wertvolles Sponsorengeld ausgeben, du weißt, es brennt ihr unter den Nägeln. Cato und seine Freunde werden sich darauf stürzen, sobald das erste Geschenk ankommt. Und dann, wenn sie auspacken –“

„ – Kommt unser Geschenk direkt zu Cordelia, sodass keiner von ihnen mitbekommt, was wir ihr schicken“, greift Amber seinen Gedanken auf. Sie grinst. „Oh ja, das ist ein Plan. Also, was schicken wir ihr?“

Mit einem Räuspern meldet Floogs sich zu Wort. „Antiseptische Salbe. Cashmere wird sicherlich zur Brandsalbe greifen, aber wenn die Wunde erst einmal versorgt ist, besteht immer noch die Gefahr einer Infektion. So haben wir einen Grund, Cordelia ein eigenes Geschenk zu schicken, können die Botschaft unterbringen – und helfen ihr.“

„Irgendwelche Einwände?“, fragt Amber. „Nein, gut. Dann bereite ich den Abwurf vor. Hoffentlich fressen die Kosten nicht all unsere Reserven auf.“

Für alle sichtbar ruft sie die Informationen zu ihren Geldern und den verfügbaren Sponsorengeschenken auf. Die Salbe kostet ein kleines Vermögen, aber zumindest weniger als die Brandsalbe. Und sie haben nicht zu viel gehofft – ein silbriger Schirm geht bereits in der Arena nieder, bevor Amber überhaupt ihre Bestellung tätigen kann.

Cato schnappt ihn direkt aus der Luft. Grinsend schwenkt er das Geschenk über seinem Kopf, damit alle Kameras es einfangen können. „Dann wollen wir mal sehen, was wir unseren Fans wert sind“, verkündet er.

Glimmer springt auf, so schnell ihre Blessuren es erlauben. „Oh, lass mich sehen“, quiekt sie freudig. „Ich hoffe, es ist was gegen den Rauch im Hals. Mir ist ganz übel.“

Auch die anderen scharen sich um Cato – gerade rechtzeitig für die Ankunft eines zweiten Fallschirms.

„Sieht aus, als wäre Cash in Gönnerstimmung“, kommentiert Amber, den Finger über dem Tablet schwebend, in Erwartung des richtigen Augenblicks.

Selbst Cordelia schließt sich ihren Verbündeten an, die gierig die Dosen aufreißen und Salbe sowie einige Tabletten gegen die Rauchvergiftung erbeuten. Stumm hält sie sich ein paar Schritte im Hintergrund und wartet darauf, das Medikament gereicht zu bekommen. Erst ist allerdings Cato an der Reihe, der sich großzügig die grüne Paste auf jede noch so kleine Blase schmiert, bis Glimmer ihn genervt anrempelt, um selber dranzukommen.

„Besser wird’s nich‘ mehr“, stellt Trexler nüchtern fest.

Amber schickt die Bestellung ab. Keine Minute später erscheint ihr silbriges Schirmchen in der Arena. Einen Moment lang sieht es so aus, als wolle Cordelia ihr Geschenk nicht ergreifen, doch sobald sie bemerkt, dass es nicht auf Cato zusteuert, streckt sie die Arme danach aus. Die anderen bemerken die Ankunft, geben sich aber damit zufrieden, dass sie kurz murmelt „Salbe gegen Entzündungen“ und fahren fort, sich einzureiben.

Cordelias Miene ist ausdruckslos, während sie den kleinen Zettel mit Ambers Botschaft liest. Sie starrt kurz auf die Dose, dann knüllt sie kurzerhand den Papierstreifen und schiebt ihn tief in ihre Hosentasche.

„Gib mir auch mal die Salbe, Marvel“, fordert sie und wirft ihm im Gegenzug ihr Sponsorengeschenk zu. Ihr Blick flackert kurz zu Peeta hinüber, aber sie lässt sich nichts anmerken. „Die Scheiße tut nämlich wirklich weh.“

Neben Finnick stößt Annie einen Laut der Erleichterung aus. „Ich brauch eine kleine Pause“, flüstert sie mit glasigen Augen. Steifen Schrittes geht sie zu dem Balkon, der an die Mentorenzentrale angeschlossen ist.

Rasch folgt Finnick ihr. Fürs Erste ist die Gefahr gebannt und Cordelia in Sicherheit. Seine Angst um ihre Tributin wechselt sich fließend mit der um Annies Zustand ab. Er muss wissen, was das Kapitol ihr angetan hat, und fürchtet sich doch vor der Antwort, wie sonst nicht einmal vor dem Tod.

Aufopferung

Die Anspannung steckt mir noch in den Gliedern, als ich auf den Balkon unseres Appartements trete. Ich lege meine zittrigen Hände auf das Geländer und sehe in die Ferne, auf den blauen Himmel, der sich fröhlich über das Kapitol spannt. Der Tag nimmt seinen Lauf und die vielzähligen Stimmen der Leute unten auf dem Korso dringen zu mir herauf.

Ich versuche, loszulassen. Die Augen zu schließen und meinen Atem zu kontrollieren. Aber die Angst vor der Strafe hat sich festgefressen. Furcht gegenüber dem, was Cordelia passieren könnte, mischt sich mit der Furcht vor dem Schmerz, der mir droht, wenn ich die Kontrolle verliere. Tias Blitze warten nur darauf, loszuschießen. Der Geschmack von Gummi erweckt in mir den Drang, mich zu übergeben.

Hinter mir öffnet sich die Tür und ich höre leise Schritte näher kommen. „Wie fühlst du dich?“, fragt Finnick.

Mein erster Impuls ist es, „gut“ zu sagen. Doch diese Lüge hat er nicht verdient. „Ich weiß es nicht“, entgegne ich stattdessen. „Gut genug für das Kapitol.“

Es dauert seine Zeit, bis er eine Antwort findet. Die Angst in seiner Stimme ist kaum verborgen, als er fragt: „Und im Vergleich zu vorher?“

Darauf weiß ich keine Erwiderung, die das Kapitol nicht gegen mich aufbringt, also schüttle ich nur den Kopf. Die allgegenwärtigen Albträume haben eine neue Lage des Grauens erhalten, die ich mir vorher nicht mal hätte ausmalen können. Es nicht auszusprechen, fühlt sich an wie ein Draht, der sich um meinen Hals schnürt. Flach atmend greife ich mir an die Kehle und vergewissere mich, dass da nichts ist, was mir die Luft nimmt. Für den Moment hilft nur vergessen.

„Es tut mir leid“, würge ich hervor, obwohl mir selbst nicht ganz klar ist, was genau ich meine.

„Sag das nicht.“ Finnick berührt seicht die Stelle zwischen meinen Schulterblättern. „Bitte.“

Ich wende mich vom Kapitol, das uns so hasst, ab. Sein Anblick lässt mir das Herz schrumpfen. Wie er so dasteht, das Gesicht voll geteiltem Schmerz, wächst der Selbsthass. Ohne meine Existenz hätte er eine Sorge weniger. Doch selbstsüchtig, wie ich bin, lasse ich ihn trotzdem nicht gehen.

„Ich habe Edy gesehen“, bricht es aus mir hervor. Ich erinnere mich an den Wolf, der seine Augen hatte. Aber das kann ich unmöglich erzählen. Das Kapitol darf nicht wissen, was ich mitbekommen habe.

„Immer wieder das Ende. Und Pon. Ich wusste nicht, wie es für dich war.“ Ich presse die flache Hand auf das Brustbein und fühle den rasenden Herzschlag unter meinen Fingerspitzen. Nicht weinen, befehle ich mir eisern. „Ich bin jetzt wohl – geheilt.“

Bei diesen Worten weiten sich Finnicks Augen. Er versteht auch ohne Erklärung, was sie mir angetan haben. Zumindest einen Teil dessen. „Haben sie das gesagt?“

„Ja. Der Auftritt bei Caesar Flickerman war der letzte Test.“

Ich sehe in seinen Augen, wie sich ein Sturm zusammenbraut. Seine freie Hand ballt sich zur Faust. „Noch einmal werde ich das nicht geschehen lassen.“ Jedes Wort ist ein Donnerschlag und er zittert vor unterdrückter Energie.

Schnell schüttle ich den Kopf. „Alles ist gut. Ich werde nicht noch einmal ... die Beherrschung verlieren.“ Wegen mir soll er nicht in den Fokus des Kapitols geraten. Nicht mehr als ohnehin schon.

Er sagt nichts, sondern macht einen Schritt nach vorne und zieht mich in seine Arme. Sehnsucht gewinnt die Oberhand, kaum, dass ich die ferne Erinnerung an Distrikt vier an ihm rieche, und ich schmiege den Kopf an seine Brust.

„Snow hat mich deswegen vorgeladen“, flüstert er mir ins Ohr. Mein Herzschlag stolpert. Was?

„Er weiß alles. Aber ich habe meinen Preis bezahlt. Und ich werde es wieder tun.“

Plötzlich zieht sich der Draht um meinen Hals erneut enger. „Nein, das darf nicht ...“, hektisch winde ich mich aus seinen Armen, „Nein Fin! Nein!“

Ich trete einen Schritt zurück. „Nein“, sage ich noch einmal, zu mir selbst. „Das ist es nicht wert.“ Heiß brennen mir die Tränen in den Augen und nur einem letzten Rest an Beherrschung ist es zu verdanken, dass sie nicht fallen.

„Sag du mir nicht, was es wert ist. Denn mir ist es alles wert.“ Er sieht direkt in meine Augen. „Du bist mir alles wert.“

Das Balkongeländer presst sich in meinen Rücken, als ich noch einen Schritt zurückweiche. Wieder sehe ich Titania Creed vor mir, eng an Finnick geschmiegt. Alles nur wegen dir, beschuldigen mich körperlose Stimmen. Weil du seinen Namen schreien musstest.

Wie oft erträgt ein Mensch es, so verkauft zu werden, bevor er bricht?

„Er wusste es schon immer“, sagt Finnick hart, die Stimme kalt wie der eisige Herbstregen. „Mach dir nichts vor.“

„Nein ...“ Meine Schultern sacken nach unten. „Ich wollte das nicht, Fin.“ Ich kneife die Augen zusammen, damit die Tränen keine Chance haben. „Bitte tu dir das nicht an.“

„Glaubst du, ich hätte eine Wahl?“ Er lacht freudlos auf. „Den Kampf gegen mein Herz habe ich längst verloren. Ich tue es lieber für dich als für alles Geld der Welt. So hat es wenigstens einen Sinn. Lass mich das glauben, das ist alles, worum ich dich bitte. Lass es mich glauben, nur einen Tag länger.“

Als er zaghaft meine Schulter berührt, verflüchtigt sich jegliche Abwehr so schnell wie Morgennebel nach den ersten Sonnenstrahlen. „Und das kannst du aushalten?“

„Solange es sein muss.“

Diesmal bin ich es, die ihn in die Arme zieht.

„Snow spielt mit dem Feuer und wenn er nicht aufpasst, wird es ihn verbrennen“, flüstert Finnick so leise, dass es außer mir unmöglich jemand hören kann.

„Sag das nicht.“ Ich habe Angst vor dem, was dieses Spiel aus uns machen wird. Alles, was ich je wollte, war ein einfaches Leben, in der Ruhe von Distrikt vier, doch diese Hoffnung bröckelt mit jedem Tag mehr.

Für immer wird es nicht so bleiben, aber ich weiß nicht, ob ich bereit bin den Preis zu zahlen. Ich erinnere mich an die Worte, die der Schnattertölpel mir vorgesungen hat. Die Sieger sind gefährlich. Sie geraten außer Kontrolle. Vielleicht ist es die Wahrheit. Und wenn es so weit ist, wird das Kapitol uns alle vernichten. Ein Fingerschnippen und unsere Existenzen sind verwirkt. Dieses Leben hat uns nie gehört.

Die Sonne klettert langsam den Horizont empor und wärmt meinen Rücken. In Finnicks Armen hänge ich den düsteren Gedanken nach, bis die Wirklichkeit uns einholt. Die Hungerspiele kennen weder Gnade noch Pause.

Ein schrilles kleines Signal aus dem Raum hinter uns gibt das Zeichen, dass sich etwas tut. Es ist kein Alarmsignal, aber offensichtlich haben die Karrieros sich entschieden, dass die Pause vorbei ist.

Mit einem widerwilligen Seufzen löst Finnick sich von mir. Er betrachtet mein Gesicht und streicht mit seinem Daumen über die gerötete Stelle an der Schläfe.

„Ruh dich noch etwas aus, ich werde mich darum kümmern. Wir sollen ohnehin in Schichten arbeiten, also versuch, dich abzulenken. Fall etwas passiert werde ich es dich wissen lassen. Mach dir nur keine Sorgen. Bitte.“

„In Ordnung.“ Ich nicke und bemühe mich um einen zuversichtlichen Ausdruck.

Er geht zurück in die Zentrale und ich sinke wieder gegen das hohe Geländer, das uns von der Außenwelt abschirmt. Hinter dem getönten Glas bin ich unsichtbar für die Menschen auf dem Korso, aber zumindest kann ich hinaus schauen.

„Fasziniert dich der Anblick immer noch?“, höre ich Amber fragen.

Sie tritt neben mich an die Brüstung und blickt hinab auf die reichlich bevölkerte Straße. Eine steile Falte zeichnet sich auf ihrer Stirn ab und sie dreht sich fort, um sich mit dem Rücken gegen die Balustrade zu lehnen.

„Schon ein wenig. Aber ich war auch nicht so oft hier, wie du.“

Sie lässt ein kurzes Schnauben hören. „Glaub mir, es wird mit jedem Mal eintöniger, bis du den Anblick einfach nur müde bist.“ Ihr Blick fällt auf mich. „Alles in Ordnung zwischen dir und Finnick?“

Ich nicke schnell.

Amber sieht mit verschränkten Armen gen Himmel. „Pass auf ihn auf. Er selber tut es nämlich nicht.“

Überrascht sehe ich sie von der Seite an. Gewöhnlich mischt sie sich nicht ein, aber in ihrer Stimme klingt Sorge mit. Andererseits kennen sie einander beinahe zehn Jahre – sie war seine Mentorin, kennt seine Geschichte aus erster Hand. Vermutlich fühlt sie sich verantwortlich, ebenso sehr wie ich.

„Ja“, verspreche ich ihr schlicht.

„Gut.“ Sie strafft sich etwas. „Dann sind wir jetzt wohl Partnerinnen in der Nachtschicht. Die anderen sind so nett und kümmern sich um den Rest des Tages.“

„Und was machen wir solange?“

„Nichts.“ Amber lässt sich auf eine Sonnenliege fallen. „Versuch, zu schlafen. Die Nacht wird lang - und hoffentlich langweilig.“
 

Bis zu meinem Schichtbeginn verkrümele ich mich nach drinnen. Mir ist nicht danach, tatenlos auf dem Balkon zu sitzen und darauf zu warten, dass der Tag vorüber geht. Die vielen Jahre des Mentorendaseins haben Amber offenbar Übung gegeben, denn sie hat nicht einmal zehn Minuten gebraucht, um einzuschlafen. Ein wenig beneide ich sie.

So aber sitze ich alleine auf dem Sofa und wechsle durch die verschiedenen Fernsehsender. Früher konnten wir uns das Fernsehen nie leisten. Das Gerät, gestellt vom Kapitol, staubte in einer Ecke unseres Hauses ein – nur einmal im Jahr, zu den Hungerspielen, ging er an. Den Rest des Jahres hatten wir nie genug Geld für die Stromrechnung – oder ausreichend Zeit fürs Nichtstun.

Ich bin überrascht von den vielen Sendern und dem wilden Programm. Auf den meisten dreht sich alles um die Spiele, doch ich finde auch Modesendungen und einen Kanal, der nichts als Küchengeräte verkauft. Fasziniert sehe ich dem Moderator, einem jungen Mann mit knallgrünem Haar, dabei zu, wie er Essen zubereitet, das mehr wie ein Kunstwerk statt eine sättigende Mahlzeit aussieht. Zumindest für einen glückseligen Moment gelingt es mir, zu vergessen, was nur wenige Räume entfernt von mir geschieht.

Mir gefällt, wie gutgelaunt der Moderator ist und dass er alles, von seinem Messer bis hin zu dem automatischen Kartoffelschäler, mit überschwänglichen Adjektiven beschreibt. Dank der Frisur und dem dazu passenden Anzug sieht er aus wie ein menschgewordener Frosch, der eifrig in seiner Showküche hin und her hopst.

Offenbar kann man im Kapitol den ganzen Tag fernsehen, denn sobald es Zeit für das Abendessen ist, sehe ich immer noch dem Frosch-Mann zu, wie er Küchengeräte verkauft. Cece, die gerade zur Tür hereinkommt, betrachtet die Sendung mit gerümpfter Nase.

„Oh weh, den hätten sie längst feuern sollen. Schrecklich, das kann man sich echt nicht ansehen.“ Sie schüttelt den Kopf und sieht mich tadelnd an. „Das ist wirklich Unterhaltung für Idioten. Mentorinnen sollten ihre Zeit für Sinnvolles verwenden.“

Der fröhliche Frosch-Mann tut mir unwillkürlich leid, aber ich bin brav und schalte den Fernseher aus. Sie wendet sich ab, um Amber zum Abendessen zu holen, da schrillt ein langgezogener Ton durchs Appartement, durchdringender als die Sturmflutwarnung daheim.

Ich springe vom Sofa auf und sehe mich nach der Quelle des Lärms um. Mein Puls beschleunigt sich, die Hände sind verschwitzt und ich fühle, wie Kälte das Rückgrat hinaufkriecht. Einen Moment später dringt die Erkenntnis durch die Angst. Die Spiele!

Perplex wechseln Cece und ich einen kurzen, erschrockenen Blick, dann sprinte ich los. Mein Herz klopft bis in den Hals, als ich in die Mentorenzentrale stürze. Ein Teil von mir will gleich wieder fortstürmen, aber ich muss wissen, was mit Cordelia passiert.

Amber ist von ihrem Nachmittagsschläfchen erwacht und steht bereits vor den Monitoren. Sie winkt mich an ihre Seite. Ich erkenne, dass die Karrieros durch die Arena laufen, wild rufend und offensichtlich erfüllt von Tatendrang. Sie sind immer noch im Wald.

„Da vorne ist sie“, ruft Clove voll diebischer Freude. Sie hält geradewegs auf Katniss zu, die ihre verbliebenen Kräfte geschont hat und in demselben Teich wie vor einigen Stunden ruht.

Unter kriegerischem Gebrüll stürmt die Meute auf sie zu, Peeta hintendrein. Sein Gesicht hat jegliche Farbe verloren. In seiner Hand umklammert er einen silbrigen Speer.

Finnick tritt still an meine Seite und unsere Finger winden sich ineinander.

„Sie haben die Jagd eröffnet, nachdem sie sich heute Mittag ausgeruht haben“, klärt Floogs, der am Glastisch sitzt, Amber und mich auf, „aber da Teile des Waldes immer noch brannten, wurden sie sehr eingeschränkt. Es hat lange gedauert, bis sie Katniss Spur gefunden haben. Lange sah es nicht danach aus, als wenn sie Katniss finden würden, aber Clove hat sich als hartnäckig entpuppt.“ Er seufzt. „Jetzt heißt es abwarten und hoffen.“

Wie gebannt starre ich auf die Bildschirme, kann mich gar nicht entscheiden, wo ich zuerst hinsehen soll – oder will?

Katniss hetzt durch den Wald, doch ihre Verletzungen haben sie eingeschränkt. Im Gegensatz zu dem Bündnis hat sie kein Sponsorengeschenk erhalten. Anscheinend ist Haymitch längst nicht so freigiebig mit seinen Mitteln wie andere Mentoren.

Die Karrieros schließen dichter auf. Cordelia läuft an der Spitze mit, ihren Speer fest im Griff. Sie ruft nichts, sondern scheint ganz auf den bevorstehenden Kampf konzentriert. Eine einzelne feine Nadel sticht in mein Herz.

Katniss aber überrascht uns alle damit, dass sie anfängt, einen Baum zu erklettern.

„Was tut sie?“, zischt Amber verwirrt.

„Sie is‘ ne geschickte Kletterin“, stellt Trexler fest. „Da isse im Vorteil. Denk dran wie hoch die Kleine aus Elf klettern kann.“

„Wenn ihr einer nachklettert, ist sie aber geliefert. Und Glimmer hat einen Bogen. Wie will sie dem bitte schön ausweichen? Das klingt nach Selbstmord für mich.“

Wir sehen zu, wie sie höher und höher klettert. Sie ist flink, das stimmt. Wie ein Eichhörnchen erklimmt sie die dünner werdenden Äste, bevor sie sich in eine Astgabel hockt – und frech hinunter winkt. Sie spottet von oben auf die Tribute hinab. Das Publikum wird es lieben.

Cato will ihr hinterher klettern, aber die Äste ächzen unter seinem Gewicht, bis einer bricht und er stürzt hart auf den Rücken. Auch Glimmer ergeht es nicht besser, sie kommt nur wenig weiter als er.

Ganz wie Amber befürchtet, zieht sie im nächsten Schritt den glänzenden Bogen hervor. Bisher hat sie ihn nicht eingesetzt, doch sie scheint es gar nicht erwarten zu können. Demonstrativ langsam legt Glimmer einen Pfeil an die Sehne und zielt. Mit einem Sirren schießt er hoch, eine Armlänge von Katniss entfernt.

Ich spüre Finnicks unwillkürliches Zucken durch unsere verschränkten Hände.

Ärgerlich schnalzt Cato mit der Zunge und Glimmer lächelt entschuldigend, bevor sie einen weiteren Pfeil hinauf in die Baumkrone schickt. Er schlägt ins Holz ein und Katniss schnappt ihn sich beherzt. Grinsend schwenkt sie das tödliche Geschoss über ihrem Kopf. Sie weiß genau, was sie tut.

Diese mutige Aktion liebt das Publikum, wie sich an den Live-Votings zeigt, die wir angezeigt bekommen. Trotz der unmittelbaren Todesgefahr, in der sie schwebt, hat sie Teile der Zuschauer auf ihrer Seite. Nicht so viele wie die Karrieros, aber ausreichend. Mehr als alle anderen Einzelkämpfer.

Die Karrieros haben nun endgültig genug von ihr. Mit vor Wut gedrückter Stimme zischt Cato:

„Wir müssen sie irgendwie aus dem Baum bekommen. Kann hier jemand besser schießen als Glimmer?“ Er wirft der Angesprochenen einen bösen Blick zu.

Ich denke an Cordelias Trainingsstunden zurück. Sie war nicht unfähig, aber auch nicht überragend. Doch sie schüttelt ohnehin nur den Kopf auf die Frage hin.

„Kannst du nicht den Speer werfen, Elia?“, fragt Marvel hoffnungsvoll.

„Dafür ist sie viel zu hoch, das funktioniert mit dem schweren Speer nicht.“

„Und wenn wir den Baum fällen?“

„Hast du dir mal den Stamm angesehen?“

Eine Weile geht das Gezanke so weiter, bis Peeta sich entnervt zu Wort meldet. „Ach, lasst sie einfach da oben. Sie kann ja nirgendwohin. Wir nehmen sie uns morgen vor.“

Katniss muss sich furchtbar fühlen bei diesen Worten. Wenn dem so ist, zeigt sie es allerdings nicht. Sie lässt sich nur sinken und sieht fast schon erleichtert aus. Für den Moment scheint die Gefahr gebannt.

Die Karrieros akzeptieren Peetas Vorschlag und bereiten ihr Nachtlager vor.

Auch wir Mentoren können endlich aufatmen. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich schweißnass bin. Jeder Muskel schmerzt, als wäre ich selber vor den Tributen geflüchtet.

Mit wackligen Beinen gehe ich hinüber zu einem Stuhl und lasse mich fallen. Finnick folgt mir, wie ein Schatten. Meine Hände suchen Beschäftigung und so tippe ich fahrig auf dem Tablet herum, bis ich die Karte der Arena geöffnet habe. Ich starre auf die kleinen blinkenden Informationen. Distrikt eins, zwei, vier, elf und zwölf leuchten orange, da sie sich alle in unmittelbarer Nähe zueinander befinden.

Moment – Elf? Ich sehe genauer hin. Das kleine Mädchen aus Distrikt elf, Rue, bewegt sich schnell auf die Position der Karrieros zu. Sie hat sie schon fast erreicht!

Ängstlich starre ich auf die Kameraübertragung, doch die Tribute sitzen nur in einem Kreis auf dem Boden und teilen sich ihre Vorräte ein. Weit und breit keine Spur des kleinen Mädchens.

„Wie kann Rue in der Nähe sein?“, frage ich in die Stille hinein. Nun schauen auch die anderen überrascht auf ihre Tablets – bis Finnick einen leisen Lacher ausstößt.

„Sie springt von Baum zu Baum“, klärt er mich auf. „Das tut sie seit dem Feuer und keiner bemerkt es. Ich glaube sie weiß ganz genau, was dort vor sich geht. Sie ist eine stille Beobachterin, aber sicher nicht doof.“

Und tatsächlich, sobald er ihre Perspektive auf einen Bildschirm ruft, sehen wir sie in dem dünnen Geäst ganz oben in der Baumkrone, höher noch als Katniss. Nachdenklich schaut sie auf die Tribute unter sich, wie ein winziger Vogel, der nur kurz Rast macht. Ein kleines Lächeln zeichnet sich auf ihrem Gesicht ab, bevor sie zu Katniss herab klettert.

Unter den Karrieros werden derweil die Nachtwachen aufgeteilt. Cordelia meldet sich gleichzeitig mit Peeta für eine Wache. Trotz der gemeinsamen Jagd auf Katniss ist Cato skeptisch, dass Peeta sie betrügen wird, und will ihn nicht unbewacht lassen. Er ahnt nicht, dass sein Vertrauen in Cordelia genauso gefährlich sein kann.

Hoch oben in den Bäumen unterdessen erspäht Katniss die kleine Rue. Mit großen Augen starrt sie in das Dunkel ihres Nachbarbaums, wo die junge Tributin stumm auf die höheren Äste deutet.

Genauso verwirrt wie Katniss starren wir in das Geäst, bis die Kameras langsam auf einen Punkt in der Baumkrone zoomen. Sacht brummend hängt dort ein Nest.

„Jägerwespen“, flucht Amber. „Ausgerechnet. Wenn die stechen ...“ Sie ballt ihre Hand zur Faust. „Dann kann ich nur hoffen, dass sie schnell genug rennen. Die Stiche dieser Biester reichen, um einen Riesen zu töten.“ Ihr Gesicht spricht von leidvoller persönlicher Erfahrung.

Eine Weile sitzen die Karrieros noch beisammen und reden, doch nachdem die Hymne des Kapitols erklingt, legen die ersten sich zur Ruhe. Katniss indes nutzt die Chance und klettert geschwind zu dem Nest herauf. Die Wespen scheinen zu schlafen, denn es ist nichts von ihnen zu sehen, als sie anfängt an dem Ast zu sägen. Übertönt vom Dröhnen der Hymne arbeitet sie nur mit ihrem kleinen Messer an dem dicken Ast.

Cordelia dagegen liegt ahnungslos auf dem Waldboden, in einem dünnen Schlafsack zusammengerollt, eine Hand fest um den Schaft ihres Speers geschlungen.

Ich möchte sie anschreien, vor der Gefahr warnen – aber wir Mentoren dürfen keinesfalls unsere Tribute vorwarnen. Das ist die erste und wichtigste Regel, wie Floogs mir vor den Spielen erklärt hat. Mehr als clevere Sponsorengeschenke sind strengstens verboten.

Die Hymne verklingt und Katniss muss ihr Vorhaben aufgeben. Enttäuscht klettert sie zurück zu ihrem Schlafsack. Ihr Mut hat ihr immerhin einen Fallschirm beschert, der bei ihrer Rückkehr auf sie wartet. Dieselbe Brandsalbe, die schon die Karrieros bekommen haben, nur in einem viel kleineren Tiegel.

Damit ist sie zumindest nicht mehr so stark durch ihre Wunden behindert. Noch hält der Ast mit dem Jägerwespennest – die Frage ist nur wie lange. Ich sehe es in den Gesichtern der Anderen. Das Nest ist eine tickende Zeitbombe und Cordelia schläft direkt darunter. Es sieht alles danach aus, dass mir eine nervenaufreibende Nacht bevorsteht.

Finnicks Hand legt sich schwer auf meine. „Annie, du kannst gehen“, flüstert er mir zu. „Das ... ist nicht was wir vorhergesehen haben. Ich übernehme deine Schicht.“

Eine leise Stimme in mir schreit danach, das Angebot anzunehmen, aber ich verbanne sie hinter die dicke Watteschicht, die das Grauen von mir fernhalten soll. „Ich muss. Es macht mich sonst wahnsinnig. Ich muss wissen, was passiert.“

Die anderen sehen weg von mir, auf die Tischplatte oder hinaus zum Fenster, nur Finnick nicht. „Bitte“, fleht er.

„Ich muss“, halte ich dagegen.

 

***

 

Gähnend blicke ich auf die unzähligen Bildschirme um mich herum. Es nähert sich langsam vier Uhr morgens und mir fallen des Öfteren die Augen zu. Nur Amber und ich sitzen noch in der Mentorenzentrale. Bisher ist unsere Nachtwache ruhig. Wir haben Cato und Clove dabei beobachtet, wie sie Messer auf am Boden huschende Eidechsen geworfen haben, oder Marvel und Glimmer zugehört, die leise vom Kapitol geschwärmt haben. Alles in allem sehr bedeutungslos.

Oben im Geäst herrscht ebenfalls Ruhe. Katniss hat sich mit ihrem Schlafsack in einer Astgabel arrangiert und auf dem Nachbarsbaum schläft Rue, zusammengerollt wie ein Kätzchen, zwischen den Ästen.

Die ganze Zeit über hält mich einzig die Furcht vor dem Unbekannten wach. In meinem Magen ruht ein eisiger Knoten und bei jedem Geräusch schrecke ich auf, die Gedanken voller Horrorszenarien.

Solange Finnick da war, hat er mich festgehalten, mir gut zugeredet, doch nachdem sein Kopf zum fünften Mal gefährlich nah in Richtung Tischplatte gesunken ist, habe ich ihm befohlen, sich auszuruhen. Das gab einigen Protest, bis Amber vielsagend mit den Knöcheln geknackt hat. Dafür hat er versprochen, nicht länger als eine Stunde weg zu sein. Mittlerweile sind es zwei. Den Schlaf hat er sich verdient und ich habe nicht vor, ihn zu wecken. So oder so opfert er zu viel für mich.

Amber hält sich mit Kaffee wach, eine Tasse rabenschwarzer und übelriechender Flüssigkeit nach der anderen. Auch jetzt hat sie sich einen frischen Becher des dampfenden Getränks bei einem Avox geordert und nippt daran. Der Duft erfüllt die ganze Zentrale und dreht mir den Magen um.

Mit einem Seufzen reibe ich meine Augen und klicke mich zum hundertsten Mal in dieser Nacht durch die verschiedenen Kameraperspektiven. Wohin ich sehe, überall schlafen die Tribute. Die meisten haben notdürftige Unterkünfte gefunden, eine Höhle am Bach oder eine flache Erdkuhle. Am Füllhorn schläft ganz alleine der kleine Junge aus Distrikt drei, ein Schwert, halb so groß wie er, umklammert.

Ich sollte mich freuen, dass die Nacht ereignislos ist. Wenn der Morgen naht, werden wieder Trexler und Floogs übernehmen. Aber sobald es zu dem Kampf zwischen den Karrieros und Distrikt zwölf kommt, kann ich nicht einfach wegsehen. Dass es so kommen wird, ist unvermeidbar. Wenn nicht vorher das Jägerwespennest herabstürzt und alles auf den Kopf stellt. Solange Katniss sich nicht weiter daran zu schaffen macht, scheint es wenigstens stabil zu sein.

Marvel, der im Moment Wache hält, stupst Cordelia an die Schulter. Ihre Wachzeit ist gekommen. Müde reckt sich der Tribut aus Eins und lässt sich auf den Waldboden fallen. Glimmer ist schon länger eingeschlafen, mit dem Rücken an einen Baumstamm gelehnt, den Kopf auf die Brust gesunken.

Cordelia dehnt sich einmal, ehe sie zu Peeta geht, der etwas abseits von den übrigen Karrieros mit dem Rücken zum Lager liegt. Bevor sie ihn wecken kann, setzt er sich bereits auf. Seine Augen funkeln im schwachen Mondlicht. Augenscheinlich hat er nicht geschlafen.

Überrascht mustert Cordelia ihn, wendet sich dann aber schweigend ab und lässt sich ein paar Handbreit neben ihm auf die trockene Erde fallen. Unter leisem Rascheln zieht sie zwei Konserven aus ihrem Rucksack und wirft eine davon Peeta zu.

Während sie ihr kaltes Mahl zu sich nehmen, schläft Marvel langsam ein. Cordelia wirft hin und wieder ein Auge auf ihre schlafenden Verbündeten, dann schaut sie hoch in die Baumkronen.

Peeta folgt ihrem Blick und schüttelt knapp den Kopf, als wolle er ihr sagen, dass sie abwarten sollen. Darauf reagiert Cordelia bloß mit Achselzucken und schiebt sich noch einen Löffel Bohnen mit Soße in den Mund. Schließlich nickt sie in Richtung der schlafenden Karrieros und hält fragend drei Finger in die Höhe.

Wieder schüttelt Peeta den Kopf und weist auf ihre Waffen, dann hoch zu Katniss und zeigt seine leeren Hände.

Eine Weile überlegt Cordelia, ehe sie mit ihrem Finger ein Fragezeichen auf den Waldboden malt und wieder zu Katniss und den Waffen deutet. Die Erde ist hart, aber man erkennt es gerade so.

Dieses Mal weist Peeta auf die im Sitzen eingeschlafene Glimmer, die den schimmernden Bogen neben sich abgelegt hat.

Ein hartes Scheppern von Keramik auf Glas lässt mich herumfahren. Amber hat ihre Kaffeetasse etwas zu fest auf dem Glastisch abgestellt.

„Ein Bogen“, murmelt sie nachdenklich und fährt sich über das Kinn. „Das Flammenmädchen kann schießen? Nicht schlecht, wenn nur der Bogen nicht in den Händen der Falschen wäre.“

Amber hat erkannt, was auch Cordelia und Peeta wissen – es gibt momentan keinen Weg, den Bogen unbemerkt zu Katniss zu bringen. Und ohne Waffe hat sie nichts, außer einem kleinen Messer und einer ordentlichen Portion Glück. Das Publikum wird es gar nicht abwarten können, zu sehen, ob sie es schafft, den Bogen in die Finger zu bekommen.

„Mir gefällt das gar nicht“, spricht Amber aus, was ich denke. „Aber sie müssen noch warten. Zu dritt hätten sie vielleicht eine Chance, vor allem wenn sie Cato zuerst ausschalten.“

„Und wenn das Nest vorher fällt?“

„Dann kann nur Glück sie alle retten. Katniss eingeschlossen. Das Risiko ist groß, dass sie selber gestochen wird.“ Amber nimmt einen tiefen Schluck Kaffee. „In meiner Arena haben sie die Wespen auch eingesetzt. Als Kind aus Distrikt vier hatte ich nie von ihnen gehört, also bin ich meinen Verbündeten geradewegs in die Falle gefolgt. Der Tribut aus Distrikt zwei war kräftig wie ein Bär, aber nach den ersten Stichen ist er einfach zu Boden gegangen.“ Ihre Stimme driftet ab. „Noch heute weiß ich nicht, was damals Wirklichkeit war und was Halluzination vom Gift.“

Sie wirft mir ein sarkastisches Lächeln zu und Kälte läuft meinen Rücken herab. Ich wickle mich enger in die Strickjacke.

Cordelia scheint sich mit ihrer Lage vorerst abgefunden zu haben, aber sie ahnt schließlich nichts von dem Jägerwespennest über ihnen. Sie teilt etwas von ihrem Wasser mit Peeta und beschließt offensichtlich, dass sie nicht länger in Zeichen kommunizieren brauchen, denn Marvel schnarcht derweil laut.

„Also, Peeta“, sagt sie leise, „wie ist Distrikt zwölf so? Ich weiß gar nichts über euch.“

Er lächelt, so wie jemand, der sich an einen schönen, aber schmerzhaften Moment erinnert. „Manche würden sagen Zwölf ist grau. Und doch gibt es in all dem Kohlenstaub auch immer einen Flecken Farbe, eine Blume, die aufblüht, eine Hoffnung, die nie stirbt.“

So wie ich Distrikt zwölf auf der Siegestour kennengelernt habe, erinnere ich mich tatsächlich nur an eine graue Einöde, Armut und ausgemergelte Leute. Doch so wie Peeta seine Heimat beschreibt, klingt es wie Poesie.

„Ich mag die Farbe des Sonnenuntergangs dort. Ich mag es, wenn wir uns in der Schule versammeln, um gemeinsam zu singen. Ich gehe gerne auf den Markt und spreche mit den Leuten dort. Und wenn wir feiern, dann richtig.“ Während er spricht, wandert sein Blick ins Blätterdach, als hoffe er, dass Katniss ihm ebenfalls zuhört.

Ich weiß es allerdings besser, sie schläft tief und fest.

„Du klingst, als hättest du damit abgeschlossen und würdest nicht zurückkehren“, bemerkt Cordelia.

„Ja, da hast du recht. Ich denke nicht, dass ich zurückkehren werde. Aber das sollte dich nicht stören – ein Gegner weniger für dich.“

Sie zuckt mit den Schultern. „Wenn du meinst. Ich versteh’s nur nicht. Ich will unbedingt zurück. Sonst ... wäre alles umsonst gewesen.“ Ihre Unterlippe zittert leicht beim Sprechen. „Wer weiß, ob wir überhaupt eine Chance haben.“

Bedrücktes Schweigen ergreift die Lichtung.

„Ich glaube mein Mentor würde sagen, dass du nicht daran zweifeln darfst, sonst stehst du bereits mit dem ersten Bein im Grab.“ Peeta zieht eine Grimasse. „Haymitch ist manchmal sehr direkt. Trotzdem hat er irgendwo recht.“

„Komisch, ich hab eine Mentorin, die hätte was ähnliches gesagt.“ Cordelias Gesicht hellt sich wieder auf, bis ihr etwas einfällt. „Vermutlich wäre sie nicht sehr stolz auf mich gerade. Wegen allem, was ich getan – oder eben nicht getan – habe.“

Ich werfe einen Seitenblick zu Amber, die zwar mit verschränkten Armen dasitzt, aber trotzdem getroffen aussieht. „Oh Cordelia“, seufzt sie, „ich bin sogar sehr stolz auf dich.“

„Wieso sollten sie nicht stolz sein?“, fragt Peeta sanft.

Frustriert schüttelt Cordelia den Kopf. „Ach, es ist so viel.“

„Warum erzählst du es nicht? Manchmal hilft es schon, es sich vom Herzen zu reden.“

Wenig überzeugt zieht sie eine Grimasse. „Damit ich nachher schlecht dastehe bei allen Zuschauern?“ Sie deutet auf die Bäume um sie herum, in denen unzählige Kameras verborgen sind.

Peeta zuckt mit den Schultern. „Oder du gewinnst ihre Zuneigung. So oder so dachte ich bloß, dass es dir dann besser gehen könnte. Egal was das Publikum denkt.“

„Na vielleicht hast du recht.“ Cordelia nimmt einen tiefen Atemzug. „Jemand hat meinen Mittribut getötet, im Füllhorn. Es kann nur jemand von ...“, sie deutet in Richtung der schlafenden Karrieros, „denen sein. Ich fühle mich wie ein Monster, weil ich trotzdem geblieben bin. Aber wo sollte ich schon alleine hin?“ Tränen glitzern in ihren Augen, als sie den Kopf in den Nacken legt. „Ich hatte Edy so viel versprochen ...“

„Das macht dich noch lange nicht zum Monster. Du versuchst nur, zu überleben. Ich bin ja schließlich auch hier und nicht dort.“ Peeta sieht in Richtung Blätterdach. „Wir alle wollen überleben und schützen, was uns am Herzen liegt. Beides gleichzeitig geht allerdings nicht.“

„Aber wird mir je irgendwer vergeben? Könnte Edy das?“

„Ich kannte ihn nicht, aber ich würde dir vergeben.“ Peetas Stimme ist fest und entschlossen.

Überrascht sieht Cordelia ihn an. „Hm“, grummelt sie leise. „Ich hoffe, meine Mentoren können das auch. Sie haben Edy geliebt. Und ich habe versagt, ihn zu beschützen. Dabei weiß ich nicht einmal, ob ich bereit gewesen wäre, für ihn zu sterben. Ich will doch einfach nur leben.“

Ich nehme einen tiefen Atemzug, der von einem Stechen in der Brust begleitet wird. Diese Ängste und Sorgen kenne ich aus meinen Hungerspielen. Obwohl ich Pon um jeden Preis retten wollte, hat der Gedanke an den eigenen Tod mich Nacht für Nacht gequält.

Nachsichtig lächelt Peeta. „Das ist normal. Sich selber aufgeben kann man nur für einen Menschen, der so außergewöhnlich ist, dass er unsere ganze Welt verändert. Du musst die Person mehr lieben als dich. Und selbst dann werden immer Zweifel an diesem Entschluss bleiben. Wir Menschen wollen überleben, um jeden Preis.“

Einem Geistesblitz folgend klatsche ich in die Hände, was ausnahmsweise Amber aufschreckt. „Warum schickst du ihr nicht ein Sponsorengeschenk? Jetzt sofort?“

Mit großen Augen verfolgt sie, wie ich aufspringe und vor ihr im Raum aufgeregt hin und her laufe. „Sie muss wissen, dass wir – du – an sie glauben! Ich meine ... in meinen Spielen hat Finnick mir einfach nur etwas Kleines zu essen geschickt, aber der Zettel darin, die Botschaft, war es, die mich durchhalten ließ. Vielleicht gibt es ihr neue Hoffnung, wenn sie weiß, dass wir ihr gerade zuhören!“

Amber springt auf, läuft um den Tisch herum und drückt mich überraschend fest an sich. „Annie, das ist eine super Idee!“

Hastig macht sie sich daran, die Liste mit den Sponsorengeschenken und unseren finanziellen Mitteln aufzurufen.

„Also, wir haben noch ein wenig auf der hohen Kante.“ Sie fährt mit ihrem Finger die Liste entlang. „Gegessen haben sie ja gerade erst, hm ...“

Ich beuge mich über ihre Schulter. Die Aufreihung der Lebensmittel scheint endlos. Anfangen tut es mit Brot aus dem eigenen Distrikt, das am günstigsten ist und geht bis zu kompletten Festmahlen wie im Kapitol für schwindelerregende Summen.

„Vielleicht ein kleiner Nachtisch?“, werfe ich ein. „Etwas, das sie in der Arena auf keinen Fall bekommen kann?“

„Oh, das ist teuer.“

Beim Anblick der vielen Möglichkeiten läuft mir fast das Wasser im Mund zusammen. Das ausgefallene Abendessen macht sich bemerkbar. Eine der preiswertesten Optionen ist ein kleines Schälchen Erdbeeren mit einem Sahnehäubchen. Ich tippe darauf. „Das finde ich nicht schlecht.“

„Hmmm“, brummt Amber zustimmend, „ja, warum nicht. Ich hoffe Floogs reißt mir dafür morgen nicht den Kopf ab, aber wir haben jetzt keine Zeit, das Okay aller einzuholen.“

Ohne Zögern bestellt sie das Schälchen mit einem kleinen Zettel dazu, auf dem nicht mehr steht als: Wir sind sehr stolz auf dich. – A. Viel Platz lässt uns das Kapitol nicht für aufmunternde Worte.

Es dauert kaum zwei Minuten, da sehen wir den silbernen Schirm zwischen den dunklen Bäumen herab segeln, direkt vor Cordelias Füße.

„Sieht so aus, als hätten deine Mentoren etwas dazu zu sagen“, schmunzelt Peeta.

Selbst im Mondlicht erkennen wir, wie Cordelia leicht errötet. „Manchmal vergesse ich, dass sie auch zusehen.“

Beim Anblick der Erdbeeren staunen beide Tribute nicht schlecht.

„Da siehst du mal, wie viel du ihnen wert bist“, meint Peeta aufmunternd. „Das muss ziemlich teuer sein.“

„Wahnsinn. Danke euch“, flüstert Cordelia völlig überwältigt und hält dann Peeta das Körbchen hin. „Nimm dir, das kann ich unmöglich alleine essen.“

Gemeinsam genießen sie das Geschenk. Stück für Stück lassen sie sich die Beeren auf der Zunge zergehen.

Amber und ich hocken gebannt vor dem Bildschirm, Schulter an Schulter.

„Ich hab ganz vergessen, wie lecker eine Erdbeere ist“, seufzt Cordelia, bei ihrer letzten Frucht angelangt. „Oder diese hier schmecken einfach besonders gut.“

Peeta betrachtet die glänzende Erdbeere in seiner Handfläche, perfekt geformt, mit makelloser Haut. „Ich weiß nicht einmal, wann ich zuletzt eine gegessen habe. Ich hab sie immer nur auf unseren Erdbeerküchlein drapiert. Kaum zu glauben, dass ein Bäckersjunge nie einen einzigen Kuchen gegessen hat, oder?“

„Nun, kaum zu glauben, dass ein Mädchen aus Distrikt vier nie Boot gefahren ist, oder?“ Sie sieht ihn melancholisch an. „So ist das Leben wohl.“

Damit ist ihr Gespräch vorbei und jeder von ihnen hängt wieder den eigenen Gedanken nach. Die Nacht verstreicht schleichend langsam und irgendwann vor dem Morgengrauen dämmert Cordelia ein. Nur Peeta bleibt wach und liegt mit offenen Augen auf seinem Schlafsack, die Hand griffbereit an seiner Waffe.

Amber holt sich den nächsten Kaffee und ich fange wieder an, die Bilder aus der Arena anzusehen, Tribut für Tribut. Ich bin bei der dreizehnten Runde, als sich Katniss regt.

Langsam befreit sie sich aus ihrem Schlafsack und entdeckt, dass ihre schlimme Verbrennung über Nacht zu leuchtend rosiger Haut verheilt ist. Mit neuer, grimmiger Entschlossenheit, schiebt sie sich ihr Messer zwischen die Zähne und erklettert erneut die Baumkrone.

Am Boden schläft alles. Nur bei Peeta bin ich mir nicht sicher. Er hält zwar die Augen geschlossen, doch seine Hand ist etwas zu fest um den Schaft des Speers geschlungen.

Zur Untätigkeit verdammt sehe ich zu, wie Katniss damit fortfährt, den Ast durchzusägen. „Es ist so weit.“ Bedrückt rufe ich das Bild von dem Flammenmädchen auf dem großen Bildschirm auf. „Diesmal wird sie es schaffen.“

Missmutig schwenkt Amber die letzten Reste ihres Kaffees in ihrer Tasse hin und her. Ihr Blick fällt auf Cordelias Vitalzeichen. Sie schläft tief und fest. „Verdammt!“, flucht sie laut. Scheppernd landet ihr Becher auf dem Tisch. „Wir müssen doch was tun können.“

Zweifelnd sehe ich sie an. „Aber wir dürfen nicht in das Geschehen eingreifen. Und jetzt – nicht einmal ein Sponsorengeschenk wird sie aufwecken.“ Das hat das Kapitol wirklich geschickt gelöst. Das leise Klingeln der Fallschirme und ihre sanfte Landung sorgen dafür, dass sie unauffällig sind – und genau deswegen eignen sie sich besonders schlecht, um die Tribute zu warnen. Und trotzdem sind sie laut genug, um aufmerksamen Feinden die Position zu verraten.

Amber starrt mit mahlendem Kiefer auf die sägende Katniss. Ich sehe, wie ihre kräftigen Schultermuskeln sich verspannen. „Ich wecke die anderen“, murmelt sie. „Falls ... falls es zu Ende geht.“ Sie tippt auf ihrem Tablet herum, um den anderen einen Alarm zu schicken. Noch während sie schreibt, ertönt hinter uns ein Geräusch wie ein Gewehrschuss.

Ich sehe zuerst Katniss erschrockenes Gesicht und dann – den brechenden Ast mit dem Jägerwespennest. Unaufhaltsam rast er dem Erdboden entgegen. Im Licht der ersten Sonnenstrahlen zerplatzt das Nest auf dem Boden. Augenblicklich explodiert Brummen und Surren überall um uns herum. Der ganze Raum scheint erfüllt vom Kriegsschrei der tobenden Jägerwespen.

Ängstlich quieke ich auf. Schon breitet sich das Gefühl von hunderten Insektenleibern auf meinem Körper aus. Galle steigt mir die Kehle empor.

Aus der Arena dringen grauenvolle Schreie. Binnen Sekunden hüllen die glänzenden Wespen die Karrieros ein. Wild um sich schlagend schreckt Cordelia aus dem Schlaf auf. Die Anzeige mit den Vitalwerten spielt völlig verrückt. Alle Zahlen färben sich rot.

Ich sehe ihr hilflos zu. Jeder Stich in ihre blasse Haut hallt in meinem Herz nach.

Sie versucht, zu rennen, doch die Wespen sind schneller. Ihre schwarzen Körper begraben alles unter sich. Im Todeskampf zuckend fällt Cordelia zu Boden.

Das Kapitol zeigt uns den letzten Rest ihrer Menschlichkeit, ein zugeschwollenes braunes Auge, in dem der Überlebenswille erlischt, als das Gift sich seinen Weg durch sie bahnt. Ein Kanonenschuss schneidet durch die Schmerzensschreie.

Mit den Fäusten schlage ich voller Frustration auf den Bildschirm vor mir. Es darf nicht sein. Ich hatte es versprochen. Und erst jetzt, beim Anblick ihres toten Körpers, begreife ich, wie sehr ich wollte, dass sie nach Hause zurückkehrt.

Stoßweise atme ich ein und aus. Schmerz und Trauer streiten sich wie alte Freunde in mir. Ich darf nicht aufgeben. Tias schrecklich fröhliches Grinsen verhöhnt mich in Gedanken. Nein. Ich kehre nicht zurück in diesen Albtraum!

Amber bückt sich zu mir, ihr Gesicht zu einer fürchterlichen Grimasse verzerrt.

„Hör auf“, fährt sie mich an und packt so fest meine Schultern, dass ihre Fingernägel sich schmerzhaft in die Haut bohren. „Es ist vorbei, Annie. Vorbei! Bitte. Bleib bei mir.“ Ihre Stimme ist so schrill, dass sie in den Ohren schmerzt.

Ich registriere, dass sie mich schüttelt, doch meine Augen kleben auf dem Bildschirm. Es darf nicht vorbei sein!

Mit einem erstickten Grollen, das irgendwo aus dem Unterbewusstsein stammt, stoße ich sie von mir. Alles stürzt zusammen und es fühlt sich an wie freier Fall, ohne, dass je der Aufprall kommt. Ein Schleier aus ungeweinten Tränen raubt mir die Sicht, sodass ich Amber nicht kommen sehe.

Plötzlich ist sie wieder an meiner Seite und zieht mich fort von dem Bildschirm, auf den ich einschlage. Sie schreit etwas, aber ich verstehe sie nicht. Das Tosen des Sturmes in den Ohren ist so laut, das alles andere in Bedeutungslosigkeit versinkt. Wie eine Marionette, der die Fäden gekappt werden, sinke ich zu Boden. Ich schließe die Lider, nur um wieder das Bild von Cordelias Leiche vor meinem inneren Auge zu sehen.

Von weit weg höre ich Ambers Flehen. Ihre Worte hageln auf mich ein, ebenso wie ihre Hände an mir zerren. Ohne sie zu beachten krümme ich den Oberkörper zusammen und endlich gibt sie nach, sodass ich die Arme über den Kopf schlagen kann. Das Tosen des Sturms aber wird lauter. Er zieht mich in seine Dunkelheit hinein, raubt mir die Sinne und nur Verzweiflung bleibt zurück.

Ich bin wieder ein kleines Mädchen, das sich angsterfüllt am Mast ihres Bootes festkrallt, während Welle um Welle über ihr zusammenbricht. Panisch umklammere ich meine Knie, damit ich mich selbst spüre. Wütendes Wasser verschlingt alle Gedanken, bis nur der Wille zu Überleben bleibt und ich kämpfe, um jeden einzelnen Atemzug. Es kostet ungeheuerliche Anstrengung, nicht zu schreien oder weinen.

„Atme, Annie, atme“, streicht ein Flüstern durch das Meerestosen. Rasselnd füllt die Luft meine Lungen. Jeder Luftzug bringt mich näher an das zarte Meeresflüstern heran, das mir Frieden verspricht. „Du bist nicht alleine.“

Ich sinke tief herab unter die rasenden Wellen, dem Meeresgrund entgegen. Dort wartet Geborgenheit. Auch wenn oben der Sturm tobt, hier spüre ich nichts davon. Eine sanfte Umarmung umfängt mich und dann schlägt die Trauer über mir zusammen.
 

Als ich wieder zu mir komme, liege ich auf dem Bett in meinem Zimmer. Das Licht ist gedimmt und auf dem großen digitalen Fenster wiegt sich geräuschlos das künstliche Meer. Mit halb geöffneten Augen verharre ich und genieße die Ruhe.

Nichts, außer dem Atem von Finnick, ist zu hören. Ich weiß einfach, dass er es ist, spüre seine Anwesenheit in meinem Rücken.

In kleinen Wellen verlässt mich das Gefühl der Geborgenheit und die schreckliche Wirklichkeit drängt sich vor. Aber ich bin nicht bereit, es gehen zu lassen, sondern kuschle mich tiefer in die weiche Matratze.

Meine Hand tastet über die Decke, bis sie Finnicks findet. Wortlos halten wir einander fest.

Verlorene Stärke

„Möge die See ihre Seelen hüten.“ Vielstimmig hallen die Worte durch den Raum, Gläser werden in die Luft erhoben. „Auf Edy und Cordelia! Damit wir uns immer an sie erinnern.“

Ein leichtes Zittern schwingt in den Worten mit, als Finnick sie ausspricht. Er kann nicht begreifen, dass sie schon wieder fort sind. Die wenigen Tage mit den Tributen scheinen sich in seiner Erinnerung zu Wochen – gar Monaten – gestreckt zu haben. Und nun ist ihr Kampf vorbei.

Mit geschlossenen Augen nimmt er einen Schluck aus seinem Glas. Das Salzwasser darin brennt auf seinen Lippen, so wie der Brauch es will. Ein Abschied für die tapferen Tribute aus Distrikt vier auf ihrer letzten Reise ans Ende der Gezeiten. „Mögen die Wellen sie leiten“, murmelt er leise für sich. Er hofft inständig, dass nach dem Tod Frieden wartet. Das Leben hat sie wahrlich genug gestraft.

Stille breitet sich unter den Mentoren aus. Sie stehen in einem engen Kreis im Wohnzimmer beisammen, jeder in eigene Gedanken versunken. Keiner will es sich eingestehen, doch sie vermissen Mags. Wenn alle Hoffnung verloren schien, dann war es stets sie, die ihnen mit einer warmen Umarmung und weisen Worten den Mut zurückgab. Ihr Fehlen hinterlässt eine Lücke in ihrem Kreis, die niemand zu schließen vermag.

Am Ende der Trauerrede verbleibt bloß trübe Leere. Jeder starrt in die Tiefen des Salzwassers, als läge darin eine trostspendende Wahrheit. Für den Moment kann Finnick sich nicht einmal darüber freuen, dass Katniss und sogar Peeta dem Angriff der Jägerwespen entkommen sind. Trotz allem Hoffen und Bangen für das große Ganze, wie Distrikt dreizehn es zu nennen pflegt, überwältigt die Trauer um die eigenen Tribute jede andere Empfindung.

„Und jetzt?“, stellt Amber genau die Frage, die allen bereits durch den Kopf gegangen ist. „Amüsieren wir uns im Kapitol?“ Ihr Blick wandert zur Skyline und sie ballt eine Hand zur Faust.

Floogs leckt sich das Salzwasser von den Lippen. „Jetzt überlegen wir, wer unsere Sponsorengelder bekommt.“

„Müss’n wir das wirklich überleg’n?“ Trexler sieht sich in der Runde um. „Es gibt nich‘ viele, die ne Chance haben, und sie auch verdienen. Katniss mag Cordelias Tod verursacht hab’n, aber sie is‘ stark. Hat das Zeug, den Karrieros die Stirn zu bieten. Zusamm‘ mit Rue aus Elf. Wenn’s eine verdient hat, dann sie.“

„Das hast du schön gesagt, Trex.“ Floogs ringt sich ein schmales Lächeln ab. „In der Tat wäre ich auch für Distrikt zwölf und elf, jeweils anteilig. Cordelias Tod war eine Verkettung unglücklicher Umstände, geboren aus der Not heraus. Vielleicht wäre es anders gelaufen, hätte sie nicht ein Karriero werden wollen. Was geschehen ist, ist geschehen. Noch können wir mit unseren Sponsorengeldern etwas bewirken. Damit die richtigen Tribute eine Chance haben gegen die Übermacht aus Eins und Zwei.“

Zustimmend nicken Trexler und Finnick.

„Also ist es beschlossen?“, fragt Amber. „Wir werfen unser hart erarbeitetes Geld zwei Männern hinterher, die meist so betrunken sind wie eine ganze Hafenkneipe nach dem Präsidentenfest?“

„Und Seeder, vergiss das nicht“, wirft Finnick trocken ein. „Und genau das heißt es. Sie sind vielleicht oft blau – aber auch schlau und ich glaube jeder hier im Raum weiß, dass sie eine schmale Chance haben, für die sie alles an Geld brauchen können, um gegen den Reichtum in den Griffeln von Cash und Enobaria zu bestehen.“

Er und die übrigen Mentoren wenden sich Annie zu, die als Einzige noch nichts gesagt hat. Unter ihren Blicken scheint sie zu schrumpfen. „In Ordnung. Geben wir ihnen das Geld. Dann nützt es wenigstens denen, die sonst so wenig Hoffnung haben.“ Ihre Fingerknöchel treten weiß hervor, so fest krallt sie sich an ihr Glas. „Ich glaube nicht, dass Cordelia und Edy etwas dagegen hätten.“

Für ihre Worte und Tapferkeit will Finnick sie am liebsten sofort in seine Arme ziehen. Trotz allem, was das Kapitol ihr angetan hat, schafft sie es, dort zu stehen und an das Gute zu glauben. Obwohl ihm bewusst ist, wie sehr Cordelias Tod ihre Welt erschüttert hat, ist sie wieder aufgestanden. Hunderte Male hat er befürchtet, sie verloren zu haben, nur damit sie ihn Tag für Tag eines Besseren belehrt.

„Gut, dann werde ich Bescheid geben, dass unser Geld übertragen wird“, sagt Floogs.

„Was bin ich froh, dass Haymitch allen Berichten nach wirklich einen Bogen um die Bar macht.“ Amber tritt an das große Fenster und schaltet das Bild des nächtlichen Meers ab, das den Hintergrund für ihre Trauerfeier gebildet hat. „Wollen wir hoffen, dass Chaff ebenso klug ist wie sein Kumpel.“

„Sei nicht immer so pessimistisch“, schimpft Finnick sie. „Es hat sich wirklich etwas verändert. Ihre Tribute haben sie verändert.“

„Na, deine unerschütterliche Hoffnung möchte ich mal haben.“

 

Langsam zerstreut sich die kleine Trauergesellschaft, bis nur Finnick und Annie zurückbleiben.

„Und was tun wir jetzt den Rest der Zeit?“ Aus großen Augen sieht sie ihn an.

„Abwarten. Zusehen was geschieht. Die Mentoren unterstützen, deren Distrikte wir siegen sehen wollen. Oh, und man wird uns für ein Interview sehen wollen. Du weißt schon – eins von der Sorte, das nur zuhause ausgestrahlt wird. Um unserer Tribute zu gedenken.“

Ihr Gesicht sieht aus als hätte sie in eine saure Zitrone gebissen.

„Keine Sorge, Cece bereitet uns vor. Es ist nicht viel Raum für Spontanität in diesen Auftritten.“

Annie atmet tief durch und strafft ihre Schultern. „Ich hoffe, dass die Spiele nicht mehr lange dauern. Ich will nur, dass es vorbei ist.“

„Ich weiß.“ Zögerlich geht er auf sie zu und zieht sie in seine Arme. „Nicht mehr lange. Jetzt musst du wenigstens keine Angst mehr haben.“ Seine Lippen streichen über ihren Haaransatz.

Doch Annies verkrampfte Muskeln entspannen sich nicht. „Oh Fin, ich habe nicht nur Angst um sie gehabt. Da ist noch so viel mehr ...“ Ihr Seufzen findet Widerhall in seinem Inneren. „Vielleicht ein anderes Mal“, flüstert sie so leise, dass selbst eine fallende Feder lauter wäre.

Er will sie schon auf später, daheim in Distrikt vier, vertrösten, da fällt es ihm wie Schuppen von den Augen. Die ganze Zeit über ist die Möglichkeit direkt vor ihm! Wieso ist er nicht viel eher darauf gekommen?

„Schon in Ordnung. Wir haben jetzt zumindest einiges an Freizeit“, erklärt er gedehnt, „genug, um ... dem Trainingscenter einen Besuch abstatten. Ein bisschen Frust ablassen.“ Damit das Kapitol die nachfolgenden Worte nicht hört, formt er sie nur stumm mit den Lippen. Vertrau mir. „Begleitest du mich?“

Innerhalb von Sekunden gleiten Verwirrung, Neugier und schließlich Überzeugung durch Annies Augen. „Okay ... ich werde es wohl mal ausprobieren.“

„Wunderbar. In zehn Minuten am Fahrstuhl?“

Sie nickt und wirft ihm einen skeptischen Blick zu, bevor sie sich in ihr Zimmer aufmacht, um die Trauerkleidung gegen etwas Sportlicheres zu tauschen.

 

Das Kellergeschoss liegt in Dunkelheit verloren vor ihnen, als Finnick und Annie aus dem gläsernen Fahrstuhl treten. Nur vor den großen Flügeltüren erhellt eine einsame Lampe den Wachtposten von Edmont. Der Friedenswächter lehnt an der Wand, sein Kinn auf die Brust gesunken.

Ihre Schritte schrecken ihn offensichtlich aus seinem Schlummer auf, denn er reißt den Kopf hoch und schnappt erschrocken nach Luft. Mit einem ertappten Gesichtsausdruck greift er sich an die Brust. „Finnick, mein Junge, was hast du mich erschreckt.“

„Sorry, Edmont. Das nächste Mal lasse ich dich schlafen.“ Er zwinkert dem Mann zu.

Der jedoch schneidet nur eine Grimasse. „Ich bin auch nicht mehr der Jüngste. Die Nachtschichten waren schon mal aufregender.“ Neugierig schielt er an Finnick vorbei auf Annie, die unsicher die Arme um sich geschlungen hat. Bei ihrem Anblick scheint dem rundlichen Mann etwas einzufallen. „Mein Beileid übrigens für euer kleines Mädel. Sie war ne Tapfere. Hätte echt auf sie gewettet. Vielleicht habt ihr ja nächstes Jahr wieder mehr Glück.“

Ein kurzer Stich schießt durch Finnicks Herz, aber er strafft bloß die Schultern. „Wir werden sehen. Du weißt ja, nichts kann uns unterkriegen. Wir sind mit allen Wassern gewaschen – im wahrsten Sinne des Wortes.“ Er schafft es, einen Mundwinkel zur Andeutung eines selbstsicheren Lächelns zu verziehen. „Bis es soweit ist, muss ich allerdings ein wenig Frust loswerden.“

„Natürlich, natürlich.“ Edmont klopft ihm freundschaftlich auf die Schulter. „Die Halle ist ganz dein – also euer.“ Er lächelt Annie zu, doch sie nickt nur distanziert. „Dann mal rein mit euch.“

Das lassen sie sich nicht zweimal sagen und schlüpfen schnell durch die schweren Türen. Ein kaum merkliches Zittern durchläuft Annie beim Anblick der düsteren Halle voller Waffen. Finnick ergreift ihre Hand. „Keine Sorge, heute Abend kommt niemand her außer uns. Es ist ein wohlgehütetes Geheimnis zwischen uns Siegern, dass man hier unten ungestört sein kann. Die meisten von uns nutzen es zum Trainieren, aber es ist auch ein guter Ort, um einfach zu reden.“

In einem großen Bogen zieht er sie mit sich in die Mitte der Halle, den Ständern voll feinsäuberlich aufgereihten Trainingswaffen ausweichend. Er schiebt ihr eine Kiste hin und bedeutet ihr, sich zu setzen. Von ganz alleine suchen seine Augen die Ecken des Raums ab, nur um sicherzugehen, dass nicht doch eine neue Kamera aufgetaucht ist, die sie ausspioniert.

Zögerlich lässt Annie sich sinken. Ihre Augen glänzen in der spärlichen Beleuchtung, während sie sich in dem Gewölbe umschaut. „Es erinnert alles so sehr an sie“, bringt sie gepresst hervor.

„Ich weiß. Es tut mir wirklich leid.“ Etwas unwohl reibt Finnick sich den Hinterkopf. „Leider ist das hier der einzige Ort, an dem du mir die Wahrheit sagen kannst – sofern du dazu bereit bist.“ Er lässt sich vor ihr auf den Boden sinken, ihre Hand immer noch fest in seiner.

„Meinst du das ernst?“ Sie sieht ihn aus geweiteten Augen an. „Hier? Ich kann doch nicht ...“

Bevor sie weiterreden kann, schüttelt er den Kopf. „Ich weiß, was du denkst. Aber nein, hier sind unsere Gedanken, Worte und Geheimnisse sicher. Du kannst mir vertrauen. Johanna hat schon genug Flüche auf Präsident Snow hier unten zum Besten gegeben und sie hat auch noch keiner abgeführt.“

„Wie ...?“, fragt Annie verwundert.

Wieder schüttelt er den Kopf. „Die ganze Geschichte wäre jetzt zu lang. Ich weiß, dass du diesen Ort hasst, aber er ist der Einzige, an dem du mir alles erzählen kannst. Ohne Angst.“ Er schluckt schwer. „Ich will nicht warten, bis wir zuhause sind. Ich halte diese Ungewissheit nicht länger aus.“

Sie holt tief Luft. Immer noch mustert sie die Umgebung, als fürchte sie, dass jederzeit weiß gewandte Soldaten aus den Ecken springen werden. „Was ist mit dem Friedenswächter?“

Beruhigend streicht er über ihren Handrücken. „Edmont trägt zwar die Rüstung, aber er ist nur ein einfacher Kerl, der uns Sieger verehrt. Er ist glücklich, wenn er uns einen Gefallen tut. Ich glaube nicht, dass er jemals an die Konsequenzen gedacht hat.“ Er zuckt mit den Schultern. „Unser Vorteil, denn er hält dicht.“

„Okay.“ Unbehagen schwingt in Annies Stimme mit, doch sie ringt sich zu der Andeutung eines Lächelns durch. „Wenn ich dir vertraue, muss ich wohl auch ihm vertrauen.“

„Danke. Vielleicht macht das hier ja alles etwas einfacher.“ Er greift hinter seinen Rücken und befördert den kleinen Stoffpinguin zutage. Sein Ausflug in den Zoo scheint ihm ein ganzes Leben zurückzuliegen.

Dieses Mal weiten sich Annies Augen vor Überraschung. „Ein Pinguin?“

Er lächelt wehmütig. „Sagen wir einfach, ich habe meine Beziehungen spielen lassen. Ich hätte dir lieber den Zoo gezeigt, aber so hast du wenigstens etwas, das dich an die Tiere erinnert.“

Vorsichtig streichelt sie über den weiß-schwarzen Stoffpelz. „Oh Fin“, haucht sie. „Danke.“

Ein warmes Gefühl streicht durch sein Inneres, als sie das winzige Stofftier mit ihren Fingern umschließt. Er hasst es, die Zufriedenheit wieder vertreiben zu müssen, doch ihnen bleibt nicht unendlich viel Zeit. „Der einzige Nachteil unseres Verstecks ist, dass wir wenigstens den Anschein erwecken sollten, dass wir trainieren. Und mit wir meine ich mich.“ Entschuldigend sieht er sie an und steht auf, um mit den Dehnübungen anzufangen. „Zumindest ein paar Speere muss ich werfen. Nur falls doch jemand mal auf die Idee kommt, sich die Überwachungsbänder anzusehen.“

Annie seufzt schwer und zieht die Beine an den Körper, immer noch in Betrachtung seines Geschenks versunken. „Schon in Ordnung. Ich kann ohnehin nicht mein ganzes Leben lang davon laufen. Du siehst ja, wozu das führt.“ Ihre Stimme wird heiser. „Plötzlich sitze ich da und bin die weltschlechteste Mentorin.“

„Das darfst du nicht einmal denken!“, fährt Finnick ihr dazwischen. „Wir haben alles für die beiden getan. Aber am Ende waren es ihre Entscheidungen und ihr Kampf. Wir können nur zusehen, egal was passiert.“

„Ich war aber nicht da“, sagt Annie voller Verbitterung. „Sie haben mich weggesperrt und ich konnte nichts tun.“

„Und das war nicht deine Schuld!“

„Trotzdem ...“ Sie vergräbt ihr Gesicht hinter den Knien. „Alles hätte anders laufen sollen.“

Finnick gibt es auf, Dehnübungen vorzutäuschen. Hilflos legt er die Hände auf Annies Schultern und streicht über ihren Rücken. „Irgendwann kommt der Punkt, an dem wir akzeptieren müssen, dass wir keinen Einfluss darauf haben. Aber was zählt ist, dass wir alles getan haben. Und das hast du.“

„Wie hat es ihnen geholfen, dass ich in einem unterirdischen Labor gefoltert werde?“, schluchzt Annie trocken.

Es ist nicht so, als hätte Finnick es nicht gewusst, oder vielmehr geahnt, doch die harsche Realität ihrer Aussage nimmt ihm den Atem. Jeder verzweifelte Luftzug sticht in sein Herz. Dieses Mal findet er keine passenden Worte. Er schließt sie in seine Arme, so fest er kann.

„Jedes Mal, wenn ich geweint habe, hat sie Feuer durch meine Adern geschickt. Alles, was sie brauchte, war eine Fernbedienung. Und sobald ich weinte oder schrie, stand meine Welt in Flammen.“

Das Zittern, was ihren Körper durchläuft, erschüttert Finnicks Arme. „Wer?“, fragt er rau.

„Tia, die Ärztin aus dem Labor. Die Frau, die uns alle hasst. Ich hab sie reden hören.“ Die Sätze stolpern immer schneller aus Annie heraus. „Die Schnattertölpel haben mir ihre Worte gezwitschert. Ihre und die von dem obersten Spielmacher. Sie hält die Sieger, uns alle, für eine Gefahr. Eine Gefahr, die man ruhig stellen muss. So wie sie es mit mir gemacht haben!“

Hilflos steht Finnick da. Keins ihrer Worte ergibt Sinn für ihn. Schnattertölpel? Was immer in den Tiefen des Kapitols vorgeht, es scheint jeden seiner schlimmsten Albträume zu übertreffen.

„Diese dumme Regeländerung, sie soll uns alle nur ruhig stellen, damit wir uns nur damit beschäftigen. Sie spielen immer noch mit uns. Und wenn ich nicht gehorche, flößen sie mir das Medikament ein, das jeden Gedanken unmöglich macht.“ Wie eine Ertrinkende schnappt sie nach Luft. „Was sollte sie aufhalten, das auch allen anderen anzutun? Was, wenn ich nur ihr ... ihr Testkaninchen bin?“ Ein plötzlicher Anfall schüttelt ihren schmalen Körper. Der Stoffpinguin fällt zu Boden, als Annie ihre Hände auf die Ohren schlägt.

Welcher Schrecken auch immer sie verfolgt, Finnick kann es sich nicht einmal ansatzweise vorstellen. Er sieht ihr gerötetes Gesicht in Panik erstarren und hört, wie sie leise Worte formt.

„Nicht Edy, bitte nicht Edy. Bitte nicht. Er hat doch nichts getan.“ Ihre Augen geistern durch die Halle, ohne wirklich zu sehen.

Er setzt sich neben sie, eine Hand zaghaft an ihrem Rücken und wartet darauf, dass sie wieder auftaucht. Eine ganze Weile sitzen sie so auf der Kiste, bis Annies Anfall sich löst.

Für einen Moment scheint sie verwirrt über ihr Erwachen an diesem Ort zu sein. Dann erblickt sie Finnick mit dem Stoffpinguin in seinen Händen und er kann förmlich sehen, wie die Realität sie ergreift. Der Nebel in ihren Augen lichtet sich.

Erschöpft lässt sie ihren Kopf auf seine Schulter fallen. Von ganz alleine fährt sie fort, zu erzählen. „Sie experimentieren dort unten an allerhand ... Kreaturen.“ Ihre Stimme ist matt, während sie ihm von den grausigen Experimenten der Forscher erzählt, aber das verstärkt den Horror nur.

Ihm ist schon seit Jahren bewusst, dass die Monstrositäten in der Arena wenig natürlichen Ursprungs sein müssen, doch Edys Schicksal hinterlässt das Gefühl von Asche in seiner Kehle. Die Vorstellung der absoluten Kontrolle des Kapitols bringt seine Hände zum Zittern. Unfähig, länger ruhig sitzen zu bleiben, springt er auf und läuft erregt auf und ab. Wie gerne würde er jetzt aufschreien. Nur Annies Anwesenheit hält ihn zurück.

„Ich kann nicht – es macht mich so wütend“, stößt er hervor. „Und verzweifelt. Ich kann nicht klar denken, da ist nur ein großer Sturm in meinen Gedanken.“ Er presst sich die Hand an die Stirn, in der Hoffnung, sich so zur Ruhe zwingen zu können. In seinem Inneren überschlagen sich die Sorgen.

„Lass es raus“, sagt Annie leise. „Wozu sind wir schließlich hier?“

Er schüttelt den Kopf. „Nein, ich darf mich nicht so überwältigen lassen.“

„Du sagst immer zu mir, dass ich es nicht verstecken darf.“

„Trotzdem.“ Hartnäckig hält er dagegen. Einer von ihnen muss der Welt die Stirn bieten und diese Aufgabe hat er schon vor Jahren akzeptiert.

Plötzlich erhebt Annie sich und läuft hinüber zu den ordentlich aufgereihten Speeren. Fast trotzig reißt sie einen aus der Halterung. Voller Abscheu betrachtet sie die leichte silberne Waffe und dann – mit einem dumpfen Wump schlägt das Metall in eine der weit entfernten Zielscheiben ein.

Keuchend starrt sie auf den vibrierenden Schaft. „Dann mache ich es eben!“, brüllt sie schrill wie eine verwundete Löwin und pfeffert einen zweiten Speer hinterher. „Verdammt sollen sie alle sein!“

Die Spitze schlägt nur eine Haaresbreite neben der Ersten ein. Obwohl Jahre seit ihren Hungerspielen vergangen sind, ganz zu schweigen von dem Ende ihres früheren Lebens, hat sie kein bisschen Talent eingebüßt, wie Finnick mit einem Schaudern feststellt. Der Zorn beflügelt es höchstens.

Ihre Hand umklammert bereits den nächsten Speer, da tropfen die ersten Tränen auf den polierten Boden. Ein heftiger Schluchzer schüttelt sie. „Raus ... aus meinem Kopf“, stöhnt sie qualvoll. Angewidert schleudert sie die Waffe von sich, sodass sie klirrend ein paar Meter über die Trainingsfläche schlittert. „Lasst mich ...“

Bevor Annie zu Boden fällt, fängt Finnick sie auf.

 

***

 

Die gespenstische Stille in der Trainingshalle wird nur von Annies erstickten Schluchzern durchbrochen. Ihre Tränen durchnässen Finnicks dünnes T-Shirt, aber das ist ihm egal. Er hält sie in den Armen, bis sich all ihr Leid den Weg nach draußen gebahnt hat.

Was das Kapitol ihr angetan hat, wird er nie vergeben. Nicht nur, dass sie eine Figur in ihren Hungerspielen war, nein, sie haben darüber hinaus nichts unversucht gelassen, sie zu der perfekten Siegerin zu formen, die sie gerne hätten – und dabei fast alles zerstört, was sie ausmacht.

Finnick erscheint es wie eine Ewigkeit, bis Annies Tränen endlich versiegen. Er sieht in ihre verquollenen roten Augen und verspricht ihr, wovon er schon seit Jahren träumt. „Ich werde einen Weg finden, das hier zu beenden. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Das Kapitol soll nie wieder Macht über uns haben.“

Annies zarte Schultern versteifen sich. „Fin, was redest du da? Du klingst, als würdest du ... neue dunkle Tage meinen!“ Sie mustert ihn unter zusammengezogenen Augenbrauen heraus erschrocken.

Kurzzeitig überlegt er, alles von Distrikt dreizehn, der Rebellion und den Anzeichen für einen Umbruch zu erzählen. Doch als er die Unruhe in ihren blau-grünen Augen sieht, sinken die Worte wieder seine Kehle hinab. Er kann es nicht. Das Wissen würde ihr nicht helfen, wenngleich es ihm schmerzt, sie zu belügen.

„Nein, das will ich nicht“, sagt er leise. „Aber ich werde dafür kämpfen, dass sie dich ... in Ruhe lassen.“ Zumindest ein Körnchen Wahrheit steckt in seinen Worten.

„Fin, sei vorsichtig“, entgegnet Annie, einen Schluckauf unterdrückend. „Bitte. Ich kann dich nicht verlieren. Nicht deswegen.“

Unglücklich lächelt er. „Natürlich.“ Er drückt ihr einen Kuss auf den Scheitel.

Schniefend zieht Annie die Nase hoch. „Ich weiß, es ist albern – ich habe nur so egoistische Angst, alleine zu sein. Zusammen können wir doch alles überstehen. So wie jetzt. Dann wird alles besser.“ Sie wischt sich mit dem Ärmel ihrer Jacke über das tränennasse Gesicht. Als ihre Wangen wieder trocken sind, tritt ein neuer, trotzigerer Ausdruck in ihre Augen. Ein weiteres Mal nimmt sie ihre ganze Stärke zusammen und steht auf.

„Du hattest Recht. Ich fühle mich schon besser. Auch wenn ich diesen Ort lieber nie wieder sehen würde.“ Ihr Blick wandert zu den Speeren, die sich in die Mitte der Zielscheibe gebohrt haben. Sie streicht ihre langen Haare über die Schulter zurück. „Ich sollte zu Cece gehen und meinen Text für das letzte Interview üben. Wenigstens das kann ich tun. Edy und Cordelia einen würdigen Abschied geben.“

Finnick sitzt immer noch am Boden und ringt mit sich, wie er Annie je in sein gefährliches Geheimnis einweihen kann, da beugt sie sich herab und gibt ihm einen kurzen Kuss. „Danke, Fin. Jetzt bist du an der Reihe, es rauszulassen.“

Annie verschwindet raschen Schrittes aus der Trainingshalle, während er mit einem leeren Gefühl im Magen zurückbleibt. Früher oder später muss sie von Distrikt dreizehn erfahren. Doch wann wird der richtige Zeitpunkt sein?

Seufzend lässt er den Kopf in die Hände fallen. Die plötzliche Stille in der Halle senkt sich wie ein bleiernes Tuch über ihn. Er findet nicht einmal die Kraft aufzustehen und zu trainieren – bis das Klappern der Tür ihn aufschreckt.

Im fahlen Lichtschein steht Johanna und mustert ihn mit unergründlicher Miene. „Hier bist du also. Hätte ich mir ja denken können.“

Sie kommt auf ihn zu geschlendert. Beiläufig schnappt sie sich eine Axt aus einer Halterung und wirbelt sie mühelos in ihrer Hand herum. Zufrieden grinst sie. „Ach ja, Beetee sucht dich. Ich glaub, er will sein Beileid aussprechen.“ Für einen Moment testet sie schweigend die Axt aus, ehe sie fortfährt. „Jedenfalls – mein Beileid für euren Verlust.“

„Schon gut“, winkt er müde ab. „Ich weiß, dass es euch noch viel schlimmer erwischt hat, gleich am Füllhorn. Wenn, dann müsste ich dir Beileid aussprechen.“

Johanna schneidet eine Grimasse. „Wie ich vorhergesehen habe. Eure hatten ja wenigstens noch Hoffnung.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Also, wie siehts aus, kämpfen wir?“

Eigentlich hat Finnick dazu kaum Lust, aber er nickt dennoch. Vielleicht wird es ihn auf andere Gedanken bringen. Er schnappt sich einen schlichten Dreizack, der nur wenig an das protzige goldene Ding erinnert, das er damals in der Arena geschenkt bekam. Solange die Waffe drei scharfe Zacken hat, ist es ihm gleich.

Ihm gegenüber bezieht Johanna Stellung. Ein lauernder Ausdruck tritt in ihre Augen, als sie ihre Muskeln anspannt.

Einen Augenblick betrachten sie einander abwartend. Jede Faser in Finnick spannt sich an. Wartet darauf, vorzuschnellen. Sein Atem wird flacher. Da zuckt Johannas Augenlid. Wie immer, wenn sie angreift. Erwartungsvoll packt er den Dreizack fester.

Mit einem wütenden Schrei stürzt sie auf ihn zu. Er duckt sich unter dem Hieb ihrer Axt weg und lässt sich zu Boden fallen. Unsanft berührt seine Schulter die harte Trainingsfläche. Geübt rollt er sich außer Reichweite.

Sie setzt ihm hinterher, die Axt wieder erhoben. Gerade rechtzeitig reißt er den Dreizack hoch, um ihren nächsten Hieb abzufangen. Mit zusammengebissen Zähnen stößt er sie zurück. Die Waffe wirbelt in seiner Hand herum und er holt zum Gegenschlag aus. Klirrend schlägt Metall auf Metall. Der vibrierende Schock rast bis in seine Zehenspitzen.

In einer heißen Welle durchspült ihn Adrenalin. Er fühlt sich so lebendig wie lange nicht mehr. Sein Herz bebt im Rhythmus mit dem Dreizack, der durch seine Hände rotiert. Alles andere schwindet zu einem unbedeutenden Nichts.

Fluchend weicht Johanna zurück. Ihre Haut glänzt vor Schweiß und in den Augen lauert ein kriegerisches Funkeln. Sie fletscht die Zähne. Rasend schnell wirbelt sie ihre Axt durch die Luft. Ein Zischen ist die einzige Warnung, da schwingt sie schon auf Finnick zu.

In letzter Sekunde fängt er die Attacke ab. Scharfer Schmerz schießt durch seine Schulter, doch er spornt ihn weiter an. Erst wenn jeder Zentimeter seines Körpers in Flammen steht, ist er zufrieden. Er weiß, dass es Johanna genauso geht.

Sie täuscht einen Schlag auf seine Flanke an, nur um im entscheidenden Moment die Axt nach oben zu reißen.

Ungelenk stolpert er zurück. Sein Kinn brennt leicht. Wütend über ihren haarscharfen Treffer wirft er sich vorwärts. Jetzt gibt es kein Halten mehr. Der folgende Hieb trägt seine gesammelte Wucht in sich. Die Zacken seiner Waffen erwischen ihre Axt mitten in der Bewegung. Grinsend entreißt er ihr die Trainingswaffe.

Aber Johanna gibt nicht auf. Entschlossen hebt sie die Fäuste. Ein grimmiges Knurren in der Kehle, stürzt sie sich auf seine ungedeckte Seite. Befreit von der Axt tänzelt sie leichtfüßig vor und zurück, immer außer seiner Reichweite.

Seine Stöße gehen ins Leere. Wenn er doch nur ein Netz hätte! Sie ist zu klein, zu wendig. Genervt schmeißt er den Dreizack fort. Dann eben ein Faustkampf.

Seine Gegnerin lacht. „Du kriegst mich nicht.“ Mit dem Unterarm blockt sie einen Schlag ab. Blitzschnell dreht sie seinen Arm nach hinten und zwingt ihn unter sich.

Finnick ist allerdings nicht wehrlos. Entschlossen stößt er seinen Kopf zurück. Knacken und Fluchen ist zu hören. Johannas Griff lockert sich. Wendig entreißt er sich ihr und wirbelt herum.

Keuchend stehen sie einander gegenüber, als wäre es wirklich die Arena. Getragen von der Euphorie des Kampfes umkreisen sie sich grinsend, bis Johanna sich von neuem auf Finnick stürzt. Begleitet von Schreien schlägt sie auf ihn ein. Wut verleiht ihren Hieben Kraft. Dort wo sie ihn trifft, wird er morgen blaue Flecke haben.

Ihm ist es recht. Alles, was ihn weniger perfekt macht, ist willkommen. In ihren Übungskämpfen verliert er sich. Hier findet all sein Zorn ein Ventil. Keine Zurückhaltung oder falsche Scheu – sie sind einander ebenbürtig.

Er weiß nicht, wie lange sie sich mit blanken Fäusten bekriegen, doch als Johanna schlussendlich mit den Knien auf seiner Brust hockt, ein triumphierendes Lachen im Gesicht, schreit jede Faser seines Körpers um Gnade.

„Du bist außer Form“, stellt sie nüchtern fest.

Er hustet, was ihm seine Rippen mit einem schmerzhaften Ächzen danken. „Ich trainiere jede Woche.“

Johanna zieht eine schmale Augenbraue hoch. „Nur?“

„Nur.“

„Anfänger.“ Ihr spöttisches Lächeln sagt ihm, dass sie es nicht so meint.

Seufzend nimmt sie den Druck von seiner Brust und reicht ihm eine Hand. Dankbar lässt er sich von ihr hochziehen. Seine Rippen protestieren dennoch wehleidig. Er greift sich an die Seite und unterdrückt einen Fluch.

„Oh verdammt, ich werde echt alt“, jammert er leise.

Johanna prustet grinsend. „Du wirst nicht alt, du machst es dir nur zu bequem. Vielleicht sollte ich Amber mal beauftragen, dass sie dich ein bisschen rannimmt.“

„Bitte nicht.“ Er schneidet eine Grimasse. „Ich hab mich immer noch nicht von meinem letzten Training mit ihr erholt.“

Statt einer Antwort begnügt Johanna sich damit, mit den Augen zu rollen. Sie sammelt ihre fortgeschleuderte Trainingsaxt ein. Prüfend wiegt sie die Waffe in ihrer Hand, ehe sie diese mit einem pfeilschnellen Wurf in Richtung der Zielscheiben pfeffert. Krachend schlägt die Schneide neben Annies Speeren ein und bleibt stecken. Ein Riss trennt die Scheibe in der Länge. Zufrieden betrachtet sie ihr Werk.

„Also, was geht vor sich? Ich hab Annie auf dem Weg nach unten getroffen. Sie sah ziemlich bescheiden aus. Nett gesagt.“

Finnick streckt sich langsam. „Eine Menge. Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, wo ich anfangen soll.“

„Wie wär’s mit dem Anfang?“

„Haha.“ Er wirft Johanna einen bösen Blick zu. „Ich mach’s lieber kurz. Ich hatte eine äußerst unangenehme Begegnung mit Snow. Eine, bei der er sehr deutlich gemacht hat, dass er uns alle bedroht. Wir sind die faulen Rosen in seinem Garten der Pracht, oder so.“

Johanna lauscht stumm seiner Erzählung von dem Treffen im Rosengarten und Annies Erlebnissen in den Folterlaboren des Kapitols, aber in ihren Augen sieht er den uralten Hass auf den Präsidenten aufflackern.

„Ich habe wirklich geglaubt, ich könnte ... das mit Annie geheim halten. Ich war so naiv!“ Finnick rauft sich die Haare. „Snow weiß alles und er hat genug Macht, um ihr wehzutun. Vielleicht hätte er sie in Ruhe gelassen, wenn ich nicht wäre. Aber alles, was er ihr antut, ist meine Strafe.“ Seine Hand ballt sich vor Wut zusammen. „Warum kann er nicht mir etwas antun? Warum sie? Er hat ihr schon alles genommen, ihr Leben, ihre Familie, ihr Zuhause ...“

„Wenn er dir etwas antut, verletzt sie das genauso.“ Johanna verschränkt die Arme vor der Brust. „Dann weiß er also von eurem kleinen Geheimnis. Das bedeutet er weiß, wie wertvoll sie ist. Snow wäre ein Dummkopf, wenn er sie jetzt einfach aus dem Weg räumen würde. Sie ist das perfekte Druckmittel für ihn! Dank mir hat er gelernt, dass es ein Fehler ist, einem alle zu nehmen, die man liebt.“ Ihr Mundwinkel zuckt verächtlich. „Und er wird es bald noch mehr bereuen.“

Er stöhnt. „Bitte sag sowas nicht.“

„Es ist die Wahrheit! Wach auf Finnick, so läuft das in diesem Leben!“ Sie wirft ihre Arme in die Luft. „Ein Grund mehr, alles hier auf die Grundfesten nieder zu brennen! Lass sie an ihrer gerechten Strafe ersticken!“

„Es ist noch nicht an der Zeit!“

Ihr Gelächter hallt durch die leere Halle, eiskalt und freudlos. „Zeit, Zeit, ich kann es nicht mehr hören. Wie lange wollen wir noch warten? Bis wir alt und grau sind? Wie viele willst du noch sterben sehen? Hast du noch nicht genug? Wie hießen sie? Edy? Cordelia? Sie waren Kinder, Finnick! Kinder! Hunderte Wespen haben dein Tributin zerstochen, bis sie aussah wie eine verdammte Mutation. Sie ist unter Qualen gestorben! Und für was? Für diesen Zirkus, der uns bis auf die Seele entblößt, uns vorführt ...“ Zitternd vor Wut richtet sie sich auf. „Wie lange noch?“, schreit sie ihm entgegen. „Sag es mir! Wann ist es genug?“

„Jo –“, versucht er sie zu beschwichtigen, doch ihr Zorn gewinnt die Überhand.

Sie tritt gegen den nächstbesten Ständer voller Speere und scheppernd ergießen sich die Trainingswaffen auf den Fußboden.

„Sei leise!“, zischt er genervt und vergräbt das Gesicht in den Händen. In seinem Hinterkopf melden sich mit stetigem Pochen Kopfschmerzen. „Glaubst du, mir geht es anders? Aber jetzt irgendwas zu versuchen wäre reiner Selbstmord!“

Sie atmet heftig, doch ihre Kontrolle scheint zurückzukehren.

„Denk an Distrikt elf, denk an die Aufstände, von denen ich erzählt habe! Wir sind bald am Ziel. Nur noch ein wenig, Jo.“

„Es macht mich fertig, dich so zu sehen“, stößt sie hervor. „Wenn ich könnte, würde ich Snow hier und jetzt den Kopf abschlagen.“

„Ich weiß.“

„Bitte sag mir, dass du irgendeinen Plan hast. Egal was. Die Mächtigen da draußen wollen ja offenbar nur zusehen.“

Finnick zuckt hilflos mit den Schultern. „Wir geben unser Geld an Elf und Zwölf. Versuchen, ihnen zu helfen. Ich hasse es, das zu sagen, aber je länger ihre Tribute leben, desto größer die Wut, wenn sie sterben. Und wenn sie nicht sterben – umso besser. Dann haben sie endlich wieder einen Sieger, oder eine Siegerin. Und wenn wir ganz viel Glück haben, können wir uns die Regeländerung zu Nutze machen.“

Ihm geht Annies Warnung durch den Kopf, dass Seneca Crane nur mit ihnen spielt. Aber die Möglichkeit ist dennoch zu gut, um sie sich entgehen zu lassen. „Wir müssen nur einen Weg finden, daraus etwas Nützliches zu machen. Vielleicht haben die hinter der Grenze schon eine Idee.“

Jetzt ist es an Johanna, sich die Haare zu raufen. „Das ist ein beschissener Plan. Ach was, es ist überhaupt kein Plan!“

„Und was schlägst du vor?“

Sie stemmt die Hände in die Hüften und starrt wütend an einen Punkt hinter ihm. Ihre Stimme ist unerwartet leise, als sie endlich spricht. „Ich weiß es nicht. Verdammt Finnick, ich weiß es nicht.“

Ihm ist nicht einmal danach, ihr ein triumphierendes „Siehst du“ an den Kopf zu werfen. Er ist einfach nur müde. „Hauptsache, ich kann Annie irgendwie aus allem raushalten. Sie hat genug durchgemacht.“

Johanna senkt geschlagen den Kopf. Ihre Schultern sacken nach unten und sie lässt sich auf den Boden fallen. „Manchmal beneide ich dich um deine Liebe, aber das hier ist keiner dieser Augenblicke.“

Für einen Moment sitzen sie in Schweigen versunken da.

„Glaubst du wirklich, Haymitch oder Chaff können das Ding reißen?“

„Warum nicht? Es gab schon ganz andere Wunder in den Hungerspielen.“

„Ein Sieger aus Distrikt zwölf braucht mehr als ein Wunder“, meint Johanna düster. Sie lässt sich auf den Rücken fallen. „Also, was glaubst du, welche Regeländerung wird es geben?“

Finnick entrinnt ein Seufzen. „Darüber habe ich viel nachgedacht, ohne eine Lösung zu finden.“ Er betrachtet den glänzenden Linoleumboden. „Von Titania Creed kamen jedenfalls nur irrwitzige Vorschläge.“

Vom Boden dringt spöttisches Kichern. „Wundert es dich? Sie glaubt ja schließlich auch, dass du sie liebst. Oder dass Peeta Katniss liebt. Wahrscheinlich ist das alles, was sie jetzt noch interessiert. Und wenn einer von beiden stirbt, ist es plötzlich doch wieder Distrikt eins oder zwei, dem sie ihre Kohle in den Rachen schiebt. Alles für den sicheren Sieg.“

„Da ist sie allerdings nicht die Einzige. Haymitchs Plan geht auf. Der Junge ist aber auch verflixt clever mit seinen Worten.“

„Verkehrte Welt“, grummelt Johanna. „Die, die sich nicht lieben, spielen es aller Welt vor und die, die sich lieben, müssen es verstecken. Ich wette, jemand würde diese Geschichte lieben.“

Darauf weiß auch Finnick keine Antwort. „Also, welche Regel würdest du ändern?“

Johanna starrt nachdenklich an die hohe Decke. „Ich fänd’s großartig, wenn alle die gleichen Chancen hätten. Keine Sponsoren, kein Füllhorn voller Vorräte, keine Fallschirme. Aber das wird uns auch nichts nützen.“

Zustimmend nickt Finnick. „Ich versteh die Idee, aber es würd unsere Lage nicht verbessern, nein. Zum Glück haben wir noch Beetee. Ich sollte ihn fragen, was ihm dazu einfällt. Er ist schlauer als wir alle zusammen.“ Vor lauter Überlegungen brummt ihm der Kopf gefährlich. „Lust auf noch eine kleine Runde, Jo?“

Grinsend springt sie vom Boden auf. „Darauf kannst du deinen Hintern verwetten, Odair. Aber glaub nicht, dass du mich beim zweiten Mal erwischst!“

Feindschaften

Nervös wickle ich eine Haarsträhne um meinen Finger. Den gesamten gestrigen Abend habe ich zusammen mit Cece damit verbracht, Formulierungen für das letzte Interview einzustudieren. Vorbereitet fühle ich mich dennoch nicht.

Wieder einmal stehen wir im Wartebereich vor Caesar Flickermans Studio, dieses Mal alle Mentoren gemeinsam. Roan hat uns in vergleichsweise schlichte schwarze Entwürfe gehüllt, die trotzdem kein Vergleich zu unserer herkömmlichen Trauerkleidung sind. Weder Arme noch Reiche in Distrikt vier würden derart pompöse Outfits zu einer Beerdigung anziehen.

Ich glaube sogar, dass niemand daheim überhaupt Kleidung besitzt, die ähnlich hochwertig ist. Zu Trauerfeiern tragen wir einfach die besten Stücke, die unsere Garderobe hergibt. Manche Familien aus der Stadt färben ihre Sachen extra für den Anlass schwarz ein, aber das ist selten. Färbemittel sind teuer.

Unser Aufzug steht in großem Kontrast dazu. Amber und ich haben sogar jede einen Hut mit kleinem Schleier in den Haaren festgesteckt bekommen, der laut Cece vornehm wirken soll. Mich stört er nur. Dahinter verstecken kann man sich nicht, denn der Stoff reicht kaum bis zur Nasenspitze. Er teilt bloß mein Sichtfeld in irritierende kleine Karos und ich muss dem Drang widerstehen, ihn fortzuwischen. Niemand in Distrikt vier würde sowas tragen wollen.

Cece aber schlägt dem Fass den Boden aus. Zu ihrem überdimensionierten Hut, dessen Krempe so breit ist wie ein Rettungsring, trägt sie ein dramatisches bodenlanges Kleid, das dank unzähliger dunkler Glitzersteinchen bei jeder Bewegung funkelt. Mit einem riesigen Fächer versucht sie, sich eine Abkühlung zu verschaffen.

Die Luft im Fernsehstudio ist zum Schneiden dick – und das liegt nicht nur daran, dass draußen Hochsommer herrscht. Seit Cece eine der Sendeleiterinnen zur Schnecke gemacht hat, weil wir auf unseren Auftritt warten müssen, treffen sie böse Blicke der Angestellten.

„Das ist doch nicht zu fassen“, murmelt Cece schon wieder. „Das sind jetzt zwanzig Minuten. So lange hab ich mein ganzes Leben noch nicht warten müssen. Das bringt den ganzen Terminplan durcheinander!“

Mindestens ebenso genervt rollt Amber mit den Augen. „Was für ein Terminplan, Cece? Falls du es vergessen hast, wir sind nur hier, weil wir keine Termine mehr haben. Für uns sind die Spiele vorbei.“

Unsere Betreuerin lässt ein entrüstetes Keuchen hören. „Es gibt genug zu organisieren! Nur weil wir dieses Jahr ausgeschieden sind, heißt das nicht, dass wir jetzt auf der faulen Haut liegen können. Nächstes Jahr ist ein Jubeljubiläum! Da kann man nie früh genug mit den Vorbereitungen anfangen. Gerade, wenn man es nächstes Jahr besser machen will.“

Amber entgegnet nichts mehr, doch als Cece ihr den Rücken zuwendet, rollt sie noch einmal demonstrativ mit den Augen.

Ich unterdrücke ein kleines Zucken der Mundwinkel. Zum Glück bestreiten wir diesen Auftritt gemeinsam. Wenn die anderen nicht wären, hätte Cece mich wahrscheinlich längst in den Wahnsinn getrieben.

Erlöst werden wir kurz darauf von der Sendeleiterin, indem sie uns zum Bühnenaufgang winkt. Die Sendung vor unserer ist mit knapp dreiundzwanzig Minuten Verzug endlich beendet. Das bringt das Lächeln auf Ceces Gesicht zurück. Lange währt ihre gute Laune allerdings nicht.

Aus Richtung des Studios kommt uns ausgerechnet Haymitch Abernathy entgegen, dessen Krawatte schlampig gebunden um seinen Hals baumelt. Abgesehen davon sieht er so gefasst aus wie selten. Sogar seine Haare sind gekämmt. Bei unserem Anblick verdunkelt sich sein Blick.

„Mussten wir etwa wegen ihm warten?“, stößt Cece empört hervor.

„Ja, Schätzchen, wegen mir“, fährt er ihr genervt über den Mund. „Ich hoffe, dir ist kein Fingernagel abgebrochen während der Wartezeit. Nächstes Mal lasse ich Flickerman wissen, dass er vorher dich um Erlaubnis fragen soll, wenn er die Interviews verschiebt.“

Cece schüttelt schon den Kopf und setzt zu einer Erwiderung an, aber Trexler wirft ihr einen warnenden Blick zu, der sie ausnahmsweise verstummen lässt.

Haymitch mustert uns kurz. Er scheint nicht ganz zu wissen, ob er sich freuen soll, dass seine Tribute noch leben, oder ob er sich für ihr Überleben entschuldigen soll. Er räuspert sich und entscheidet sich dann für Letzteres, wobei er die Augen auf seine Manschetten geheftet hält. „Mein Beileid wegen eurer Tributin. So hätte es nicht laufen sollen.“ Mit einer Hand fährt er sich über das glattrasierte Kinn. „Am Ende sind wir alle eben doch Feinde, wenn’s ums Überleben geht.“

Genau das hat er schon bei der Wagenparade gesagt. Wir sind alle Feinde. Früher habe ich dasselbe gedacht, schließlich erinnern Tribute wie Cato immer wieder daran, dass jeder sich selbst am nächsten ist. Brutalität siegt über Mitgefühl.

Aber ich habe nicht das Gefühl, Haymitch wegen allem, was geschehen ist, zu hassen. Wenn, dann sind die Spiele schuld an Cordelias Tod. Genauso, wie sie mich gezwungen haben, gegen Shine oder Victoria zu kämpfen. Ich will, dass er das weiß.

„Bitte, lass uns keine Feinde sein, Haymitch. Kein Bündnis hält ewig, so sind die Hungerspiele. Früher oder später da – passiert es. Das habe ich selber erfahren. Wenn Peeta oder Katniss es schaffen ...“, meine Stimme zittert bei den letzten Worten, „dann war es wenigstens nicht umsonst. Lass uns wenigstens helfen.“

Er betrachtet mich überrascht und kratzt sich verlegen an der Wange. „Mhhh. Trinket hat mir schon gesagt, dass ihr uns eure Gelder gebt. Das kann ich nie wettmachen. Ich hoffe, ihr werdet es nicht bereuen.“ In Haymitchs grauen Augen spiegelt sich Trauer. „Vielen Dank für euer Vertrauen.“

Finnick klopft ihm auf die Schulter. „Schon gut. Wir haben das einstimmig entschieden, weil wir wissen, was Distrikt zwölf ein Sieg bedeuten würde. Versprich uns nur, es weise einzusetzen.“

Der ältere Mentor nickt knapp. „Ich denke, das kann ich tun.“

Er winkt uns und dann verschwindet er in Richtung Ausgang. Wir dagegen werden von einer ungeduldig schnaufenden Cece daran erinnert, dass Caesar Flickerman auf uns wartet.
 

Mit der Gestaltung der Bühne hat sich das Kapitol wirklich alle Mühe gegeben. Innerhalb kürzester Zeit haben Avoxe das schlichte Studio in einen Ort des Andenkens verwandelt. Schwarze Stoffbahnen hängen hinter uns herab, davor die überlebensgroßen Porträts von Edy und Cordelia, die sie nach der Ankunft vor wenigen Tagen aufgenommen haben. Umrahmt wird das alles von einem Meer an weißen Rosen. Ihr penetranter Duft vernebelt das ganze Studio.

Prompt entweicht mir ein Niesen. Nur schwerlich widerstehe ich dem Drang, die Blumen zu packen und im Meer verschwinden zu lassen, wie ich es zuhause zweifellos getan hätte. Stattdessen nehme ich auf meinem Sessel platz, der ebenfalls von Rosenblüten umgeben ist.

Finnick sieht genauso unglücklich über das Blumenmeer aus. Ich registriere, wie er bei dem Anblick kaum merklich zusammenzuckt und mit spitzen Fingern ein Blütenblatt von seinem Sitzplatz pflückt. Aber selbst Cece rümpft angesichts des Rosendufts die gepuderte Nase.

Einzig Caesar Flickerman scheint unbeeindruckt – oder er hat bereits zu viel Zeit umgeben von diesem Geruch verbracht. Vielleicht riecht er mit seiner etwas zu oft operierten Nase auch nichts mehr. Wer weiß das schon.

Bei unserem Anblick lächelt er jedenfalls breit und klatscht in die Hände. „Distrikt vier! Ach, welch hinreißende Erscheinung. Und welch trauriger Anlass.“ Sein Lächeln straft ihn Lügen, als er vermeintlich wehleidig die Finger über dem Herzen verschränkt. „Sind alle bereit?“

Ich fühle mich so unvorbereitet wie immer, nicke aber nur, wie die anderen. Je eher wir es hinter uns bringen, desto besser.

Wenigstens ist das Interview keine Liveaufnahme, sodass wir Patzer nicht fürchten müssen. Zumindest habe ich aus diesem Grund Cece die Spritze mit dem furchtbaren Medikament ausgeredet.

Caesar gibt sich größte Mühe, fröhliche Stimmung zu verbreiten. Trotz des traurigen Anlasses klebt ihm sein strahlendes Lächeln fest im Gesicht. Selbst unter dem schwarzen Schleier hindurch blitzen mir seine weißen Zähne entgegen.

„Ich muss sagen, das Ausscheiden von Distrikt vier hat mir das Herz gebrochen. Ihr gehört jedes Jahr zu meinen Favoriten und soll ich euch auch sagen warum? Eure Tribute bezaubern uns nicht nur jedes Jahr mit ihren fantastischen Auftritten, sondern sie sind auch immer wieder so faszinierende Persönlichkeiten! Ich denke, ich spreche für das ganze Kapitol, wenn ich sage, dass Cordelia uns alle mit ihrem Mut und ihrer ehrlichen Natürlichkeit verzaubert hat.“

Auf einer Leinwand werden während Caesars Rede Momente von der Wagenparade eingespielt. Wohl zum letzten Mal sehe ich das Lächeln der Tribute. Mir ist, als würde eine eiserne Faust mein Herz umklammern.

„Und Edy, der arme Kleine. Seine Entschlossenheit bei unserem Interview hat mich wirklich hoffen lassen, dass er es schafft.“

Anfangs fällt es mir leichter, über die Tribute zu sprechen. In den ersten Aufnahmen sehen sie so glücklich aus, dass es einfach ist, ihr Schicksal kurzzeitig zu vergessen. Es hilft zudem, dass Caesar vor allem von ihren Outfits und dem Leben in Distrikt vier redet.

Aber schließlich kommen wir doch zu den Hungerspielen. Der Großteil des Blutbads bleibt uns diesmal erspart, wobei wir jeden erfolgreichen Mord von Cordelia Revue passieren lassen.

In Gedanken bin ich allerdings längst bei Edy. Es reicht, die Aufnahme von ihm, wie er ins Füllhorn schleicht, zu sehen. Irgendwann im Dunkel der Kapitollabore habe ich vergessen, wie oft sein Tod für mich abgespielt wurde. Es kommt mir vor wie ein einzelner, unendlich langer Moment, der sich bis in die Gegenwart ausdehnt. Seit ich bei der Eröffnungsfeier schreiend zusammengesunken bin, dauert er an.

Aus dem tiefsten Bewusstsein legt sich mir der schale Geschmack von Gummi auf die Zunge und Feuer zieht seine Bahnen durch meine Adern. Ich vervollständige die Aufnahme vor dem inneren Auge, während ich die Hände fest gegen die Armlehnen des Sessels presse.

„Stimmt das, liebe Annie?“

Beim Klang meines Namens zucke ich zusammen. Es ist, als hätte Tia den Knopf auf ihrer Fernbedienung gedrückt, der alles anhält. Ich tauche aus dem tosenden Sturm auf und starre Caesar Flickerman peinlich berührt an.

Er hat sich zu mir vorgelehnt und mustert mich aus dunklen Augen. Offenbar hat er eine Frage gestellt, die ich nicht mitbekommen habe. „Was denkst du darüber?“ Gespannt sieht er zu mir.

Obwohl sie nicht direkt neben mir sitzt, höre ich Cece angespannt die Luft einsaugen. Schließlich habe ich ihr erst vor der Sendung versprochen, mich unter Kontrolle zu haben. Wenn ich das jetzt vermassle, wird das auch auf sie zurückfallen. An die Kellerlabore darf ich gar nicht denken.

„Entschuldige vielmals, Caesar“, sage ich in einem aufgesetzt fröhlichen Tonfall, den ich mir bei unserer Betreuerin abgeschaut habe. „Ich ... hatte nur die Augen die ganze Zeit auf dem, äh, Bildschirm. Kann ich die Frage noch einmal hören ... bitte?“ Ich bemühe mich um ein höfliches Lächeln.

Enttäuschung flackert in den Augen des Moderators auf, aber er lehnt sich zurück und gibt den Kameramännern ein Handzeichen. „Natürlich. Wir nehmen die Stelle nochmal von vorne auf.“

Ich sorge dafür, dass meine Hände sich nicht mehr wie Klauen in das Sesselpolster krallen. Dieses Mal achte ich peinlich genau auf jedes Wort von Caesar Flickerman.

„Ich habe wirklich gedacht, dass Edy einen Plan hatte. Ihr überlasst schließlich nichts dem Zufall. Eure Tribute sind ausgezeichnet ausgebildet und haben immer den Sieg vor Augen“, führt Caesar aus. „Sein Ausscheiden war in jedem Fall ein Schock. Die Zuschauer sehen das sicherlich genauso. Wir alle hatten fest damit gerechnet, dass er in das Bündnis mit Distrikt eins und zwei aufgenommen wird. Ich habe nur Behauptungen gehört, aber stimmt es, dass es zwischen Cato und Edy eine Fehde gab, liebe Annie?“

Die Gerüchte kann ich mir nur allzu lebhaft vorstellen. Wahrscheinlich hat mehr als eine Person hinter den Kulissen unseren Zusammenstoß mit Cato beobachtet und sogleich die Neuigkeiten im Kapitol verbreitet. Caesar ist nur zu höflich, um es direkt auszusprechen. Ein Zufall, dass ausgerechnet mir diese Frage gestellt wird, ist es sicherlich nicht.

Zum Glück hat Cece in ihrer Vorbereitung auf das Interview so gut wie jede Fragestellung vorhergesehen und so bin ich gewarnt, dass die Ohrfeige für Cato auf keinen Fall zur Sprache kommen darf.

„Tja, äh, Caesar, leider können wir die Tribute nicht auf alle Eventualitäten einstellen. Die Arena hat ihren eigenen Willen, könnte man sagen.“ Irgendwie so hat Cece die Sätze für mich aufgeschrieben. Ich hoffe, dass sie den Moderator halbwegs zufriedenstellen. „Und leider hat Cato sich entschieden ... Edy nicht zu vertrauen. Ein Fehler, so hat er sich um einen wertvollen Verbündeten, ähm – gebracht.“

Die Sätze klingen furchtbar steif und langweilig, das ist selbst mir bewusst. Für jeden in Distrikt vier, vor allem für Edys Eltern, müssen sie purer Hohn sein. Doch meine Kraft reicht gerade einmal dafür, Ceces Anweisungen zu befolgen. Immerhin steht das, was ich wirklich fühle – oder ein Teil dessen – auf den Trauerkarten, die wir den Familien mitbringen werden. Vielleicht werden sie es so verstehen.

So einfach lässt Caesar mich jedoch nicht vom Haken. Er beugt sich mit einem Funkeln in den Augen weiter vor. „Stimmt es denn, dass Edy und Cordelia einen Plan hatten, das Bündnis zu hintergehen? Das würde doch erklären, warum sie mit Cato ... zusammengestoßen sind?“

Ich beiße mir auf die Unterlippe. Anscheinend gibt es nichts, was er nicht weiß. Nervös krame ich in meinem Kopf nach der Antwort. „Nun, ähm. Sie hätten das Bündnis verlassen, nicht hintergangen. Sie wollten nicht mit den –“, ich kann mich gerade noch bremsen, bevor ich Karrieros sage. Das Wort benutzt niemand im Kapitol. Offiziell gibt es schließlich keine Karrieretribute. „– mit den Tributen aus Eins und Zwei kämpfen.“

„Also wollten sie fliehen!“, ruft Caesar mit etwas zu viel Begeisterung aus.

„Sie wollten einen, ah, anderen Weg einschlagen“, stammle ich mir zurecht.

Ich erinnere mich dunkel, dass Cece solche „Ausweichsätze“ vorbereitet hatte. Unglücklich zucke ich mit den Schultern, in der Hoffnung, von jemandem aus dieser Situation zu befreit werden.

Flickerman legt indes eine Hand auf mein Knie und strahlt mich mit unnatürlich weißen Zähnen an. „Annie, willst du etwa darauf anspielen, dass ihr euch mit dem Feind verbrüdern wolltet?“ Er zwinkert in die Kameras. „Die Rede ist natürlich von Distrikt zwölf. Das Gerücht geht nämlich auch um, seit Peeta in der Arena ein Brot aus eurem Distrikt geschickt bekommen hat.“

Ich habe das Gefühl, dass mich seine Augen durchbohren wie ein eisig kalter Speer. Mit dieser ausweichenden Antwort bin ich geradezu in seine Falle getappt.

Ein hilfloses Kichern bahnt sich den Weg meine Kehle hinauf. Ich zupfe an dem nutzlosen Schleier herum, um ihn tiefer ins Gesicht zu ziehen. Sofern Cece mir eine Erwiderung darauf bereitgelegt hat, fällt sie mir nicht mehr ein. „Distrikt zwölf ist nicht direkt unser Feind ...“, gebe ich wenig einfallsreich zum Besten.

„Aha!“ Caesar Flickermans triumphierender Aufschrei lässt mich schon wieder zusammenzucken. „Also, was war der Plan? Habt ihr mit Haymitch Abernathy gemeinsame Sache gemacht?“

Ich nicke.

„Warum setzt ausgerechnet ein wohletablierter Distrikt wie eurer auf die Außenseiter?“

„Ah, nun ... zusammen hätten sie eine Chance gegen die Kar– ähm, Favoriten gehabt.“

„Aber sie gehörten doch zu den Favoriten! Hattet ihr keine Angst vor der Gefahr für eure Tribute?“

Mit zugeschnürtem Hals schüttle ich den Kopf. „Das Bündnis ... am Ende, also, na ja, da zerbricht es meist ... und deswegen – ein frühzeitiger Ausweg ...“

Aber Caesar hört mir gar nicht zu, sondern bestürmt mich mit weiteren Fragen. „Seid ihr nicht enttäuscht, dass Abernathy sich jetzt mit all den Sponsorengeldern aus dem Staub macht? Ohne eure Unterstützung wäre Distrikt zwölf vielleicht ausgeschieden. Cordelia hätte die Tribute töten können, in der Nacht am Baum. Dann hätte sie bei den favorisierten Tributen aus Eins und Zwei bleiben können. Vielleicht würde sie dann noch leben?“

Unter dem Bombardement von seinen Fragen schrumpfe ich immer weiter im Sessel zusammen. Ceces sorgfältiger Plan zerfällt in meinem Kopf in seine Bestandteile, denn angesichts der zunehmenden Panik macht sich dort Leere breit.

Übrig bleibt vor allem Wut. Darüber, dass unsere Tribute tot sind und wir trotzdem noch in diesem Spiel gefangen sind. Und darüber, wie Flickerman von Distrikt zwölf redet, als hätten dessen Tribute unmöglich den Sieg verdient. Und wie er uns Mentoren darstellt – unfähig das Leben ihrer Schützlinge zu retten.

Meine Hände entwickeln ein Eigenleben und ballen sich fest zusammen. Ich sehe von Caesar fort, in die Düsternis des Studios mit den großen Kameras, die jede unserer Regung einfangen. Ich straffe trotzig die Schultern und starre mitten in die Linse.

„Aber diese Tribute sind nicht unser Feind.“ Die Worte richten sich mehr an den alle daheim, die Menschen, die nie verstehen werden, was genau wir Mentoren im fernen Kapitol entscheiden. Doch sie verdienen es, das zu wissen. „Peeta hat Cordelia gegenüber nichts als Mitgefühl bewiesen und deswegen werde ich an ihn glauben. Bis zuletzt. Er hat es verdient, egal wer sein Mentor oder Distrikt ist. Weil er ein – ein guter Mensch ist!“

Das Studio und die Kameras verschwimmen vor meinen Augen bis zur Unkenntlichkeit, aber das macht es leichter. Nur schemenhaft erkenne ich Caesar Flickerman, der endlich seine Hand von meinem Knie gleiten lässt und sich mit einem Hüsteln zurücklehnt.

Jemand ruft laut „Schnitt!“.

„Kein Problem, Annie, wir nehmen das nochmal neu auf. Ich frage einfach – Floogs, du magst doch bestimmt erzählen“, sprudelt es übereilt aus dem Moderator hervor. „Ja, mein Lieber, auf drei, in Ordnung?“

Irgendwer reicht mir ein Taschentuch. Ich tupfe die Augenwinkel trocken und die Kameras richten sich auf Floogs. Niemand sagt ein Wort zu meiner kleinen Rede, aber ich sehe es in Finnicks aufgewühltem Blick. Was immer da gerade aus mir hervorgebrochen ist, war zu viel Wahrheit für das Kapitol.

Ich starre in die Ferne, während Flickerman und Floogs das Gespräch über Distrikt zwölf wieder aufnehmen. Was macht das Mentorinnendasein nur mit mir? Dieser Wandel bereitet mir Angst.

 

***

 

 

Die kommenden Tage ziehen endlos zäh an mir vorbei, wie ein Gummiband, das sich dehnt und dehnt, ohne je zurückzuschnellen. Oft vergesse ich mitten am Tag, was ich tue, und finde mich starr vor einem Fenster sitzend wieder, den Blick ins Nichts gerichtet. Es vergehen Minuten, bisweilen aber auch Stunden, und plötzlich sehe ich die letzten Sonnenstrahlen hinter den hohen Türmen des Kapitols versinken.

Ich ertappe meine Finger des Öfteren dabei, wie sie von ganz alleine anfangen, sich zu bewegen, mit Sachen herumspielen, oder lange Haarsträhnen verknoten. Egal wie sehr ich es zu unterdrücken versuche, sie schleichen sich immer wieder ans Werk, als würde jemand Fremdes meine Glieder kontrollieren.

Finnicks Pinguin ist ein treuer Begleiter in diesen Tagen und wenn ich das Gefühl habe, den Halt zu verlieren, umklammere ich ihn fest. Das kleine schwarz-weiße Plüschtier ist eine stetige Erinnerung daran, dass ich nicht alleine bin.

Im Fernsehen laufen die Spiele weiter, aber sie plätschern nur an mir vorbei, eine Abfolge an immer gleichen Bildern. Wald, Wiese, der See, Caesar Flickerman im Studio – und von vorne.

Katniss, die über Nacht erst beinahe zur Favoritin geworden ist, liegt jetzt ohnmächtig im Lager von Rue aus Distrikt elf. Fieberkrämpfe schütteln sie stundenlang. Mehr als einmal ruft sie, gefangen in Halluzinationen, Namen. Prim, immer wieder Prim. Aber sie schreit auch nach Peeta, ein oder zwei Mal.

Ihn hat es noch schlimmer getroffen. Glaube ich. Cato hat sich ihm entgegengestellt, nachdem er zurückgelaufen ist, um Katniss zu warnen. Sein Schwert hat Peeta das Bein aufgeschlitzt, den halben Oberschenkel. Im Schlamm eines Flusses liegend hat dieser keine Kraft mehr, gegen seine Fieberträume anzukämpfen, aber seine Lippen formen trotzdem hilflos einen Namen, einen einzigen. Katniss.

Alle schmelzen dahin, angesichts des tragischen Liebespaars, wie sie offiziell von Caesar Flickerman getauft werden. Ich höre Cece von ihnen schwärmen und selbst die anderen Mentoren verfolgen mit unglaublichem Interesse jede winzige Bewegung der beiden Jugendlichen.

Die Spiele zerren an meinen Nerven wie die blutrünstigen Piranhas damals im Finale an Shine. Wann immer die Arena im Fernsehen eingeblendet wird, stehe ich auf und verlasse das Zimmer. Es ist sowieso egal, ob ich zusehe. Die Tribute werden dennoch leben – und sterben.

Ich bekomme mit, dass Finnick des Öfteren das Appartement verlässt, frage ihn aber nicht danach. Das Wissen darum wäre keine Erleichterung. Stattdessen suche ich mir abgelegene Ecken, in denen mich niemand findet, vor allem nicht Cece.

Ihre aufgesetzte Freundlichkeit und das ständige Gerede von dem Jubeljubiläum nächstes Jahr nehmen mir noch den Verstand. Ich will nicht einmal daran denken, mit welchen neuen fiesen Bedingungen wir uns dann auseinandersetzen müssen.

Nur beim gemeinsamen Abendessen, zu dem Cece uns immer noch zwingt, erfahre ich von den anderen, was am Tag geschehen ist. So kommt es dazu, dass ich erst am dritten Abend Katniss Erwachen mitbekomme, obwohl sie schon seit der vorangegangenen Nacht wieder auf den Beinen ist. Lange kann ich mich aber auch darüber nicht freuen. Das bedeutet nur, dass die Schonzeit der Spielmacher für sie vorbei ist.

Ich flüchte vor meinen Gedanken und vom Esstisch, als sich mal wieder eine Unterhaltung über die Strategie der verbleibenden Distrikte ausbreitet. Es bemerkt keiner, dass ich zusammen mit den Avoxen, die den Tisch abräumen, davonschleiche.

Im Gang hinter der Küche, der eigentlich nur für die Bediensteten gedacht ist, lehne ich mich mit der Stirn voran an ein Fenster und sinniere darüber nach, ob sich die Hungerspiele in den kommenden Jahren wohl je verändern werden.

Lange bleibe ich mir selbst nicht überlassen. Sanfte Schritte durchbrechen meine konzentrierte Gedankenschleife. Vermutlich ist es doch jemandem aufgefallen, dass ich mal wieder abgehauen bin. Es wäre schön, wenn Finnick käme, aber der ist seit dem Morgen nicht mehr aufgetaucht.

Einen langen Seufzer ausstoßend, drehe ich den Kopf in Richtung des ungebetenen Eindringlings. Es gibt viele Menschen, mit denen ich gerechnet hätte, und sie gehört definitiv nicht dazu.

Für einen Augenblick mustere ich Dr. Gaul sprachlos. Sie hier, in unserem Appartement zu sehen, ist so falsch wie eine Forelle auf dem Trockenen. Anstelle ihres weißen Laborkittels trägt die Ärztin ein pinkes Kostüm, das mit ihren Haaren wetteifert, und flache silberne Schuhe. In diesem Aufzug sieht sie aus wie die kleine Schwester von der Eskorte aus Distrikt zwölf.

Sie bleibt in einigen Schritten Entfernung stehen und schenkt mir ein zaghaftes Lächeln, als sei ich ein schreckhaftes Wildtier, das sie nicht verscheuchen will. Sobald ihr klar wird, dass ich nichts sagen werde, grüßt sie zuerst. „Hallo Annie. Ich war gerade in der Gegend und dachte, ich schaue einmal hier vorbei, um zu sehen, wie es dir ergeht. Tia wäre ja selbst gekommen, aber sie ist zur Zeit sehr beschäftigt. Von daher ...“, sie zuckt mit den Schultern, „musst du mit mir vorlieb nehmen.“

Ich nicke kaum merklich. Dr. Gaul ist zumindest nicht meine Foltermeisterin. Die düsteren Schreie der Schnattertölpel habe ich allerdings nicht vergessen. Wer weiß, welche Hässlichkeiten sich unter der Oberfläche noch befinden. In den unendlichen Tiefen lauern die schrecklichsten Ungeheuer.

„Und jetzt?“, frage ich matt. Ob sie wohl gehört hat, was nach Cordelias Tod geschehen ist? Oder ist es wegen des Ausbruchs beim letzten Interview? Werde ich wieder eingesperrt und gequält?

Müde sinkt mein Kopf zurück gegen die Fensterscheibe. Soll sie mich doch holen. Was immer passiert, ich werde es ertragen. Hauptsache, die anderen sind nicht wegen mir in Gefahr.

Doch Dr. Gaul macht keine Anstalten, sich auf mich zu stürzen. Sie bleibt stehen, immer noch lächelnd. „Darf ich mich zu dir setzen?“

Ich brumme so etwas wie Einverständnis, ziehe aber die Beine enger an den Körper.

Sie setzt sich eine Armlänge entfernt von mir auf den Boden. „Interessante Aussicht“, stellt sie bewundernd fest und lehnt sich vor, um in alle Richtungen zu schauen. „Aus diesem Blickwinkel habe ich das Kapitol auch noch nie gesehen.“

„Warum nicht?“, stolpert mir die Frage aus dem Mund.

In der Spiegelung auf der Schreibe erkenne ich, wie Dr. Gaul die Lippen zu einem dünnen Strich verzieht. „Unten im Labor gibt es keinen Ausblick“, erwidert sie. „Vor lauter Arbeit vergisst man manchmal, wie es hier draußen ist. Und so hoch oben.“ Eilig lehnt sie sich wieder zurück, als ihr Blick die Straße vier Stockwerke tiefer streift. Vielleicht bilde ich es mir ein, doch es scheint, dass ihre Stimme eine wehmütige Färbung bekommen hat.

„Aber genug davon!“, setzt sie energisch hinzu. „Wie ist es dir ergangen in den letzten Tagen?“ Die unausgesprochenen Worte „Was ist mit Cordelia?“ hängen in der Luft zwischen uns wie eine unüberwindliche Mauer.

Möglichst unbeteiligt zucke ich mit den Schultern. „Alles in Ordnung. Die Spiele sind für uns vorbei. Wir warten bloß auf die Rückfahrt.“ Ich schiebe die Hände unter meine angezogenen Oberschenkel, um ihr leichtes Zittern vor Dr. Gaul zu verbergen.

Egal, was ich versuche, es will einfach nicht aufhören. Eine kleine Dosis Morfix sorgt dafür, dass es weniger wird. Aber das nehme ich nicht mehr, seit dem Morgen nach dem letzten Interview. Ich hatte eine schreckliche Halluzination, die mich glauben ließ, mein ganzes Zimmer sei mit surrenden Jägerwespen gefüllt. Das Zittern erträgt sich leichter.

Aber Dr. Gaul sieht mich ohnehin nicht an. Ihr Blick hat sich an der langsam untergehenden Sonne festgesaugt. „Und der Tod von Cordelia?“, stellt sie doch die heikle Frage.

Schon bei der Erwähnung schrumpft mein Herz auf die Größe einer ausgedörrten Traube. Ich befeuchte die Lippen mit der Zunge. „Es ist passiert. Es war ... anstrengend. Aber jetzt ist sie tot und alles ist vorbei.“

„Verstehe.“ Dr. Gaul rutscht auf dem harten Boden herum und versucht, ihren hochgerutschten Rock glattzustreichen. „Da wäre noch etwas.“ Die junge Ärztin senkt den Blick in den Schoß und dreht schon wieder diesen schlichten Ring an ihrem Zeigefinger. „Wegen der Labore ...“

Ich habe das Gefühl, mein verschrumpeltes Herz stülpt sich nach innen. Fast schmecke ich das muffige Gummi auf der Zunge wieder, spüre die Fesseln an den Handgelenken. Der Versuch, einen tiefen Atemzug zu nehmen, scheitert kläglich an dem Stechen, das mir durch die Brust schießt.

Schon wieder schleichen sich meine Finger an ihr Werk und beginnen den Saum meiner Stoffhose zu malträtieren. Ich spüre kalte blaue Augen auf mir, leblos und doch voller Hunger, begleitet von dem schneidenden Gelächter der Schnattertölpel.

Der Blick der Ärztin wandert den Gang entlang und schließlich die Wände hoch zur Decke. Sie presst die Lippen fest aufeinander und dreht den Kopf ein Stück näher. „Das Kapitol duldet keine Einmischung.“

Das dumme Herz in meiner Brust stolpert, nur um dann seinen Takt zu beschleunigen. Das ist es. Ich bin ihnen ausgeliefert. Bevor sie noch etwas sagen kann, nicke ich heftig. „Ich weiß. Ich – ich habe nichts gesehen.“

Dr. Gauls Blick fällt wieder auf den Ring an ihrem Finger, den sie genauso gedankenverloren dreht, wie ich den Hosensaum zerpflücke. „Annie ...“, setzt sie an, etwas zu sagen, aber die Worte werden ihr von einem hohen Piepen abgeschnitten, das unser gesamtes Appartement durchdringt. Auch wenn beide Tribute tot sind – die Warnungen haben nie aufgehört.

Ich presse die Hände auf die Ohren, um das Geräusch zu vertreiben. Davon will ich nichts mehr wissen. Vielleicht kommen gleich die Friedenswächter mit der Spritze um die Ecke. Angst schlägt über mir zusammen wie Wogen eiskalten Meeres. Das Kapitol wird mich in das Labor zurückzwingen und dann gibt es kein Entkommen vor den Spielen, nie wieder.

Verwirrt sieht Dr. Gaul mich an und rüttelt schließlich an meiner Schulter. Ihr Mund öffnet und schließt sich, aber ich drücke die Handflächen bloß fester an den Kopf. Doch dann fühle ich etwas Unerwartetes: Sie streicht mir über den Rücken, wie es sonst nur Finnick darf.

Mein Blick schnellt zu ihr herum und ertappt zieht sie sich zurück. „Ist das nicht die Sirene für die Spiele?“, fragt sie, nachdem ich zögerlich die Hände lockere.

Ich nicke. „Aber es ist alles egal, Cordelia und Edy sind tot! Für die anderen kann ich nichts tun!“ Mir bricht die Stimme angesichts des dicken Kloßes, der sich in meiner Kehle ausgebreitet hat. „Jemand wird sterben, was ändert es, wenn ich zusehe?“

Die Ärztin sieht wieder aus dem Fenster auf die goldenen Strahlen der frühen Abendsonne, die das Kapitol in voller Unschuld erstrahlen lassen. „Die Spiele sind Pflicht.“ Es klingt nicht, als wäre sie sich da sicher, sondern mehr wie eine Frage. „Wir sollten gehen“, setzt sie fester hinzu.

Alles in mir sträubt sich dagegen. Nur der Fakt, dass Dr. Gaul noch keine Spritze gezückt hat, sorgt dafür, dass ich mit wackligen Knien aufstehe. Sie ist das Kapitol, das darf ich nicht vergessen. Jede Weigerung wird mein Martyrium nur schlimmer machen.

 

Im Wohnzimmer sind bereits alle bis auf Finnick vor der Leinwand versammelt. Amber wirft mir einen eigenartigen Blick zu, als ich mit Dr. Gaul im Schlepptau auftauche, dreht sich dann aber kommentarlos zu der Übertragung aus der Arena.

Die Szene erscheint chaotisch. Wir sehen viele einzelne Einstellungen, jede die Sicht eines anderen Tributs. Irritiert flackern meine Augen über die unterschiedlichen Bilder, auf der Suche nach einem bekannten Gesicht oder einem Anhaltspunkt, was hier gerade geschieht.

Es braucht drei Anläufe, bis mein Kopf es endlich schafft, die Einzelteile zusammenzusetzen. Da ist zum einen Katniss, die mit dem silbernen Bogen in der Hand in einem Gebüsch liegt. Wann hat sie die Waffe bekommen? Ich erinnere mich nur, dass Glimmer ihn zuletzt hatte. Dann fällt mir wieder ein, dass die Tributin aus Eins genauso gestorben ist, wie Cordelia.

Egal. Während meine Finger sich mit einem losen Faden beschäftigen, konzentriere ich mich auf die restlichen Bilder. Das, was von den Karrieros übrig ist – Marvel, Cato und Clove – steht im Wald und schreit einander aus Leibeskräften an. Sie übertönen sich mit vor Wut verzerrten Stimmen, sodass ich kein Wort verstehe.

Der kleine Tribut aus Drei indes ist am Füllhorn zurückgeblieben, wo er ganz alleine einen Speer umklammert, der fast doppelt so groß ist, wie er selbst. Unruhig gleitet sein Blick von links nach rechts.

Und dann ist da noch Rue, die versucht, einen Haufen junger grüner Äste und allerhand schlecht brennbare Materialien zu entzünden. Mit ihren kleinen Händen schützt sie das Glutnest und pustet hinein. Immer wieder hebt sie den Kopf und starrt ängstlich in den Wald.

„Tust du nur so blöd oder bist du wirklich so dämlich?“, schreit Cato in diesem Moment so laut, dass ich zusammenzucke. Augenblicklich vergrößert das Kapitol uns die Ansicht der streitenden Karrieros. Der Tribut aus Distrikt zwei hat sein Schwert festumklammert und steht bedrohlich dicht vor Marvel.

„Niemand kann unser Lager überfallen“, hält dieser gegen Cato an. „Wenn es jemand versucht, ist er tot. Dafür haben wir schließlich die Minen, oder?“ Seine Stimme zittert kaum merklich und er tritt einen Schritt zurück, aus der Reichweite seines Verbündeten. „Aber wenn sie sich geteilt haben, damit einer die falsche Fährte legt ... dann können wir denjenigen jetzt erwischen und ausschalten.“

„Wenn, wenn ... das ist mir zu viel Glücksspiel!“ Genervt spuckt der blonde Karriero auf den Erdboden. „Ich will die kleine Everdeen, nicht irgendein anderes Gör! Und etwas sagt mir, dass sie uns an der Nase herumführt, solange wir hier riesigen Rauchwolken folgen. Sie ist die Einzige, die so viel Nerven hat.“

Clove grinst gehässig und tritt hinter ihn. „Ich sage, wir krallen uns erst das kleine Vögelchen im Lager und dann kümmern wir uns um den oder die Idiotin, die diese Feuer entzündet. Dann bekommt ihr beide, was ihr wollt. Vielleicht ist es ja Loverboy.“ Sie balanciert ein Messer auf ihrer Fingerspitze, das sie am Ende des Satzes in die Luft wirft und am Griff wieder auffängt. „Wenn ihr zwei Volltrottel euch noch länger so anschreit, erwischen wir jedenfalls niemanden.“

Cato sieht aus, als hätte er dazu eine gesalzene Erwiderung auf den Lippen, verkneift sie sich nach einem Blick in Richtung Marvel allerdings. Clove ist alles, was zwischen ihm und einem Duell mit seinem Konkurrenten steht. Wenn sie stirbt, das wird mir schnell klar, hält ihn nichts mehr zurück. Andererseits könnte sie ihm auch vorher helfen, Marvel auszuschalten. Er sollte es sich nicht verscherzen mit ihr.

Ich gehe vorsichtig um die Sitzgruppe im Wohnzimmer herum, zu einem einsamen Sessel. Meine Beine zittern so sehr, wie nach einem Tag harter Arbeit auf einem schwankenden Schiffsdeck.

Dr. Gaul folgt mir wie ein Schatten und stellt sich stumm hinter mich, die Augen ebenso unverwandt auf die Leinwand gerichtet. Sobald man erst einmal die Hungerspiele sieht, ist es unmöglich, den Blick abzuwenden.

Marvel indes atmet flach aus und schließt die Hand fester um seinen Speer. „Clove hat recht. Lass uns gehen.“ Angesichts seiner Resignation ist ihm wohl auch die Erkenntnis gekommen, dass er ihr nächstes Opfer werden könnte.

„Wehe wir kommen zu spät ...!“, kündigt Cato drohend an und täuscht mit seinem Schwert eine harsche Schnittbewegung an.

Nur ein kurzes Flattern der Augenlider verrät uns Marvels Angst. Die klägliche Karrierotruppe macht sich auf den Weg in Richtung ihres Lagers, hinter ihnen eine schwelende Rauchsäule, die sich deutlich vom frühen Abendhimmel abhebt.

Die Spielmacher scheinen sich über das ganze Drama zu freuen, denn kaum rennen die Drei stumm durch das Unterholz, halten die Kameras wieder auf Katniss, die nicht länger im Gebüsch hockt. Und nun wird mir klar, wo sie sich befindet: Am Füllhorn, nur Meter entfernt von den Vorräten der Karrieros.

Die Ironie dieser absurden Situation bringt ein trockenes Auflachen aus meiner Kehle hervor. Es scheint, dass sie endlich das bekommen, was sie verdienen.

Katniss steht aufrecht da, den glänzenden Bogen fest in der Hand. Bei ihr sieht es ganz anders aus als bei Glimmer. Mit wenigen Griffen legt sie einen Pfeil an, spannt die Sehne und zielt. Fast geräuschlos streift das Geschoss ein Netz mit Äpfeln und reißt ein Loch hinein.

Auf Katniss Gesicht ist keine Regung zu erkennen. Sie greift nach einem zweiten Pfeil, legt an, spannt und schießt. Dieses Mal fällt ein Apfel aus dem Sack. Der dritte Pfeil ist bereits abgeschossen, da wird mir klar, was sie vorhat. Ich erinnere mich wieder, wie der Junge aus Distrikt drei und Peeta die Minen rund um die vierundzwanzig Plattformen ausgegraben haben.

Wie in Zeitlupe kullern die Äpfel aus dem kaputten Netz auf die umgegrabene Erde rund um das Lager. Meine Hände sind auf halbem Weg zum Kopf, da zerreißt die erste Explosion das angespannte Schweigen im Appartement.

Ich stöhne. In mir drinnen erscheint wieder der rutschige Felsen, auf dem Pons Leben unter tosendem Krachen ein Ende fand. Mit den Knien zuerst lande ich auf dem weichen Teppichboden. Unerbittlich dringt das Donnern weiterer Detonationen durch meine schweißnassen Hände auf den Ohren. Eine heiße Woge aus Adrenalin brandet durch mich und vernebelt jeden Sinn.

Kühle Fingerspitzen legen sich mir auf die Schultern. Ich höre wilde Stimme, alle reden durcheinander. Noch immer kracht es in der Arena.

„Lass mich“, fauche ich angesichts der Person, die neben mir kniet und leise redet. Wenn es nicht Finnick ist, will ich nichts davon wissen. Niemand außer ihm versteht die Panik, versteht mich!

„Annie“, höre ich eine Stimme sagen, „Annie, bleib hier.“ Es ist Dr. Gaul. „Alles ist in Ordnung. Ich kann dir helfen.“

Ihre Anwesenheit habe ich völlig vergessen. Im Gegensatz zu den vielen hektischen Rufen um mich herum sind ihre Worte vollkommen ruhig. Ich versuche, den Atem wieder unter Kontrolle zu bekommen. Warum ausgerechnet sie?

„So ist es gut“, vernehme ich Dr. Gauls sanfte Stimme. „Atme tief ein und aus. Die Explosionen können dir nichts anhaben.“

„Was – was ist mit ... mit Katniss?“, stelle ich meine dringendste Frage.

„Alles gut. Sie lebt. Sie ist in Sicherheit.“

Ich spüre, wie das Adrenalin genauso schnell entschwindet, wie es gekommen ist. Mit einem seichten Kribbeln gleitet es durch meine Fingerspitzen und zurück bleibt nur Leere. Auf einmal höre ich alles ganz deutlich, jedes Geräusch aus der Arena und die Stimmen der Mentoren um mich herum.

Dr. Gauls Hände auf meinen Schultern sind leicht wie Federn. „Das waren nur die Vorräte“, sagt sie beschwichtigend.

Egal, was ich von ihr gehalten habe, in diesem Moment klammere ich mich verzweifelt an ihre Stimme. Aber dann nähern sich laute Schritte und Dr. Gaul schreit empört auf.

„Weg von ihr!“

„Ich wollte nur helfen!“

„Fass sie nicht an!“

„Aber ...“

„Lass sie einfach in Ruhe! Ihr habt genug Schaden angerichtet!“

Finnick ist wieder da.

Die stärkste Macht

Im Festsaal unter dem Trainingscenter ist es gespenstisch still. In dem Moment, da Katniss Everdeen mit ihrem dritten Pfeil auf die Vorräte der Karrieros zielt, könnte man ein Glitzersteinchen von den üppigen Kleidern der Sponsorinnen fallen hören.

Selbst Beetee hat aufgehört, wilde Notizen für mögliche Regeländerungen auf seinen kleinen Schreibblock zu kritzeln. Obwohl er und Finnick seit Tagen über nichts anderem mehr gebrütet haben – hier, im Trainingscenter und sogar auf einer Party im Präsidentenpalast – scheint ihr verzweifeltes Ringen nach einem Plan für den Augenblick vergessen. Beetees Finger mit dem Stift in der Hand schweben immer noch über dem Papier, aber seine Augen sind fest auf die Bilder aus der Arena gerichtet.

Grelles Weiß erfüllt den Bildschirm, als ein Apfel nach dem anderen aus dem Netz fällt und fast meint Finnick, dass der Marmorboden unter seinen Füßen erzittert. Hastig wechselt die Ansicht zu einer höher gelegenen Kamera, die von oben das verheerende Ausmaß der Detonationen einfängt. Von der einst stolzen Vorratspyramide bleibt nur ein Häufchen Asche.

Die Wucht hat Katniss von den Füßen geworfen. Sie liegt flach atmend auf der Erde und starrt mit einem wilden Ausdruck auf die von ihr verursachte Verwüstung. Ein Rinnsaal Blut läuft aus ihrem Ohr, aber das nimmt sie anfangs gar nicht wahr. Auf allen vieren kriecht sie zurück in das Gebüsch am Rand der Lichtung.

Beetee stößt ein leises Zischen aus. „Verdammt, das war clever.“ Sein Blick huscht suchend über die Leinwände, während er die Mine seines Stifts immer wieder ein- und ausfährt.

Finnick mustert seinen Verbündeten, dessen kleine Ticks ihn nach all den Tagen, die sie die Köpfe zusammengesteckt haben, die Wände hochtreiben könnten. „Sie haben’s verdient“, brummt er missmutig. Das Karrierobündnis ist angezählt und er bedauert es kein bisschen.

Sein Gegenüber lässt sich allerdings nicht zu einer Antwort herab. Mit der Zunge zwischen den Lippen verfolgt er angespannt, wie die Tribute aus Eins und Zwei aus dem Wald herausstolpern und zuerst fassungslos, dann wutentbrannt, auf die verkohlten Überreste ihrer Vorräte starren.

Erst da wird Finnick klar, worüber Beetee sich wirklich Sorgen macht. Natürlich. Sein Schützling, der auf das Lager aufpassen sollte, gehört auch zu den Karrieros. Zumindest solange er nützlich für sie ist. Jetzt steht er jedoch genauso bestürzt vor dem kläglichen Häufchen Asche wie die anderen Tribute. Wäre er nicht vorhin dem Mädchen aus Distrikt fünf gefolgt, hätten die Explosionen ihn vielleicht getötet.

Kaum, dass Cato ihn erblickt, wird seine erboste Stimme laut. „Was ist hier passiert? Wer hat das getan?!“

Der Tribut versucht stammelnd, eine Erklärung für die Verwüstung zu finden, doch den Karriero interessiert das nicht länger. Grob packt er den Speer des Jungen und entreißt ihn seinem Griff. „Das brauchst du nicht mehr“, zischt er mit einem gehässigen Grinsen. Mit einem letzten Rest Entschlossenheit will der Kleine weglaufen, aber Cato ist schneller – und stärker.

Beetees Augen weiten sich und der Stift in seinen Fingern kommt zur Ruhe. Cato schließt die kräftigen Hände um den Kopf des vierzehnjährigen Tributs. Es braucht bloß einen energischen Ruck und sein Körper fällt leblos zu Boden.

Im Festsaal geschehen viele Dinge auf einmal. Irgendwo im Saal lacht jemand. Beetees Augen schließen sich erschöpft. Eifriges Getuschel breitet sich unter den Gästen aus dem Kapitol aus. Eine übermütige Sponsorin fordert laut, dass man Enobaria und Brutus eine Flasche teuersten Champagner bringen soll, um auf den nahenden Sieg anzustoßen. Gloss und Cashmere hingegen erheben sich steif aus der gemeinsamen Sitzecke mit den Mentoren aus Distrikt zwei.

Cashmeres Lippen sind ein schmaler Strich, als sie mit klappernden Absätzen davonstolziert, eine sichtlich ausgedünnte Herde der Bewunderer an den Hacken. Nicht mehr lange und es wird sich zeigen, ob Marvel Cato gewachsen ist. Der Frieden ist zum Scheitern verurteilt.

Während die Karrieros darüber streiten, ob der- oder diejenige, die für das Auslösen der Minen verantwortlich ist, vielleicht bei den Explosionen gestorben ist, wendet Finnick sich wieder Beetee zu. „Ich– Es tut mir wirklich leid“, flüstert er betreten.

Doch Beetee schüttelt nur den Kopf. „Ich wusste, es würde passieren. Dass Jaxley überhaupt solange dabei war, ist schon ... überraschend.“ Trotzdem kann er den Schmerz in seinen dunklen Augen nicht verbergen.

„Wir sollten morgen weiter machen“, besänftigt Finnick ihn. „Geh lieber zu Wiress. Sie wird dich brauchen.“

Seine Gedanken wandern zu Annie, die ihn ebenso braucht, das hat er im Gefühl. Die ganzen letzten Tage war sie geistig abwesend, den Blick immer wieder auf Geschehnisse gerichtet, die außer ihr niemand sieht. Furcht beschleicht ihn, dass die Explosion möglicherweise einen Anfall ausgelöst haben könnten. Hoffentlich hat sie es gar nicht gesehen; sich nur irgendwo versteckt.

Wenn er und Beetee nicht verzweifelt versuchen würden, einen Notfallplan für die Regeländerung auszuhecken, zwischen all den restlichen Verpflichtungen, die Snow Finnick auferlegt hat, dann würde er Annie gar nicht erst so viel alleine lassen. Immerhin ist sie oben, bei den anderen – in Sicherheit.

Der Mentor aus Distrikt drei seufzt leise und reibt sich die Augen unter seiner Drahtbrille. „Du hast wohl recht ... aber morgen, morgen reden wir weiter ...“

In Schweigen versunken verlassen die beiden den Festsaal, in dem die Sponsoren ausgelassen mit Enobaria und Brutus feiern. Unterdessen warten die drei letzten Karrieros am See auf den Einbruch der Nacht, um herauszufinden, ob die Explosionen ihrer Vorräte einen Tribut in den Tod gerissen haben. Solange ist zumindest Katniss in ihrem Gebüsch außer Gefahr. Bis die nächtliche Verkündung der Toten offenbart, dass niemand in dem Inferno umgekommen ist.

In der dritten Etage wünscht Beetee Finnick eine gute Nacht und verschwindet im Dunkel seines Appartements. Zwar ruft Finnick ihm ein aufmunterndes „Bis morgen!“ hinterher, aber tief im Herzen weiß er, dass es bald keine Rolle mehr spielt. Das Kapitol wird auch ohne ihr Zutun eine Regeländerung einführen und alles seinen Gang gehen. In Distrikt dreizehn ist man offenbar zu demselben Ergebnis gekommen, denn bisher halten sie sich erstaunlich zurück.

Anstelle von Ruhe erwarten Finnick im vierten Stock grelle Lichter, Lärm und aufgeregte Schreie. In seinem Kopf bilden sich bereits hunderte grauenhafte Szenarien mit Annie – panisch, verwirrt, verzweifelt – aber das, was er sieht, sobald er den offenen Wohnbereich betritt, übertrifft sogar diese schmerzlichen Vorstellungen.

Die Frau mit den pinken Haaren, die dort auf dem Teppich kniet, ist ihm völlig unbekannt, aber für ihren geschmacklosen Aufzug gibt es nur eine Erklärung – sie ist aus dem Kapitol. Und sie hat sich über Annie gebeugt. Er ahnt, wer sie ist und warum sie hier ist. Wut kocht in ihm hoch wie Milch in einem geschlossenen Topf.

„Weg von ihr!“, schreit er, noch im Türrahmen stehend. Die Worte halten die Frau aber nicht davon ab, Annie weiterhin mit ihren beringten Händen zu betatschen und leise auf sie einzureden. Und Amber, die elende Verräterin, sie steht nur da und sieht zu!

In wenigen Schritten überbrückt Finnick die Distanz und reißt die Kapitolsfrau an ihrem dünnen Arm hoch. „Fass sie nicht an!“ Entschlossen versetzt er ihr einen Stoß vor die Brust, bevor er sich zwischen sie und die am Boden kauernde Annie schiebt. Er wagt es nicht, die pinkhaarige Kapitolerin aus dem Blick zu lassen.

Mit großen Augen stolpert die Frau rückwärts und fällt schließlich ungalant auf ihren Hintern. Sie stammelt irgendwas davon, dass sie nur helfen wolle, aber Finnick hört gar nicht zu. Es ist ihm egal. Genauso egal wie Snows ewige Strafen.

„Lass sie einfach in Ruhe! Ihr habt genug Schaden angerichtet!“ Seine Stimme überschlägt sich beinahe so sehr wie die eines weinenden Tributs im Interview mit Caesar Flickerman.

Am ganzen Leib zitternd hält er inne, die Hände zu Fäusten geballt. In seinem Unterbewusstsein registriert er, dass Amber ihm etwas zuzischt und sich ihre kalten Finger fest um seinen Oberarm schlingen, aber er ignoriert sie. Sein Blick durchbohrt die kleine Frau in dem rosa Kostüm, anstelle des Dreizacks, den sie für ihre abscheulichen Verbrechen verdient hätte.

„Du rührst Annie nie wieder an!“, verlangt er. „Nie. Wieder!“

Sämtliche Farbe weicht aus den bleichen Zügen der Kapitolsfrau. „Ich habe nicht-“, hebt sie an.

„Es ist mir egal, wie ihr es nennt! Eure Therapie oder was auch immer ... ihr werdet Annie nie wieder quälen!“

„Ich-“, stammelt die Frau noch einmal, aber dann gewinnt ihre zitternde Unterlippe den Kampf. Rückwärts schiebt sie sich über den Boden von ihm fort, wobei ihr enger Rock hochrutscht.

Der Ausdruck in ihrem Gesicht erinnert Finnick mit einem harschen Ziehen in der Magengegend daran, wie sein erstes Opfer in der Arena ihn angesehen hatte. Am Füllhorn. Distrikt ... neun? Sie hatte dieselbe Angst in den braunen Augen geschrieben wie diese Frau.

Ohne sie anzusehen, entreißt er Amber seinen Arm und dreht sich zu der einzigen Person im Raum um, die in diesem Moment zählt. Nur wartet da nicht mehr das zusammengekrümmte Bündel Elend auf ihn. Sie ist weg. Annie ist weg.

Es braucht ein paar Sekunden, in denen er nur den leeren Fleck Teppich anstarrt, auf dem dunkle Tränenspuren zu sehen sind. Dann reißt er den Blick hoch. Wo sind die Friedenswächter, die sie geschnappt haben? Er springt los, getrieben von seinem rasenden Herz, das so heftig trommelt wie Platzregen auf einem Blechdach.

„Annie? ANNIE?“

Nirgends blitzt eine verdächtige weiße Rüstung auf. Da ist nur die Frau aus dem Kapitol, die weiterhin zitternd auf dem Boden hockt. Doch bevor er auch nur daran denken kann, sie anzuschreien, steht Amber plötzlich wieder vor ihm, die kräftigen Arme in die Seiten gestemmt.

„Reg dich ab, Odair!“, bellt sie so laut, dass man es wohl noch im zwölften Stock hört. Ärger funkelt in ihren dunklen Augen. Er sieht die Ohrfeige nicht kommen; fühlt es erst, als es zu spät ist. Klatsch. Ein brennendes Ziehen rast durch seine Wange und augenblicklich füllt sich sein Mund mit metallischem Geschmack. Amber hatte schon immer einen kräftigen Schlag.

„Fuck, Hart, wofür ist das denn?“ Ein dünner Faden Blut tropft über seine Lippe auf den Teppich und irgendwo im Hintergrund hört er ein hysterisches Luftschnappen, das verdächtig nach Cece klingt.

„Reiß dich am Riemen, Odair“, zischt Amber mit unterdrückter Stimme zurück. „Niemand hat Annie entführt! Bei deinem Theater ist sie von ganz alleine abgehauen.“ Sie schüttelt den Kopf.

Betreten spürt Finnick, wie fünf Paar Augen schwer auf ihm ruhen. Seine Wut verebbt langsam, aber das Zittern in seinen Gliedmaßen bleibt. Die pinkhaarige Frau vor ihm starrt ihn an wie eine Maus die Katze. Übelkeit breitet sich in seinen Eingeweiden aus. Was hätte er beinahe getan?

Seine Stimme klingt rau, als er endlich die Sprache wiederfindet. „Was macht diese Frau hier?“ Ganz kann er die Abscheu nicht verbergen.

Floogs räuspert sich. „Mh, Finnick, das ist Dr. Gaul, aus dem-“

„Labor“, seufzt die junge Frau mit dem pinken Haar. Sie versucht ein kleines Lächeln, aber es scheint ihr auf halbem Wege im Hals stecken zu bleiben. „Dr. Gaia Gaul, Abteilung für genetische Ursachen- und Optimierungsforschung.“ Ihr Blick senkt sich auf die zitternden Hände in ihrem Schoß. „Ich bin nur zu einem Routinebesuch gekommen. Ich wollte nicht ...“

„Sie wollten sich nur von Annies Wohlbefinden überzeugen, nicht wahr?“, souffliert Floogs hilfsbereit.

„Schön“, entgegnet Finnick harsch, „dann weiß sie ja, dass alles in Ordnung ist, oder? Sie hat Annie gesehen, es geht ihr –“

„Finnick?“, unterbricht ihn eine Stimme, die er unter tausenden wiedererkennen würde. Seine geliebte Muschelsplitter-Sängerin, die Erinnerung daran, dass alles besser werden kann; sein Flüstern des Meeres.

„Annie?“ Er hasst die Entfernung, die in diesem Augenblick zwischen ihnen liegt. Sie steht im Durchgang zur Küche, durch den die Avoxe immer verschwinden, ihre Arme fest um den Oberkörper geschlungen. Das Zittern kann sie trotzdem nicht vor ihm verbergen. „Wie geht es dir? Hat sie dir etwas getan?“

Annie schüttelt den Kopf, dass die braunen Haare nur so fliegen. „Nein, alles – alles gut. Dr. Gaul hat nichts getan. Wirklich. Ich habe mich nur ... erschrocken. Es war so laut. Wie in der Arena ...“ Ihre blau-grünen Augen wandern losgelöst durch den Raum, bevor sie zu ihm zurückschießen. „Du bist wieder da“, stellt sie fest und ein kleines Lächeln zieht ihre Mundwinkel nach oben.

„Ja“, sagt er leise, in Ermanglung besserer Worte. „Ich hab mir solche Sorgen gem-“, aber weiter kommt er nicht, denn da ist sie schon auf ihn zugestürzt und hat ihre schmalen Arme mit erstaunlicher Kraft um ihn geschlungen.

Sie presst ihre Wange an seine Brust und er fühlt, wie sein Shirt feucht wird. Die Welt um sie herum ist vergessen. „Bleibst du diesmal ein wenig länger?“

Er würde so gerne etwas anderes sagen, aber die Wahrheit siegt wieder einmal. „Ich habe heute Abend noch ... einen Termin.“

An der Art, wie Annie sich in seinen Armen versteift, merkt er, dass sie die Bedeutung hinter seinen Worten begreift. Er hat Kundschaft. Trotzdem – oder gerade deswegen? – lässt sie nicht los.

Erleichtert verbirgt er sein Gesicht in ihrem Haar, dass auch nach zwei Wochen im Kapitol den schwachen Duft von salziger Seeluft verströmt. Nicht auszumalen, was geschehen wäre, wenn die Friedenswächter Annie wieder mitgenommen hätten.

Lange darf dieser Moment allerdings nicht währen. Dr. Gaul hockt immer noch da, die silbern umrahmten Augen inzwischen weit aufgerissen. Für jeden im Distrikt vier Team ist es ein offenes Geheimnis, wem Finnicks Herz gehört, aber im ganzen Kapitol glauben sie, eine andere Wahrheit zu kennen. Nur, dass in dieser Situation selbst ein Eremit aus den fernen Bergen erkennen würde, was er wirklich empfindet.

Immer wieder sieht Dr. Gaul von Finnick zu Annie und zurück, bis sie betreten den Blick abwendet, als sie seinen Augen begegnet. „Es tut mir leid“, flüstert sie in die angespannte Stille hinein. „Ich wusste nicht ...“ Noch einmal schaut sie kurz hin und her, eine Hand an den Hals gelegt. „Ich werde in meinen Bericht schreiben, dass alles in bester Ordnung ist und sich Annie auf dem Weg der, ähm, Heilung befindet. Weitere Behandlungsschritte erscheinen mir nicht notwendig.“

Überrascht ringt Finnick nach Luft. Die Fesseln um sein Herz lösen sich mit jedem Wort von Dr. Gaul weiter.

„Ich denke, Annie hat alles hier, was sie braucht“, schließt die Forscherin mit einem wehmütigen Lächeln an ihn gewandt. „Damit ist diese Angelegenheit abgeschlossen. Einen schönen Abend noch.“ Hastig wirft sie ein Kopfnicken in die Runde und verschwindet dann in Richtung Fahrstuhl.

 

Auch später, als Finnick längst im Bad steht, um sich auf sein abendliches Treffen vorzubereiten, geht ihm das letzte, fast schon traurige Lächeln auf dem Gesicht von Snows Agentin nicht aus dem Kopf. Sie ist unbestreitbar an grausigen Experimenten im Namen des Präsidenten beteiligt – er muss nur an Annies Schilderungen des Wolfs mit den Augen eines Kindes denken – und doch lag etwas Weiches darin. Mitleid?, fragt er sich, nicht zum ersten Mal. Oder eher Schock? Immerhin hat er sie zu Boden gestoßen.

Er starrt in den Spiegel, zu seinem perfekten Abbild. Es bewegt sich wie er und doch sieht er nicht sich selbst, sondern eine leere Fassade, eine Lüge. Wie so oft dient es als Erinnerung daran, dass nicht einmal Annie ihn anfangs leiden konnte. Genau deswegen. Für die Menschen da draußen ist er bloß ein Herzensbrecher ohne Gefühle, eine Marionette Snows.

Die wütenden Worte Johannas kommen ihm wieder in den Sinn. Die, die sich nicht lieben, spielen es aller Welt vor und die, die sich lieben, müssen es verstecken. Ich wette, jemand würde diese Geschichte lieben.

Unvermittelt trifft ihn die Erkenntnis, wer diese Laune des Schicksals liebt. Der Blick in den Augen von Dr. Gaia Gaul hat es verraten. Das Kapitol. Sie haben es oft genug bewiesen. Wie nennt Caesar Flickerman die Tribute aus Distrikt zwölf? Das tragische Liebespaar. Und alle applaudieren.

Snow mag die Liebe seiner Sieger fürchten, aber seine Untertanen lechzen geradezu danach. Ein Lächeln stiehlt sich auf die Züge von Finnicks Spiegelbild. Endlich weiß er, wie sie sich die Regeländerung zunutze machen können!

Haymitch! Er muss mit ihm reden!

Ohne noch einen Blick an sein Aussehen zu verschwenden, packt er seine Anzugjacke und stürmt los, durch den dunklen Flur zum Aufzug. Ungeduldig hämmert er auf die geschwungene Zwölf am Bedienfeld.

Er war bisher nie auf der letzten Etage des Trainingscenters, aber er nimmt sich keine Zeit, die Unterschiede in Augenschein zu nehmen. Anstatt zu klopfen, reißt er die Tür auf und stürmt in das Appartement. Die Lichter sind aus, doch der Grundriss ist derselbe. Mit großen Schritten durchquert Finnick das leere Wohnzimmer und läuft auf die Mentorenzentrale zu.

Weit kommt er allerdings nicht, denn plötzlich fliegt eine Tür zu seiner Linken mit einem Krachen auf. „Wo hast du gesteckt?“, verlangt eine herrische Stimme. Vor ihm steht Effie Trinket, in einem fliederfarbenen Bademantel und, zu Finnicks Entsetzen, komplett ungeschminkt. Ihr Schock ist mindestens ebenso groß wie seiner. Quiekend schlägt sie sich die Hände vor den Mund und verschwindet hinter ihrer Zimmertür.

„Miss Trinket?“, fragt er vorsichtig. „Es tut mir leid, aber wissen sie, wo Haymitch ist? Ich, äh, suche ihn.“

„Ähm“, dringt es hinter der schweren Holztür hervor, „nun, das wüsste ich selber gerne. Katniss braucht ihn schließlich! Aber nein, er hat sich seit Stunden nicht blicken lassen! Ich meine – da haben wir wirklich eine Chance, das darf er doch nicht auf’s Spiel setzen.“ Finnick hört ein Schniefen, ehe sie sich wieder auf seine Worte besinnt. „Wieso suchst du ihn?“

So genau kann er das gar nicht sagen, stellt er fest. Er weiß bloß, dass er sich sicher sein muss, bevor er seine Entscheidung bereut. „Miss Trinket, bitte seien Sie ehrlich. Hat Haymitch sich die Sache mit dem Liebespaar ausgedacht?“

Die kleine Frau schnappt nach Luft. „Wie bitte?“

„Miss Trinket, bitte. Ich würde Haymitch die Frage selber stellen, aber – er ist nicht hier. Vertrauen Sie mir. Es ist wichtig.“

„Sieht das nicht jeder? Der Junge liebt sie wirklich!“, stößt die Eskorte gepresst hervor. „Er brauchte sich das nicht ausdenken. Aber natürlich ist es ... hilfreich. Wir haben ja sonst nicht viele Strategiemöglichkeiten.“

Das siegesgewisse Grinsen auf Finnicks Gesicht vergrößert sich. Haymitch wird damit umzugehen wissen, dessen ist er sich sicher. Jetzt muss er es nur noch in die Tat umsetzen. Dann wird das Kapitol bekommen, wonach es sich sehnt – und Snow das, was er fürchtet.

 

***

 

Mit einem sanften Ruck kommt der Wagen zum Stehen. Einen Moment lang bleibt Finnick sitzen, den Blick auf den hohen Wolkenkratzer gerichtet, vor dem sein Fahrer gehalten hat. Aus unzähligen hell erleuchteten Fenstern pulsiert das Leben.

Am liebsten würde er hier unten bleiben, im Halbdunkel des Autos, zwischen weichen Lederpolstern und mit einem schweigsamen Friedenswächter als Chauffeur. Allein bei dem Gedanken daran, auszusteigen und seinem nächsten Termin entgegenzutreten, verknotet sein Magen sich in einen komplizierten doppelten Achterknoten.

Selten hat er eine Woche wie diese erlebt. Es scheint, dass Snow alles daran setzt, ihn aus dem Distrikt vier Appartement – und damit von Annie – fernzuhalten. Einladungen zu unnützen Partys und weiteren Stelldicheins füllen seinen Terminplan, genau wie heute Abend. Eine Menge Geld hat zweifellos den Besitzer gewechselt, damit er in dieser Nacht einmal nicht Titania Creed mit seiner Anwesenheit beehren muss, sondern jemand neuen.

Der Friedenswächter beobachtet ihn aufmerksam im Rückspiegel, also wirft Finnick ihm ein übertriebenes und absolut unaufrichtiges Lächeln zu, fährt sich durch die Haare und tritt hinaus auf den Bürgersteig. Seine Gedanken kreisen um Haymitch und seine Tribute, aber diese Überlegungen muss er nun für die Nacht verdrängen. Hoffentlich ist es morgen nicht bereits zu spät, seinen Plan Beetee zu verkünden.

Die warme Sommernacht lockt Finnick mit vollmundigem Blumenduft und Gelächter, das von einem Restaurant ein paar Häuser entfernt zu ihm herüberweht, doch er ist sich des stechenden Blicks seines Chauffeurs im Rücken nur allzu bewusst. Keine Fehltritte.

Straffen Schrittes betritt er die kühle Lobby des hoch aufragenden Wohngebäudes. Heller Marmor und feine Goldakzente setzen ein deutliches Statement für den Wohlstand der Menschen, die sich hier ein Leben leisten können. Der Rezeptionist hebt nur kurz den Blick und nickt ihm zu. Offenbar ist er über sein Kommen unterrichtet.

Der Fahrstuhl informiert Finnick, dass das Gebäude mehr als vierzig Stockwerke hat. Sein Klient wohnt nur in Etage vierzehn, was ihn überrascht. Er kennt die Preise nicht, aber bloß eine Stunde mit ihm ist nicht billig. Für gewöhnlich wohnen seine Liebschaften in den riesigen Penthouses ganz oben in den Wolkenkratzern.

In der vierzehnten Etage selber hält sich der Prunk eher zurück. Zwar ist der Boden mit einem schweren grauen Teppich belegt, der jeden Schritt schluckt, aber die Wohnungstüren reihen sich dicht aneinander und davor liegen vereinzelt bunte Schuhpaare und Regenschirme. Manche haben auffällige Klingelschilder aufgehängt, die stolz die Namen der Anwohner verkünden. Untern den glänzenden goldenen Flurlampen wirken die Spuren des Lebens ernüchternd normal.

Vor der Tür von Finnicks heutigem Kunden herrscht Leere. Verunsichert schaut er auf das Memo – nur Adresse und Datum, kein Name – das Cece ihm beim Frühstück zugeschoben hat. Er ist richtig hier. Nervös betätigt er die Klingel.

Es dauert nicht lange und ein groß gewachsener Mann öffnet ihm die Tür. Ein warmes Lächeln breitet sich auf dessen Gesicht aus. „Schön, dass Sie hergefunden haben. Bitte sehr.“ Einladend weist er in seine Wohnung.

Doch Finnick steht wie angewurzelt draußen und starrt seinen neuen Kunden an. Das schlichte Äußere und die kurzen dunklen Locken kommen ihm bekannt vor, er weiß nur nicht mehr woher ... womöglich der Spross einer reichen Familie, der erst noch groß rauskommen will?

Der schwarze Stoff des legeren Anzugs seines Käufers raschelt leise, als dieser mit einem fragenden Blick beiseitetritt. In Gedanken weiter rätselnd, folgt Finnick seiner Einladung.

In der Wohnung ist es dunkel. Nur ein paar Kerzen erhellen den versenkten Wohnbereich und irgendwo spielt leise Klaviermusik. Das ganze Ambiente jagt ihm einen Schauer über den Rücken.

Er hasst diese Klienten, die es auf die romantische Art versuchen. Komischerweise fällt es ihm leichter, wenn sich beide Seiten einig sind, dass das Interesse rein körperlicher Art ist. Hoffentlich erwartet der junge Mann, der Ende zwanzig sein muss, keine aufrichtigen Gefühle. Finnick ist schon vollauf damit beschäftigt, Titania Creed zufriedenzustellen.

Er vergräbt die Hände in den Hosentaschen und wartet darauf, was sein neuer Liebhaber unternimmt, um sich seinem Takt anzupassen. Der schließt jedoch nur die Tür und verharrt dann in einigem Abstand. Wieder drängt sich Finnick die Frage auf, wo er diesen Mann nur zum ersten Mal gesehen hat. Der schlichte schwarze Anzug ist so untypisch für das Kapitol, er fällt auf wie ein Hai unter Fischen.

„Es freut mich, dass wir uns endlich persönlich kennenlernen, Mr. Odair.“

„Die Freude ist ganz meinerseits“, entgegnet er mit einem leichten Kopfnicken. Zumindest ist sein Gegenüber höflich.

Der weiche Kerzenschein tanzt über die dunkle Haut des Manns und bringt sein dezentes goldenes Make-up zum Glühen. Unvermittelt regt sich eine Erinnerung in Finnicks Gedanken. Er hat ihn tatsächlich schon einmal gesehen, aus der Ferne. Umringt von Gratulanten. Vor ihm steht der Stylist von Distrikt zwölf.

Vor Überraschung entkommt Finnick ein Keuchen. Sicher, auch die gefeierten Modeschöpfer sind mal Kunden der Sieger, aber nie war einer aus Zwölf darunter. So wie die Wohnung des Mannes aussieht, verdient er trotz seines neugewonnenen Ruhmes nicht mehr als seine Vorgänger. Wie kann er sich das Treffen leisten?

Sein Gegenüber scheint die Verwirrung zu bemerken, denn ein belustigtes Funkeln stiehlt sich in seine dunklen Augen. „Verzeih, falls das hier einen – merkwürdigen Eindruck macht. Es kommt mir zugegeben sehr falsch vor“, entschuldigt sich der Stylist mit einer kleinen Verbeugung. „Darum soll es hierbei nicht gehen. Oder um falsche Gefühle und dergleichen.“

Reichlich verwirrt mustert Finnick den jungen Mann, dem seit der Wagenparade das ganze Kapitol zu Füßen liegt. Der Schöpfer des Mädchens in Flammen. Aus der Nähe wirkt er weit weniger unnahbar. Fast wie ein Arbeiter aus den Distrikten.

„Worum geht es sonst?“, stellt er die einzige Frage, die ihm in den Sinn kommt. „Es gibt viele andere Dienste ...“

Der Stylist lächelt warm. „Nun, Mr. Odair, so weit wollen wir nicht gehen. Es gibt da eine oder besser zwei Personen, die mit ihnen sprechen wollen. Ich bin nur ein einfacher Mittelsmann, wenn man so will.“

Bevor er weiterredet, unterbricht Finnick ihn. „Oh, bitte, nenn mich Finnick.“ Die ganzen Förmlichkeiten gefallen ihm nicht. Nur Snow nennt ihn ‚Mr. Odair‘, keiner seiner Kunden.

Sein Käufer neigt den Kopf. „Nur zu gerne. Ich bin Cinna.“

„Also, Cinna – wem soll ich meine Aufmerksamkeit schenken?“

Bestürzt hebt dieser seine Hände. „Missversteh mich bitte nicht, Finnick. Es geht hier keinesfalls um deine üblichen, ah, Verpflichtungen.“ Seine dunklen Augen bohren sich in Finnicks. „Nur ein Gespräch – unter Freunden?“

Zusehends verwirrter mustert Finnick den Stylisten. Für eine Unterhaltung hat er all das Geld ausgegeben? Die hätte er umsonst haben können, im Trainingscenter oder bei einer der zahlreichen Partys des Präsidenten.

„Bitte, folge mir.“

Die Hände immer noch in den Hosentaschen vergraben, folgt Finnick Cinna in einen angrenzenden Raum, der offenbar so etwas wie ein Atelier ist. Ringsum an den Wänden befinden sich deckenhohe Regale voller Stoffballen und anderem Krimskrams. Wie geköpfte Trainingsdummys ragen Schneiderpuppen aus der Dunkelheit hervor, die meisten mit halbfertigen Kleiderstücken behängt. An einer davon scheint sogar ein langer Schwanz herabzuhängen.

Finnick will schon den Kopf angesichts der komischen Mode schütteln, als der plüschige Tigerschwanz geräuschlos über den Boden fegt. Bildet er sich jetzt bereits Sachen ein? Nein, sein Eindruck wird bestätigt von zwei gelblich schimmernden Katzenaugen, die in der Dunkelheit aufflammen. Sie sind nicht alleine. Entsetzt macht er einen Schritt zurück. Kratziges Gelächter füllt seine Ohren.

Was auch immer in Cinnas Atelier auf ihn lauert, ist schnell. Scharfe Klauen packen sein Kinn – und auf ein Klatschen des Stylisten hin erhellt unvermittelt taghelles Licht den fensterlosen Raum.

Gegenüber Finnick steht nicht etwa eine Raubkatze, bereit zuzuschlagen, sondern die wohl unheimlichste und entstellteste Frau, die ihm je begegnet ist. Sie ist der Ähnlichkeit mit einem Menschen so weit entfremdet, dass er sich unweigerlich die Frage stellt, ob sie nicht eher ein Tiger ist, den das Kapitol nach dem Vorbild einer Person geformt hat.

„Endlich treffen wir uns“, schnurrt die Frau, während sie sein Kinn leicht anhebt. „Endlich kann ich mich von Roans prächtigem Werk überzeugen.“ Ihre überdimensionierten Schnurrhaare erzittern bei den sehnsüchtigen Worten. „Und wie hübsch du bist.“

„Süße, ich hoffe, du willst ihm nicht an die Wäsche“, mischt sich jemand Drittes dazwischen, den Finnick nur zu gut kennt. „Dann schlägst du ihn sicherlich in die Flucht.“

Die Tigerdame zieht ihre Hand mit den langen, scharfen Fingernägeln zurück, als hätte sie sich verbrannt. „Ich bin Tigris“, zischt sie leise, wobei sie die Buchstaben schwer über ihre Zunge rollt. „Und ihn kennst du eh.“ Sie tritt einen Schritt zur Seite und enthüllt einen feixenden Haymitch, der hinter ihr an einem großen Tisch lehnt.

Reglos starren die Mentoren einander an. Schließlich grinst Distrikt zwölfs berühmter Trunkenbold dreist. „Damit hast du nicht gerechnet, was?“

Unwirsch lässt Finnick ein Brummen hören. Am liebsten würde er laut lachen. Vorhin noch hat er den Mentor gesucht und jetzt hat Haymitch ihn gefunden. Zunächst jedoch kramt er in seinem Gedächtnis nach einer Erinnerung an die menschgewordene Tigerfrau. „Entschuldigung – Tigris – sind wir uns schon einmal begegnet?“

Die katzenhafte Gestalt lässt ein leichtes Grollen hören. Erst beim Anblick ihrer erhobenen Mundwinkel, die ihre scharfen Zähne enthüllen, wird ihm klar, dass es ihre Version eines Lachens sein muss. „Nein, noch nicht. Aber Cinna hier war so freundlich, das zu ändern.“ Sie dreht ihm den Rücken zu und präsentiert Finnick damit ihren getigerten Schwanz, der ein eigenes Leben zu haben scheint, so wie er hin und her peitscht.

„Entschuldige, dass ich dich unter falschen Vorgaben hierher gelockt habe“, mischt sich Cinna ein. „Aber es erschien uns der sicherste Weg, um in Kontakt zu treten. Keine Sorge, mein Atelier ist sorgfältig ausgewählt und überprüft. Hier können wir uns unbesorgt unterhalten, besser als im Trainingscenter.“

„Also ... hast du – habt ihr – bei Snow eine Nacht gekauft, um – ja warum?“ Misstrauisch gleitet Finnicks Blick zwischen dem Stylisten, Haymitch und der raubtierhaften Frau vor und zurück.

„Ach, Süßer“, gluckst Haymitch, „überleg mal! Vielleicht könnte es etwas mit Dreizehn zu tun haben ...“

„Dreizehn?“, echot Finnick überrumpelt. Seine Gedanken unternehmen eine Schlingerfahrt auf stürmischer See. Weiß Haymitch längst Bescheid? Und was ist mit Cinna und Tigris? Sicher, es gibt im Kapitol ein ganzes Untergrundnetzwerk, doch bisher war zwischen ihnen und den Siegern jeglicher Kontakt untersagt. In Distrikt dreizehn befürchtet man, dass zu viel Durchmischung Aufsehen an falscher Stelle erregt.

„Oh ja“, schnurrt Tigris, „wir sind eingeweiht. Teils seit Jahrzehnten.“ Das tiefe Rumpeln aus ihrer Kehle erinnert Finnick an eine Mutation in der Arena. „Ich warte nur auf den Tag, da sie hier einmarschieren und endlich dieses Elend beenden. Sein Leben beenden. Coriolanus Leben.“

Haymitch lacht bitter. „Dem kann ich mich nur anschließen. Seit vierundzwanzig Jahren warte ich auf das Gleiche. Fast hätte ich jegliche Hoffnung am Boden einer Flasche verloren.“

Der Hass tropft aus jedem ihrer Worte, sodass Finnick ihnen einfach Glauben schenken muss. „Also seid ihr alle Teil des Plans.“

In Cinnas Augen tritt erneut ein Funkeln. „So kann man es nennen, ja.“

„Oder waren es zumindest, bis man vergessen wurde“, grummelt Haymitch dazwischen.

Ungerührt fährt Cinna fort. „Wir sind davon überzeugt, dass die Spiele nicht länger stattfinden dürfen. Ich weiß, du denkst vermutlich, dass ich gut reden habe, solange ich Teil des Zirkus bin ...“

„Wer das System stürzen will, muss es von innen kennen“, knurrt Tigris. „Und wer das System kennen will, muss ein Teil von ihm sein.“ Ihre gebleckten Reißzähne glitzern unter den großen Leuchtstoffröhren an der Decke. „Ich war fast mein Leben lang ein Teil. Als naive Jugendliche habe ich geholfen, diese Hölle aufzubauen, und nun werde ich sie einreißen, bis nichts als Asche bleibt – denn Asche ist alles, was mir blieb, nachdem Coriolanus sich entschied, dass ich ihm nicht länger von Nutzen war.“

Wie hypnotisiert verfolgt Finnick den Tigerschwanz, der im Einklang mit Tigris wütenden Worten zuckt. „Du warst Stylistin?“

„Oh ja. Ich habe all das Elend ertragen, unfähig mich freizumachen, aus Angst vor Coriolanus.“ Ihre gelben Augen verengen sich. „Beinahe bin ich dankbar, dass dein Stylist, Roan, mir alles genommen hat – meine Kleider, meine Entwürfe, meinen Stolz – als er mein Studio in Flammen steckte. Ohne seinen Verrat würde ich vielleicht heute noch dort stehen und nach Coriolanus Regeln spielen.“

Es braucht einen Moment, bis diese Erkenntnis in Finnick einsinkt. Wie ein Schatten in mondloser Nacht löst sich eine Erinnerung aus dem Nebel seiner Gedanken. Tribute aus Distrikt eins, gehüllt in scharfkantige Diamanten, ihre Körper blutrot geschminkt. Dazu die begeisterten Rufe Caesar Flickermans. „Was für eine Pracht, was für eine – Brutalität! Einen großen Applaus für Tigris, meine Damen und Herren, die Distrikt eins zu den 63. Hungerspielen einen ganz neuen Stil verleiht!“

Es waren ihre letzte Spiele als Stylistin. Angesichts des lodernden Hasses in ihrem Blick ist Finnick sicher – das zwischen ihr und dem Präsidenten ist etwas Persönliches.

Der doppelte Achterknoten in seinem Magen löst sich langsam, aber sein Platz wird von einer unbestimmten Skepsis ausgefüllt. Wenn Snow von diesem Treffen erfahren sollte ... die Konsequenzen will er sich nicht einmal vorstellen. Sie tanzen auf dünnem Eis.

Prüfend lässt er den Blick durch Cinnas Atelier gleiten, aber vor lauter glitzernden Stoffbahnen und Modezeichnungen an den Wänden kann er nicht beurteilen, ob dieses Zimmer wirklich geschützt ist, oder doch nur eine perfide Falle.

Cinna allerdings folgt wachsam seinem Blick. „Ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, wenn ich dir versichere, dass wir hier sicher sind. Echtes Feuer. Immerhin ist dieser Ort meine Lebensversicherung. Sonst hätte man mich längst in das tiefste Loch unter der Erde gesteckt.“

Schnaubend stößt Haymitch sich vom Tisch ab und kommt zu Finnick herüber, um ihm auf die Schulter zu klopfen. „Klar, das hier ist ein Schock für dich, aber jetzt vertrau ausnahmsweise dem alten Säufer, ja?“ Er zwinkert und mimt mit der freien Hand, wie er ein Cocktailglas hebt und in einem Zug leert.

„Okay.“ Langsam atmet Finnick aus. Es ist völlig verrückt, doch was bleibt ihm anderes, als diesem eigenartigen Trio zu trauen? Nachdem sie ihn gekauft haben, gehört er für den Abend ihnen. „Also, warum genau habt ihr ein Vermögen ausgegeben, um mich zu sprechen?“

Tigris, die zwischen den kopflosen Schneiderpuppen umherstreicht, entfährt ein neuerliches Grollen. „Um dir eine Botschaft zu überbringen.“ Sie lässt ihre mit langen Fingernägeln bewährte Hand seufzend über den Seidenstoff eines hellgelben Kleids fahren. „Ihr Sieger müsst vorsichtiger sein! Eure Bewegungen haben Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Die falsche Aufmerksamkeit. Unter den Friedenswächtern gibt es Gerüchte. Und alles, was die Soldaten reden, erreicht früher oder später auch Coriolanus.“

„Friedenswächter?“, fragt Finnick und kann nicht verhindern, dass Besorgnis seine Stimme ins Schwanken bringt. Ist es möglich, dass Edmont am Ende doch geplaudert hat? Nur warum sollte der rundliche Mann auspacken? Unvorsichtigkeit? Oder gar Verrat?

„Sie gehen ein und aus in der Bar eines guten ... Freundes. Man erfährt so einiges, wenn man gelernt hat, zuzuhören.“ Tigris Schnurrhaare zucken verächtlich. „Man erzählt sich, dass die Sieger gemeinsame Sache machen. Einander unterstützen, anstatt sich zu hassen. Und diese Solidarität darf nicht sein.“

Finnicks Mund ist so trocken, als hätte er seit Tagen nichts getrunken. „Gibt es noch mehr solcher ... Gerüchte?“

„Eine Menge, jedes haarsträubender als das vorherige“, entgegnet die ehemalige Stylistin. „Aber du und Beetee – ihr müsst aufpassen. Ich habe eure Namen gehört.“ Sie entblößt ihre nadelspitzen Zähne. „Mehr als einmal. Und auf Haymitch sind sie ebenfalls aufmerksam geworden.“

Der alte Sieger grinst sarkastisch, schweigt aber.

„In Ordnung.“ Finnick erlaubt sich, durchzuatmen und seine angespannten Fäuste zu lockern. Es ist nicht das erste Mal, dass er vorsichtig sein muss. Sie werden das überstehen, irgendwie.

„Aber das ist noch nicht alles“, durchbricht Cinna seine mutmachenden Gedanken. Der Stylist seufzt schwer. „Du weißt von den Unruhen in Distrikt elf. Die Lage hat sich verschlimmert. Vorgestern haben Rebellen das Depot 43 dort in die Luft gejagt, ein strategisch wichtiger Versorgungspunkt für das Kapitol. Ohne lang weiterzureden – Dreizehn baut darauf, dass der Distrikt unter der harten Hand des Kapitols kippt. Wenn nötig sollen die Leute dort angestachelt werden. Ein Sieger aus Elf soll her.“

„Aber ihr weigert euch die Hoffnung für Distrikt zwölf aufzugeben?“, rät Finnick ins Blaue hinein. Immerhin steht er vor denen, die Katniss Everdeen zur Unvergesslichkeit verholfen haben. Zumindest zwei von ihnen.

Cinna sieht auf seine dezenten goldenen Manschettenknöpfe herab, während Tigris im Hintergrund ihr unheimliches Raubtiergelächter hören lässt. „Ich würde auf Katniss Everdeen wetten, ja.“

„Ich bin es dem Mädchen schuldig“, ergänzt Haymitch, dieses Mal ganz ohne seinen üblichen Schalk. „Verdammt, sie erinnert mich an mein jüngeres Ich. Sie hat diesen ungebrochenen Überlebenswillen, den ich ersoffen habe. Auch wenn ich weder Thresh noch Rue den Tod wünsche.“ Seine rotunterlaufenen Augen schauen unendlich traurig drein.

„Hm“, brummt Finnick zustimmend. „Deswegen haben wir euch unsere Sponsorengelder gegeben.“

„Wofür ich nie genug danken kann.“ Haymitch fährt sich über das stoppelige Kinn. „Aber ihr Überleben garantiert kein Geld der Welt. Trotzdem bist du genau deswegen hier. Weil ich weiß, dass ihr anderen Sieger schlauer seid als die Höhlenratten in Dreizehn. Ihr erkennt wahres Potential. Und so leid es mir tut, aber Distrikt elf braucht keine Sieger mehr. Diesen Kampf hat das Kapitol längst verloren, sie wissen es nur noch nicht.“

Tigris heftet aus der Ferne ihre glühenden Katzenaugen auf Finnick. „Leider hat man in Dreizehn nicht verstanden, wie das Publikum seine Sieger auswählt, dabei ist es seit dem Beginn der Spiele gleich.“ Sie steckt ein paar Nadeln an dem Oberteil des hellgelben Kleides um und lässt dann prüfend ihren Blick über die angetäuschten Falten gleiten. „Katniss ist längst etwas Besonderes. Nicht für die Spielmacher oder Politiker – für die einfachen Menschen. Tragischer Heldenmut, zwei Schicksale die ihren Weg kreuzen und nur einer darf überleben“, schnurrt sie mit einem bedrohlichen Unterton. „Katniss Everdeen hat dank ihrer mutigen Aktionen in der Arena bereits bewiesen, wie ungerecht die Spiele sind. Die Leute wollen eine Heldin in ihr sehen, die nicht den Regeln des Kapitols folgt. Es liegt in unserer Hand, ob es zur Tragödie wird.“

„Sie ist ... eine Hoffnung auf mehr“, setzt Haymitch hinzu. „Kein Thresh, der genau wie die Karrieros seinen Weg freikämpft, oder Rue, die so klein und unschuldig ist. Zweimal hat sie sich den Karrieros gestellt und gewonnen! Distrikt dreizehn macht einen Fehler, wenn sie das ignorieren.“ Während seiner inbrünstigen Rede ballt sich seine Hand immer fester zur Faust, bis seine Knöchel weiß hervortreten. „Aber wir brauchen verdammt nochmal Unterstützung, damit das klappt! Wenigstens als Reserveplan. Ich bin nicht bereit, diese Tribute aufzugeben!“

Fast bricht Finnick in lautes Gelächter aus. Bisher hat er nie verstanden, warum Annie manchmal in den unpassendsten Momenten ein Kichern entweicht, doch jetzt schnellen Hoffnung und Erleichterung so rasant durch ihn, dass er nur mit Mühe widersteht. „Wie passend, dass das Kapitol uns die Chance quasi auf dem Silbertablett serviert. Eine Regeländerung? Es ist nicht mal Stunden her, dass mir der Geistesblitz kam, was man aus dieser Situation machen kann. Ich hoffe, es stört dich nicht, aber ich habe ein kleines Gespräch mit deiner Eskorte geführt.“

„Elfchen?“ Jetzt ist es an Haymitch, verwirrt dreinzusehen.

Finnick kann sich ein triumphierendes Grinsen nicht verkneifen. „Richtig, Effie Trinket. Was sagte sie noch gleich? ‚Der Junge liebt sie wirklich‘.“ Aufgeregt läuft er zwischen Cinnas Entwürfen auf und ab. „Und da kam mir die Erkenntnis – wovor fürchtet Snow sich?“

Tigris saugt die Luft durch ihre gespitzten Zähne und entlässt sie mit einem tiefen Knurren. „Coriolanus behauptet, keine Furcht zu kennen, und doch jagt ihm jeder Schatten in der Dunkelheit Angst ein“, kichert sie, bevor Finnick seine rhetorische Frage beantworten kann.

„Ähm“, räuspert er sich überrascht, „nun, ich meine die Liebe.“

Für einen Sekundenbruchteil verharrt Tigris wie erstarrt, dann schlingt sich ihr Tigerschwanz eng um ihre Hüfte. „Nein“, flüstert sie unerwartet weich, „er fürchtet sie nicht, er hasst sie.“ Spätestens jetzt ist Finnick sich sicher – sie stand dem Präsidenten einst näher, als ihr lieb ist.

„Umso besser. Jedenfalls kontrolliert er genau, welcher Sieger wen liebt – oder lieben muss. Aber die Zuschauer können sich mit Liebesgeschichten identifizieren. Das Kapitol verzehrt sich nach Drama, einer berührenden Geschichte – und in den Distrikten haben so viele einen geliebten Menschen verloren, für sie ist es ein Teil ihres eigenen Schmerzes.“ Er kommt hinter einer Schneiderpuppe zum Stehen, die Katniss flammendes Kleid von den Interviews trägt. „Liebe brennt am hellsten. Es braucht eine Regeländerung, die aus Katniss und Peetas Geschichte ein Inferno macht.“

Stille senkt sich wie eine schwere Decke über das Atelier. Haymitchs graue Augen stieren auf das Kleid, als könne er es immer noch brennen sehen. Langsam wandert sein Blick zu Finnick dahinter. „Dafür müssen wir sie zusammenbringen. Oh, das wird der Kleinen nicht gefallen ...“ Er stützt sich mit den Händen auf dem großen Arbeitstisch ab. „Es gibt nur eine Lösung, um die beiden wirklich in ein tragisches Liebespaar zu verwandeln. Wir brauchen zwei Sieger“, stellt er nüchtern fest.

Tigris fällt eine Stecknadel aus der Hand und ihr Aufprall scheint so laut wie die Explosionen der Minen am Nachmittag. „Das wird Coriolanus niemals zulassen! Ganz zu schweigen, dass ihr damit euren Kopf riskiert!“

Eine leise Stimme in Finnicks Innerem pflichtet ihr bei. Das ist zu viel des Guten, das ist tollkühner als jeder seiner Pläne.

Doch Haymitch hebt nur einen Zeigefinger in ihre Richtung. „Richtig. Aber erstens, machen die Spielmacher die Regeln; zweitens würde das Kapitol die daraus resultierende Quotensteigerung nur zu gerne mitnehmen – und drittens: Was, wenn das Kapitol seine eigene Regeländerung bricht? Das wäre unverzeihlich. Sollte diese Regeländerung auch nur zur Auswahl stehen, gäbe es keinen Weg zurück. Die Zuschauer würden dafür stimmen. Da würde ich drauf wetten.“

Cinna hat die Stirn in tiefe Falten gelegt, aber schließlich nickt er ebenfalls. „Ja, das würden sie. Plutarch muss es nur in Senecas Unterlagen bringen ... sie würden nicht einmal ahnen, wer dahintersteckt.“

Über die Stylisten hinweg tauschen die beiden Mentoren einen langen Blick. „Zwei Sieger, aus demselben Distrikt“, sagt Haymitch leise. „Drei Distrikte hätten im Moment die Chance. Man kann nicht sagen, dass es unfair wäre.“

Finnick schluckt schwer, als eine Flutwelle der Anspannung ihn durchspült. Nach dieser Lösung verzehrt sich insgeheim jeder Mentor. Er kann sich nicht einmal vorstellen, was die Regeländerung auslösen wird. Nur eines ist sicher: Die Hungerspiele werden sich ändern.

Von einer reißenden Strömung ergriffen wird er immer weiter hinaus auf die stürmische See aus wilden Tagträumen von der erfolgreichen Rebellion gezerrt. Für Annie. Für ihre gemeinsame Zukunft schwört er sich. Er hebt den Kopf und sieht Haymitch fest an. „Ich bin dabei.“

Alles wendet sich

Ich habe keine Ahnung, was gestern Nacht geschehen sein mag, aber die gute Laune, mit der Finnick heute pünktlich zum Frühstück auftaucht, passt nicht zu seinem sonstigen Verhalten. Anstatt direkt in sein Zimmer zu verschwinden, lässt er sich bei uns am Frühstückstisch nieder, der an diesem Morgen jedenfalls keinen Anlass zur Fröhlichkeit bietet.

Anstelle der üblichen reichhaltigen Brot- und Brötchenauswahl liegen bloß ein paar grüne Seetangbrötchen bereit, deren Anblick Cece mindestens genauso grün um die Nase werden lässt. Auch die Hafermilch, nach der sie stets verlangt, kann ihr die Avoxdienerin nicht bringen.

Mir ist das gleich, ich bediene mich wie jeden Morgen seit unserer Ankunft nur an ein paar Früchten und etwas süßem Milchpudding. Über den Rand meiner Schüssel mustere ich skeptisch Finnick, der mit einem breiten Lächeln sein Frühstücksei köpft.

„Und, ist gestern noch was passiert?“, fragt er in die Runde, während er das Ei salzt.

Ich bin ganz konzentriert darauf, ein Stück eingelegten Pfirsich in zwei Hälften zu teilen. Nachdem Finnick zu seinem Termin aufgebrochen ist, habe ich mich in mein Zimmer eingeschlossen, den Kopf unterm Kissen versteckt und so lange vor Erleichterung geweint, bis ich von der Erschöpfung in den Schlaf getragen wurde. Nach all dem wilden Geschrei und der Konfrontation mit Dr. Gaul bin ich einfach froh, die Sache überstanden zu haben.

Von den Spielen habe ich so natürlich nichts mehr mitbekommen. Aber es liegt nahe, dass die Karrieros wieder auf Jagd sind. Solange sie zu dritt sind, stellen sie immer noch eine Übermacht da. Der letzte Rest Appetit schwindet zusehends, also viertle ich meine Pfirsichhälften lustlos.

Ambers Antwort höre ich über das Klappern des Löffelns auf dem Porzellan trotzdem. „Ob du’s glaubst oder nicht, es ist überhaupt nichts passiert.“ Verdutzt horche ich auf. „Unsere lieben ‚Freunde‘ sind die ganze Nacht durch den Wald gelaufen und selbst mit ihren tollen Nachtsichtbrillen sind sie nicht einmal über ein Häschen gestolpert.“

Finnick nickt befriedigt. „Das ist gut“, murmelt er um einen Löffel Ei herum.

„Naja, nichts ist untertrieben“, mischt Floogs sich ein. „Sie hatten einen Streit. Das Karrierobündnis beginnt zu bröckeln.“

„Na, als wenn das was Neues wäre.“ Amber rollt mit den Augen. „Die Wetten eskalieren schon. Mittlerweile wird auf die verbleibenden Minuten gesetzt, die das Bündnis noch Bestand hat. Wenn ich wetten dürfte“, sie grinst und pflückt ihr Seetangbrötchen auseinander, „dann würd ich sagen es passiert in ungefähr einer Stunde.“

Cece betrachtet pikiert Amber, die ihrem armen Brötchen die weiche Füllung entreißt und pur verschlingt. „Manieren!“, zischt sie empört und erntet damit Gelächter sämtlicher Mentoren. Ihre perfekt gezupften Augenbrauen wandern irritiert in die Höhe, ehe sie fortfährt. „Heute Abend sind wir im Übrigen in den Präsidentenpalast eingeladen, zur feierlichen Abstimmung über die Regeländerung. Ich baue darauf, dass ihr euch dort benehmt! Nächstes Jahr ist schließlich das Jubeljubiläum und das Fiasko von diesem Jahr können wir uns wahrlich nicht noch einmal leisten!“

Ein lautes Klirren lässt mich zusammenzucken. Finnick hat seinen Löffel auf den Teller geworfen und funkelt unsere Betreuerin grimmig an. „Cece, welches Fiasko?“, fragt er und derselbe unterdrückte Zorn wie gestern Abend bebt in seiner Stimme. „Nennst du es ein Fiasko, dass unsere Tribute sich nicht der Rolle als gewissenlose Karrieros beugen wollten? Sie waren jedes Ringen um ihr Überleben wert, auch wenn das Glück nicht mit ihnen war.“

Ein leises ‚Tsss‘ kommt Cece über die grellpinken Lippen. „Wir brauchen Karrieros, keine ängstlichen Kinder. Ihr seid lange genug Mentoren. Ihr lügt euch in die Tasche, wenn ihr glaubt, dass wir noch einmal gewinnen bei solcher Nachsicht.“ Mit diesen Worten erhebt sie sich vom Frühstückstisch und pfeffert ihre Serviette nieder. „Roan und sein Team kommen nachher fürs Styling. Punkt sechzehn Uhr treffen wir uns am Fahrstuhl – und keine Sekunde später!“

Schweigend starren wir ihr hinterher. Die anderen sehen aus, als hätten sie in eine rohe Forelle gebissen. Amber lässt ihre Brötchenhälften fallen und verzieht das Gesicht. „Die hat doch einen kompletten Realitätsverlust“, murmelt sie. „Und dann schon wieder so eine Veranstaltung beim ollen Snow. Das ist was, die vierte in zwei Wochen?“

„Irgendwie so“, stimmt Trexler ihr zu. „Bin schon ’n wenig gespannt, was uns da erwartet. Sind ja nich‘ mehr viele Tribute übrig, für die ’ne Regeländerung von Bedeutung is‘ ...“

Ich schiebe die mittlerweile viergeteilten Pfirsichstücke in meiner Schüssel umher, bevor ich scheppernd den Löffel fallen lasse. Angesichts des Tagesplans ist mir der Appetit endgültig vergangen. „Ich hab Angst“, gestehe ich.

Floogs schenkt mir ein warmes Lächeln. „Genau wie ich. Aber was auch immer passiert, es wird nicht mehr lange dauern, bis wir das Meer wiedersehen. Dann wird alles besser.“

Seufzend beiße ich mir auf die Unterlippe. Hoffentlich behält er recht. Finnick allerdings sieht gar nicht besorgt aus. Auf seinen Lippen liegt schon wieder dieses Grinsen, das ich nicht einordnen kann. Es ist weder jenes, das er für seine offiziellen Auftritte aufsetzt, noch das Freche, welches er zeigt, wenn er mich neckt.

Er streckt seine Hand über den Tisch nach meiner aus und drückt sie leicht. „Vielleicht wird das alles gar nicht so schrecklich. Die Zuschauer lieben Drama, aber sie werden schon nicht für eine Regel abstimmen, die pure Tortur ist. Schließlich wollen sie ja auch, dass ihre Lieblinge eine Chance haben.“

 

Bis die Stylisten auftauchen, haben wir Freizeit, die ich ausnahmsweise mit Finnick verbringen kann. Nach dem gestrigen Ausbruch vor Dr. Gaul ist er gleich zu seinem abendlichen Termin aufgebrochen, sodass wir jetzt zum ersten Mal seitdem alleine sind.

Er sitzt mir gegenüber am anderen Ende der Couch, den Blick aus dem Fenster gerichtet. Selbst wenn wir beide nur schweigen, tut es gut, in seiner Nähe zu sein. Hin und wieder stupse ich ihn mit dem Fuß an und er lächelt zurück, sonst hängt jeder seinen eigenen Gedanken nach.

Ich habe mir Ceces digitalen Reader geschnappt, ein papierdünnes Gerät, auf dem sie in ihren Pausen gerne den neusten Klatsch und Tratsch aus dem Kapitol liest. Da sie in der Stadt unterwegs ist, wird sie wohl nichts dagegen haben, wenn ich ihn mir ausleihe.

Mit unseren Mentorentablets können wir nur Informationen rund um die Hungerspiele abrufen, aber Ceces kleines Wundergerät eröffnet mir eine grenzenlose Welt an Neuigkeiten. Sie hat unzählige Magazine abonniert, die sich hauptsächlich Mode und Berühmtheiten widmen und voller Artikel über die letzten Partys oder Trends sind.

Ganz uneigennützig mache ich mich nicht darüber her, auch wenn es auf eine bizarre Art unterhaltsam ist, in die High Society abzutauchen. Insgeheim hoffe ich, in den Magazinen über einen gewissen Namen zu stolpern. Dr. Gaia Gaul.

Selbst wenn der gestrige Abend in meiner Erinnerung von einem Nebel aus Furcht und Aufregung verhüllt ist, so hat sich doch eine Sache bei mir festgesetzt: wo sie arbeitet oder besser, woran sie arbeitet. Dr. Gaia Gaul, Abteilung für genetische Ursachen- und Optimierungsforschung – das waren ihre Worte gegenüber Finnick. Was überhaupt nicht zu Tias Behauptungen passt. Sie hat immer nur von Verhaltenstherapie geredet, nie von Genen.

Nicht zum ersten Mal frage ich mich, was wirklich hinter der Ärztin – oder viel mehr Wissenschaftlerin? – steckt. Denn eines ist klar: Sie verbirgt etwas. Ich habe es satt, eine Spielfigur des Kapitols zu sein, die nach Lust und Laune gefoltert und bedroht wird. Bevor ich Dr. Gaul das nächste Mal überraschend begegne, bereite ich mich vor.

Wenn ich Glück habe, dann taucht ihr Name vielleicht in irgendeinem Zeitungsartikel auf. Sollte sie wirklich eine bedeutende Forscherin sein, wird man irgendwann über ihre Arbeit berichtet haben – es sei denn, sie ist so geheim, dass das Kapitol sie aus gutem Grund tief unter der Erde vergraben hat. Ich weiß nicht, was mir lieber ist.

Leider hat Cece nur zwei Zeitungen abonniert, die nichts mit Mode oder Tratsch zu tun haben. Den Panem Express und die Capitol Times. Nachdem Erstere sich als belangloses Blatt entpuppt, das vorrangig über Nachbarschaftsstreitigkeiten, Friedenswächtereinsätze in Nachtclubs und bevorstehende Kunstausstellungen berichtet, entscheide ich mich, in der Capitol Times mit meiner Recherche anzufangen.

Weit komme ich allerdings nicht, denn kaum öffnet sich die Titelseite der Zeitung, erstreckt sich eine bildschirmfüllende Aufnahme einer völlig zerstörten Lagerhalle über das Display. Für den Bruchteil einer Sekunde glaube ich, dass es eine der Fabrikhallen daheim in Distrikt vier ist, bis ich das große, zusammengeschmolzene Wappen an einer eingestürzten Wand erkenne. Die Elf ist schwarz von Ruß, aber es besteht kein Zweifel.

Beinahe augenblicklich schmecke ich Asche auf der Zunge und höre morsches Holz unter meinen Füßen brechen wie zarte Muschelschalen. Alleine stehe ich inmitten der Verwüstung, eine schwarze Einöde, die daran erinnert, wie die Flammen unzählige Menschenleben verschlungen haben. Schon lange haben mich die Erinnerungen an das Grab von David und meinem Bruder nicht mehr verfolgt.

Tränen brennen mir in den Augenwinkeln, also wische ich die Seite schnell fort, bevor die Gefühle mich überfluten. Trotzdem schwebt das Bild der verbogenen Stahlträger und eingestürzten Steinmauern noch vor meinem inneren Auge, als stünde ich mitten drin.

Finnick scheint die Anspannung zu bemerken, und er wendet den Blick vom roten Morgenhimmel ab. Mit schräg gelegtem Kopf mustert er mich. „Alles in Ordnung?“

Schnell nicke ich. Nach seiner gestrigen Aufregung will ich ihn nicht weiter beunruhigen. Er sorgt sich ohnehin genug und ausnahmsweise liegt es mal in meiner Hand, ihn zu schützen.

„Was liest du da überhaupt?“ Er linst auf den Reader, den ich jedoch so gegen die Oberschenkel gelehnt habe, dass er unmöglich etwas erkennen kann.

„Ach, bloß ein bisschen Klatsch und Tratsch ... ich wollt mal sehen, was grad so angesagt ist im Kapitol.“ Beiläufig blättere ich eine Seite um. „Vielleicht lasse ich mich ja inspirieren – Roan redet doch immer darüber, dass ich so langweilig bin. Was hältst du von einem echten, hm, Fischschuppen-Tattoo?“ Hoffentlich merkt Finnick nicht, wie unüberlegt die Worte aus meinem Mund stolpern.

Er zieht zwar nachdenklich die Augenbrauen zusammen, aber als ich mich zu einem Grinsen zwinge, lacht er leise auf. „Gefällt mir. Cece würde den Geruch sicher lieben. Vielleicht sollte ich überlegen, mir den Oberkörper damit verzieren zu lassen.“

Über die Knie hinweg strecke ich ihm die Zunge heraus. „Hey, klau nicht meine Ideen!“

„Selbst Schuld, wenn du sie mir auf dem Silbertablett servierst.“ Er lässt sich in die Kissen zurückfallen und ich widme mich wieder dem Reader.

Aus dem mehrseitigen Artikel über den Brand erfahre ich, dass vor Kurzem ein bedeutendes Vorratslager in Distrikt elf in Flammen aufgegangen ist – Gasleck heißt es. Das erklärt wohl die Abwesenheit der üblichen Getreideprodukte auf unserem Frühstückstisch. Aber die Bilder rühren noch an etwas anderem aus meiner Erinnerung.

Von Distrikt elf haben schon Tia und Seneca Crane gesprochen, wie die Schnattertölpel mir verraten haben. Es ging darum, dass sie unter Kontrolle gebracht werden müssten. Ob das der Grund für die Zerstörung ist? Waren es gar die Bewohner von Elf?

Was immer die Wahrheit ist, in der Zeitung steht sie nicht. Stattdessen suche ich lieber nach dem, weswegen ich überhaupt hier bin. Dr. Gaia Gaul.

Zu meiner Frustration stelle ich schnell fest, dass ihr Name in keinem einzigen Artikel der vergangenen Jahre auftaucht, abgesehen von einer Auflistung derjenigen, die ihren Abschluss an irgendeiner berühmten Akademie erhalten haben. Am liebsten würde ich das Gerät in eine Ecke pfeffern.

Seufzend lasse ich den Blick aus dem Fenster schweifen. Mittlerweile nähert sich die Sonne dem Zenit und damit schmilzt die Zeit nur so dahin. Geistesabwesend verknote ich schon wieder eine Haarsträhne zwischen den Fingern, da durchbricht Finnick unser gemütliches Schweigen.

„Es tut mir leid, falls ich dich gestern Abend erschreckt habe“, sagt er leise. „Diese Frau ... hat mir solche Angst gemacht, dass sie dich wieder wegbringen. Ich konnte nicht zusehen, wie das passiert. Nicht erneut.“

Überrascht senke ich die Hand und sehe ihn an. Sein Blick zeigt, dass es ihm ernst ist. „Du hast mir nie Angst gemacht. Es war nur so ... laut. Und ich wusste nicht, ob ich Furcht vor ihr haben sollte oder nicht.“

„Trotzdem. Ich hätte dir helfen müssen, ohne sie anzuschreien.“

Er streckt seine Hand nach mir aus, und ich ergreife sie. „Manchmal tun wir das Falsche aus all den richtigen Gründen. Deswegen liebe dich mit jedem dieser Fehler. Und manchmal gerade wegen ihnen.“

Das entlockt ihm endlich wieder ein Lächeln. „Ich liebe dich dafür, dass du das kannst. Und noch so viel mehr.“

Den Reader an den Bauch gepresst, lehne ich mich vor und küsse ihn. Dann fällt mir allerdings noch etwas anderes ein, das mir keine Ruhe lässt. „Sag mal – hast du heute Nacht eigentlich gut geschlafen?“

„Komischerweise ja. Die üblichen Schlafprobleme haben mich letzte Nacht gar nicht gequält.“ Sein Daumen streicht beruhigend über meinen Handrücken.

Nur leider wirft das mehr Fragen auf, als es beantwortet. Was war anders? Seine erzwungenen Liebschaften schicken ihn für gewöhnlich in ein tiefes Loch des Selbsthasses, das mir genauso wehtut wie ihm. Auch wenn ich mich freuen sollte, dass er gestern nicht gelitten hat, verstehe ich es nicht.

Finnicks Mundwinkel zucken leicht. Er lehnt sich vor, um den Kuss zu erwidern. „Du wirst sehen. Alles wird gut.“

Seine Augen suchen die Meinen und für einen winzigen Sekundenbruchteil habe ich das Gefühl, jeden seiner Gedanken fühlen zu können. Zuversicht erfüllt mich, obwohl ich immer noch nicht schlauer bin. „Dann glaube ich dir.“

Doch wie so oft im Kapitol, wird dieser Moment der Verbundenheit einmal mehr von einem alarmierenden Piepen durchbrochen. Mein Atem setzt kurz aus, fängt sich dann aber wieder. Finnicks Hand erdet mich in der Gegenwart.

„Soll ich nachsehen, was los ist?“ Er hat den Blick nicht von mir gelöst.

Dankbar, dass er mir einen Fokus gibt, nicke ich. Bevor wir auf der Feier des Präsidenten auftauchen, sollte ich informiert sein, was in der Arena passiert ist, und wenn es nur Finnicks Erzählungen dessen sind.

Er zieht sein Tablet zu sich heran und betrachtet mit gerunzelter Stirn das Geschehen, während ich konzentriert auf den Reader in meinem Schoß starre. Zur Ablenkung tippe ich mit zittrigen Fingern neue Suchbegriffe ein. Labor; Genetik. Unzählige Treffer ploppen auf und ich klicke mich wahllos hindurch.

Zu meiner Erleichterung stellt sich heraus, dass bloß die streitenden Karrieros Schuld am Alarm sind. Die anderen Mentoren kommen aus ihren Zimmern und ich bedeute Finnick, dass es okay ist, wenn sie den Fernseher anmachen. Wenigstens habe ich den Reader, um mich von der Arena abzulenken.

Nachdem die Karrieros die gesamte Nacht durch den weitläufigen Wald marschiert sind, auf den vermeintlichen Spuren von Katniss, sitzen sie jetzt erschöpft auf einer Lichtung, die letzten Vorräte vor sich ausgebreitet. Anscheinend hat der Anblick von ein paar Trockenfrüchten und Dosenbrot ihrem Enthusiasmus einen entscheidenden Dämpfer versetzt.

„Wir sind noch acht Leute hier drin. Drei von uns und fünf von den anderen. Wir brauchen also ungefähr für eine Woche Essen, eventuell auch weniger“, sagt Marvel mit Blick auf das zusammengeworfene Häufchen an Nahrung. „Zur Not können wir jeden zweiten Tag ohne Essen auskommen, solange uns das Trinken nicht ausgeht.“

Cato verschränkt die Arme vor der breiten Brust. „Um dann abzumagern, wie eines von diesen Klappergestellen aus Drei?“ Er schüttelt den Kopf und wirft einen provokanten Blick in Richtung der Stelle, wo er die Kameras vermutet. „Ich wäre dafür, dass unsere Fans ein bisschen was von ihrer Fanliebe zeigen!“

Der Augenblick gehört ganz ihm und er nutzt es aus, indem er seine Muskeln spielen lässt. Mit den blonden Haaren, der kräftigen Statur und den himmelblauen Augen hat er genug Fans da draußen. Selbst die hässlichen grün-gelben Schwellungen dort, wo die Jägerwespen ihn gestochen haben, haben seine Reize nicht ruiniert.

Marvel jedoch seufzt. „Und warum haben wir dann seit gestern nichts mehr bekommen?“, fragt er gereizt. „Notfalls müssen wir mit dem auskommen, was wir haben, und das ist nicht viel.“

„Ach, und warum?“ Cato schaut zu Clove, die auf dem Rücken liegt und fortwährend eines ihrer Messer in die Luft wirft und geschickt wieder auffängt.

Ein spöttisches Grinsen ziert ihr Gesicht, als sie der Klinge erneut Schwung gibt, um sie nach oben zu befördern. „Weil wir zu dritt sind. Einer weniger und wir hätten das Problem nicht.“

Ich finde es erstaunlich, dass Marvel in diesem Moment ruhig sitzen bleibt. Ob ihm das Herz genauso bis zum Hals schlägt wie mir gerade? Kalkuliert er schon seine Möglichkeiten? Dezimieren sich gleich die Karrieros gegenseitig?

Schnell wende ich den Blick ab, zurück zu meiner Recherche. Feierliche Einweihung der neuen Dovecote-Einrichtung für genetische Forschung heißt der Artikel, den ich zuletzt angeklickt habe.

„Arroganz wird noch der Untergang von Distrikt zwei sein“, murmelt Amber halblaut auf dem anderen Sofa.

„Nun, eins is’s sicher – die Sponsoren werd’n ihnen jetzt nix schicken“, brummt Trex. „Nich‘ solange sie stattdessen nen Kampf haben können.“

In der Arena starren die drei verbliebenen Karrieros einander schweigend an, jeder von ihnen darauf bedacht, eine Regung zu vermeiden. Wer sich zuerst bewegt, hat verloren. Es fällt mir schwer, nicht hinzusehen.

„Weißt du, Marv‘, ich glaub, du hast recht“, sagt Cato in die Stille hinein. „Wir müssen die Vorräte gut einteilen. Aber mir gefällt Cloves Idee besser als deine.“ Und das Grinsen, das er jetzt Marvel zeigt, hat nichts von dem charmanten Lächeln für die Zuschauer. Es ist das eines Raubtiers, bereit die Zähne in seine Beute zu schlagen.

Mein Blick flackert zurück auf Ceces Reader – und mir entweicht ein Keuchen. Der Artikel über die Dovecote-Einrichtung wird von einem Bild begleitet, das eine nur zu bekannte pinkhaarige Wissenschaftlerin zeigt. Ich habe tatsächlich Dr. Gaul gefunden!

Im Hintergrund höre ich Marvels Antwort auf Catos Drohung – trockenes Lachen. „Willst du Everdeen fangen oder nicht? Zu dritt sind unsere Chancen immer noch größer.“

Doch ich kann die Augen nicht von dem Bild lösen, das mehrere festlich gekleidete Menschen zeigt, die strahlend zwischen technischen Geräten stehen. Und es sind nicht irgendwelche Leute, neben denen Dr. Gaul steht.

Hoher Besuch: Die Einweihungsfeier der neuen Dovecote-Einrichtung wurde von Hector Snow, dem jüngsten Sohn des Präsidenten, und seiner Verlobten, links, mit einer festlichen Rede eröffnet.

Cloves boshaftes Kichern erscheint mir nur zu passend angesichts dieser Erkenntnis. Dr. Gaia Gaul ist nicht irgendwer – sie gehört zu dem engsten Kreis um Snow. Was ihre Taten nur fragwürdiger macht.

„Warum beweist du uns nicht, wie nützlich du bist, indem du ein paar von deinen Fallen im Wald aufbaust? So bist du doch an deine Neun im Training gekommen. Vielleicht verdienst du dir dann ja deine Ration.“ Die schneidende Stimme von Clove lässt mich wieder aufsehen.

Reglos starrt Marvel Cato an. „Los“, wispert dieser mit einem hämischen Grinsen. „Fang die Kleine. Und wenn du sie hast, erledigen wir das auf meine Art.“

Marvel wagt es nicht, die Hand nach den gesammelten Vorräten auszustrecken. Er greift seinen Rucksack mit dem letzten bisschen, was ihm geblieben ist, und seinen Speer, dann entfernt er sich langsam, rückwärts, von der Lichtung und dem Bündnis.

„Das war es mit den Karrieros“, jubiliert Amber lautstark. Auch die anderen sehen ziemlich zufrieden aus.

Nur mir könnte das alles nicht egaler sein, angesichts meiner Entdeckung in der Capitol Times.

Die Dovecote-Einrichtung gilt als zukünftige Speerspitze der Genetikforschung. Das vom Präsidenten geförderte Programm widmet sich vornehmlich der (Weiter-)Entwicklung von Mutationen zum Schutz der Allgemeinheit. Vielfältige Experimente sollen Erkenntnisse über die gezielte Nutzbarkeit dieser Schöpfungen zutage bringen.

Erste Erfolge verzeichneten die Forschenden bereits Anfang des Jahres mit ihrem Bericht zur Wirkung des Jägerwespengifts auf die menschliche Wahrnehmung und daraus resultierenden Möglichkeiten, das Mittel in Fällen schwerer schizoider Wahrnehmungsstörungen gezielt zur Therapie einzusetzen.

 

***

 

 

Präsident Snows Palast hat sich seit Rivens Siegertour kein Bisschen verändert. Schwere Kronleuchter unter der Decke, buntes Publikum und unzählige Speisen auf dem Büffet. Alles erscheint wie damals, selbst das Kleid, was Roan mir zugesteht, ist wieder unangenehm figurbetont. Tiefgrüner Satin fließt um meinen Körper, gehalten von einem metallenen Halsreifen, der sich wie eine Schlange vom Nacken herab windet und auf Höhe der Schulter in den Stoff übergeht. Ich hasse es mit jeder Faser des Seins.

Das einzig Neue ist die Empore mit Sitzplätzen für uns Mentoren und Snow, direkt gegenüber der großen Leinwand, die von der Galerie im dritten Stock bis zum Boden herabhängt. Darauf läuft – wie könnte es anders sein – die Übertragung der Hungerspiele. Mir fällt es, genauso wie den vielen Gästen, schwer, die Augen von den überlebensgroßen Bildern abzuwenden.

Momentan gibt es immerhin keinen Kampf. Die meisten Tribute halten sich bedeckt, in der Hoffnung, diesen Tag irgendwie zu überstehen. Sie ahnen ja nicht, welcher Sturm sich hier im Kapitol zusammenbraut. Nur Katniss ist mit dem Bogen im Anschlag auf der Suche nach Rue, die nicht wie verabredet in ihr gemeinsames Lager zurückgekehrt ist.

Als Zuschauerin weiß ich natürlich längst, was ihre kleine Verbündete davon abgehalten hat. Eine geschickt platzierte Falle der Spielmacher, einen einzigen Fehltritt und die Invasion hunderter knallbunter Schlangen später, ist Rue zwar unverletzt, musste dafür aber die Nacht in einer windigen Baumkrone verbringen, während die Vipern auf den niederen Ästen nach ihr schnappten. Die Karrieros haben ihr Lager auf der Jagd mehrfach umkreist und bloß durch reinen Zufall nicht entdeckt.

Mit klopfendem Herzen, wie wir dank der Einblendung von Rues Puls wissen, pirscht sie nun durch den dichten Wald, immer auf der Hut vor weiteren schuppigen Leibern, die aus dem Blattwerk herabfallen könnten. Offenbar hat ihr diese Begegnung mit den Mutationen den Weg durch die Bäume ordentlich verleidet.

Aber selbst wenn keine Schlangen mehr über sie herfallen – für uns Zuschauer ist längst ersichtlich, dass dieser Weg eine Sackgasse ist; geschickt von den Spielmachern eingefädelt. Am Ende ihrer momentanen Route wartet Marvel mit seinen improvisierten Fallen und dem Wunsch nach Rache. Jetzt stellt sich nur die Frage, wer ihn zuerst erreicht – Katniss oder Rue.

In diesem Moment landet ein schwarz-weiß gefiederter Spotttölpel auf einem Ast in Rues Nähe. Der Hoffnungsschimmer in ihren dunklen Augen ist nicht zu übersehen. Sie singt ihre kleine Melodie, das Erkennungszeichen dafür, dass es ihr gut geht. Ganz wie seine unheimlichen Verwandten im Labor greift der Vogel die Töne auf und trägt sie auf ausgebreiteten Schwingen hoch in den Himmel, zu seinen Artgenossen, die sogleich in die Hoffnungsmelodie einstimmen. Vielleicht wird die Botschaft Katniss rechtzeitig erreichen.

Während ich diese Szenen verfolge, treibt es meine Gedanken zusehends fort von den Spielen, in die unruhigen Tiefen des eigenen Verstandes. Bin ich bloß ein Experiment in Dr. Gauls Laboren? Nutzt das Kapitol diese Angst aus, damit ich endgültig eine willenlose Marionette werde? Will Dr. Gaul mich möglicherweise nur über die Klippen des Wahnsinns treiben und aus der Ferne beobachten, wie ich von Schuldgefühlen und Panik innerlich zerfressen werde, damit sie noch mehr Medikamente an mir ausprobieren kann – oder ... Schlimmeres?

Zum Glück sehe ich ihre pinken Haare nirgends in der Menge, nur zahlreiche andere Damen mit derselben pastellenen Haarfarbe. Ich bin unsicher, wie ich reagieren würde, wenn sie jetzt hier stünde. Sie hat mir nie persönlich etwas getan. Das war immer Tia mit den Stromschlägen. Im Gegenteil, gestern hat Dr. Gaul mir die Hand gereicht, als die Wellen der Angst über mir zusammenschlugen. Für einen winzigen Splittermoment habe ich wirklich geglaubt, dass sie die Furcht vielleicht doch versteht.

Ein lautes Geräusch aus der Arena lässt mich schließlich zusammenschrecken, aber es ist bloß ein trockener Ast, der unter Rues Füßen bricht. Floogs wirft mir einen fragenden Blick zu, woraufhin ich nur den Kopf schüttle. Momentan bin ich nicht bereit, diese Sorgen mit dem Rest meiner Familie zu teilen. Sollen sie nur glauben, dass es bloß die Spiele sind. Manchmal kann der Ruf der „Verrückten“ auch ein Schutzschild sein.

Finnick unterdessen hat mit seinem Ruf des begehrten Junggesellen einmal mehr zu kämpfen. Kaum sind wir angekommen, hat ihn Titania Creed in Beschlag genommen. Auch eine Stunde später, hängt sie immer noch an ihm und versucht, ihn zum Tanzen zu überreden. Ich bemühe mich, die hauchzarten Nadelstiche in meinem Herzen zu ignorieren, also wende ich den Blick wieder dem einzigen anderen Unterhaltungspunkt zu – die Beobachtung der bunten Gästeschar.

Lange muss ich mich indes nicht damit begnügen, denn nur Minuten später öffnet sich eine gewaltige Tür auf der Galerie im dritten Stock und Präsident Snow tritt heraus. Nur seine Anwesenheit vermag es, einen Saal voller geschwätziger Kapitolvögel binnen Sekunden zum Schweigen zu bringen. Ich scheine nicht die Einzige zu sein, der ein phantomhafter Eisschauer über den Rücken läuft, sobald er den Raum betritt.

Der Präsident begrüßt die Anwesenden mit dem üblichen Geschwafel von historischen Momenten, tapferen Tributen und ähnlichem Unsinn. Aber der eigentliche Star dieses Abends ist nicht er, sondern der oberste Spielmacher, der wie ein Schatten an seiner Seite steht. Seneca Cranes feuerroter Anzug wirkt beinahe wie eine Verneigung vor Katniss brennendem Interviewkleid. Eine Reihe funkelnder Edelsteine am Revers gibt ihm eine ähnlich entflammte Aura. Alle Augen sind auf ihn gerichtet. Dessen ist er sich offenbar nur zu bewusst, denn er lächelt kühl zu uns herab, sobald der Applaus aufbrandet.

Im Saal wird unterdessen in Windeseile die Tanzfläche geräumt, auf der Caesar Flickerman und der oberste Spielmacher Platz für die Show nehmen werden. Snow allerdings hält geradewegs auf die Empore zu, die Augen voller Zufriedenheit über uns Sieger gleitend, als wären wir eine besonders prachtvolle Zucht seiner geliebten Rosen. Schließlich bleibt sein Blick an mir hängen. In einer untypischen Geste hebt er seine Mundwinkel zu der Andeutung eines Lächelns, doch seine Augen sind ein kalter Spiegel seines unbewegten Inneren, wie zwei feingeschliffene Diamanten. Leblos, hart.

„Miss Cresta“, grüßt er höflich, „es freut mich, zu sehen, dass es Ihnen wieder besser geht.“

Mein Mund ist trockener als die heißeste Arenawüste, aber ich zwinge mich zu einem gleichermaßen unehrlichen Lächeln. Das scheint leider eine Einladung für Snow zu sein, sich unserem Tisch weiter zu nähern. Ich höre, wie die übrigen Sieger erleichtert aufatmen, nun, da die Aufmerksamkeit nicht länger ihnen gilt. Selbst unter den einstigen Karrieros hat der Präsident wenige Freunde.

Von Snow geht derselbe überwältigende Rosenduft aus, der mich schon in Flickermans Studio zu ersticken drohte. Irgendwie bezweifle ich, dass es an der einzelnen weißen Rose an seinem Revers liegt. Jede Faser meines Körpers drängt zur Flucht. Aber wie ein Tier in der Falle beobachte ich bloß, wie er den Rest unserer Mentorenfamilie begrüßt. Titanias Anblick an Finnicks Seite erfreut ihn anscheinend. Zumindest habe ich für wenige Sekunden das Gefühl, dass doch etwas Leben in den Diamantaugen ruht, während sie triumphierend aufblitzen.

„Es wäre mir eine Ehre, wenn ich mich zu Ihnen setzen dürfte“, sagt Snow schließlich höflich, aber bestimmt.

Oder andersgesagt – wir müssen seine Anwesenheit ertragen. Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, wie Amber ihre Knöchel knacken lässt, und schenke ihr einen beschwichtigenden Seitenblick. Wir haben in der Vergangenheit zur Genüge Aufmerksamkeit erregt. „Natürlich“, erwidere ich leise.

Wie aus dem Nichts taucht ein Diener mit gesenktem Kopf hinter Snow auf, der ihm einen weißen Stuhl mit hoher Lehne an unseren kleinen Tisch schiebt. Kein bequemer Sessel wie bei uns, mehr eine Machtdemonstration, fast schon ein Thron, mit fein gearbeiteten Intarsien an der hölzernen Rückenlehne.

„Was für ein betrübender Umstand, dass Ihre Tribute dieses Jahr so früh ausgeschieden sind.“ Snow legt seine langen schmalen Finger bedächtig gegeneinander. „Sie waren vielversprechende Kandidaten. Es ist immer schade, Potential verloren zu sehen.“ Seine Augen bohren sich in meine wie kalte Speerspitzen. „Jeder Anfang ist schwer. Nächstes Jahr, werden Sie uns sicherlich mehr ... überraschen.“

Es ist unser aller Rettung, dass wir Floogs haben. Er schenkt Snow ein Lächeln, so höflich, das man meinen könnte, er würde einen lange vermissten Freund endlich wiedersehen. „Wir geben stets unser Bestes. Für unsere Tribute. Auch im nächsten Jahr wieder. Vielleicht können Sie sich ja dann wieder über einen Sieger aus Distrikt vier freuen, Mr. Präsident.“

„Ich werde es mit Spannung erwarten.“

Wie magnetisch angezogen wandert Snows Blick wieder zu mir. Aber ausnahmsweise wird selbst dem Präsidenten das Wort abgeschnitten, denn Caesar Flickerman hat sich inzwischen mit Seneca Crane auf der ehemaligen Tanzfläche eingefunden und tappt prüfend auf sein Mikrofon. Bunte geschmückte Köpfe im ganzen Saal drehen sich zu ihm und Spannung breitet sich aus, sobald Caesar uns seine unnatürlich weißen Zähne in einem breiten Grinsen zeigt.

„Meine Damen und Herren, endlich ist es so weit! An diesem ganz besonderen Abend begrüße ich Sie recht herzlich aus dem Präsidentenpalast! Heute wird unser verehrter oberster Spielmacher uns offenbaren, welche Regeländerungen für Sie da draußen zur Auswahl stehen. Ja, Sie haben richtig gehört! Sie vor den Fernsehern des Kapitols werden die einmalige Chance haben, für eine nie dagewesene Änderung der Regeln dieser Hungerspiele zu stimmen! Ist das nicht aufregend?“

Ich gebe Caesar nicht gerne recht, aber ja, es ist aufregend. Meine Finger klammern sich Halt suchend um die Armlehnen des Sessels. Nur dem letzten Rest Entschlossenheit verdanke ich es, dass mein Gesicht vor Snow, der ein aufmerksames Auge auf unsere Runde hat, ausdruckslos bleibt.

„Seneca, ich fürchte, ich kann meine Aufregung nicht länger zurückhalten. Was haben Sie sich überlegt?“, fragt Caesar wie ein kleines Kind am Morgen der Jahreswende.

Der Spielmacher lächelt schmallippig. „Nun Caesar, was halten Sie davon, wenn Sie es selber herausfinden?“

Wie aufs Stichwort trägt eine junge Frau eine große Glaskugel herbei, die unbestechliche Ähnlichkeit mit den Loskugeln bei der Ernte hat. Und genau wie bei der Ernte sind im Inneren mehrere gefaltete Zettel cremefarbenen Papiers, jeder mit einem roten Wachssiegel verschlossen.

„Oh, es wäre mir eine Ehre“, seufzt Flickerman und schließt dramatisch die Augenlider, „aber ich denke, ich habe noch eine bessere Idee. Warum lassen wir nicht einige von unseren geschätzten Gästen heute Abend die Vorschläge verlesen?“

Die Schnappatmung von Titania Creed ist nicht zu überhören. Es würde mich nicht überraschen, wenn sie ihre Hand in die Luft hebt und auf ihrem Platz auf und ab hopst wie eine Schülerin, die unbedingt ihre richtige Antwort loswerden will. Vermutlich halten nur ihre Manieren sie davon ab.

Es dauert nicht lange und der Moderator hat sich mithilfe von Seneca Crane vier Gäste ausgesucht – tatsächlich auch Titania. Unter höflichem Applaus versenkt der erste von ihnen, ein dürrer Mann mit blass fliederfarbener Haut, seine Hand in das Glas. Alles hält den Atem an. Nur Snow betrachtet das Geschehen mit scheinbarer Gelassenheit, immer noch ein amüsiertes Lächeln im Gesicht.

Das leise Knacken des Wachssiegels hallt durch den Saal. Dann räuspert sich der Mann und beugt sich zu dem Mikrofon, das Caesar ihm entgegenstreckt. „Die erste vorgeschlagene Regeländerung lautet: Sponsorengeschenke dürfen nur noch am Füllhorn von den Tributen empfangen werden.“

Mir ist nach Lachen zumute. Sowas haben sich die Leute also überlegt? Klar, es ist eine Einschränkung, aber bei all dem Aufheben, das um diese Veränderung gemacht wird, hätte ich mehr erwartet. Der einzige Sinn dieses Vorschlags ist es, die Tribute für einen Kampf zusammenzutreiben. Das bekommen die Spielmacher üblicherweise ohne solche Tricks hin.

Trotzdem brandet Applaus auf und schon ist die nächste Losfee an der Reihe, eine große Dame, der ein Geweih aus ihren laubgrünen Haaren wächst. „Regeländerung Nummer zwei lautet wie folgt“, verkündet sie mit deutlich mehr Elan als ihr Vorgänger, „mit jedem Tag, der in der Arena vergeht, wird ein neuer Bereich zur Todeszone erklärt. Fünfzehn Minuten nach Bekanntgabe dieser Todeszone wird in dem Abschnitt eine Mine explodieren und alle zurückgebliebenen Tribute töten.“

Meine Fingernägel graben sich tief in die weichen Sesselpolster. Diese Regel ist deutlich heftiger. Es gäbe keine Rückzugsorte mehr in der Arena, die Tribute wären ständig in Bewegung. Es wundert mich nicht, dass der Applaus dieses Mal bedeutend enthusiastischer ausfällt.

Doch schon bittet Caesar Titania nach vorne. Sie versenkt ihre Hand voller Dramatik in der halbleeren Glaskugel. Anscheinend hat sie sich einiges von Cece abgeguckt. Viel zu langsam, für meinen Geschmack, faltet sie ihren Zettel auseinander und räuspert sich spannungsheischend.

„Die dritte mögliche Regeländerung lautet ...“ Sie dehnt die Pause, bis selbst Caesar ein drängendes Hüsteln hören lässt. „Es dürfen zwei Tribute siegen, solange sie aus demselben Distrikt stammen.“

Kollektives Luftanhalten im Saal. Was immer die vierte Regel ist, ich denke nicht, dass sie diese Wirkung übertrifft. Die Wahl ist gefallen, sobald Titanias Stimme verklingt. Zwei Sieger? Hundertfach höre ich die Worte wiederholt, ein Echo, das einer warmen Brandungswelle gleich von Gast zu Gast weitergetragen wird.

Snow lächelt nicht mehr. Seine Hände ruhen immer noch bedächtig gefaltet in seinem Schoß, doch die harten Diamantaugen sind fest auf Seneca Crane gerichtet. Es ist die wichtigste Regel der Hungerspiele seit ihrem Beginn, dass nur ein Tribut überlebt. Ich kann nicht glauben, dass die Spielmacher das verändern wollen – und noch weniger, dass sie es verändern dürfen. Trotzdem applaudiert Snow, als Titania den Zettel ablegt und Platz für den letzten Loszieher macht.

Der ältere Herr, dem nun die Ehre gebührt, wackelt gerade nach vorne zur Loskugel, da ertönt ein dumpfer Schlag. Die Hungerspiele, die wir allesamt vor Aufregung für einen Moment vergessen haben, drängen sich uns wieder ins Bewusstsein. Das übergroße Bild von Caesar auf der Leinwand ist ruckzuck verschwunden. An seiner statt sehen wir Marvels Falle – mitsamt ihrem Fang. Rue.

„Oh, oh, meine Damen und Herren, es sieht aus, als wenn die Tribute nicht abwarten können, bis wir alle Regeländerungen verlesen haben“, wechselt Caesar Flickerman scheinbar mühelos in den Kommentatorenmodus. „Ob nun wohl ein weiterer Tribut ausscheiden wird?“

Mein Magen hüpft auf und ab wie auf stürmischer See. Bitte nicht, schreie ich in Gedanken, während ich stumm die Fingernägel noch tiefer in das Polster grabe. Neben mir schleicht sich das falsche Lächeln wieder auf Präsident Snows Gesichtszüge und er lehnt sich in seinem hölzernen Stuhl zurück.

Rue, begraben unter einem dicken Netz, beißt sich auf die Lippen, um nicht laut aufzuschreien. Es ist purer Hohn, dass in diesem Moment ein Spotttölpel hoch oben in den Baumwipfeln wieder ihre kleine Melodie anstimmt.

Die nächsten Ereignisse rollen über mich hinweg wie eine Sturmflut, die aus dem Nichts hervorschießt. Eben noch war alles in Ordnung und plötzlich reißt es die Welt aus den Angeln und stellt sie Kopf. Katniss fängt die Botschaft des Spotttölpels auf und singt gerade den Vögeln ihre eigene Melodie vor, da hört Rue sie. Ein angsterfüllter Schrei bahnt sich über ihre Lippen – und alarmiert Marvel genauso wie ihre Freundin.

Einige Zuschauer schreien auf. Ob vor Überraschung, Angst, Mitleid oder Erregung kann ich nicht sagen. Die Menge im Saal verwandelt sich in ein verschmolzenes Wesen, das einen einzigen tiefen Atemzug nimmt, als Katniss und Marvel gleichzeitig auf die Lichtung mit der gefangenen Rue zustürzen. Selbst Caesar Flickerman und Seneca Crane sitzen bloß da und beobachten das Geschehen.

So sehr mein Herz auch rast, Katniss anfeuert, schneller zu sein – sie kommt trotzdem zu spät. Marvels Speer bohrt sich gnadenlos in das zierliche Mädchen. Den Pfeil, der seinen Hals durchdringt, sehe ich bloß durch einen Tränenschleier.

„Wie tragisch“, schweben die Worte federleicht von Snow zu mir herüber. „Bedauerlich, dass die Sünden der Distrikte ihr so junges Leben fordern. Notwendig und doch ... traurig, nicht wahr, Miss Cresta?“

Unwirsch wische ich eine verräterische Träne von meiner Wange. Marvels Kanone wird abgefeuert, aber da ist kein Mitleid übrig für ihn. „Ungerecht“, presse ich heiser hervor. Rues Tod ist genauso ungerecht wie der von Edy, von Cordelia ... von ihnen allen. Wie die Hungerspiele an sich.

„Ungerecht? Ich fürchte, Sie verkennen, dass dies alles nur die Schuld jener ist, die sich gegen die gerechte Ordnung aufgelehnt haben. Ohne Ordnung gibt es niemals Sicherheit. Ihr Tod ist ein großer Dienst für den Fortbestand unseres Landes. Weinen Sie nicht, Miss Cresta, sondern sehen Sie das größere Ganze dahinter. Diese Tribute sterben für unser aller Wohl. Eine Lektion, die nicht nur in Distrikt elf noch einmal gelernt werden will.“

Ich starre unbewegt auf die Leinwand, wo Katniss die sterbende Rue auf ihren Schoß gebettet hat und heiser ein Lied anstimmt. Selbst die Spotttölpel in den Bäumen schweigen, als ihre Stimme den ganzen Saal erfüllt. Aus den gebrochenen Worten bricht der Schmerz hervor und irgendwie, auf eine verdrehte Art und Weise, wärmt das Lied mein Innerstes; treibt die Trauer ein Stück zurück, bevor sie mich genauso überwältigt wie Katniss.

 

Hier ist es sicher, hier ist es warm,

Hier beschützt dich der Löwenzahn.

 

Katniss Stimme versagt. Die finalen Zeilen ihres Gesangs sind genauso still und einfach zu überhören wie Rues letzte, zitternde Atemzüge. Ausnahmsweise schweigt sogar das Kapitol. In der einsetzenden Ruhe ist das erste Zwitschern der Spotttölpel, die Katniss Lied aufgreifen, lauter als der Kanonenschlag, der Rues Tod endgültig verkündet.

Ungerecht. Ich hebe den Kopf und treffe auf Snows Blick, der mich ausdruckslos mustert. Die Tränen auf meinen Wangen sind trocken, bloß der salzige Geschmack auf den Lippen bleibt. „Ich denke, ich habe die Trauer überwunden“, entgegne ich leise.

Für einen Augenblick sieht er mich bloß schweigend an, dann schenkt er mir ein neuerliches falsches Lächeln. „Es wäre in ihrem besten Interesse.“

Gift oder Gewissen

„Nun, meine Damen und Herren, was für eine aufregende und doch bedauerliche Unterbrechung unsers Programms! Leider, leider, scheiden Marvel aus Distrikt eins und Rue aus Distrikt elf damit aus!“ Caesar Flickermans laute Worte durchschneiden die fast schon andächtige Stille wie der Speer Rue vor wenigen Minuten. Die Kapitolbürger haben erstaunlich gelassene Methoden gefunden, sich von dem Grauen, welches sich vor ihren Augen ereignet, binnen Sekunden zu erholen und weiterzumachen, als wären nicht zwei Leben brutal beendet worden. „Einen großen Applaus bitte für unsere tapferen Tribute!“

Halbherzig schlägt Finnick die Hände zusammen, auch wenn er lieber den Kopf in ihnen vergraben würde. Es ist egal, welche Sieger auf der Tribüne er ansieht, in jedem Gesicht stehen Trauer, Zorn und Verbitterung geschrieben. Katniss Abschiedslied an die kleine Rue brennt sich Wort für Wort in sein Herz und obwohl er es nie zuvor gehört hat, ist er sich gewiss, dass er diese Zeilen nicht mehr vergessen wird. Den meisten Tributen bleibt keine Zeit, sich von gefallenen Verbündeten zu verabschieden und selten hat das Kapitol einem derart emotionalen Abschied beigewohnt. Noch dazu für den Tribut eines anderen Distrikts.

Selbst Annie hält den Kopf hoch erhoben, voller Trotz, und verfolgt das Geschehen in der Arena. Nur an dem leichten Zittern ihrer Unterlippe verrät sich, was dieser innere Kampf sie kostet. Überwältigender Stolz und der Wunsch, sie in seine Arme zu reißen, ringen in Finnicks Brust mit dem Zwang, der perfekte Sieger zu sein. Wenn Snow es geschafft hat, sogar Annies Tränen vor Zorn verdampfen zu lassen, dann will er sich nicht vorstellen, wie groß die Wut erst in Distrikt elf ist.

Während Caesar vorne auf der Bühne bereits wieder breit grinsend Witze reißt, ist auf der Leinwand im Hintergrund weiterhin Katniss zu sehen, deren Tränen in einem stummen Strom ihre Wangen herabfließen. Der leise Chor der Spotttölpel, die ihr Lied aufgreifen, treibt Finnick eine Gänsehaut über den Körper, obwohl er unter Flickermans lauter Moderation bloß ein schwaches Hintergrundgeräusch ist.

Sein Blick sucht Haymitch. Die Augen des Mentoren sind rot unterlaufen, aber diesmal ist Finnick sicher, dass es nicht am Alkoholpegel liegt. Neben Abernathy schluchzt Chaff leise an Seeders Schulter, doch die Miene seiner Distriktpartnerin lodert tödlicher als jeder Feuerball in der Arena. Der Hunger in ihren Augen verlangt nur eines – Rache.

Das Kapitol hingegen ist wieder zur Tagesordnung übergegangen. Für sie scheint der Tod zweier Tribute kaum mehr nennenswert, höchstens eine kleine Unterbrechung eines heiteren Abends, wie ein unerwarteter Stromausfall, der am Ende nur ein paar Minuten dauert und an den man sich bald gar nicht länger erinnert. Titania Creed vorne bei der Bühne nippt bereits wieder breit lächelnd an ihrem Champagner und Finnick ist froh, dass sie in diesem Moment viele Meter trennen.

Caesar plaudert noch ein wenig mit Seneca Crane, aber es ist überdeutlich, dass sie endlich den vierten und letzten Vorschlag zur Regeländerung präsentieren wollen. Erst jetzt wird Finnick bewusst, dass die gemeinsamen Siegesaussichten für Distrikt elf, denen er gestern voller Hoffnung eine Chance zugestanden hat, nun erloschen sind. Es bleiben nur zwei Teams übrig. Zwölf oder Zwei. Außenseiter oder Karrieros; Rebellion oder Unterdrückung. Jetzt steht alles auf einer Karte.

Unbemerkt von den meisten Zuschauern, deren Aufmerksamkeit sich Caesar Flickerman widmet, kommt Katniss langsam wieder zu Sinnen. Interessiert verfolgt Finnick, wie sie ein paar Schritte von Rues Leichnam ins Unterholz geht und eine Handvoll wilder Blumen pflückt. Wenn er dachte, die wehmütigen Zeilen ihres Liedes allein würden sich in sein Herz prägen, so liegt er falsch.

Bedächtig kleidet Katniss den leblosen Körper ihrer kleinen Verbündeten in ein Meer aus Lila, Gelb und Weiß. Blüten bedecken jene grässliche Wunde, die ihr Leben beendet hat, und ein buntes Farbenspiel umrahmt ihr Gesicht, bis es erscheint, als wäre sie in einen friedlichen Schlummer versunken. Das Kapitol hat ihren Tod zu verantworten, doch in diesen letzten Momenten gibt Katniss Rue ihren Frieden zurück. Und nicht nur ihr, auch Distrikt elf erweist sie die höchste Ehre.

Es verwundert Finnick nicht, dass die Szenen plötzlich einem schwarzen Bild weichen, nur damit wenige Sekunden später wieder Caesar Flickerman in Übergröße gezeigt wird. Freundschaft unter den Distrikten ist nur gewünscht, wenn diese gewaltsam, zum Beispiel mit einem Messer im Rücken, endet.

Viel verräterischer ist ohnehin das Gesicht des Präsidenten, dessen stahlharte Augen sich fest auf seinen obersten Spielmacher geheftet haben. Sein Kopf ist leicht schiefgelegt, die Hände ordentlich in seinem Schoß gefaltet. Snow hat seine Erscheinung unter Kontrolle. Weitgehend. Die Anzeichen seiner Unzufriedenheit sind winzig; schnell übersehen. Hätte Finnick ihm nicht so oft gegenübergestanden und die Enttäuschung in den Tiefen Snows eisblauer Augen lauern sehen, es würde ihm in diesen Sekunden wohl kaum auffallen.

Die Show unterdessen läuft unbeirrt weiter. Der ältere Herr, der als Letztes ein Los ziehen soll, schreitet mit reichlich angesäuerter Miene auf die Bühne. Sein großer Auftritt ist zweifellos ruiniert, denn überall im Saal tuscheln leise Stimmen miteinander – über die ersten drei Vorschläge und, Finnick hält den Atem an, Katniss Lied, ihre Blumen für Rue. Sie haben es nicht übersehen.

„Meine Damen und Herren, bitte einen großen Applaus für den letzten Regelvorschlag“, ruft Caesar Flickerman voll gekünsteltem Enthusiasmus und weist auf den Mann, der seine Hand bereits in der Glaskugel versenkt.

Im Gegensatz zu seinen Vorgängerinnen macht er kein großes Aufheben darum, sondern zieht den verbliebenen Zettel hervor, reißt das Siegel auseinander und liest ausdruckslos die Zeilen darauf. „Die letzte vorgeschlagene Regeländerung lautet wie folgt: Jeden Tag, der ohne den Tod eines Tributs durch die Hand eines anderen Tributs vergeht, wird per Zufall ein Tribut auserwählt, dem durch seinen Tracker ein tödliches Serum verabreicht wird.“

Dieser Vorschlag ist zu viel des Guten, das merkt Finnick sofort. Die meisten applaudieren höflich, aber schon branden die ersten Diskussionen auf, wofür gestimmt wird und immer wieder hört er diese gewissen Worte. Zwei Sieger. Wenn stattdessen die letzte Regel in Kraft treten würde, wären die Spiele derart schnell vorbei, dass das Kapitol sich wahrscheinlich seines Spaßes beraubt sehen würde. Ganz davon ab, dass es jederzeit einen der Sponsorenlieblinge treffen könnte. Beim Geld hört für die meisten das Vergnügen auf. Aber zwei Sieger, das ist eine Verlockung, deren Wirkung Haymitch genau richtig eingeschätzt hat.

„Was für eine Auswahl!“, versucht Flickerman die anschwellenden Gespräche zu übertönen und sein Mikrofon lässt einen undankbaren Kreischlaut hören. Zumindest bringt das die Aufmerksamkeit zurück zu ihm. „Ab sofort haben Sie 24 Stunden Zeit, meine Damen und Herren, um für einen der vier Vorschläge abzustimmen! Nach Ablauf dieser Zeit wird die Regeländerung den verbliebenen Tributen verkündet. Oh, ich kann es gar nicht erwarten, zu sehen, wofür Sie sich entscheiden!“

Mit diesen Worten endet der förmliche Teil der Veranstaltung. Was nicht etwa heißt, dass Finnick entlassen ist. Titania Creed drängt sich mit einem Haifischzahnlächeln durch die Menge auf ihn zu und unter Snows stechendem Blick bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als ihr auf die Tanzfläche zu folgen. Wenigstens hat er die Gewissheit, dass Amber Annie wie eine Löwenmutter mit sich zieht, sobald der Pflichtteil vorbei ist und sie weit, weit weg von Snow bringt.

Titanias schreckliche Selbstverliebtheit kommt ihm bei ihren Walzerrunden auf dem Parkett zugute, denn sie hört nicht auf, davon zu reden wie aufregend es war, das Los zu ziehen. Es reicht, dass er an den passenden Stellen nickt oder ihr ein feingezuckertes Lob ausspricht. Belanglosigkeiten allesamt, aber es vermeidet unangenehme Stille zwischen ihnen, in denen ihr sein mühsam unterdrückter Zorn vielleicht doch auffallen könnte.

Nach drei Tänzen, die sich schier endlos ziehen, naht Finnicks Rettung in Gestalt eines bleichen Typs mit dunkelvioletten Lippen, der offenbar frischgebackener Erbe irgendeines Firmenimperiums ist, mit dem Titania sich unbedingt gut stellen will. Finnick schenkt dem Kerl einen fast schon mitleidigen Blick, bevor er die Hand seiner Begleitung an den Typen überreicht. Im Scherz warnt er ihn, ihm Titania ja nicht abspenstig zu machen – nicht, dass er ernstlich Sorge hätte. Sein Gegenüber scheint das aber umso ernster zu nehmen und versichert eilig, dass er rein geschäftliches Interesse verfolgt. Schade eigentlich.

Nun alleine in der wogenden Welt aus Satinkleidern, schrillem Glitzer und bunten Farben, lässt Finnick sich in Richtung Cocktailbar treiben. Hauptsache fort von der Tanzfläche und den begehrlichen Augen jener Damen und Herren, denen das nötige Kleingeld für einen Abend mit ihm fehlt oder die sich erst noch in Snows Gunst hocharbeiten müssen, um ein Angebot zu bekommen. Für sie ist er bei Veranstaltungen wie dieser Freiwild, denn sie geben sich der Hoffnung hin, dass er trotzdem etwas mit ihnen anfangen könnte.

Er gibt sich beschäftigt mit einem Drink in der Hand und sucht nach bekannten Gesichtern in der Menge, mit denen eine Unterhaltung wenigstens erträglich wird. Vor dem bunt durchmischten Hintergrund fällt sie ihm erst auf den zweiten Blick auf. Der Mangel an auffälligen Tierohren, metallisch glänzenden Tattoos oder einer unnatürlichen Hautfarbe lässt Dr. Gaia Gaul vor dem Farbenspiel der Kulisse verschwinden – zumindest fast. Vielleicht ist es ihre ungewöhnlich helle Haut, vielleicht aber auch das weiße Kleid, das Finnick letztlich auf sie aufmerksam macht, er ist sich nicht sicher. Etwas an ihr lenkt unweigerlich seinen Blick auf sie.

Der fehlende Kontrast zwischen dem hellen Stoff und ihrem bleichen Gesicht lässt sie durchscheinend wirken, wie eine Ertrunkene, die Stunden im Wasser trieb. Es wäre Finnick lieber, er wüsste nicht, wie so etwas aussieht, aber früher oder später hat jeder in Distrikt vier seine erste Begegnung mit einer Wasserleiche.

Dr. Gaul steht alleine vor der reichlich gefüllten Tanzfläche, ein Sektglas in der Hand, aus dem sie allerdings keinen Schluck nimmt. Wachsam gleitet ihr Blick über die Anwesenden, bis er schließlich an Finnick hängen bleibt. Für einen Moment starren sie einander unbeweglich an, dann setzt sie sich zu seiner Überraschung in Bewegung, geradewegs auf ihn zu. Er hat erwartet, dass sie vor ihm flüchten würde, aber sie durchmisst den Raum mit großen Schritten und voller Entschlossenheit, wobei ein Avox ihr eilig ausweichen muss.

Ein Lächeln hat sie nicht für Finnick übrig und genauso wenig reicht sie ihm die Hand. Stattdessen bleibt sie in einer Armlänge Entfernung stehen, ein unergründliches Funkeln in den hellbraunen Augen. „Mr. Odair. So trifft man sich wieder“, stellt sie höflich fest. „Ich hätte erwartet, Sie in der Nähe von Annie Cresta anzutreffen.“ Jetzt heben sich ihre Mundwinkel doch ein Stück, was der distanzierten Kühle in ihrem Blick keinen Abbruch tut.

Finnick legt den Kopf schief. „Dr. Gaul. Was für eine ... Überraschung. Ich bin froh, Sie weit fern von Annie anzutreffen.“ Auch wenn die Ärztin das Appartement nach ihrer Konfrontation in großer Hast verlassen hat und Annie ihm mehr als einmal versichert hat, dass sie ihr zu keiner Zeit wehgetan hat, kann er ihr nicht trauen. Vertrauensseligkeit wird seiner Erfahrung zur Folge oft mit einem Messer im Rücken bestraft, egal ob in den Hungerspielen oder im Kapitol.

Sie nickt langsam, offensichtlich hat sie diese Antwort erwartet. „Ja, vermutlich ist es besser so. Für uns beide.“ Ihren Zusammenstoß hat sie wohl ebenso wenig vergessen. „Auch wenn Sie sich keine Sorgen machen müssen. Immerhin ist mein Bericht zu einem positiven Schluss gekommen. Ich halte mein Wort.“

Die Aussage lässt Finnick nur eine Augenbraue heben. „Mit Verlaub, aber Sie werden verstehen, dass ich Sie trotzdem im Auge behalte. Gerade wenn Sie die Angewohnheit haben einfach – aufzutauchen.“

Dr. Gaul lässt ein amüsiertes Schnauben hören. „Mr. Odair, tun Sie mir den Gefallen, begleiten Sie mich ein paar Schritte.“ Auch wenn ihre Stimme sich nicht verändert hat, entgeht ihm nicht, dass sie ihn nicht gebeten hat.

Schon diese gut verborgene Drohung jagt einen Stoß Adrenalin durch ihn, der seine Muskeln verkrampfen lässt. Mit einem Blick in den Saal vergewissert er sich, dass Annie immer noch bei Amber ist. Er würde Snow zutrauen, dass er ihn bloß ablenkt, um sie ein weiteres Mal zu entführen. Seine Finger schließen sich fester um sein Cocktailglas, während er der Forscherin durch die wogenden Massen folgt.

„Es tut mir leid, dass wir einander auf dem falschen Fuß kennengelernt haben“, sagt sie ernst. „Ich glaube, Sie missverstehen meine Intentionen.“

Finnick spürt, wie sein Hals trocken wird. „Dann erklären Sie sich.“

Die Frau an seiner Seite schüttelt nur den Kopf und stellt ihr Glas auf das Tablett eines vorbeilaufenden Avox. „Nein. Ich werde es Ihnen lieber zeigen.“

Zielstrebig schlängelt sie sich zwischen den Gästen des Präsidenten hindurch, nur aufgehalten davon, dass Leute Finnick in einen kurzen Plausch verwickeln wollen oder ihm begeistert zuwinken. Die Lippen zu schmalen Strichen zusammengepresst erträgt sie seine Bewunderer, bis sie sich endlich in die weitläufige Lobby vorgearbeitet haben.

„Nun, werden Sie mir noch erklären, wohin wir gehen?“, fragt er, während sie mit klappernden High Heels vor ihm dreinschreitet, in einem Tempo, das angesichts der Höhe ihrer Absätze rekordverdächtig scheint.

„Geduld ist eine Tugend, Mr. Odair.“ Dr. Gaul dreht sich nicht einmal zu ihm um, sondern durchquert die Lobby, ohne die übrigen Gäste eines Blicks zu würdigen, die sich zum Plaudern hierher zurückgezogen haben.

Sie landen in einem langen und lichtlosen Gang, der zur Seite abgeht und Dr. Gaul schreitet zielstrebig voran, als wenn sie den Weg auch im Schlaf finden würde. Alles erweckt den Eindruck, dass kein normaler Bürger je diesen Ort betreten dürfte. In Finnick erwacht Beklemmung. Ausnahmsweise sollte er sich weniger Sorgen um Annie machen und mehr um sich.

Vor einem Fahrstuhl hält Dr. Gaul an und zieht einen Chip aus ihrem kleinen Handtäschchen, der ihr piepend Zutritt gestattet. Im Gegensatz zu den luxuriösen Glasfahrstühlen im Trainingscenter geben die automatischen Türen einen großen Metallkäfig preis, dessen Bedienfeld ausschließlich Kellergeschosse aufführt. Ganze fünfzehn Etagen unterhalb der Erde, verborgen unter dem Herzen des Kapitols.

Mit vor Nervosität feuchten Händen folgt Finnick der Forscherin. Geräuschlos schließen sich die Türen hinter ihm und sein Magen macht einen Satz, sobald der Fahrstuhl sich abwärts senkt. In ihm lauert eine dunkle Ahnung, was in der Tiefe wartet. Das Labor.

 

Hunderte Meter unter der Oberfläche wird offenbar, dass das Kapitol sich jeglichen überflüssigen Prunks entledigt hat. Als die Fahrstuhltüren aufgleiten, sieht Finnick sich dem blanken Herzen der Hauptstadt gegenüber, kalt und abweisend. Links und rechts vom Aufzug erstrecken sich schier unendliche Gänge, die so karg anmuten, dass es in ihm das Gefühl erweckt, alle Farbe wäre aus der Welt gewichen. Glänzender weißer Fliesenboden und Wände, beleuchtet von nackten Leuchtstoffröhren, die auch den letzten Schatten gnadenlos ausleuchten. An der Decke Kameras, die zweifellos jeden Schritt aufzeichnen. Feindschaft gegenüber dem Leben durchdringt das Kellergewölbe.

Nur Dr. Gaia Gaul in ihrem weißen Kleid passt an diesen unwirtlichen Ort. Bis auf ihre zart pinken Haare, der einzige bunte Fleck hier unten. „Stehen bleiben“, befiehlt sie in einem scharfen Ton, der unweigerlich sogar Finnick imponiert. Sie verschwindet hinter einer der zahlreichen gleichförmigen Türen dem Fahrstuhl gegenüber. Lange dauert es nicht, ehe sie wieder auftaucht, die klappernden Absätze gegen lautlose Gummischuhe getauscht und einen Kittel über dem Abendkleid. „Willkommen in meinem Reich, Mr. Odair.“ Sie breitet ihre Arme zu beiden Seiten aus, als gäbe es etwas zu präsentieren, außer weißer Einöde.

„Das ist also ihr Labor, nehme ich an?“

Dr. Gaul nickt. „Die Dovecote-Einrichtung zur experimentellen Mutationsforschung, um genau zu sein. Nicht alleine mein Labor, aber der Dreh- und Angelpunkt meiner Forschung.“ Die Spuren der ängstlichen Frau, die aus dem Appartement von Distrikt vier geflohen ist, sind fortgewischt.

Finnick strafft die Schultern. Snow heißt seinen Besuch an diesem Ort sicherlich nicht gut, das kann er sich nicht vorstellen. Nur, wenn hier unten eine Falle auf ihn wartet. Das wiederum können sie sich allerdings nicht erlauben, nicht bei ihm. „Also, warum bringen Sie mich hierher? Normalerweise behält das Kapitol seine Geheimnisse für sich. Und bei allem Aufheben, was man um uns Sieger macht, weiß ich doch um meinen Platz.“

„Folgen Sie mir, Mr. Odair“, erwidert die junge Forscherin bestimmt. „Es gibt eine Menge über uns, das sie nicht einmal ahnen – ungefähr so viel, wie es verschlossene Türen hier unten gibt. Machen Sie sich keine Illusionen, eine geöffnete Tür ist nicht mehr als ein einzelner Tropfen im Ozean der Geheimnisse. Mein Risiko, Sie nach hier unten zu bringen, nicht das des Präsidenten. Vielleicht können Sie sich das nicht vorstellen, doch auch sein Einfluss kennt Grenzen.“

Ihr Lächeln ist ein Musterbeispiel fröhlicher Unschuld, das ein kühles Prickeln über Finnicks Haut jagt. Er sieht zwei Möglichkeiten: Entweder, er hat Gaia Gauls Gefährlichkeit gehörig unterschätzt oder aber Gaia Gaul überschätzt sich selber gnadenlos. Schwer zu sagen, was ihm lieber ist.

Die zierliche Forscherin führt ihn den Gang zur Linken hinab. Außer ihrer beider Schritte ist kein Geräusch zu vernehmen. Türen ziehen vorbei und Finnick kann nicht anders, als sich vorzustellen, welch schreckliche Experimente hinter jeder davon lauern. Eine Regierung, die Menschen die Zungen herausschneidet, um stumme Sklaven aus ihnen zu formen; die Kinder auf Leben und Tod kämpfen lässt, der ist alles zuzutrauen. Die schiere Größe des Labors mit den sich immer weiter verästelnden Gängen bringt Finnicks Kopf zum Schwirren. Wie ein Spinnennetz breitet das Labyrinth sich unter der Stadt aus, den Präsidentenpalast im Mittelpunkt. Eine perfekte Todesfalle für die Feinde des Kapitols. Wer hier weggesperrt wird, der ist der Gnade von Snow und seinen Schergen ausgeliefert.

Er verkneift sich jedes Wort gegenüber seiner Begleiterin. Wer keine verfänglichen Fragen stellt, dessen Stimme zittert auch nicht verräterisch. Besser, Dr. Gaul ahnt nicht, wie tief sein Schock angesichts des gewaltigen Kellergewölbes reicht. Das hier ist seine Chance, eine einmalige Chance, etwas über die verborgene Forschung des Kapitols zu erfahren. Dr. Gaul weiß es vielleicht nicht, aber alleine die Tatsache, wie die Gänge angelegt sind oder der Fakt, dass es Zugangschips gibt, könnte Distrikt 13 eines Tages helfen. Für die Rebellion, versucht Finnick, sich zu beruhigen, für Annie. Die Worte sind längst zu seinem Mantra geworden, Besänftigung und Wahn zugleich.

Im Abstand von zwei Schrittlängen folgt er Dr. Gaul, bis diese abrupt vor einer nichtssagenden weißen Tür anhält, die sich kein Stück von den unzähligen anderen zuvor abhebt. Mit einem Piepen verschafft ihr kleiner Chip ihr Zugang. Ein schaler Lufthauch entweicht dem dahinterliegenden Raum, während die Tür aufschwingt und den Blick auf ... Schwärze freigibt.

Finnick hat noch mehr kalte Beleuchtung und weiße Fliesen erwartet, doch sobald Dr. Gaul unbeirrt über die Türschwelle in die Dunkelheit tritt, wird der Raum stattdessen in glutrotes Licht gehüllt, wie das der Sonne, kurz bevor der Horizont sie verschlingt, ohne ein Versprechen auf einen neuen Morgen. Blinzelnd kneift er die Augen zusammen, um durch das unerwartete Weltuntergangslicht den Raum zu erkennen. Schemen von Tischen mit glänzenden Oberflächen zeichnen sich ab und darauf – eine Art gläserne Käfige.

„Nur keine Scheu, Mr. Odair“, winkt Dr. Gaul ihn zu sich. „Solange Sie tun, was ich Ihnen sage, sind Sie hier genauso sicher, wie auf der Party oben. Vielleicht sogar noch mehr, wenn ich mir Ihre Verehrerschaft so ansehe ...“

Nur langsam folgt er ihrer Bitte. Leise klickend schließt sich die Tür hinter ihm, liefert ihn ganz der Forscherin aus. Er nimmt sich Zeit, als er zwischen den ersten Tischreihen entlang geht und lässt den Blick schweifen. Natürlich hängt auch hier eine Kamera, zur lückenlosen Überwachung. Bloß nicht zu schnell, nicht zu hastig bewegen. Fast beiläufig fährt er über die Kante eines Tisches. Massives Metall, kalt und glatt unter seinen Fingern, trotz der Wärme im Raum.

Dr. Gaul indes steht bereits am Ende der Reihen und streckt ihre Hand in einen der Glaskästen. „Ich habe Ihnen etwas zu zeigen, Mr. Odair. In der Annahme, dass sie mich dieses Mal richtig verstehen und wir damit unser kleines Missverständnis beilegen können.“

Zunächst hört er nur ein leises Klappern und Zischen, dann sieht er sie. Die Schlange. Ein schmales Band aus pink glänzenden Schuppen, auf denen sich das glutrote Licht bricht, während sich das Tier langsam Gaia Gauls Arm hinauf windet. Eine von der Art, die erst gestern in der Spielmacher-Falle für Rue eingesetzt wurde. Die Forscherin betrachtet das Reptil mit einem Ausdruck der Zuneigung und lässt sie ungerührt durch ihre Finger gleiten.

„Eine Mutation“, sagt Finnick laut und kämpft darum, keinen Schritt zurückzuweichen vor dem todbringenden Tier, das ein leises Zischeln ausstößt. „Ist das ihre große Enthüllung?“

„Fürchten Sie sich nicht?“

„In dieser Umgebung? Nein.“ Die Lüge kommt ihm erstaunlich leicht über die Lippen. „Das würde anders aussehen, wenn ich ein Tribut in der Arena wäre.“

„Eine kluge Entscheidung.“ Dr. Gaul nähert sich ihm einige Schritte, bis nur wenige Zentimeter fehlen, damit die grell geschuppte Schlange nach ihm schnappen könnte. Aber die Mutation nimmt keine Notiz von Finnick, sondern windet sich nur weiter um Gaia Gauls Unterarm und Hand. „Kontrolle ist das Stichwort. Das Kapitol kontrolliert, was diese Tiere denken, welchen Instinkten sie folgen, wen sie angreifen. Nichts obliegt dem Zufall, vom Aussehen bis hin zur Genstruktur. Im Gegensatz zu wilden Tieren sind sie schlicht ... berechenbar. Und zu Ihrem Glück halte ich in diesem Moment die alleinige Macht über meine Schätzchen in der Hand.“

Angewidert beobachtet Finnick, wie sie mit zwei Fingern den flachen Kopf der Giftschlange streichelt, als wäre diese ein niedliches Haustier, kein mörderisches Geschöpf wider der Natur. „Ich bekomme also eine Demonstration Ihrer Macht?“ Er lehnt sich gegen den Metalltisch hinter ihm und verschränkt abwartend seine Arme.

Amüsiert lacht Dr. Gaul auf. „Meine Macht? Ich fürchte, an dieser Stelle überschätzen Sie meinen Einfluss. Viel mehr handelt sich um unsere Macht. Es gibt noch mehr, außer mir, die hier forschen. Ich habe nur das Glück, dass meine Beziehungen mir Türen geöffnet haben, an denen andere lange Zeit kratzen müssen. Aber um Macht alleine geht es mir ohnehin nicht.“

Endlich tritt sie ein paar Schritte zurück. Finnick unterdrückt ein erleichtertes Aufatmen, während sie zu den Käfigen zurückkehrt. Die Schlange gleitet von Dr. Gauls Arm wieder in ihr gläsernes Gefängnis und verschwindet raschelnd im Sand.

„Letztlich geht es darum, welchem Zweck wir dienen. Macht ist ein praktisches Werkzeug, aber auch sie dient nur einem Zweck, genau wie alles, woran wir hier forschen.“ Sie nähert sich einem weiteren Glaskäfig, dessen Boden von einer schwarzen Schicht bedeckt zu sein scheint. Als Dr. Gaul ihre Hand in den Kasten steckt, kommt Bewegung in die Masse.

Ein unheilvolles Brummen erhebt sich und mit einem neuerlichen Schaudern erkennt Finnick, dass es sich in Wirklichkeit um viele einzelne Insektenleiber handelt, die jetzt auf Gaia Gauls Hand krabbeln. Sacht schüttelt die Forscherin ihre Finger, bis nur noch ein Tier bleibt, das sie vorsichtig aus dem Käfig hebt.

„Eine weitere Bekannte aus der diesjährigen Arena“, verkündet sie. „Eine Jägerwespe. Definitiv tödlicher als meine Schlangen, wie Katniss Everdeen uns wunderbar demonstriert hat. Aber keine Sorge, das Licht und die Wärme hält sie ruhig.“

Finnicks Atem wird in seiner Kehle zu Blei. Der Anblick des glänzenden Insektenleibs ruft Bilder von Cordelia wach, übersät von ihren sirrenden Körpern, ein entstelltes Zerrbild der einst hübschen Tributin, ihre panisch geweiteten Augen leblos. „Wie vereinbaren Sie diese ... abartigen Wesen bloß mit Ihrem Gewissen?“, entfährt es ihm. Seine Muskeln krampfen sich zusammen und er gräbt seine Finger tief in die Oberarme, um sich davon abzuhalten, schon wieder etwas Riskantes zu tun.

Gaia Gaul hebt die Schultern, doch ihr Blick bleibt auf die Jägerwespe gerichtet. „Ein Gewissen ist nichts, das sich für diese Aufgaben eignet. Und nicht alle Aufgaben kann man sich aussuchen. Für manche Ziele muss ein Opfer erbracht werden. Ich denke, in dieser Hinsicht sind wir uns recht ähnlich. Immerhin dürfen Sie sich genauso wenig ein Gewissen leisten, nicht wahr?“

Mühsam schluckt Finnick seinen gerechten Zorn hinunter. Das Schlimme ist – sie hat recht. Wie oft hat er schon seine Moral gebrochen? Das Spiel mit Haymitchs Tributen ist ebenso gewissenlos wie das sichere Opfer, das seine Schützlinge in diesem Jahr erbringen mussten. Ganz zu schweigen von seinen Taten in den Hungerspielen, die ihn nie wieder verlassen. Blut, das ihm für immer an den Händen klebt. „Das heißt nicht, dass ich kein Gewissen haben. Nur, dass ich es zum Schweigen bringe – bringen muss.“

„Exakt.“ Dr. Gaul sieht unbeirrt auf. „Warum wollen Sie unbedingt glauben, dass wir so verschieden sind? Wir haben unterschiedliche Beweggründe, aber doch ein geteiltes Problem. Oder sollte ich sagen – Leid?“

„Ich glaube nicht, dass Sie verstehen, was Leid heißt.“

„Ich gebe Ihnen sogar recht, Mr. Odair. Von Ihrem Leid – vom Leid aller Sieger – verstehe ich wenig. Aber maßen auch Sie sich nicht an, zu glauben, über mein Leben Bescheid zu wissen. Ich kann damit leben, dass Sie mich voller Vorwürfe ansehen. Denn ob Sie glauben oder nicht, mein angeblich nicht vorhandenes Gewissen ist rein.“ Sie schluckt und für einen Moment da wieder die Frau mit der zitternden Unterlippe, mehr Furcht als Selbstbewusstsein. „Wissen Sie, Liebe ist unsere größte Waffe oder aber Schwäche. Sie beflügelt uns oder sperrt uns ein. Was ist besser, alles riskieren, und vielleicht alles verlieren oder nichts riskieren und niemals gewinnen können? Ich glaube, Sie kennen die Antwort.“

Im Glutrot der Deckenlampen ist es unmöglich, zu erkennen, ob sie wütend oder traurig ist. Sie räuspert sich und holt tief Luft. Damit bietet sie Finnick genug Zeit für einen verbalen Angriff, doch er wartet nur gebannt auf ihre nächsten Worte. Er braucht nicht antworten, sie hat gesehen, wie weit seine Liebe für Annie reicht. Er hat bereits alles riskiert, aber was mag sie riskieren?

„Mr. Odair, ich weiß, was Ihnen droht, wenn Sie nicht vorsichtig sind.“ Dr. Gauls Stimme ist leise und so scharf, dass sie geradewegs durch Finnicks sorgfältig aufgebaute Fassade schneidet. „Kontrolle. Einmal mehr geht es um Kontrolle. Der Stich dieser Jägerwespe ist nicht nur todbringend. Ein Stich blockiert einzelne Nervenbahnen im Gehirn und verhindert die Aufnahme von elementaren Botenstoffen. Zwei Stiche lähmen wichtige Teile des Gehirns, die für das logische Denken verantwortlich sind. Drei Stiche führen unweigerlich zum Tod. Bei schwachen Organismen freilich schon früher.“

Wie gebannt starrt Finnick auf die Jägerwespe, die träge über Gaia Gauls bleiche Finger krabbelt. „Ich verstehe nicht, Dr. Gaul. Ich bin kein Tribut.“

„Oh, natürlich nicht. Das war erst die Einleitung. Stellen Sie sich das Gift dieser Tiere vor, aber ... reduziert. Nehmen Sie die Teile, die einen schnellen Tod bewirken, weg und lassen Sie nur jene, die mit Ihrem Gehirn spielen. Was erhalten Sie?“

„Ein Gift, das mein Gehirn zersetzt, aber mich äußerlich unversehrt zurücklässt?“

„Mehr noch, ein Gift, das die Kontrolle über ihr Denken übernimmt. Schleichend, Stück für Stück, bis Sie sich nicht mehr erinnern, wer Sie sind, woran Sie glauben oder was ihr hochgelobtes Gewissen ist. Meine Schlangen bringen den Tod, langsam ja, aber sicher. Doch das Jägerwespengift kann Schlimmeres als den Tod hervorrufen. Nicht in den Hungerspielen. Dort geht es alleine um den Tod. Aber außerhalb der Arena bieten sich genug Möglichkeiten für eine ... problemorientierte Anwendung.“

Tief in Finnick schreit die Stimme seiner Vernunft ihm zu, dass er rennen soll, weit weg von dieser Frau, doch stattdessen drückt er seine Füße fester gegen den Boden und zwingt sich, trotz trockener Kehle zu schlucken. „Also ist das eine Drohung?“

Endlich löst Dr. Gaul den Blick von ihrer Mutation und wendet sich wieder ihm. Die Jägerwespe auf ihrer Hand erzittert, als sie schluckt. „Eine Warnung.“

„Für wen?“

„Nicht für die, an die Sie denken. Ein letztes Mal – ich halte mein Wort, Mr. Odair. Annie Cresta braucht nichts von mir zu befürchten.“ Das rote Lampenlicht malt tiefe Schatten in Dr. Gauls Gesicht. „Aber vielleicht erinnern Sie sich im rechten Moment an diese Begegnung. Denn was nicht bezwungen werden kann, wird kontrolliert werden. Und dies hier“, sie streckt die Hand mit der schillernden Jägerwespe darauf aus, „bedeutet Kontrolle.“

Jagd

Die Zuschauer bekommen, wonach sie sich verzehren. Auf eine Art wusste ich schon immer, dass es so geschehen wird, seit Titania Creed die Worte verlesen hat. Und doch habe ich gefürchtet, dass Snow es verhindern würde, diese unmöglicheste aller Regeländerungen, die Änderung von der Essenz dessen, wofür die Hungerspiele immerhin schon 74 Jahre lang stehen. Diesen Wink einer Hoffnung, die nicht sein darf.

Wir sitzen allesamt im großen Festsaal, Mentoren, Betreuerinnen und Sponsoren, als es so weit ist. Jeder Distrikt für sich und doch gemeinsam, nur die Kapitoler sind ein störender Fremdkörper in unserer Mitte. Die Hymne Panems hallt durch die Arena und lässt sämtliche Tribute in Schockstarre verfallen. Ich halte Ambers Hand, aber es ist schwer zu sagen, wer von uns fester drückt. Ihre Aufregung ist mindestens so groß wie meine, auch wenn ihr Gesicht grimmig wie eh und je bleibt; eine Maske der Gleichgültigkeit.

Zwei Tribute aus demselben Distrikt dürfen gemeinsam siegen. Claudius Templesmith verkündet es pünktlich auf die Sekunde nach Ablauf der Abstimmungszeit. Zum ersten Mal, seit wir im Kapitol sind, breiten sich Ambers Lippen zu einem ehrlichen Lächeln aus. Eine Woge aus Freude brandet durch den Saal, zufriedenes Nicken, vereinzeltes Klatschen oder gar ein begeistertes Pfeifen.

Überschwänglich zieht Amber mich in ihre kräftigen Arme und ergriffen von der plötzlichen Fröhlichkeit zucken auch meine Mundwinkel wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen in die Höhe. Was hier geschieht, ist besonders, das ist klar. Trotzdem kann ich nicht verhindern, dass die Vorstellung in mir aufsteigt, wie es wäre, wenn Edy und Cordelia noch leben würden. Wenn sie doch nur ein wenig mehr Glück gehabt hätten ...

Leute drängen nach vorne, zu den Plätzen von Distrikt Zwei und Zwölf und bedrängen die Mentoren mit Glückwünschen, die Sponsoren zücken bereits ihre kleinen Plastikkarten, mit denen sie hier alles bezahlen. Haymitch wird von Titania Creed mit einer schwer beringten Hand auf die Schulter geklopft und es scheint ganz, als wenn sie diese Chance alleine für ihren Verdienst hält.

Es dauert keine fünf Minuten und unter den Anwesenden haben sich zwei harte Fronten gebildet. Distrikt Zwei gegen Zwölf. Karrieros gegen Außenseiter. Verbissene Einzelkämpfer gegen tragisches Liebespaar.

Die anderen Tribute allerdings, die alleine kämpfen, scheinen nun vollends abgeschrieben. Eine Mentorin aus Distrikt Fünf stürmt mit klappernden Absätzen aus dem Raum, ihre Hände zu Fäusten geballt. Ihr Partner hingegen, ein älterer Sieger mit schütterem Haar, hat es irgendwie geschafft, sich an Haymitchs Seite zu drängen und versucht dort, Aufmerksamkeit zu erringen – mit mäßigem Erfolg.

 

Die kommenden Stunden und Tage wird Caesar Flickerman nicht müde, die Symbolik des Ganzen zu betonen. In der gesamten Stadt gibt es bloß dieses eine Thema, wie auch Cece verkniffen berichtet. Sie hat Katniss den Tod von Cordelia immer noch nicht verziehen. Überhaupt scheint sie die Einzige zu sein, die für das Liebesdrama nur ein Achselzucken übrig hat.

„Irgendwann findet auch ein blindes Huhn ein Korn“, sagt sie schlicht. „Netter Plan, das muss man Abernathy lassen. Möchte nur wissen, wie er die Spielmacher überzeugen konnte, da mitzumachen. Aber es zeigt vor allem eins: Nächstes Jahr müssen wir etwas Besseres in petto haben!“

Und damit stürmt sie davon, fest entschlossen, einen Plan zu erarbeiten, der dieses Drama noch in den Schatten stellen wird. Wenn ich nur an das Jubeljubiläum denke, ziehen sich all meine Innereien schmerzhaft zusammen.

An mir fliegen die Tage nach der Regeländerung wie in einem Fiebertraum vorbei. Während man sich im Kapitol daran ergötzt, wie Katniss und Peeta zueinander zurückfinden und fortan einen Großteil ihrer Zeit in einer kleinen Höhle am Fluss verbringen, lerne ich, mit offenen Augen zu schlafen. Im übertragenen Sinn. In einem Moment starre ich auf den Fernseher, der Katniss beim Jagen zeigt, im nächsten Augenblick ist es Abend und die Spielmacher kündigen ein Festmahl für den kommenden Tag an.

Haymitch fängt bei dieser Gelegenheit wieder an, zu trinken, bis Finnick ihm das Glas aus der Hand schlägt und ihn anschreit, dass er die Spiele bis zum bitteren Ende ertragen muss. Jeder von uns geht mit der Anspannung anders um und Haymitch ist da keine Ausnahme. Gezwungenermaßen nüchtern, sucht er Streit, mit Finnick, mit Amber, mit Enobaria und sogar mit Brutus. Irgendwann schreiten die Friedenswächter ein, die sich immer in den Schatten des Saals herumdrücken, und ziehen die beiden auseinander. Am Ende kann ich nicht einmal mehr sagen, weshalb sie überhaupt gestritten haben. Die einzig bleibende Erkenntnis ist, dass Haymitch einen erstaunlich festen rechten Haken hat, der Brutus als violetter Fleck am Kinn in Erinnerung bleibt.

Ich erinnere mich nicht, ob ich es selber sehe oder ob Finnick mir lediglich davon erzählt, doch Thresh tötet Clove bei dem Festmahl am Füllhorn. Vermutlich habe ich zugesehen, zumindest drängt sich des Nachts ein Bild von Cato in meine Träume, dessen Hände verzweifelt versuchen, Cloves zertrümmerten Schädel zu richten, ihr Name ein bebendes Wispern auf seinen Lippen. Er ist zu spät, sie ist längst fort. Ob er traurig über den Verlust seiner zusätzlichen Chance oder wirklich um sie ist, kann ich nicht sagen.

Es sollte mich mit grimmiger Freude erfüllen, dass er nun einen Teil des Schmerzes kennt, wie eine gerechte Strafe für das, was er Edy angetan hat, doch da ist nur dumpfe Leere in meinem Herzen. Nicht einmal Cato hat das verdient.

Auf einen Schlag ist Distrikt Zwölf alleine mit der Aussicht auf das Überleben beider Tribute. Im Festsaal bleibt es dennoch bei zwei Fronten. Diejenigen, die inständig hoffen, dass Katniss und Peeta in die Geschichte eingehen und jene, die alle offen wissen lassen, dass es nur einen Sieger geben kann. Der Fairness halber, flüstern sie. Als ob es je Gerechtigkeit in den Hungerspielen gegeben hätte.

Chaff veranlasst Threshs Tat am Folgetag dazu, eine Champagnerdusche auf einem der vornehmen Holztischchen zu nehmen und im Alkoholrausch so ziemlich alles hinauszuschreien, was er je unschmeichelhaftes über Distrikt Zwei gedacht hat. „Jetzt zeigen wir euch elenden Kapitolshuren die wahre Macht von Distrikt Elf!“, grölt er trotz Seeders Bemühungen, ihn zum Schweigen zu bringen.

Was sie nicht schafft, gelingt den Friedenswächtern mühelos. Der erste Schlag trifft Chaff aus dem Nichts und mit einem lauten Krachen des Tisches geht er zu Boden. Im Saal ist es so still wie schon lange nicht mehr, während die Soldaten in den weißen Rüstungen den gefallenen Mentor umringen. Finnick tritt vor mich und versperrt mir den Blick, Floogs legt im gleichen Atemzug einen Arm um meine Schultern, leise Worte murmelnd, denen ich doch nicht wirklich zuhöre. Stöhnen und ein Lachen, das fast an Wahnsinn grenzt, dröhnen durch den Saal.

„Ihr könnt es nicht aufhalten“, lallt Chaff schadenfroh, dann verstummt er und lässt nur noch Raum für das Klatschen von Gummi auf Haut.

Schlagstöcke, flüstern die Stimmen in mir. Meine Hände zittern unkontrolliert, aber ich kann mich dem Grauen nicht entziehen, egal was Finnick und Floogs versuchen. Als die Friedenswächter Chaffs schlaffen Körper fortziehen, hinterlässt er eine blutrote Schleifspur auf dem polierten Marmorboden, die sich ebenso in meine Träume frisst wie Cloves zerplatzte Schädeldecke und Cordelias entstelltes Gesicht.

Die Liebesgeschichte von Katniss und Peeta indes erblüht weiter, während Cato Jagd auf Thresh macht. Ich komme zu dem Schluss, dass ihm doch mehr an Clove gelegen hat, als man ahnen konnte. Thresh ist jedoch gerissen. Fast zwei ganze Tage vergehen, bis die Spielmacher schließlich in ihre Trickkiste greifen und einen gewaltigen Sturm entfesseln, der die beiden Tribute zusammentreibt.

Seeder sitzt alleine in der hintersten Ecke des Festsaals, ihre Hände um das Mentorentablet geschlungen. Von Chaff fehlt seit dem Zwischenfall mit den Friedenswächtern jede Spur. Aber egal, ob er da wäre oder nicht – wir alle ahnen, dass die Spielmacher Thresh nicht entkommen lassen werden, ganz gleich, wie viele Sponsoren er hat. Distrikt Elf hat sich selber zum Tode verurteilt.

Ausgestattet mit einer glänzenden Ganzkörperrüstung vom Festmahl ist Cato Thresh schlichtweg überlegen. Thresh ist zwar kräftig, doch er hat nie von Grund auf die Techniken des Schwertkampfes gelernt. Blind schlägt er auf Cato ein, der sich meisterlich darauf versteht, ihn auszuspielen. In einem Ring aus Sturm und Blitzen rammt der Karriero aus Zwei schlussendlich sein Schwert bis zum Heft in Threshs Schulter und zwingt ihn so zu Boden.

Sein Tod kommt nicht schnell, sondern langsam, genau berechnet. Cato hat perverse Freude, seinen Feind leiden zu lassen. Er hat eines von Cloves Messern dabei, wahrscheinlich nur zu diesem Zweck. „Mit den besten Grüßen von Clove“, flüstert er Thresh zu, bevor er es endlich beendet. Ich übergebe mich zu Ceces Entsetzen auf den weißen Marmorboden.

Das übliche Interview mit den Verwandten und Mentoren des gefallenen Tributs bleibt nach Threshs Tod aus, ein Umstand, über den Caesar Flickerman kein Wort verliert. Der endgültige Beweis von Distrikt Elfs Unmut findet sich allerdings auf unserem Frühstückstisch. Eher gesagt wird er deutlich an dem, was fehlt. Die paar Früchte, die uns serviert werden, haben schon bessere Tage gesehen, wie schrumpelige Haut und Druckstellen zeigen. Cece rümpft angewidert die Nase, aber für uns ist es immer noch mehr als zuhause.

Unsere Betreuerin lässt leider nicht länger ihren Reader herumliegen, doch ich kann mir denken, dass die Lage in Distrikt Elf schlimm ist. Seeder ertränkt ihre Niederlage am nächsten Tag in dem Alkohol, den Chaff so liebt und ich kann sehen, wie es Haymitch in den Fingern juckt, sich bei seiner alten Freundin dazuzusetzen. Warnend lässt Amber die Knöchel knacken und das Thema hat sich erledigt.

Nur vier Tribute verbleiben, aber das große Finale, der Kampf wie letztes Jahr bei Riven, bleibt aus. Keine Falle der Spielmacher, die den Tributen den Weg abschneidet und sie zurück zum Füllhorn zwingt, kein weiteres Festmahl, das Spannung erzeugen soll. Die Ruhe vor dem Sturm, wie Finnick immer wieder murmelt. Ich zweifle, ob das Unwetter nicht längst um uns herum tobt und wir nur in seinem Auge sind, abgeschnitten von Regen, Wind und peitschenden Wellen.

Schließlich nimmt das Mädchen aus Distrikt fünf sich selber aus dem Spiel, als sie von den giftigen Beeren isst, die Peeta unwissentlich gesammelt hat. Der Tod ist beinahe friedlich im Vergleich zu dem grausamen Mord an Thresh. Ihr letzter Blick gilt dem blauen Himmel und ich meine, so etwas wie Erleichterung in den Gesichtern ihrer Mentoren zu erkennen.

 

Erst am nächsten Tag werden wir für das Finale zusammengerufen. Haymitch zittert ganz ohne Alkohol und stillschweigend nehmen die anderen ihn und Effie Trinket, der vor Aufregung die Stimme ausnahmsweise wegbleibt, in ihre Mitte.

Sogar Chaff erscheint wieder im Festsaal. In der kurzen Zeit scheint er abgemagert zu sein, die sonst so kräftigen Muskeln sehen aus, als hätte jemand die Luft herausgelassen. Seine dunkle Haut wirkt wächsern und seine Augen liegen tief in ihren Höhlen. Der Anblick lässt mir Galle die Kehle emporsteigen. Ich ahne, an welchem Ort er die letzten Tage verbracht hat.

Wie schon bei der Eröffnung der Spiele nehmen auch hier wieder der Präsident und seine gesamte Entourage teil. Im vorderen Bereich des Festsaals ist eine Lounge für sie aufgebaut worden, von der aus sie bequem auf uns andere herabblicken und gleichzeitig die große Leinwand bestens im Blick haben. Nur die hochrangigsten Sponsoren dürfen bei ihnen sitzen. Natürlich ist Titania Creed an der Seite Snows.

In der Arena scheint indes alles ruhig. Cato durchstreift den Wald, auf der Suche nach Katniss und Peeta, die immer noch in ihrer Höhle ausharren. Doch nicht mehr für Lange, denn auch ihnen ist klar, dass die Spiele enden müssen. Sie sind zu zweit, Cato alleine. Besser werden die Chancen nicht.

Aber die Überraschung, die uns von den Spielmachern geboten wird, kann auf den letzten Metern noch einmal alles verändern. Den Ausgang der Hungerspiele wird sie in jedem Fall beschleunigen. Eine alte Bekannte präsentiert sie höchstpersönlich im Studio von Caesar Flickerman – Dr. Gaia Gaul.

Finnick ergreift meine Hand, drückt sie einmal kurz. In seinen Augen flackert ein ähnliches Grauen, wie in meinem Magen rumort angesichts von Dr. Gauls Mutationen, die der Moderator mit Staunen lobt – und die mir so schrecklich bekannt sind. Es scheint ewig her zu sein, dass ich in der Dunkelheit des Labors Edy in die kalten Augen blickte, im Gesicht einer riesigen Wolfsbestie. Nur, dass es nicht länger bloß Edy ist. Sie alle sind da, 21 tote Tribute, jedem eine Mutation gewidmet.

Egal wie fest ich die Lider zupresse, mir die Hände auf die Ohren drücke, ich höre ihr schauriges Heulen, das geifernde Lechzen nach Blut. Die Meute jagt, das Finale hat begonnen.

 

Die Spielmacher kennen kein Erbarmen. Sie hetzen die Wolfsmutationen auf Catos Fersen, immer nur eine Wolfslänge hinter ihm. Es erinnert mich an die großen Schleppnetze, mit denen auf der See ganze Fischschwärme zusammengetrieben wurden, wie wir in der Schule gelernt haben. Früher, bevor die Katastrophen kamen und die Meere beinahe verkümmerten.

Wie die Fische windet Cato sich, springt über Wurzeln und Erdlöcher; versucht, dem Pack zu entkommen. Und wie die Fische geradewegs im Netz enden, läuft auch er in die Falle – auf Katniss und Peeta zu. Die Spielmacher haben ihn genau da, wo sie ihn haben wollen.

Haymitch ballt die Hände zu Fäusten. „Komm schon, Kleine, lauf weiter“, flüstert er immer wieder. „Andere Richtung, verdammt!“

Aber seine beiden Tribute warten lieber im offenen Grün zwischen Waldrand und Füllhorn, ungeschützt. Nervös gleiten ihre Blicke über die dichten Bäume. Bestimmt rechnen sie damit, dass Cato sich anschleicht, doch sie sind das Versteckspiel leid. Sie wollen mindestens genauso sehr wie ich, dass es endet.

Sein Mentorentablet ignoriert Haymitch. In dieser Situation ist es ohnehin zu nichts mehr zunutze. Nur die Tribute können noch über ihr Schicksal entscheiden. Das scheint auch Effie Trinket zu wissen, denn selbst sie hat ihre Hände wenig grazil ineinander verkrampft und ihre violetten Lippen beten pausenlos ein ähnliches Mantra wie das Haymitchs herunter, nur dass sie Peeta anfleht, seine Liebste zu beschützen.

Schließlich werden wir Zeugen, wie Cato die letzte Baumgrenze durchbricht. Panisch keuchend prescht er nur eine Armlänge entfernt an Katniss und Peeta vorbei – und ignoriert sie komplett. Für einen Sekundenbruchteil scheinen die Mutationen langsamer zu werden und wie in Zeitlupe zeigen die Kameras Katniss‘ und Peetas Verwirrung, gefolgt von Schock und Panik, sobald die ersten Bestien aus dem Wald hervorspringen.

Sie rennen, rennen so schnell wie mein eigener Atem in der Brust rast. Zum Füllhorn, dem Ort, wo alles beginnt und endet.

„Ich bin nicht in den Spielen, ich bin nicht in den Spielen“, stolpern mir die Worte hilflos aus dem Mund. „Ich muss nicht rennen, ich bin sicher. Ich bin sicher.“

Meine Lungen kämpfen wie damals, nachdem die Bäume in der Arena zum Leben erwachten und drohten, mich zu verschlingen; sie versuchen viel zu schnell, sämtliche Luft der Welt in sich einzusaugen. Aber kein Luftzug schafft es gegen die Enge in meiner Brust an. Hektisch atme ich ein und aus, doch es ist, als wäre aller Sauerstoff aus dem Raum gewichen. Panisch greife ich mir an den Hals. Erst mein rasender Puls erinnert mich daran, dass ich lebe und nicht etwa qualvoll in der Arena ersticke.

„Annie, wir sind in Sicherheit. Die Mutationen sind nicht hier“, flüstert Amber neben mir. „Alles wird gut.“

Ich zwinge mich, die Augen zu schließen, und gleite zurück in die viel zu weichen Sofakissen. Über das Keuchen meines eigenen Atems verblasst das Geheul der Wölfe langsam zu einem monotonen Hintergrundgeräusch. Zitternd presse ich die Hand ans Schlüsselbein, in Gedanken dabei, dass ich längst überlebt habe. Doch egal was ich auch versuche, da stellt sich kein Gefühl von Sicherheit ein. Nicht nach allem, was das Kapitol uns angetan hat – antut.

So verharre ich in selbstgewählter Dunkelheit, konzentriert auf jeden einzelnen Atemzug. Um mich herum ist lauter Geflüster, die dröhnende Tonübertragung aus der Arena und irgendwo, ganz entfernt, höre ich sogar das Klirren von Eiswürfeln in Gläsern, hier und da ein Lachen.

In Distrikt Vier hingegen wäre es an diesem Punkt totenstill, erinnere ich mich. Alle würden stumm dastehen und darauf warten, dass es vorbei ist, während der Sommerwind durch die engen Gassen fährt. Hand in Hand mit Isla würde ich es durchstehen. Die Erinnerung an meine liebe Freundin beruhigt mich etwas. Ich sehe ihr wettergegerbtes Gesicht vor mir; die feinen Falten, von ihrem sanftmütigen Lächeln für immer auf die Haut gezeichnet. Bald schon werde ich sie wiedersehen. An diese Hoffnung klammere ich mich. Dann werden wir wirklich in Sicherheit sein. Zuhause.

Als ich die Augen wieder öffne, haben alle drei Tribute das Füllhorn erklettert. Die geifernde Meute kratzt tiefe Furchen in das goldene Metall, aber zunächst scheinen sie in Sicherheit. Vorerst – denn sobald mein Blick zur Spitze des Horns weiterwandert, sehe ich, welches Drama sich dort abspielt.

Peetas Bein ist eine einzige blutige Wunde und Cato hält ihn im Schwitzkasten, eine unbewegliche Katniss sich gegenüber, den Pfeil an der Sehne. Wenn sie schießt, dann werden beide fallen, mehrere Meter hinab zu den Mutationen.

Effie Trinket schluchzt inzwischen unerbittlich, den Blick abgewendet. Mit starrer Miene streicht Haymitch über ihr Knie, doch er sieht nicht fort. Mir scheint, als wolle er sagen „Schieß endlich“, so verkrampft, wie sein Kiefer ist. Dann hätte er immer noch eine Siegerin, selbst wenn es eine verschwendete Chance wäre.

Enobaria denkt offenbar das Gleiche, denn sie stöhnt genervt auf. „Bring ihn doch einfach um, Junge, worauf wartest du?“

Aber Cato tut es nicht. Wertvolle Sekunden verstreichen, Zeit, die Peeta nutzt, um einen Plan zu finden. Selbst Caesar Flickerman entgeht zuerst, was er da macht, als er ein blutiges X auf den Handrücken des Karrieros malt. Der Moderator holt hörbar Luft, da hat Katniss‘ Pfeil schon sein Ziel getroffen.

„So ein Idiot!“, brüllt Enobaria fassungslos. Ihre Faust kracht auf ein kleines Tischchen nieder und es würde mich nicht wundern, wenn in der Tischplatte nun ein Loch klafft.

Auch sie ist zur Machtlosigkeit verdammt. Catos Griff um Peetas Oberkörper löst sich und dann verliert er den Halt, rudert hilflos mit den Armen. Er schreit nicht noch einmal, ehe er vor den Mutationen aufschlägt.

Ich verberge den Kopf zwischen den Knien, Hände auf die Ohren gepresst. Dieses Ende will ich nicht mitansehen. Stunden um Stunden, so kommt es mir vor, sitze ich da und warte auf den erlösenden Kanonenschlag und nur noch mehr Schreie sind die Antwort. Irgendwann öffne ich die Augen doch wieder, aus Furcht, dass alles längst vorbei ist und man mich vergessen hat.

Natürlich ist dem nicht so. Der Festsaal ist nach wie vor rappelvoll. Unendliche Müdigkeit steht in den Gesichtern der Zuschauer geschrieben. Aus der Arena ist weiterhin das Jaulen der Wolfsbestien zu hören, auch wenn wir nur Katniss und Peeta sehen, die inzwischen im Dunklen auf dem Füllhorn dicht beieinanderliegen. Offenbar wurde der Tageszyklus etwas beschleunigt.

Trotzdem dauert Catos Martyrium die halbe Nacht an. Seine Rüstung verhindert, dass die Mutationen ihn schnell töten, und die Spielmacher haben zu viel Spaß an diesem Leid, um es zu beenden. An Schlaf ist nicht zu denken, selbst wenn der Ausgang der Spiele längst festzustehen scheint.

Ein schmaler Streif Sonnenlicht zeichnet sich bereits am grauen Himmel ab, als Katniss schließlich einen Pfeil an den Bogen legt und zur Spitze des Füllhorns kriecht. Es gibt nur eine Stelle, die Catos Rüstung nicht schützt. Sein Gesicht.

Stumm visiert sie ihn an und wenig später findet das Geschoss sein Ziel. Einen Wimpernschlag darauf verkündet die Kanone den Tod des letzten Tributs – Catos Ende. Letztlich war er schon immer ein Opfer der Spiele, ein gebrochener Junge, lange bevor sie ihn von seinem Leid erlöste.

Enobaria flucht nur leise und wirft dann einen unergründlichen Blick zu Haymitch. Neid? Hass? Ich vermag nicht, es zu sagen.

Innerlich leer starre ich auf die Leinwand. Die Mutationen verschwinden und von ihrem Angriff bleibt nichts zurück, bis auf die zerfetzten Überreste eines Jungen, der sich freiwillig für diesen Irrsinn gemeldet hat. Der wirklich glaubte, er könne das überleben. Hätte ich etwas gegessen, würde ich mich übergeben, aber so steigt nur der bittere Geschmack von Galle auf.

Kaum ist die letzte Mutation im Wald verschwunden, erhebt sich die Sonne rasend schnell über die Baumwipfel. Schweigend beobachten wir, wie Katniss und Peeta zögerlich vom Füllhorn rutschen, sich argwöhnisch umsehen, leise Worte der Verwunderung austauschen. Effie schluchzt erneut in ein spitzenbesetztes Taschentuch.

Unvermittelt trifft mich die Erkenntnis: Nur noch Distrikt Zwölf ist am Leben! Sie haben gesiegt! Mein Blick huscht zu Haymitch, der tief vornübergebeugt dasitzt, die Hände so fest ineinander verschlungen, dass die Knöchel weiß hervortreten. Jede Faser seines Körpers bebt vor Anspannung. Dass er gerade zwei Sieger geschaffen hat, scheint er noch gar nicht begriffen zu haben. Sein Blick ruht nicht auf den überlebenden Tributen, sondern auf Snow. Mit zusammengekniffenen Augen mustert er den Präsidenten, der das Geschehen in der Arena gelassen verfolgt.

Die Siegesfanfaren lassen auf sich warten, obwohl Catos Leiche von einem Hovercraft abgeholt wird und langsam dämmert auch mir, dass etwas nicht stimmt. Ein Knacken ertönt und dann hören wir Claudius Templesmith über Lautsprecher verkünden, dass die Regeländerung aufgehoben ist. Ein eingehendes Studium des Regelwerks hat gezeigt, dass nur ein Sieger erlaubt ist. Selbst unter Snows Gefolgsleuten wagt es keiner, dieser letzten Enthüllung der Spielmacher – dem wahren Finale – zu applaudieren.

Verwirrte Blicke werden ausgetauscht, leise murmelnd wenden sich die Mentoren ihren Sitznachbarn zu. Auch Amber und Finnick sehen einander grimmig an.

„Hast du etwas anderes erwartet?“, fragt Amber bitter.

Finnick schüttelt den Kopf. „Gehofft.“

„Aber ... aber das können sie doch nicht wirklich machen“, presse ich hervor. „Die beiden sind aus einem Distrikt! Man tötet seinen Partner nicht! Das ...“

„... ist eine ungeschriebene Regel?“ Amber reibt sich die Schläfen. „Ja, aber was das Kapitol von ‚Regeln‘ hält, sehen wir ja gerade.“

Nur Haymitch bleibt reglos. Erschöpft schließt er die Augen, eine Hand auf Effie Trinkets gelegt, deren Lippen ein entsetztes O bilden. Wenigstens sie ist genauso schockiert wie alle von uns.

Meine zitternde Hand vor den Mund gepresst, beobachte ich, wie Katniss‘ Finger an der Bogensehne sich verkrampfen, ihn ein letztes Mal spannen. Für eine Sekunde glaube ich, dass sie Peeta erschießen wird, der gerade sein eigenes Messer fortwirft. Doch sie tut es nicht, wirft stattdessen ebenfalls den Bogen zu Boden.

Natürlich nicht. Sie hat ihr Leben für ihn riskiert, obwohl er oftmals nur ein Hindernis dargestellt hat. Und er hat bis zuletzt für sie gekämpft. Unweigerlich überlege ich, was meine Reaktion gewesen wäre, hätte es diese Chance vor vier Jahren gegeben. Es gibt nur eine Antwort. Ich hätte mich geopfert. Für Pon.

„Jetzt tu es“, höre ich Haymitch kaum merklich seufzen. „Beende diesen Wahnsinn.“ Seine Stimme scheint von weit weg zu kommen, so leise ist sie. Er klingt unendlich müde, aber sein Blick ist wieder mit brennender Intensität auf Snow fixiert.

Der Präsident zeigt keine Regung, sondern lässt nur seine diamantharten Augen durch den Saal wandern. Bei unserem Tisch angelangt hebt er sein Glas in Haymitchs Richtung, als wolle er ihm zuprosten. Auf einen Sieg für Distrikt Zwölf – wenn entweder Peeta oder Katniss erstmal tot ist.

Mit einigen Sekunden Verspätung erreicht die Erkenntnis aus Claudius Templesmith‘ Ankündigung auch noch die letzten Mentoren und Betreuerinnen im Saal. Wütende Rufe werden laut. Leute springen auf und aus dem Halbdunkel heraus schreit jemand: „Das ist Betrug, ihr habt eure eigenen Regeln selber geändert! Fickt euch doch!“

Johanna. Nur sie ist so offen in ihrem Zorn. Und dann ist da noch Chaff, der lacht und ein Glas voller bernsteinfarbener Flüssigkeit zu Boden schmeißt, wo es in abertausende Scherben zerspringt. „Bewundert das allmächtige Kapitol“, grölt er.

Immer mehr Rufe werden laut und übertönen sogar jene wie Enobaria, die höhnisch verkündet, dass ihre Tribute sich getötet hätten, wie es sich gehört. Indes fleht Peeta Katniss darum an, ihn zu töten und das Spiel zu beenden. Friedenswächter treten vor, ihre Schlagstöcke fest im Griff, und bilden eine Phalanx um Snows Entourage. Eine stumme Drohung, deren Wirkung sofort eintritt. Die lauten Schreie nach einer erneuten Regeländerung ersterben, nicht aber die leise gezischten Bemerkungen. Das hitzige Summen im Saal erinnert an das Jägerwespennest, Momente bevor es Cordelias Leben ausgelöscht hat.

Ein Gefühl, wie kurz vor der Explosion einer Bombe ergreift mich. Was jetzt passiert hätte ich allerdings niemals kommen sehen. Auf einmal hat Katniss die Nachtriegel in der Hand, die Peeta tags zuvor unwissentlich gesammelt hat. Energisch gibt sie ihm eine Handvoll. Der ganze Saal hält den Atem an.

Vertrau mir.

Ich wage nicht, zu blinzeln. Grimmig blickt Katniss Peeta an.

„Auf drei?“

Er zögert einen Moment, dann nickt er.

Wenn sie beide sterben, gibt es keinen strahlenden Sieger. In 73 Jahren ist das nie vorgekommen. Am Ende gab es immer jemand Überlebenden, egal ob die Spielmacher unzufrieden mit dieser Person waren, so wie mit mir. Das wütende Brummen im Saal nimmt zu. Sollten gleich zwei Kanonen ertönen, hat das Kapitol genauso verloren wie die Distrikte.

„Oh nein, nein, nein ...“, haucht Effie Trinket. „Das dürft ihr nicht!“

Mit einem Ausdruck unendlichen Bedauerns streicht Peeta eine Haarsträhne aus Katniss Gesicht. Er liebt sie, das erkenne ich daran, wie er immerzu nur sie ansieht. Aus zornigem Summen wird bleierne Stille, als die beiden Tribute dem Tod entgegentreten.

Unwillkürlich greife ich nach Finnicks Hand, muss mich vergewissern, dass er noch da ist. Schmerzhaft fest drückt er zu, doch ich halte ihn nur umso doller. Katniss und Peeta schlucken die Beeren und mein Herz steht still.

Neben mir rinnt Haymitch eine stumme Träne über die Wange. Selbst Snow sitzt kerzengerade da, eine Hand zur Faust geballt. Unerwartet zerreißt die panische Stimme von Claudius Templesmith erneut die Stille:

„Stopp, stopp! Meine Damen und Herren, es ist mir eine Freude, Ihnen die Sieger der 74. Hungerspiele präsentieren zu dürfen, Katniss Everdeen und Peeta Mellark!“

Auf seine Worte folgen Raketen und Applaus explodiert um mich herum. Ich habe nicht einmal gemerkt, dass ich weine, doch die Tränen laufen mir sturzbachartig über die Wangen. Durch den Tränenschleier sehe ich, wie Peeta und Katniss hastig die Beeren ausspucken und ans Ufer stürzen, um sich den Mund auszuspülen.

Die übrigen Mentoren brechen in Jubelschreie aus. Niemand scheint wirklich fassen zu können, was gerade passiert ist. Haymitch ist bleich wie ein Gespenst und sieht aus, als würde er mehr denn je einen Drink brauchen. Schon klopfen Gratulanten ihm begeistert auf die Schultern.

„Auf Distrikt Zwölf!“, werden Schreie laut, in die eine völlig ekstatische Effie Trinket einstimmt.

Snows Augen sind kalt, als auch er sich erhebt, um zu applaudieren. Keine Regung verrät seine Gefühle, doch ich könnte schwören, dass der Hass in seinem Inneren brennt. Das hier ist nicht, was das Kapitol wollte.

Bebenden Herzens sitze ich da, während alles um mich herum in Feierstimmung versinkt. Doch ich kann das Gefühl nicht abschütteln, dass diese Jagd noch längst nicht vorbei ist.

 
 

***

 

Die Tage, an denen das Herz am dunkelsten ist, sind jene, an denen die Sonne umso heller scheint. Als versuche sie, uns an die Schönheit der Dinge zu erinnern, die von der Trauer im Inneren verschleiert werden.

Ich hätte trotz allem Regen, Blitze und Donner bevorzugt. Vielleicht würden die Leute dann begreifen, dass wir nicht zwei Sieger feiern, sondern 22 Tribute beerdigen. Aber die Sonne scheint erbarmungslos, wie schon ein Jahr zuvor, als der Zug in den Bahnhof von Distrikt Vier einfährt. Drückende Hitze liegt über dem Bahnsteig und ein staubiger Wind fährt uns entgegen, kaum, dass sich die Türen öffnen.

Noch in der Nacht nach dem Finale informierten die Friedenswächter uns, dass wir gleich am Morgen zurückfahren würden. Keine Siegesfeier und keine weiteren Partys. Auch wenn ich darüber nicht traurig bin, fühlt es sich nicht verdient an, zurückzukehren.

Eine stumme Masse empfängt uns, Menschen mit glasigem Blick, ein schwarzes Meer an Trauer. Vorne an Riven, die ich nur an ihrem roten Haar wiedererkenne. Sie blickt uns mit gerecktem Kopf entgegen, doch tiefe Schatten liegen unter ihren Augen und ich sehe den Riss in ihrer Seele, der sich in ihnen spiegelt. Diese Spiele haben jeden von uns verändert.

Alle Anwesenden neigen beschämt die Köpfe, während wir nacheinander aussteigen. Die Stille ist so durchdringend, dass ich das Summen der Insekten in der Luft höre. Hinter Riven erspähe ich Isla, in ihrer feinsten Kleidung. Sie lächelt nicht, doch es liegt Sanftheit in ihren Zügen. Egal was die Leute denken, ich laufe die paar Schritte auf sie zu und auf halber Strecke fängt sie mich auf.

Isla riecht nach Sonne, Wärme und Geborgenheit. Ich spüre die Kraft in ihrer Umarmung und wie sie mir einen mütterlichen Kuss auf die Stirn gibt. Es ist nur ein Moment, in dem ich die Augen schließe und mich wieder wie ein Kind fühle. Wir sprechen kein Wort. Dafür ist später Zeit. Es reicht, dass Isla an meiner Seite bleibt. Nur Mags fehlt, wie ich mit einem Stich im Herzen registriere.

Ein Trupp Friedenswächter öffnet die Türen zu dem letzten Waggon unseres Zuges und ich erinnere mich plötzlich wieder an den schrecklichen Spitznamen, den wir ihm früher gegeben haben. Der Eiswagen. Runtergekühlt auf eisige Temperaturen werden die toten Tribute darin aufbewahrt, wie tiefgekühlter Fisch.

Die Männer tragen die beiden schlichten Holzsärge hinaus auf den Bahnsteig. Aus der Menge ist leises Schluchzen zu hören. Ich wage es nicht, hinzusehen. Wie festgeklebt hängt mein Blick an den Särgen. Zaghafter Applaus für unsere heldenhaften, aber auch toten Tribute kommt auf. Jetzt kann ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie bahnen sich leise ihren Weg die Wangen hinab und ich schmecke Salz auf den Lippen.

Wir folgen den Friedenswächtern aus dem Bahnhof. Anstatt bunter Wimpel zur Feier des Tages sind schwarze Girlanden über die Straßen gespannt. Aus den Fenstern der umliegenden Gebäude werfen die Bürger Blumen in Richtung der Särge. Eine letzte Ehrung, bevor alle versuchen, die Hungerspiele für ein weiteres Jahr zu vergessen.

Unterdrücktes Schluchzen und das Klappern von Ceces Absätzen untermalen die Prozession zum Friedhof. Nur Freunde und Familie der Tribute begleiten uns hierhin. Isla bleibt ein paar Schritte zurück, um auf uns zu warten. Das gleiche Podest wie in jedem Jahr wartet auf uns, geschmückt mit den Bildern der Toten, davor zwei schwarze Gruben in der Erde und der Eimer Meersalz.

Zum ersten Mal, seit meinem Sieg, fühle ich nicht nur Trauer, sondern Hass. Auf Snow, der uns jedes Jahr diese Grausamkeit zumutet. Nicht einmal im Tod haben wir die Kontrolle. Unsere Tribute werden beerdigt, wie das Kapitol es will, nicht, wie sie es sich gewünscht hätten. Beerdigt unter weißen Rosen.

Bürgermeister Southshore hält die gleiche Rede wie in jedem Jahr, gibt seiner Trauer nicht einmal den Anschein, echt zu sein. Nur die Namen sind anders. Nicht Pon, nicht Eric. Edy und Cordelia. Während ich ihm zuhöre, schweifen meine Gedanken ab, in die übrigen Distrikte. Ist es dort überall dasselbe? Und was ist mit Zwölf, wo zum ersten Mal überhaupt kein Sarg in die Erde gelassen wird?

Katniss und Peeta können nichts dafür, aber ich spüre eine tiefe Ungerechtigkeit in mir brodeln. Pon hätte damals auch gewinnen sollen. Doch die Regeln haben nur einen Sieger vorgesehen. Bis Katniss sie einfach gebrochen hat. Hätte ich nur diese Kraft besessen ...

Erst, als Amber mir einen sachten Stoß in die Seite verpasst, bemerke ich, dass die Särge der Tribute bereits herabgelassen werden und die Rede geendet hat. Nacheinander streuen wir eine Handvoll Salz in die Gräber.

Dunkler Strom

Nur ein Paar kleiner Erdhügel erinnert noch an die beiden Tribute, Nummer dreizehn und vierzehn auf Finnicks langer Liste der Kinder, die er in den Tod begleitet hat. Zwei Namen mehr, die eine Narbe in seinem Herzen hinterlassen haben; die er in sein tägliches Mantra einschließen wird.

Amylin, Flynn, Ephigenie, Titus, Carla, Matthew, Pon, Sia, Gavin, Ylvi, Sam, Eric, Edy, Cordelia.

Tränen kommen ihm auch dieses Mal nicht, obwohl er es sich wünscht. Dafür weint Annie seinen Schmerz mit, in jedem Schluchzen, das sich ihrem zitternden Körper entringt. Ihm persönlich bleiben nur Bitterkeit und Resignation, die jegliche Kraft rauben, selbst wütend zu sein oder irgendwas zu empfinden. Schon jetzt graut ihm vor dem Jubeljubiläum und dem Leid, das es unweigerlich bringen wird. Womit soll das Kapitol die Grausamkeiten der letzten beiden Jubeljubiläen denn noch übertreffen?

Langsam zerstreut sich die Trauergesellschaft, allen voran Bürgermeister Southshore, der förmlich das Weite sucht. Für gewöhnlich verbleiben nur Finnick und Annie in der Stille des Friedhofs, aber in diesem Jahr ist ohnehin nichts wie sonst.

Bevor Riven, deren Augen rot unterlaufen von all ihren Tränen sind, flieht, schiebt Finnick sich ihr schweren Herzens in den Weg. Ehe er die Ruhe und Abgeschiedenheit genießen kann, muss er das hier erledigen. Immerhin gehört sie genauso zu ihrer kleinen Familie der Sieger, auch wenn sie es noch nicht weiß oder nicht wahrhaben will. Und jetzt braucht sie ebenso Unterstützung wie Annie.

„Riven?“

Er fasst sie nicht an, sondern sorgt dafür, dass genug Luft zwischen ihnen ist, die ihr signalisiert, dass er nur zum Reden hier ist und sich ihr keineswegs aufdrängen wird. Sie soll bloß nicht wieder wegrennen, wie nach Erics Beerdigung.

Der Schmerz in Rivens Augen ist offensichtlich, immerhin hat sie eine gute Freundin – womöglich die beste – verloren. Finnick will das Versagen der Mentoren nicht rechtfertigen, aber ihr doch zeigen, dass sie keinesfalls alleine ist mit ihren Empfindungen. Wie ihr Verlust auch ihm schmerzt, wenngleich aus anderen Gründen.

Riven allerdings schlingt nur die Arme enger um sich und starrt ihn mit trotzig vorgeschobenem Kinn an. Ihre hellen Augen sind hart wie Stahl. In ihrer ganzen Haltung lauert etwas Angriffslustiges, eine schlafende Mutation, die nur darauf wartet, losgelassen zu werden.

„Es tut mir so leid-“, hebt Finnick an, aber sie hört nicht eine Sekunde zu.

Kaum, dass die ersten Worte seine Lippen verlassen haben, schiebt sie sich brüsk an ihm vorbei, nicht ohne eine Schulter schmerzhaft in seine Rippen zu bohren. „Sie waren halt nicht gut genug. Keine Sieger so wie wir. Ich habe es Elia noch gesagt, aber sie wollte ja nicht hören. Das hat sie nun davon.“

„Denkst du das wirklich? Sie war doch deine Freundin oder nicht? Du weißt, dass das Leben manchmal nur an einem seidenen Glücksfaden hängt. Denk an Eric. Er war nicht schlecht, sonst hätte er es nie so weit gebracht. Verletz ihr Andenken nicht so, das tut dir nur weh.“

„Ich war besser als sie. Beide.“

„Nein, du hattest mehr Glück!“ Schon wird seine Stimme lauter, aber ihre unfassbare Sturheit reizt ihn einfach. Warum kann sie es nicht einsehen, jetzt wo sie beobachten musste, wie alle aus der Akademie, die ihr etwas bedeutet haben, in den Spielen für nichts gestorben sind?

Sie schnaubt bloß. „Glück, klar. Wir haben ja alle so ein Glück!“ Sarkastisch breitet sie die Arme aus. „Was ist es doch für ein schönes Leben, das wir alle hier genießen, so voller Glück. Ich kotz gleich vor lauter Glück.“

Die vorgeschobene Wut in ihrer Stimme erinnert ihn an Johanna, aber gleichzeitig ist da etwas so viel Verletzlicheres in ihrem Blick, der von Tränen zeugt. Im Gegensatz zu Finnicks Freundin klammert Riven sich verzweifelt an das bisschen Schöne, was sie noch im Leben hat – ihre Familie und Freunde. Und selbst Johannas Gleichgültigkeit angesichts ihrer Verluste ist nur aufgesetzt, auch wenn sie Meisterin darin ist, es niemanden sehen zu lassen.

„Ich will doch nur, dass du verstehst, Riven-“

„Was soll ich verstehen? Dass es euch allen so leidtut? Keine Sorge, das ist mir klar. Ich sehe doch, wie Cresta flennt wie die Bescheuerte, die ist-“

Wütend schnappt Finnick nach Luft, um ihr seine Meinung zu sagen, aber sie denkt gar nicht daran, ihre Tirade zu unterbrechen, und er hat mehr Erfahrung darin, seinem Zorn nicht bei jeder Gelegenheit nachzugeben.

„-und wie ihr alle Blicke austauscht, als wäre ich ein rohes Ei, dass ihr nicht fallen lassen dürft. Wenn es jemandem leidtun sollte, dann Elia. Sie ist schließlich diejenige, die tot ist. Vermutlich ist sie diejenige, die Glück hatte.“

Rivens Brust hebt und senkt sich hektisch, als der Strom ihrer Worte versiegt. Ihre Wangen sind feuerrot und Zorn vertreibt die ungeweinten Tränen aus ihren Augen.

„Fick dich einfach, Odair. Dich und dein dämliches Gestammel.“

Ohne ihn eines weiteren Blicks zu würdigen, stampft sie von dannen. Fassungslos sieht Finnick ihrem leuchtend roten Haar hinterher, als sie den Hügel Richtung Stadt hinab läuft. Wenn überhaupt, dann hat Riven all ihre Trauer in noch mehr selbstgerechte Wut verwandelt. Früher oder später, das weiß er, wird sie daran zerbrechen. So wie sie alle zerbrochen sind, manche still und leise, andere mit einem Knall. Das sind erst die anfänglichen Risse in ihrer Fassade. Doch für den Moment weiß er nicht, wie er helfen kann, denn schon tritt in Form von Cece und ihrem gekünstelten Räuspern das nächste Problem an ihn heran.

Verwundert mustert er sie. Üblicherweise flieht sie genauso schnell wie der Bürgermeister, in Gedanken vermutlich bereits zurück im Kapitol. Es ist kein Geheimnis, dass sie den einfachen Friedhof als unter ihrer Würde erachtet.

Doch nun steht sie da, das Kinn stolz emporgereckt, in ein feines schwarzes Ensemble gehüllt. Nur die spitzen Hacken ihrer Schuhe versinken im weichen Gras. Gekonnt überspielt sie ihren Unmut darüber, aber die steile Falte um ihren linken Mundwinkel herum kennt er lange genug, um ihre Abneigung doch zu erkennen.

„Finnick, mein Junge, auf ein Wort?“

Überrascht hebt er die Augenbrauen, folgt ihr aber ein paar Schritte zur Seite. Über die Schulter wirft er einen Blick auf Annie, die scheinbar gedankenverloren die Reihe an Gräbern entlangwandert, zu Pon. Wenn er Glück hat, bemerkt sie nicht einmal, dass sie gerade alleine ist.

„Was willst du?“, fragt er Cece kurz angebunden.

„Du solltest sie besser aufgeben.“

Er hat mir vielem gerechnet, doch nicht damit. Irgendwelche sinnlosen Pläne für das Jubeljubiläum, eine Maßregelung wegen Riven, belangloser Kram, der nur eine Betreuerin aus dem Kapitol interessiert. Aber nicht, dass sie so etwas fordert. Etwas Unmögliches.

„Bitte?!“

Angesichts seiner mangelnden Höflichkeit verzieht Cece das Gesicht. „Wir sind uns doch einig, dass wir keine Tribute mehr beerdigen wollen, oder? Also, nicht mehr als nötig, versteht sich.“

„Was ... Ich denke, ich verstehe nicht, was du sagen willst.“

„Dabei ist eigentlich ganz einfach.“ Sie schnippt mit den langen Fingernägeln. „Unsere Position im Kapitol gerät gefährlich ins Wanken, wenn wir so unterwältigend weitermachen. Daran kann auch Riven nichts ändern. Und mit Verlaub – an ihrer Wirkung solltet ihr ebenfalls arbeiten, wenn ihr sie zur Siegestour präsentiert. Der Auftritt von euch Siegern in diesem Jahr war – gelinde gesagt – eine Katastrophe und daran trägt Annie einen großen Anteil. Ihr habt die volle Aufmerksamkeit des Präsidenten auf euch gezogen, selbst bei all den Kapriolen, die Distrikt Zwölf sich geleistet hat.“

„Dieses ‚Problem‘ haben wir geklärt, Cece.“

Aber sie schüttelt nur den Kopf und sieht ihn prüfend an. „Ich bin nicht blind für die Dinge, die um mich herum geschehen. Betrachte meine Worte als ein Dankeschön von mir. Wenn du Annie liebst, lass sie gehen, Finnick. Sonst bringst du alle in Gefahr. Auch sie. Falls du es nicht bemerkt hast, das Spiel hat sich verändert.“

Die Sonnenstrahlen wirken mit einem Mal entsetzlich kalt. Hat Snow das instruiert? Oder weiß Cece aus anderen Quellen davon? Versucht sie nur, sich wieder mehr Geltung zu verschaffen, und fischt mit ihrer Warnung lediglich im Trüben? Egal wie, Finnick wird übel.

„Ich tue bereits alles, was Snow von mir verlangt. Das sollte für dich auch reichen, nicht?“

„Ich weiß. Betrachte es trotzdem als Warnung. Die Erste und Letzte.“ Ohne Vorwarnung lächelt Cece ihn wieder breit an und tätschelt seine Schulter. „Nächstes Jahr ist schließlich das große Jubeljubiläum, mein letztes Jahr als eure Betreuerin. Das wird wunderbar aufregend und wir wollen uns ganz darauf konzentrieren, nicht wahr? Ein Sieg zum Abschluss, daran werden wir arbeiten!“

Fast glaubt er ihr, dass sie es wirklich so meint. Er nickt, wie fremdgesteuert. Natürlich weiß er jetzt bereits, dass er das niemals können wird. Selbst wenn Snow ihm den Tod androht, gegen seine Gefühle ist er machtlos, das hat das Leben ihm schon einmal bewiesen. Und was können sie ihnen in Distrikt Vier denn anhaben? Sie haben Emerald Isle, auf der sie in Sicherheit sind. Nächstes Jahr, das schwört er sich, wird er es nicht wieder zulassen, dass Annie als Mentorin ins Kapitol muss. Dann wird alles gut, wie früher.

 
 

***

 

Die Wochen nach der Rückkehr ziehen ereignislos ins Land. Aus dem heißen Sommer wird langsam aber sicher ein trauriger Herbst, der Stürme vorausschickt und das Meer zu krachenden Wellen auftürmt.

Finnick ist das egal, denn seine größte Freude ist, dass er wieder bei Mags sein kann. In seiner Abwesenheit hat Isla aufopferungsvoll die Pflege übernommen und inzwischen befindet Mags sich weit vorne auf dem Weg der Besserung. Zwar ist ihre Sprache immer noch beeinträchtigt, aber sie kann wieder kleinere Strecken gehen und so spaziert Finnick oft mit ihr an der Küste entlang, zufrieden damit, zu schweigen. Oft lauscht er Mags‘ mühevollen Worten, mit denen sie ihm Geschichten von früher erzählt, von ihrer Familie und manchmal auch der Zeit vor den Hungerspielen, die ihm so unwirklich erscheint.

Über die vergangenen Spiele reden sie gar nicht. Sie hat mitbekommen, was passiert ist, natürlich hat sie alles im Fernsehen gesehen. Auch ohne Worte seinerseits weiß sie als jahrzehntelange Mentorin, was sich während der Hungerspiele im Trainingscenter abspielt. Und über das, was Snow Annie angetan hat, ist er noch nicht bereit, zu sprechen.

Manchmal begleitet Annie sie beide, dann hält Mags sanft ihre Hand und erzählt nur von den unzähligen schönen Erinnerungen, die sie wie durch ein Wunder in diesem Leben gesammelt hat. Wenn jemand Finnick Hoffnung spendet, dass alles besser werden kann, dann sie.

Aber auch in die Akademie führen ihre Wege sie schließlich wieder. Mit jedem Tag, der verstreicht, rückt die Siegestour näher und mit der Siegestour rückt wiederum der Startschuss für das Jubeljubiläum weiter heran.

Während draußen eisige Wellen über dem Strand zusammenschlagen, sitzt Finnick neben Mags in der düsteren Lagerhalle, durch deren Dach es an diversen Stellen tröpfelt, und mustert die klägliche Auswahl an potentiellen Tributen, die sich ihnen bietet. Sieben Jugendliche sind alles, was Lana noch vorweisen kann. Und selbst in den Augen dieser sieben Freiwilligen schimmert die Furcht, sobald er seinen Blick auf sie richtet.

„Sie sind nicht bereitet“, seufzt er leise an Lana gewandt. „Und ich bezweifle, dass sie es sein werden, wenn es so weit ist. Nicht einmal Cordelia war bereit.“

Die sonst so stolze Trainerin schlägt müde die Lider nieder. „Ich weiß. Seit eurer Rückkehr habe ich es immer wieder mit Amber durchgesprochen, aber ... sie hat recht. Es hat keinen Sinn mehr, so weiterzumachen. Nachdem die anderen gesehen haben, was mit ihren Freunden passiert ist – nicht einmal Riven könnte sie noch überzeugen. Gerade Riven könnte sie nicht mehr überzeugen!“

Bei dem Gedanken an die jüngste Siegerin im Bunde ziehen sich Finnicks Eingeweide schmerzhaft zusammen. Abgesehen von dem Zusammentreffen auf dem Friedhof hat er sie kaum gesehen, meist nur aus der Ferne, trotz seines noblen Vorhabens, sie dieses Mal nicht alleine zu lassen. Ihm ist klar, dass der unerwartete Tod ihrer besten Freundin sie verändert hat, doch seine eigenen Gedanken sind an den meisten Tagen so laut, dass er immer wieder einen Grund gefunden hat, ihr aus dem Weg zu gehen. Um noch etwas länger Zeit mit Annie zu verbringen, fischen zu fahren, Mags zu besuchen ...

Früher wäre seine einstige Mentorin diejenige gewesen, die sich ihrer angenommen hätte, aber das kann er angesichts der Umstände nicht mehr erwarten. Schuld lässt ihn zu Boden blicken. Irgendwer muss Verantwortung übernehmen, bald.

„Sie hat es nicht wirklich verwunden, dass Cordelia nicht zurückgekommen ist, oder? War sie überhaupt noch einmal hier seitdem?“

Lana zuckt mit den Schultern. „Sie war ein paar Mal hier, hat aber nicht viel geredet, nur mit dem Schwert um sich geschlagen und alle in Angst versetzt. Allein das hat ein paar Leute verscheucht, nachdem ihre Trainingskämpfe immer brutaler wurden. Ich habe das Gefühl, dass diese Spiele schlimmer für sie waren als ihre eigenen.“

„Einen geliebten Menschen verlieren kann man nicht mit dem Kampf um das eigene Leben vergleichen“, nuschelt Mags leise, mit großer Betonung auf den einzelnen Worten. „Sie trauert, doch nicht jede kann damit umgehen.“

Hinter Finnicks Stirn breitet sich ein stechender Schmerz aus und er lässt den Kopf sinken. Ironischerweise kommt ihm zuerst der Gedanke, dass Cece nicht erfreut sein wird, wenn ihre strahlende Vorjahressiegerin bald endgültig ein Wrack ist. Insbesondere nicht, weil sie auf der Siegestour ihren beiden Nachfolgern das – symbolisch gesprochene – Zepter überreichen muss.

„Ich werde versuchen, mit ihr zu sprechen“, versichert er niemand bestimmten. „Wollen wir hoffen, dass sie dieses Mal zuhört.“

Lange suchen muss er Riven nicht, denn sie nimmt ihm diese Aufgabe ab, indem sie selbst in die Trainingshalle gestiefelt kommt, die Kapuze ihrer Regenjacke tief in die Stirn gezogen. Keiner spricht ein Wort, während sie sich ihrer triefenden Kleidung im Tausch für Trainingssachen entledigt und sich ohne Begrüßung ein Schwert schnappt.

Die verbliebene Gruppe aus Freiwilligen rückt merklich zusammen, sobald die Siegerin auf sie zukommt. Betretene Blicke wandern in Richtung Lana, die sich mit einem Zischen von der Tribüne löst und zu ihren Schützlingen eilt.

„Was wird das Riven?“

Das Mädchen hebt den Kopf. „Ich trainiere, Lana. Irgendeiner von diesen Feiglingen soll schließlich nächstes Jahr überleben.“

„Darf ich dich daran erinnern, dass ich hier die Trainerin bin?“ Bedrohlich baut Lana sich vor ihrer einstigen Schülerin auf, die sie um einen Kopf überragt.

„Und ich darf dich erinnern, dass ich die Spiele gewonnen habe, etwas, von dem du nicht einmal träumen kannst.“ Kalt wendet Riven sich ab. „Also, wer tritt gegen mich an?“

Von den Akademieschülern sehen beinahe alle auf ihre Schuhspitzen. Nur ein schmales Mädchen wagt es, Rivens Blick zu begegnen. Sie ist höchstens fünfzehn, ein wahres Fliegengewicht wie Finnick vermutet und bereits jetzt hat sie einige Narben gesammelt. Ein Kind der Straße, der Anblick ist ihm vertraut. Klug vom jahrelangen Überlebenskampf, nur körperlich kaum überlegen.

Bevor Lana etwas sagen kann, nickt sie. „Ich tu’s.“

Die Trainerin sieht aus, als möge sie das Kind mit Blicken erdolchen, aber schließlich wirft sie ihr ein Schwert zu. „Bereu’s nicht.“

Mags an Finnicks Seite seufzt leise. „Ich erkenne so viel von euch in Riven“, murmelt sie.

Er muss sich anstrengen, jedes ihrer schleifenden Worte zu verstehen.

„Wütend wie Amber, stark wie Trexler, selbsthassend wie Floogs, stolz wie du und traurig wie Annie.“

„Verloren“, seufzt er leise. „Ich habe versagt oder? Wir alle haben versagt.“

Die Mentorin, die ihm so sehr wie eine Mutter ist, schüttelt den Kopf. „Ihr habt noch eure Chance. Nutze sie.“

Er wendet den Blick wieder zurück in die Halle, wo Riven ihre Gegnerin in engen Kreisen vor sich hertreibt, Schlag um Schlag. Das Mädchen ist flink, das muss er ihr lassen, aber ihre Kraft lässt schnell nach und Riven wird von Verzweiflung angetrieben. Immer brutaler schlägt sie zu, als wäre sie wieder in der Arena und ihr Leben stünde auf dem Spiel.

Unachtsam rutscht das Straßenmädchen schließlich aus und landet auf ihrem Hintern. Gnade erweist Riven ihr nicht. Stattdessen stößt sie ihr wuchtig das Trainingsschwert auf die Brust, sodass ihr Kopf dumpf auf den Boden schlägt.

„Riven! Hör auf!“, faucht Lana und springt an die Seite ihrer Schülerin, die benommen stöhnt.

„Tot wäre sie, tot!“, brüllt Riven aus Leibeskräften. „Wenn ich ein Karriero wäre, dann hätte sie keine Chance!“

Obwohl ihre Gegnerin längst ergeben die Hand hebt, schlägt Riven noch einmal auf sie ein. „Sie werden dich leiden lassen, so wie Eric, so wie Edy, so wie Cordelia ...“

„Riven, Stopp!“, geht Lana erneut dazwischen.

Doch die Siegerin hält nicht eine Sekunde inne. Ihre Schläge prasseln weiter auf die Schülerin ein.

Entschlossen springt Finnick über die Abgrenzung der Zuschauertribüne und packt Riven am Kragen. So klein und leicht, wie sie ist, kann sie ihm nichts entgegensetzen. Feuer lodert in ihren Augen.

„Was willst du, Odair?“ Hasserfüllt speit sie ihm die Worte entgegen.

Die Ohrfeige trifft sie unvorbereitet. Für einen Augenblick ringen verschiedene Gefühle in ihrem Blick miteinander, dann gewinnt Trotz die Oberhand.

„Willst du noch jemanden umbringen? Ist es das, was du willst? Die Arena zurück? Glaubst du, das macht es leichter?“ Er ist wütend, so wütend wie schon lange nicht mehr. Es fühlt sich beinahe gut an.

Rivens Unterlippe zittert, aber ihre Hände sind immer noch zu Fäusten geballt. „Ach, leck mich doch.“

Mit diesen Worten reißt sie sich los und stapft aus der Halle. Dieses Mal lässt Finnick sie nicht ziehen, sondern setzt ihr nach.

„Riven!“

Er bekommt sie auf dem Weg Richtung Hafen zu fassen. Bereits jetzt sind sie beide vom Regen durchnässt und eisige Tropfen stechen ihn in die nackten Arme.

„Du kannst nicht ewig weglaufen“, sagt er bestimmt und packt sie an den Schultern. „Bitte, hör mir dieses Mal zu. Danach kannst du mich gerne hassen, so viel du willst.“

Er weiß nicht, ob es Tränen sind, die über ihre Wangen laufen oder doch nur der Regen, aber die Flammen in ihren Augen ersterben flackernd. Plötzlich ist sie wieder nur ein Mädchen, gerade einmal neunzehn Jahre alt und mit einer Last auf den Schultern, die viel zu groß für eine Person ist.

„Ich kann doch nur töten. Das ist alles, was ich je gelernt habe.“

Ihre Worte treffen ihn ins Mark. Lange Zeit hat er geglaubt, dass er genauso ist.

„Das stimmt nicht. Komm mit nach oben ins Dorf, ins Warme. Und dann reden wir.“

 

Annie sitzt ruhig an dem Esstisch in seiner Küche, eine dampfende Tasse Tee vor sich, als Finnick gemeinsam mit der klatschnassen Riven hereinkommt. Stumm mustert sie die Spur aus Wassertropfen, die er und sein überraschender Gast auf dem Holzboden hinterlassen, ehe sie zwei weitere Tassen aus einem der Schränke holt und Kräutertee einfüllt.

Riven bleibt im Türrahmen stehen, die Arme fest um ihre Mitte geschlungen. Ihre Augen sind wachsam auf Annie geheftet. Falls sie überrascht ist, dass Annie in Finnicks Haus und nicht in ihrem eigenen ist, dann lässt sie es sich nicht anmerken. Dabei trägt Annie sogar einen von Finnicks Pullovern aus weichem Kaschmir, die ihm selber viel zu warm sind.

Andererseits ist es wohl ohnehin offensichtlich, denkt Finnick resigniert. Snow wird nicht der Einzige sein, der es trotz aller Vorsicht gemerkt hat und hier in Distrikt Vier wissen es vermutlich noch mehr Personen, die sie beide in den letzten Jahren beobachten konnten.

„Ihr solltet trockene Kleider anziehen, bevor ihr euch erkältet“, sagt Annie nüchtern. „Ich habe noch etwas oben, das du haben kannst, Riven. Es müsste dir passen.“

Sie stellt keine Fragen, wundert sich nicht, warum er plötzlich Riven mit nach Hause bringt. Vermutlich ahnt sie längst, was der Anlass ist. Seit sie endlich Abstand zwischen sich und das Kapitol gebracht hat, gibt es wieder mehr gute Tage für sie, an denen sie ihre scharfe Beobachtungsgabe unter Beweis stellt. Bisweilen hat Finnick fast den Eindruck, dass es ihr besser als je zuvor geht, auch wenn das trügerisch ist. Der Schmerz ist nur eine Schicht tiefer gewandert; dorthin, wo selbst er ihn manchmal nicht mehr sieht. Die Folgen ihrer Behandlung im Kapitol.

Zusammen mit der wortlosen Riven verschwindet Annie in Richtung Treppe. Zum ersten Mal seit ihrem Sieg scheint Riven ihr nicht nur mit Herablassung zu begegnen. Der Trotz funkelt immer noch in ihren Augen, als sie in Annies Kleidern in die Küche zurückkehrt, aber es ist die Art stillen Selbsterhaltungstriebs, den sie braucht, um nicht völlig zusammenzubrechen, angesichts der Dinge, sie erlebt – und getan – hat.

Finnick selber hat sich ebenfalls ein paar trockene Sachen aus dem überflüssigen Ankleidezimmer im Erdgeschoss geschnappt, die das Vorbereitungsteam jedes Jahr in Hülle und Fülle zu ihm schickt. Jetzt ist er für die anstehende Unterhaltung overdressed, aber sie sind ganz andere Extreme aus dem Kapitol gewöhnt.

Annie folgt Riven wie ein stiller Schatten und lässt sich neben Finnick nieder, ihre Hände erneut fest um ihren Lieblingsbecher mit den bunten Punkten geschlungen. Nur er weiß, welche Rettungsanker diese Kleinigkeiten für sie sind. Sie lindern ihre Nervosität, wenn sie sich mit ihnen umgibt, genauso wie ihre Anwesenheit Bestärkung für ihn ist.

„Ich werde bleiben“, stellt Annie beherrscht klar und sieht ihm direkt in die Augen. Ein Blick, der keinen Widerspruch duldet. Glücklich ist er darüber nicht, denn dieses Gespräch wird schmerzhaft, das weiß er. Aber Annie scheint wild entschlossen und wenn er eines gelernt hat, dann, dass sie einen eisernen Willen hat.

Riven lässt sich nur zögerlich ihnen gegenüber nieder, die Arme weiterhin um ihre Körpermitte geschlungen. Es sieht nicht danach aus, dass sie von alleine anfängt zu reden, also beginnt Finnick mit einer schonungslosen Wahrheit. Lieber reißt er das Pflaster in einem Ruck ab, als die Umstände länger zu beschönigen.

„Es bringt nichts, zu ignorieren, was geschehen ist, Riven. Du darfst nicht vergessen, ich – wir – sind ebenso Sieger wie du. Wir haben dasselbe durchgemacht wie du, mehr sogar noch, mit jedem Jahr Mentoring. Cordelia und Edy sind tot, weil wir sie nicht retten konnten. Und ja, es tut uns leid, dass es so passiert ist. Aber das Leben geht weiter, auch ohne sie. Du darfst sauer und auch traurig sein, aber lass das nicht an denen aus, die nichts dafür können.“

„Ach, und das ändert was?“ Ohne ein Schwert in der Hand ist Riven bedeutend weniger aggressiv, wenn auch weiterhin angriffslustig. Zumindest ein Anfang.

Annie pustet nachdenklich auf ihren Tee, den Blick in sich gekehrt. Sie sieht Riven nicht einmal an, als sie zu sprechen beginnt. „Es ändert nichts. Der Ausgang dieser Sache ist unveränderlich. Wir haben sie verloren. Aber darum geht es hier auch gar nicht oder?“ Ihr Blick wandert zum Fenster hinüber, von dem die Regentropfen abperlen. „Es geht nur darum, wie wir damit leben. Ob die Toten uns verfolgen. Ob sie unser Leben bestimmen oder wir uns von ihnen verabschieden.“

Ein trauriges kleines Lachen entringt sich ihrer Kehle und Finnick legt eine Hand auf ihre an der warmen Tasse. Aber sie scheint mit ihrem Kopf nicht länger in der Küche zu verharren, so wie ihre Augen in die Ferne gerichtet sind.

Auf Rivens Gesicht zeichnet sich Unwohlsein ab, angesichts von Annies Wandel. Sie lehnt sich in ihrem Stuhl weit vom Tisch zurück, die dünnen Augenbrauen kritisch zusammengezogen.

„Ich sehe sich manchmal immer noch, weißt du?“ Annie schüttelt den Kopf und ihr Blick schwankt zwischen Wirklichkeit und ferner Erinnerung. „Aber ich muss weitermachen. Sonst wäre es alles umsonst, der Tod von ihnen allen. Auch Cordelias und Edys. Also finden wir etwas, das unserem Leben wieder Sinn gibt.“

Finnick lächelt sie an, gleichwohl sie das in ihrem gedankenverlorenen Zustand gar nicht merkt. „Annie hat recht. Wir können immer noch etwas finden, das unser Leben wert ist. Nicht von heute auf morgen und es gibt Tage, an denen fällt selbst das Aufstehen schwer, auch nach Jahren noch. Du bist nicht bloß gut im Töten, Riven. Keiner von uns. Wir haben nur getan, was wir mussten. Damit müssen wir leben, ebenso wie mit allen weiteren Toten, die auf unserem Weg warten. Das Los eines Siegers.“

Riven lehnt sich noch ein Stück zurück, bis die Vorderbeine ihres Stuhls sich knapp vom Boden heben und sie in gefährliche Schieflage bringen. „Schön und gut“, erklärt sie mit verschränkten Armen, „aber ich habe mich bereits damit abgefunden, dass Elia tot ist. Ich habe sie begraben, eine Handvoll Salz auf ihr Grab geworfen und sie dafür verflucht, dass sie sich hat töten lassen. Ich muss nicht wissen, wie ich das hinter mir lassen kann! Ich will wissen, wie ich verhindern kann, dass es jemals wieder passiert! Denn ich werde nicht zulassen, dass sich diese Niederlagen für unseren Distrikt fortsetzen. Ich will Sieger und Siegerinnen schaffen! Im Gegensatz zu euch akzeptiere ich nicht einfach, dass unsere Tribute schwach sind, nicht fähig, im Kampf zu gewinnen und –“

Ein Zucken läuft durch Annies Körper, als sie ruckartig ihren Blick von dem regenverhangenen Himmel losreißt. Ihre Augen heften sich mit brennender Intensität auf Riven. Die Knöchel an der gepunkteten Teetasse sind weiß vor Anspannung.

„Nein, du hast dich nicht damit abgefunden, das kannst du gar nicht“, bricht es so energisch aus ihr hervor, dass die Beine von Rivens Stuhl mit einem Krachen zurück auf den Boden treffen. „Du willst, dass es weitere Siege für Distrikt Vier gibt, nur damit du nie wieder trauern musst. Du kannst dir genauso wenig wie ich eingestehen, dass du dem Tod niemals entkommen wirst, selbst wenn du das Spiel des Kapitols brav mitspielst!“

Annies Stimme schwingt sich mit jedem Satz in neue Höhen und schließlich springt sie auf die Füße, wobei sie gegen den Tisch stößt und Finnicks Tasse umwirft, deren Inhalt sich unaufhaltsam über das Holz ergießt. Heißer Tee tropft auf seine Hose, doch das ist ihm egal. Bestürzt legt er eine Hand auf Annies Schulter. Er murmelt ihr besänftigende Worte zu, von denen er sich nicht sicher ist, ob sie durch ihre plötzliche Wut dringen.

„Riven Sanders“, ruft Annie trotz seiner Bemühungen wütend, „hör auf, die Schuld bei anderen zu suchen! Cordelia und Edy waren nicht schwach. Sie waren einige der stärksten Tribute, die ich je gekannt habe, und du wirst ihr Ansehen nicht beschmutzen mit deinen Worten!“

Für einen Moment erfüllt nur Annies angestrengtes Keuchen und das Prasseln des Regens die Küche. Stetig tropft Tee von der Tischkante. Keiner von ihnen wagt es, zu sprechen. Finnick steht ebenfalls, die Arme sanft um Annie geschlungen. Beruhigend wiegt er sie hin und her, bis die ersten Tränen sein Hemd durchnässen.

Riven ist bleich unter dem feuerroten Haar. Sie presst die Hände gegen ihre Oberarme, aber sie kann nicht verbergen, dass sie zittern. Mit einer Arroganz, die einzig der Sieg ihr gebracht hat, hebt sie stolz das Kinn.

„Warum haben sie dann nicht gewonnen?“, verlangt sie fordernd zu wissen. „Warum sind Cordelia und Edy tot, wenn sie doch so stark waren?“

„Weil das die Hungerspiele sind, Riven“, sagt Finnick hart. „Muss ich dir das wirklich noch erklären? Erinnerst du dich noch, wie es ist, wenn zweiundzwanzig andere dir nach dem Leben trachten? Wie es sich anfühlt, wenn du deinen Verbündeten nicht weiter traust, als du ihnen ein Messer hinterherwerfen kannst? Die stetige Todesangst, die vielen Momente, in denen es so knapp war? Du hattest Glück, selbst wenn du es nicht einsehen willst. Glück hat dir dein Leben gerettet und es gleichzeitig verdammt.“

Annie in seinen Armen nimmt einen tiefen Atemzug. Tränenspuren glitzern auf ihren Wangen, doch ihre Stimme ist überraschend fest, als sie sich erneut an Riven richtet. „Glaubst du wirklich, dass der Sieg ihnen einen Gefallen getan hätte? Ist es nicht eher eine Strafe, am Ende übrig zu sein? Ich weiß, du willst dieses neue Leben lieben, aber ... die toten Tribute jedes Jahr sind unsere Realität, das habe ich selber erst in diesem Jahr richtig begriffen. Denn wenn ich könnte, hätte ich sie zurückgebracht, das musst du mir glauben. Das Kapitol hat mich sogar dafür gefoltert, dass ich nicht loslassen konnte. Mit Stromstößen, mit Drogen, mit den Aufnahmen von Edys Tod. Immer und immer und immer wieder. Sie erzählen, ich wäre verrückt, aber sind nicht sie es, die verrückt sind, weil sie uns zwingen, dankbar für den Sieg und die Spiele zu sein?“

Finnick sieht, wie Riven schluckt. Ihre Schultern wandern immer höher und ihr Kinn sinkt langsam herab, während ihr Blick auf die Tischplatte fällt.

„Wenigstens wäre ich dann nicht mehr alleine, wenn sie gewonnen hätte“, flüstert sie bitter. „Wenn Elia ihr Versprechen mir gegenüber eingelöst hätte, dann wären wir zusammen gewesen. Das ist alles, was ich mir gewünscht habe. Auch wenn es sie gebrochen hätte. Gemeinsam wären wir vielleicht wieder ganz oder?“ Hoffnungssuchend sieht sie zu Finnick auf, wie er Annie eng an sich gedrückt hält.

Es dauert, bis er eine Antwort darauf findet. „Das, was wir verloren haben, wird nie wieder zu uns zurückfinden, egal wie viel Mühe wir uns geben, die zerbrochenen Teile wieder zusammenzusetzen. Aber es ist mitunter einfacher, wenn man nicht alleine ist, ja. Und du bist nicht alleine, Riven. Wir sind alle für dich da, wenn du uns nur lässt. Erlaube dir, zu trauern. Erlaube dir, mit uns darüber zu reden. Wir verstehen dich besser, als du denken magst. Jeder von uns Überlebenden hat eine wichtige Person an die Spiele verloren.“

Ein trockenes Schluchzen verlässt Riven und sie vergräbt das Gesicht in den Händen, ihr letzter Widerstand gebrochen. Annie sinkt zurück auf ihren Stuhl, ihrer ganzen Körperspannung beraubt. Ihre Finger schlingen sich wieder um die Teetasse und Finnick holt endlich einen Lappen, um den tropfenden Tee aufzufangen.

Riven braucht lange, um ihre Sprache wiederzufinden. Eine Weile betrachtet sie durch ihre Finger bloß die Maserung des Tisches und die Pfütze, die Finnick fortwischt. Dann lässt sie die Hände in den Schoß sinken und seufzt.

„Ich habe nie verstanden, was es heißt, dass der Tod vor allem für jene schlimm ist, die zurückbleiben“, flüstert Riven leise. „Meine Mutter hat das zu mir gesagt, bevor ich in die Arena gegangen bin. Aber erst jetzt, wo Elia nicht mehr da ist ... Ich habe so damit gerechnet, dass sie zurückkommt. Ich dachte wirklich, dass sie es doch irgendwie schafft. Immerhin habe ich es auch geschafft.“ Ihre hellen Augen sind leer, als sie eine einsame Träne fortwischt. „Aber ich hatte wirklich nur Glück, nicht wahr?“

„Ja.“ Finnick zuckt entschuldigend mit den Schultern. Diesen Fakt muss sie verstehen, auch wenn es wehtut. Das war ihm ja von Anfang an klar.

Riven atmet tief ein und aus, den Blick auf ihre Hände gerichtet. „Dann ... Erzählt mir mehr von Elia. Bevor ... sie gegangen ist. Wie ihre letzten Tage vor den Spielen waren. Ob sie – ob sie vielleicht glücklich war?“

Finnick und Annie reden an diesem Nachmittag lange mit Riven. Sie erzählen von den Tagen im Trainingscenter, die sie mit Edy und Cordelia verbracht haben. Von den hoffnungsvollen Momenten wie den traurigen. Der Nachtischdiebstahl bringt das Lächeln auf Rivens Züge zurück. Es ist nicht länger dasselbe hochnäsige, selbstgefällige Lächeln einer Siegerin, sondern ein von Verlust gezeichnetes Zucken der Mundwinkel, aber es ist ein Anfang. Endlich begreift Riven Sanders, Überlebende der dreiundsiebzigsten Hungerspiele, welchen Preis sie gezahlt hat.

 
 

***

 

Die Begegnung mit Riven hat sie beide mehr erschüttert, als sie zuerst bemerken. Doch nachdem Annie in der folgenden Nacht das erste Mal seit Tagen wieder einen Albtraum hat, aus dem sie schreiend aufwacht, weiß Finnick, dass sie eine Auszeit brauchen. Nach der Rückkehr aus dem Kapitol vor Wochen haben sie nicht einmal Zeit dafür gefunden. Immer gab es etwas mit Mags zu erledigen und Cece hat ständig angerufen, um Pläne für das Jubeljubiläum zu besprechen, sodass aus ihrem üblichen Ausflug zu dem geheimen Haus nichts geworden ist.

Inzwischen ist die Rückkehr nach Emerald Isle in ihrem kleinen Boot nicht mehr ungefährlich, aber Finnick will nicht warten, bis das Wetter besser wird. Und Annie ist alles recht, um der Enge im Distrikt zu entfliehen. Also wagen sie es eines frühen Morgens wieder, als die Wellen klein sind und der Regen eine Pause einlegt. Das Meerwasser ist noch angenehm mild – irgendeine Strömung, wie Finnick sich erinnert, die das warme Wasser in ihre Bucht treibt.

Aber selbst auf der Insel lässt sie das drohende Jubeljubiläum nicht los.

„Wer wird nächstes Jahr Mentorin?“

Annie läuft neben ihm über den Strand und sammelt fleißig Muscheln für eines ihrer Bastelprojekte, als sie diese Frage aus heiterem Himmel stellt. Überrascht sieht Finnick auf und trifft auf den Blick aus ihren blau-grünen Augen, der ihm jedes Mal aufs Neue den Atem raubt.

„Ihr könnt das Riven nicht zumuten. Ich will nicht, dass ihr diese Bürde auferlegt wird. Und Mags ...“

„Mach dir darüber keine Sorgen“, unterbricht er sie schnell. „Bitte.“

Sie legt die Stirn in Falten und den Kopf schief. „Ich mache mir keine Sorgen, Fin. Ich möchte es nur wissen. Je eher ich es weiß, desto eher bin ich darauf vorbereitet. Snow will es doch so, nicht wahr?“

„Scheiß auf Snow“, flucht er, „du wirst nicht zurückgehen!“

Sie legt ihre Hände auf seine Schultern. „Ich kann Riven das nicht antun. Sie hat mehr Zeit verdient. Ich werde das übernehmen, Fin. Es wird wehtun, aber ... ich kann das.“

Warum ist sie bloß so stur, obwohl es sie selbst verletzt?

„Es ist gefährlich, Annie. Das Kapitol ... sie haben ein Auge auf uns. Wenn ich dich um mich habe – glaubst du, ich kann einfach wegsehen? Ich muss vorsichtig sein. Jetzt mehr denn je. Es wäre einfacher, wenn du hier bleibst.“

„Ich habe Riven nicht geholfen, den Tod von Cordelia zu akzeptieren, nur damit ich ihr jetzt das Messer in den Rücken ramme“, hält Annie dagegen. „Fin.“ Sie greift versöhnlich nach seiner Hand und streicht mit dem Daumen darüber. „Wir können das, okay? Wir haben doch schon so viel überlebt.“

Er stimmt ihr schweren Herzens zu, auch wenn es ihm lieber wäre, sie für die kommenden Spiele ganz weit weg zu wissen. Seine Sorgen dazu vervielfachen sich in der Nacht, als er sich wieder in den Raum im Obergeschoss schleicht, um endlich zu erfahren, was im Rest von Panem nach dem unerwarteten Doppelsieg geschehen ist.

Beetee sieht müde aus, wie immer. Seine Drahtbrille liegt ihm auf der Nasenspitze und seine dunklen Locken sind unordentlich, als hätte er sie schon hundertmal in Verzweiflung gerauft.

„Finnick, endlich!“ Er schiebt seine Brille hoch, nur damit sie gleich wieder herunterrutscht.

„Beetee, es freut mich auch, dich zu sehen“, begrüßt Finnick ihn. „Was liegt an? Gibt es irgendwas Neues bei euch?“

Sein Gegenüber wringt aufgeregt die Hände. „Du machst dir ja keine Vorstellungen“, murmelt er. „Habt ihr irgendwelche Nachrichtenkanäle geschaut?“

Überrascht zieht Finnick eine Augenbraue hoch. „Schon, aber da lief das Übliche. Nichts, was irgendwie von Belang wäre, nicht wahr?“

Inzwischen ist er gut darin, nach den kleinen Anzeichen in den kargen Nachrichten Ausschau zu halten, die mehr verraten, als auf den ersten Blick ersichtlich ist. Doch in den vergangenen Wochen ist es ruhig geblieben. Nur die Werbung für die Siegertour im Winter ist angelaufen, ein prächtiger Zusammenschnitt der besten Szenen aus den letzten Spielen. Das Finale mit den Beeren ist nicht Teil des Ganzen, was wenig überraschend ist.

„Schön, dann enthalten sie euch auch Informationen vor.“ Beetee flucht leise, wie es sonst gar nicht seine Art ist.

„Was meinst du damit?“

„Etwas geht vor sich, hinter den Kulissen, aber die Distrikte werden natürlich im Dunklen gelassen. Ich weiß es nur, weil ich mich routinemäßig in das Nachrichtennetzwerk des Kapitols gehackt habe und über einen winzig kleinen Bericht gestolpert bin. Nicht einmal im Kapitol hat man es an die große Glocke gehängt.“

„Und ... das wäre was?“

„Seneca Crane ist tot.“

Die Nachricht verfehlt ihre Wirkung nicht. Dass der oberste Spielmacher tot ist, kann kein Zufall sein; nicht im Kapitol.

„Wer ist sein Nachfolger?“, stellt Finnick die alles entscheidende Frage.

Diesmal überrascht Beetee ihn mit einem Lächeln, das sich auf seinen müden Zügen ausbreitet. „Plutarch Heavensbee.“

Finnick wird der Mund trocken. Das ist gut, der Mann ist Distrikt Dreizehn verbunden, doch es fällt ihm schwer, Freude darüber auszudrücken. Plötzlich kommt so viel Bewegung in ihre Rebellion, dass es ihm das Herz zusammenzieht. Er will nicht behaupten, dass es zu überstürzt geschieht, aber genau so fühlt es sich an. Wie ein rasanter Tanz, bei dem die Musik immer schneller und schneller wird, bis er nicht mehr mithalten kann.

„Haben wir einen Plan?“

Beetees Blick fällt auf etwas neben dem Holoprojektor. Er weicht Finnick aus, schiebt die Brille nervös wieder höher. „Vielleicht. Ich ... weiß nicht wirklich viel von den Beweggründen hinter der Grenze. Sie halten sich bedeckt. Aber die Entwicklungen der letzten Wochen haben zweifellos Aufsehen erregt. Finnick, etwas wird geschehen, ich weiß nur noch nicht, was.“

Ein anderer Gedanke kommt Finnick, an den kräftigen Thresh und sein unrühmliches Ende unter den Händen von Cato. An den Aufstand von Chaff, der brutal niedergeschlagen wurde. „Was ist mit Elf?“

„Ich schicke dir einen Artikel. Lies ihn schnell, er vernichtet sich nach zwei Stunden automatisch. Reine Vorsichtsmaßnahme. Wir sollten bald wieder miteinander reden, wenn es möglich ist. Aber sei vorsichtig. Jetzt noch mehr als vorher.“

„In Ordnung.“ Finnick nickt und starrt dann einen Moment lang durch das bläuliche Licht der Holoprojektion hindurch, in Gedanken verloren. Beetee beendet schließlich die Verbindung und lässt ihn im Dunkel zurück, mit einer unbestimmten Angst vor den nächsten Spielen.

Das Kapitol ist nicht einfältig. Wenn sie schon Seneca Crane aus dem Weg geräumt haben, sind sie auf dem Kriegspfad. Und die anhaltenden Aufstände in Distrikt Elf, von denen in Beetees Artikel die Rede sind, bedeuten nur weiteres Öl im Feuer, das Distrikt Zwölf entfacht hat. Er erinnert sich an Dr. Gaia Gauls Worte an ihn, an die Kontrolle, die dem Kapitol entgleitet. Wenn sie nicht aufpassen, werden sie sich alle verbrennen.

Hochverrat

Die Monate bis zur Siegertour ziehen unendlich zäh dahin, beinahe so endlos wie die zwei Wochen während der vergangenen Spiele im Kapitol. Cece plant derweil alles für das Jubeljubiläum bis ins kleinste Detail. Sie reist mehrere Male in den Distrikt, obwohl sie das sonst nie getan hat. Sogar das Vorbereitungsteam begleitet sie beim letzten Mal Ende Oktober, damit unsere Outfits für die Ernte perfekt aufeinander abgestimmt sind. Wir sollen eine Einheit verkörpern, vom ersten Augenblick an.

Das Einzige, worüber Cece nicht begeistert ist, sind die mangelnden Tribute. Sie hat bereits ein ganzes Notizbuch voller Ideen, angefangen von Kleiderentwürfen für die Ernte bis hin zu ausgefeilten Strategien. Nur warten keine aussichtsreichen Kandidaten, wie sowohl Amber als auch Finnick ihr immer wieder erklären. Es gibt magere Sechzehnjährige, die bloß hoffen, durch die Spiele der Armut entkommen zu können, sonst niemanden. Und egal, was Cece verlangt, wir werden keine Wunder aus dem Nichts zaubern.

Nach jedem Besuch aus dem Kapitol streiten sich die anderen Sieger. Amber, Riven und Trexler sind der Ansicht, dass wir trotz allem zwei Kinder aus der Akademie für die Spiele auswählen sollten – die, mit den größten Chancen, nicht im Blutbad zu sterben. Finnick, Floogs und Mags sind dagegen, denn sie halten daran fest, dass wir nicht das Schicksal zweier Kinder entscheiden dürfen. Obwohl wir letztes Jahr das Gleiche mit Cordelia getan haben, wie ich sanft einwerfe.

Ich verstehe beide Seiten. Gerade das macht es schwer, einen Entschluss zu fällen. Wenn wir niemanden bestimmen, dann trifft es vielleicht Zwölfjährige wie Pon, die keine Chance haben. Kinder wie mich, die schon mehr Glück als Verstand brauchen, um irgendwie zu überleben. Andererseits würde ich mit einer Entscheidung mindestens einem Tribut in die Augen sehen und ihn zum Tod verdammen, nur weil dieser sich für die Sicherheit des Trainings in der Akademie entschieden hat. Da es noch Zeit hat, schiebe ich den Entschluss vor mir her.

So verlässt uns Cece auch im Oktober wieder mit der eindringlichen Bitte, endlich Tribute aufzutreiben, damit wir den Weg zum Sieg fortsetzen können. Nach diesem letzten Besuch hören wir fast einen ganzen Monat lang gar nichts mehr von unserer übereifrigen Betreuerin. Dafür bemerken wir andere Veränderungen im Distrikt. An den Zugängen zu den Pieren im Hafen stehen plötzlich Friedenswächter, die alle Personalien kontrollieren. Niemand kommt mehr zu seinem Schiff, ohne sich vorher einer eingehenden Untersuchung der Soldaten zu unterziehen.

Ich habe zwar die Ausflugserlaubnis, den Bootsführerschein und sogar die Besitzerurkunde für mein Schiff und trotzdem schlägt mir das Herz bis hoch in den Hals, als ich das erste Mal die Kontrollen passiere. Wie bei der Ernte wird den Wartenden in die Fingerkuppe gestochen und ein Friedenswächter analysiert den Tropfen Blut mit seinem Handgerät, um die Identität zu bestätigen. Danach muss ich durch einen Körperscanner laufen, der zum Glück nicht anschlägt. Ich habe keine Ahnung, wonach Snows Schergen suchen, aber es sorgt dafür, dass die Abläufe am Hafen sich zusehends verlangsamen. Wer frühmorgens auslaufen will, muss sich auf lange Schlangen einstellen und noch härtere Kontrollen bei Rückkehr.

Zum Glück fange ich bei den gemeinsamen Nachmittagsausflügen mit meiner einstigen Klassenkameradin Survy keine Fische, sodass wir dem Schlimmsten entgehen. Die lange Reihe an Schiffen, die von den Friedenswächtern bis unters Deck inspiziert werden, entgeht aber auch mir nicht. Genauso wenig wie der Mann, den zwei Soldaten am Pier zusammenschlagen, nachdem sie eine Kiste mit Beifang gefunden haben, die er unter einem zweiten Boden in der Kajüte versteckt hat.

Die Fischer zeigen zusehends ihren Unmut angesichts dieser Behandlung durch das Kapitol. Auch Survy wettert bei unseren Fahrten regelmäßig über die neuen Bestimmungen. Draußen auf dem Meer gibt es nur den Wind, der uns zuhört, und sie nutzt die Gelegenheit, Snows gesamte Regierung mit den deftigsten Schimpfwörtern zu überziehen, die Distrikt Vier kennt. Worte, wegen denen man sonst Bestrafungen von den Friedenswächtern kassieren würde.

Aber das ist laut ihren Erzählungen gar nichts gegen das, was die Angestellten des Kutters, auf dem sie arbeitet, alles von sich geben. Bereits viermal sind sie einer vollständigen Durchsuchung unterzogen worden und einmal wurde die gesamte Besatzung über mehrere Stunden hinweg festgehalten, sodass ihr kompletter Tagesfang verdorben ist. Ein Ausfall, für den die Fischer aufkommen mussten. Seitdem werden Fantasien laut, wie die Menschen aus Distrikt Vier es dem Regime heimzahlen können.

Einen ersten Vorgeschmack darauf bekomme ich, als Isla mit mir in die Stadt geht. Obwohl wir auf dem Markt mehrere Straßen entfernt einkaufen sind, hören wir die aufgebrachten Rufe aus Richtung des Wassers glasklar. Eine ganze Traube an Menschen hat sich dort versammelt, wie ersichtlich wird, sobald wir uns in die vollen Gassen drängen, die einen Blick auf den tieferliegenden Hafen ermöglichen.

Eine anführende Person scheint es nicht zu geben, denn alle rufen wütend durcheinander, während Friedenswächter sie einkesseln. Ein paar haben aus altem Segeltuch Protestbanner gebastelt, auf denen sie die Aktionen des Kapitols kritisieren. Ich suche die Menge instinktiv nach einem bekannten Gesicht ab, aber entdecke Survy zum Glück nicht. Dafür meine ich für einen Moment, Davids Mutter erkannt zu haben. Doch nachdem ich blinzle, ist die Frau verschwunden.

Isla beobachtet das Geschehen genauso besorgt wie ich. Unser Leben im Siegerdorf hat uns bequem werden lassen und trotzdem können wir es den Menschen dort unten nicht verdenken, dass sie die Willkür des Kapitols nicht länger erdulden wollen. Ihre zögerlich aufkeimenden Sprechgesänge erinnern mich an die Sorgen, die meine Familie hatte, als ich selber eine Fischerin war und nicht wusste, wovon wir bis zum Wochenende leben sollen. Was die aktuellen Maßnahmen für einen Großteil der ärmeren Leute bedeuten, kann ich inzwischen nur erahnen.

Alle Proteste finden schließlich ein rasches Ende, als ein Soldat ohne Vorwarnung in die Menge feuert. Die Schüsse hallen zwischen den Gebäuden wieder, ebenso wie die Schreie der Getroffenen. In dem Gedränge um mich herum explodieren zornige Rufe. Ich presse mir zitternd die Hand vor den Mund und sehe die Menschen blutend zu Boden gehen, da stürzen die ersten Zuschauer von den Hafentreppen auf die Friedenswächter zu.

Sie drängen auf die Soldaten ein. Schon stürzt einer davon mit verdrehten Gliedmaßen zu Boden. Langsam weiche ich rückwärts, doch ich kann den Blick unmöglich von dem Blutbad wenden, das sich mitten am Hafen ereignet. Es ist wie in den Hungerspielen, ein Kampf jeder gegen jeden. Ich lasse eine Tüte voller Kartoffeln fallen und drücke mich zu Boden, die Hände auf den Ohren. Isla zerrt mit beiden Armen an mir und schließlich wirft sie meinen kraftlosen Köper über ihre Schulter, während die Schreie des Aufstands uns bis hoch ins Dorf der Sieger verfolgen.

Infolge dieses Vorfalls braucht es eine Weile, bis ich mich wieder aus dem Haus traue. Doch am Ende siegt die Sehnsucht nach dem offenen Meer und dem harschen Wind. Inzwischen halten alle ihren Kopf unten, aber ich höre sie leise murmeln, beim Be- und Entladen ihrer Schiffe. In Distrikt Vier ist man unzufrieden und selbst wenn überall kontrolliert wird – auf den Fischerbooten sind die Leute alleine, frei, ihrem Hass auf das Kapitol nachzugeben.

In der letzten Novemberwoche muss ich auf dem Weg zum Hafen einen großen Umweg laufen, denn plötzlich versperren mir aufgrund von ‚Umbaumaßnahmen‘ Friedenswächter den Weg. Während ich mit Survy auf dem Meer bin, vergesse ich die Sorgen, doch bei unserem Einlauf in den Hafen erkennen wir schon von weitem, was dort auf dem großen Vorplatz wartet. Ein Galgen.

Mir schlingt sich ein Knoten in den Magen. Jeder hier kennt die Härte des Kapitols. Meinen Vater haben sie früher auch schon eingesperrt, wegen Nichtigkeiten. Aber jetzt sieht es so aus, als würde die Regierung ganz andere Töne anschlagen, nachdem beim Aufstand die ersten tödlichen Schüsse gefallen sind. Außerdem informieren glänzende Metallschilder auf den Pieren und an allen Hafengebäuden uns, dass weitere Bestimmungen für den Fischereibetrieb erlassen werden.

Das trifft mich zwar nicht, doch ich war lange genug eine Fischerstochter, um zu wissen, dass die neuen Regeln, die unter anderem eine stärkere Beteiligung des Kapitols an den Fängen und strengere Regulierungen der Seezeiten verhängen, eine Frechheit sind. Wenn man sich an alles halten will, bleibt einem kaum genug zum Leben, ganz zu schweigen davon, dass man für jedes kleinste Vergehen aufs härteste bestraft werden wird. Worauf früher nur eine monatelange Gefängnisstrafe stand, steht nun der Tod, so wie auf eine Liste neuer Verbrechen.

Sorgenvoll betrachte ich Survy neben mir, deren Miene finster geworden ist. Im Gegensatz zu mir ist sie weiterhin auf den Fischfang angewiesen, um ihre Familie zu versorgen. Ich schäme mich meiner momentanen Erleichterung.

„Keine Sorge, wir finden eine Lösung“, sage ich schnell. Immerhin ist das Siegergeld jeden Monat so hoch, dass ich gar nicht weiß, wofür ich es ausgeben soll. Die Kosten für mein Schiff sind damit ohne Probleme gedeckt.

Aber Survy winkt ohnehin ab. „Schon gut, wir schaffen das auch so. Das ist doch nur wieder eine Laune aus der Hauptstadt. Wenn sie merken, dass die Qualität der Produkte sinkt, dann werden sie schon wieder damit aufhören. Vermutlich will sich irgendein neuer Politiker mal wieder beweisen und meint, er müsse das ganze Land umkrempeln. Aber ohne uns!“

„Uns?“, flüstere ich sorgenvoll. Ich erinnere mich noch gut an ihre Erzählungen von den anderen auf ihrem Arbeitskutter.

„Glaubst du wirklich, weil sie es unter Todesstrafe verbieten, feste Arbeitsverbände zu schließen, dass die Leute nicht mehr reden werden?“ Sie schüttelt mit einem grimmigen Lächeln den Kopf. „Das Kapitol hat ja keine Ahnung. Da müsste schon auf jedem Schiff ein Friedenswächter mitfahren und dafür haben sie niemals genug Leute.“

„Bitte sei vorsichtig.“ Survy ist meine einzige Freundin außerhalb des Siegerdorfes und ich will nicht, dass sie ihre Wut mit dem Leben bezahlt.

Die Siegestour beginnt nicht lange danach und die ersten Opfer baumeln im Dezembergrau von den Galgen. Es sieht nicht so aus, als sollte Survys Optimismus berechtigt sein. Obwohl die Kälte mir nichts ausmacht, stellen wir unsere Ausflüge aufs Meer ein. Die Friedenswächter brauchen keine Gründe mehr, um Leute festzunehmen oder gar aufzuhängen. Immerhin folgen nicht noch weiteren Aufstände, sondern eisiges Schweigen seitens der Bevölkerung.

Der ganze Abgrund dieser neuen Vorkehrungen trifft uns Sieger aber erst, als eines Morgens ein dicker Briefumschlag aus Snows cremefarbenem Papier in den Briefkästen auftaucht. Wir werden darüber informiert, dass unsere Teilnahme an der Siegertour in diesem Jahr abgesagt wird. Die Anweisung lautet, dass wir im Dorf bleiben. Keine Erklärungen, keine Rechtfertigungen.

Wie immer, wenn etwas los ist, landet jeder von uns früher oder später in Floogs Wohnzimmer. Ich werde von Finnick mitgenommen und sogar Riven findet den Weg dorthin, nachdem sie sich bei den übrigen Häusern durchgeklingelt hat und niemand aufgemacht hat. Die Briefe sind alle genau gleich – eine höfliche, aber eindringliche Information, dass wir uns von der Siegesfeier fernzuhalten haben.

„Das ist doch ein schlechter Scherz!“, flucht Amber. „Cece hat sich vor Aufregung fast ins Höschen gemacht und jetzt sagen sie die Feier einfach ab? Das ist noch nie passiert, in der ganzen, verfluchten Geschichte der Hungerspiele nicht!“

Riven sieht ebenfalls ratlos aus. „Letztes Jahr habe ich alle früheren Sieger und Siegerinnen getroffen. Vor allem sollte gerade ich doch eigentlich meine Nachfolger treffen!“ Sie verschränkt die Arme vor der Brust und scheint gekränkt von der Neuigkeit, dass niemand ihr die Chance geben wird, noch einmal im Auge der Zuschauer zu glänzen.

„Snow fürchtet sich vor etwas“, geht Mags ruhig dazwischen. Ihr fällt das Sprechen nach wie vor schwer, doch sobald sie die Stimme erhebt, verstummen automatisch alle anderen. „Er will uns von den beiden Kindern fernhalten, sie isolieren. Sie sind nicht wie wir, nachdem sie zu zweit sind.“

„Wenn ihr mich fragt“, ergänzt Floogs, „dann zielt das Kapitol darauf ab, dass sie uns noch weiter kontrollieren. Alle Distrikte. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet in diesem Jahr die Fischereibestimmungen verschärft werden, wo die Teilnahme an der Siegestour abgesagt wird. Oder es einen Aufstand gab. Nur, dass Snow sich einer Sache vertut – er zwingt die Leute damit nicht in die Knie, sondern er macht sie wütend. So wie wir jetzt erzürnt sind, weil er uns vor dem Fest fernhält.“

„Also, ich bin nicht traurig, dass mir dieser ganze Rummel entgeht.“ Amber lacht freudlos auf. „Auch wenn ich fürchte, dass du recht hast. Snow ist wütend wegen des unverschämten Sieges der beiden aus Zwölf. Es sollte nur einen Sieger geben und diese Regel haben sie gebrochen, auch wenn er sie zuerst geändert hat. Und jetzt bekommen wir alle die Rechnung dafür.“

Ich tausche einen besorgten Blick mit Finnick. Mir macht es ebenfalls nichts aus, dass die Feier für uns ausfällt, doch es liegt auf der Hand, dass die Ordnung aus den Fugen gerät. Wie sehr Snow seine repräsentativen Feste liebt, habe ich während der letzten Hungerspiele am eigenen Leib erlebt.

Die Siegestour kommt und geht. Es ist ein Tag wie jeder andere auch, nur, dass dieses Mal ein ganzer Trupp Friedenswächter vor dem Tor zum Dorf der Sieger postiert ist. Amber versucht, in der Stadt einkaufen zu gehen, wird aber mit gezogenen Waffen aufgefordert, sich zurück in ihr Haus zu begeben. Selbst Mags wird gebeten, nicht in ihrem Garten herumzulungern. Man verzichtet darauf, Gewehre auf sie zu richten, aber laut ihren Erzählungen sind die Soldaten äußerst unfreundlich aufgetreten.

Im Fernsehen bekommen wir nur einen Ausschnitt zu sehen, der unseren reichlich geschmückten Festplatz zeigt. Die Reihen der Zuschauer sind dünner besetzt als sonst und ich erkenne auf Anhieb eine Handvoll Personen, die höhere Ämter am Hafen in der Fischkontrolle oder dem Rathaus bekleiden. Fischer und Leute aus dem Viertel der Schiffsbauer fehlen hingegen ganz. Nach allem, was die letzten Wochen geschehen ist, kann das unmöglich ein Zufall sein. Aber selbst diese wenigen bessergestellten Menschen haben den Unmut in ihre Gesichter geschrieben.

Wir Sieger sehen uns die Szene alle gemeinsam an, doch es ist dieselbe stinklangweilige Feier wie jedes Jahr, nur eben ohne unseren – oder Ceces – Part. Katniss und Peeta verlesen ihre Reden von kleinen Karten, steif und frei von Charme. Keiner von ihnen sieht glücklich aus, dort oben zu stehen. Höchstens ihre Betreuerin. Insbesondere Katniss wirft immer wieder vorsichtige Blicke in Richtung der Tribüne, auf der Cordelias Familie steht. Riven kommen bei diesem Anblick die Tränen, ansonsten bleiben wir stumm.

Der Winter zieht dunkel an uns vorbei. Stürme peitschen über die See, sodass wir das Kapitol nicht einmal als Feind brauchen. Tagelang verlasse ich das Haus nicht mehr, sondern rolle mich drinnen an Finnicks Seite zufrieden ein. Es sind selige Momente, wenn der Regen an die Fenster prasselt. Sonst kommt zu dieser Zeit immer ein Brief, der Finnick in die Hauptstadt bittet, um dort seinen ‚Diensten‘ nachzugehen, doch zum ersten Mal lassen sie ihn in Ruhe.

Wer allerdings nicht in Ruhe gelassen wird, sind die Fischer. Es ist bereits Ende Januar, als ich mich mit Isla auf den Weg mache, um am Hafen Krebse für das Abendessen einzukaufen. Ich bin wochenlang nicht hier hergekommen. Neben den Galgen hängt jetzt eine Liste derer, die für die Todesstrafe vorgesehen sind. Der Anschlag ist so lang wie mein Arm und listet feinsäuberlich Namen, Vergehen und Datum der öffentlichen Hinrichtung auf. Doch damit nicht genug – unter den vielen Verurteilten ist auch ein alter Bekannter.

 

Ich habe Davids Vater nicht mehr gesehen, seit er sich vor den siebzigsten Hungerspielen von mir verabschiedet hat. Bei meiner Rückkehr in den Distrikt war er nicht anwesend, genauso wenig wie bei der Siegesfeier. In all den Jahren habe ich ihn nicht einmal auf dem Friedhof am Muschelbaum getroffen oder ihn auch nur in der Stadt bemerkt. Als hätte er nie existiert, außer in meiner Einbildung.

Ungläubig starre ich die Liste an, die mich informiert, dass er in drei Tagen sterben soll. Man hat ihn für Hochverrat zum Tode verurteilt. Was immer das genau heißen mag. Die Friedenswächter werfen in den letzten Wochen nur so um sich mit diesem Begriff, aber es gibt einen ganzen Katalog an Taten, die zu dieser Verurteilung führen.

Die Zunge klebt mir am Gaumen und entfernt schmecke ich Gummi. Meine Handgelenke kribbeln, sodass ich mit den Fingern darüber rubble, bis die Haut ganz gerötet ist und Isla mich von dem Aushang fortzieht. Ich bin Davids Vater nichts schuldig, immerhin hat seine Familie mir die alleinige Verantwortung am Tod ihres Sohnes gegeben. Nicht einmal haben sie mich besucht oder gefragt, was Davids Schicksal mit mir – seiner ehemaligen Verlobten – angerichtet hat.

Am Tag nach der Siegesfeier haben sie einen Boten mit meinen privaten Sachen aus unserem alten Haus ins Dorf der Sieger geschickt, zusammen mit einem Brief, der unmissverständlich ausgedrückt hat, mich nie wiedersehen zu wollen. Dass mein Gewinn nicht nur David, sondern auch Papa und den kleinen Cyle das Leben gekostet hat, haben sie vollkommen vergessen – oder verdrängt. Alles, was sie in mir sehen, ist die verrückte Siegerin der siebzigsten Hungerspiele, die ihre geliebten Menschen in den Tod gestürzt hat, anstatt selber in den Spielen zu sterben.

Der Verrat sitzt tief und trotzdem fühle ich mich betroffen, nun, da Davids Vater hingerichtet werden soll. Ich kenne den Mann seit frühester Kindheit. Er hat uns vor bestimmt fünfzehn Jahren das Krabbenpulen beigebracht. Wenn alles anders gelaufen wäre, hätte er mein Schwiegervater sein können.

Den ganzen Einkauf über trage ich mich mit dem Gedanken, der Urteilsvollstreckung beizuwohnen. Oder noch besser, wie ich sie verhindern könnte. Aber das ist natürlich utopisch. Selbst mit meinem Status der Siegerin kann ich nicht einfach ins Rathaus spazieren und erwarten, dass man mir nur eine Sekunde zuhören wird. Vor allem, da ich doch ‚die Verrückte‘ bin.

Erst als sich zwei Friedenswächter in der Schlange des Krebshändlers vordrängeln und Isla die beiden Rekruten wortgewaltig zu Krill macht, fällt mir wieder ein, dass sie ja mit einem Kommandanten der Truppe bekannt ist. Oder eher verwandt. Ihre ältere Schwester hat als eine der wenigen einen Soldaten aus Distrikt Zwei geheiratet, der hier stationiert ist und inzwischen zu einer führenden Position befördert wurde. Diese Verbindungen sind selten – und mittlerweile ist die Eheschließung zwischen Angehörigen verschiedener Distrikte vonseiten des Kapitols verboten. Aber an den alten Verhältnissen hat niemand gerüttelt.

In der Vergangenheit hat Isla diesen Vorteil immer dann ausgenutzt, wenn sie mich zu offiziellen Veranstaltungen begleitet hat und man sie abweisen wollte. So wie vorletztes Jahr beim Finale der Hungerspiele. Oder bei der Versorgung der Kinderheime, die sie organisiert. Da sehen die Friedenswächter nicht so genau hin, wenn Lebensmittelreste aus den Fabriken verschwinden. Vielleicht kann ihr Einfluss mir helfen, Wiedergutmachung für Snows Mord an David zu leisten?

Isla ist reichlich verwundert, als ich sie auf dem Heimweg danach frage, ob wir etwas bezüglich der Hinrichtung unternehmen können. Sie verspricht nichts, aber das erwarte ich gar nicht. Mir ist klar, dass das Kapitol nicht die Bestrafung aussetzen wird. Wenn überhaupt, hoffe ich, dass sie es vielleicht in eine mildere Strafe umwandeln, im Gefängnis oder Arbeitslager ... oder mich wenigstens zu Davids Vater lassen.

Nach unserem Einkauf sehe ich jedenfalls, wie Isla in ihrer besten Feiertagskleidung zurück in Richtung Stadt spaziert. Sie besucht ihre Schwester nur selten, da diese in der Garnison wohnt und jeder Besuch mehrere Sicherheitskontrollen bedeutet. Alleine schon deshalb bin ich ihr unendlich dankbar, dass sie für mich – und diesen egoistischen Wunsch – so viel auf sich nimmt.

Ein ganzer Tag vergeht, bevor Isla flankiert von zwei Männern in weißer Rüstung wieder vor meiner Haustür steht. Sie grüßt mich mit einem knappen Nicken, anders als sonst.

„Du hast einen einzigen Besuch frei, Annie. Diese beiden Männer werden dich hin- und zurückbringen. Mehr kann auch ein Kommandant nicht unternehmen. Snow persönlich hat das Urteil unterzeichnet.“

Meine Hände zittern vor Aufregung und wieder breitet sich Kribbeln in jedem Nerv aus. „Okay. Danke, Isla –“

„Schon gut. Mach schnell, bevor irgendwer große Fragen stellt.“

Ich schnappe mir eine Jacke von der Garderobe und will den Friedenswächtern folgen, da drückt Isla mir bestimmt einen Schal in die Hand. Verdutzt greife ich danach – es ist zwar windig, aber nicht mehr so kalt –, doch Isla zieht mich rasch in eine Umarmung und schneidet mir dadurch die Frage ab.

„Bedeck deinen Kopf lieber“, murmelt sie leise an meinem Ohr. „Besser, wenn dich keiner erkennt. Wir wissen nicht, wer hinter den Überwachungskameras in der Garnison sitzt. Und vertrau niemandem. Nicht einmal deinen Begleitern.“

Mit einem Kloß im Hals bringe ich bloß ein Nicken fertig. Ein letztes Mal drücke ich Isla fest an mich und sauge ihren beruhigenden Geruch ein. Für Bedenken ist es zu spät, jetzt muss ich das hier durchziehen, anstatt einmal mehr in Finnicks Arme zu flüchten. Denn dem habe ich extra nichts von dieser Angelegenheit erzählt. Hoffentlich sieht er nicht, wie die zwei Friedenswächter mich im Schutz der herannahenden Dunkelheit aus dem Dorf der Sieger abführen.

Die Soldaten gehen zu einem Transporter, in dessen Heck ich Platz nehme. Den Schal tief in die Stirn gezogen, halte ich den Kopf unten, als das Auto am befestigten Tor zur Garnison durchleuchtet wird. Doch es stellt niemand Fragen oder wundert sich über meine Anwesenheit und wir passieren unbehelligt die Grenze.

Das Fahrzeug hält auf einem asphaltierten Platz, der von drei Seiten mit flachen, langgestreckten Bauten gesäumt ist. Das Gefängnis lässt sich einfach erkennen – die Anlage ist komplett fensterlos, von großen Scheinwerfern ausgeleuchtet und an allen Ecken des Gebäudes stehen bewaffnete Soldaten in voller Uniform.

Meine Begleiter schieben mich stumm darauf zu. Als eine Wache uns in den Weg tritt, zeigen sie routiniert ein kleines Plastikkärtchen vor und erklären lapidar, dass ich die Angehörige eines Inhaftierten sei. Erneut lässt man uns passieren.

Ich werde durch zwei weitere Sicherheitskontrollen geschleust, von denen eine genau so ein Scanner ist, wie der am Hafen. In meinen schlichten Kleidern und ohne Make-up nehmen die diensthabenden Offiziere überhaupt keine Notiz von mir. Vermutlich ahnen sie nicht einmal, dass eine Siegerin der Hungerspiele vor ihnen steht. Sie befehlen mir gelangweilt, was ich zu tun und lassen habe, ehe sie mich endlich zu einer kleinen Zelle führen.

Hinter einer stählernen Tür mit einem quadratischen Sichtglas wartet er – Davids Vater. Der Mann, den das Kapitol wegen Hochverrat hinrichten will. Nervös streiche ich über den Saum meines Pullovers. Ich habe keine Ahnung, weshalb ich hier bin, was ich sagen kann oder wie er reagieren wird. Gerade jetzt würde ich unglaublich gerne in Finnicks Armen auf dem Sofa liegen und die köchelnden Unruhen vergessen. Aber das könnte ich mir andererseits nie verzeihen. Also atme ich tief ein, bevor ich durch die Tür trete.

Der Mann auf der anderen Seite hat nur wenig mit dem Vater meines einstigen Verlobten gemein. Sein schmutziger Overall hängt ihm lose von den Schultern und das Gesicht ist tief eingefallen. Aus dunklen Höhlen starren mir zwei vorwurfsvolle Augen entgegen. Ich sehe, wie das Erkennen in ihnen glimmt.

„Natürlich bist du es, die hierher kommt“, spuckt er mir abfällig vor die Füße. „Hast wahrscheinlich gute Beziehungen, nicht wahr? Kommst direkt vom Präsidenten, um mich zu verhöhnen? Willst mir noch ein paar Geheimnisse entlocken?“

Die Begrüßung bleibt mir im Halse stecken. Stattdessen nehme ich einen tiefen Atemzug – ein Fehler. Es riecht nach ungewaschener Haut und menschlichem Elend. Aber die Tür hinter mir ist verschlossen, für die nächsten fünfzehn Minuten der Besuchszeit, die Isla mir erkämpft hat.

Ich stelle mich mit dem Rücken zur Kamera in der Ecke und ringe um Worte. Den ganzen Weg über habe ich mir Sorgen gemacht, wie es wird, diesem Mann gegenüberzutreten. Doch jetzt stehe ich hier und es ist kein Stück, wie in meiner Vorstellung. Die Ähnlichkeit von Davids Vater zu seinem Sohn ist durch die Strapazen der Gefangenschaft völlig ausradiert. Sein dunkelblondes Haar ist strähnig und ein struppiger Bart zeugt davon, wie lange sie ihn bereits festhalten. Alles, was ich sehe, ist ein gebrochener Mensch.

„Was – bist du nur hier, um mich anzuschweigen?“ Er hockt auf seiner Pritsche, die Hände zwischen den Knien gefaltet und beobachtet mich wie ein mäßig spannendes Fernsehprogramm.

„Nein. Ich bin hier, um dir die Wahrheit zu sagen.“ Der Gedanke kommt mir erst, da habe ich den Mund schon geöffnet. Er wird hingerichtet, dagegen kann ich nichts tun. Aber bevor es so weit ist, verdient er es, zu erfahren, warum sein Sohn sterben musste. Vielleicht kann er mir dann doch noch vergeben. Oder wenigstens in Frieden gehen.

„Welche Wahrheit? Die echte Wahrheit darüber, wie deine Ignoranz meinen Sohn umgebracht hat, oder deine Version der Wahrheit?“

„Beides.“ Ich konzentriere mich auf den Saum meines Pullovers. „Du hast recht – David ist gestorben, weil ich überlebt habe. Genauso wie mein Vater und Bruder. Wenn ich getan hätte, was man von mir verlangt hat, dann ... hätte es nicht geschehen müssen –“

Ein Lachen wie rostige Nägel, die am Pier kratzen, unterbricht mich. „Das sind keine Neuigkeiten. Wenn du nur deswegen hergekommen bist, muss ich dich enttäuschen. Es ist mir egal. Denkst du, ich sitze unschuldig hier vor dir?“ Davids Vater lehnt sich auf der Pritsche zurück und breitet seine knochigen Hände aus, als wolle er mir sein Reich – seine Todeszelle – präsentieren. „Du konntest nicht tun, was Snow von dir verlangt hat, und das hat meinen Sohn umgebracht. Du weißt seit Jahren, dass ich dir das nicht vergeben kann. Aber weißt du, wem ich noch weniger vergeben kann?“

Ich weiche einen Schritt zurück, als er sich mit aufgerissenen Lidern vorlehnt. Das Weiß in seinen Augen ist schmutzig, die Adern darin lauter rote Blitze. Hinter mir ist nur Stein und ich presse die Hände dagegen, im Wunsch, einfach in ihm aufzugehen.

„Snow. Dem Kapitol. Wenn es die vermaledeiten Hungerspiele nicht gäbe, dann hättest du niemals David aufgeben müssen! Du hast das Messer gehoben, das meinen Sohn umgebracht hat, aber dieser Wichser hat zugestochen! Und dafür wird er bezahlen!“

Davids Vater sitzt immer noch auf der Pritsche, aber sein Geschrei füllt den ganzen Raum und bestimmt auch den Flur davor. Wahrscheinlich hören alle Friedenswächter da draußen jedes Wort.

Ich atme hastig wie nach einem Ausdauerlauf. „Ich – ich wollte doch nur ...“

„Dein Mitleid ausdrücken? Dein Gewissen erleichtern?“

Mir läuft eine Träne über die Wange und der Verräter auf der Pritsche gegenüber lacht. Das ist nicht länger der Mann, der uns Kindern die ersten Angelhaken geschenkt hat.

„Ich verrate dir etwas: Dieses Land wird untergehen. Das kannst du nicht aufhalten, genauso wenig wie Snow. Ihr alle und eure Spiele werdet brennen. Hängt mich, aber der Sturm ist gesät.“

„Was hast du getan?“, wispere ich überwältigt. „Wovon sprichst du?“

Ein breites Grinsen enthüllt die braunfleckigen Zähne meines Gegenübers. „Hat dir das niemand gesagt?“ Ich bin wie hypnotisiert von den Rissen auf seinen Lippen, den vielen kleinen, schartigen Wunden, die bei näherer Betrachtung offenbar werden. Wer weiß, was die Friedenswächter den Gefangenen alles antun. „Ich habe den Widerstand organisiert. Die letzte Welle. Ich versichere dir – wir sind überall. Und wir sind bewaffnet. Es ist Zeit, diesen Distrikt endgültig zu befreien.“

In diesem Moment bin ich dankbar für den Schal, der mir tiefer in die Stirn rutscht und mein Gesicht vor der Welt verbirgt. Widerstand. Das ist gefährlich. Solche Gedanken sind der Grund für die Hungerspiele!

Aber ... ich kann ihm keinen Vorwurf machen. Tief in meinem Herzen weiß ich, dass er recht hat. Snow ist ein Tyrann, das Kapitol ein Unterdrücker. Und wie oft habe ich schon gewünscht, dass die Spiele nie wieder stattfinden?

„Es tut mir so leid, dass es so endet“, flüstere ich in die Stille, die so viel schwerer wiegt als die Schreie von eben. Einem unerklärlichen Drang folgend, trete ich auf die Pritsche zu und lege die Arme um die Schultern des Mannes, der in einem einfacheren Leben mein Schwiegervater gewesen wäre. „Ich hoffe, es wird nicht vergebens sein.“

Bevor er etwas erwidern kann, löse ich mich von ihm und stehe wieder vor der Tür. Auf mein Klopfen hin öffnet ein Friedenswächter.

„Mach’s gut, Annie. Ich grüße David von dir.“

Es sind die letzten Worte, die ich je von der einzigen Verbindung zu meinem alten Leben höre.

 

Zu der Hinrichtung gehe ich nicht, aber zwei Tage darauf klingelt es an meiner Tür und mir wird von einem uniformierten Friedenswächter eine Pappschachtel überreicht. Die letzten Besitztümer des Verurteilten, erklärt der Mann. Seinem Testament entsprechend an mich zugestellt. Anstatt eines Namens steht die Inhaftierungsnummer in dicken schwarzen Lettern auf der Pappe.

Mit zittrigen Händen trage ich die Schachtel vor mir her ins Wohnzimmer, als handle es sich dabei um Sprengstoff. Jetzt bin ich froh, dass Finnick nicht hier ist, wie so oft, sondern mit Amber beim Training.

Bestimmt eine halbe Stunde lang starre ich den kaum briefpapiergroßen Karton an, ehe ich den Mut finde, den Deckel zu lüpfen. Prompt sackt mein Magen in die Tiefe. Ganz oben liegt ein Bild von David und mir. Wir sind Kinder – ich in einem Rüschenkleid mit Fischmuster, er in einem Hemd. Aufgenommen wurde das Foto beim sommerlichen Hafenfest. Die arrangierte Kulisse und das prunkvolle Banner über unseren Köpfen tragen die Handschrift des Kapitols, aber immerhin sind diese Fotostationen eine kostengünstige Möglichkeit für Normalbürger, sich eine bleibende Erinnerung zu leisten.

Darunter kommen weitere Bilder zum Vorschein. Eines für jedes Jahr, das David und ich einander kannten. Auf manchen davon sind unsere Eltern mit drauf, aber die meisten zeigen nur zwei Kinder, die langsam erwachsen werden. Ich streiche andächtig über das vergilbende Fotopapier. Es ist nicht viel, doch diese Bilder hätte mir niemand anders geben können.

Abgesehen davon liegt allerdings noch etwas in der Schachtel. Ein Kompass, dessen vergoldete Hülle etliche Kratzer und Dellen trägt. Mein Herz stolpert. Ich erinnere mich an diesen Kompass! Besonders an den Zorn von Davids Vater, als wir Kinder ihn in einer Schublade entdeckt und damit gespielt haben. Kein Wunder, wo es sich doch um ein Erbstück seines Großvaters handelt. Für eine Fischerfamilie ist das Gold daran so wertvoll wie mehrere Monatseinkünfte – und jetzt hat er ihn ausgerechnet mir vermacht.

Der Kompass klappert leise, sobald ich den Deckel aufschnappen lasse. Auf der Innenseite sind winzige Ziffern in das Gold geritzt. Ich fahre mit dem Daumen über die scharfen Kanten. Offenbar ist die Markierung ganz neu. Koordinaten. Wohin die wohl führen?

Bestimmt eine weitere Erinnerung an David oder seine Familie. Ein Lieblingsort, das würde ich in solch einen wichtigen Gegenstand gravieren.

Der Kloß in meinem Hals gewinnt. Rasch klappe ich den Kompass zu und werfe ihn zurück in die Schachtel, wo er mit einem Rasseln landet. Die Sofadecke über den Kopf gezogen, rolle ich mich zu einer Kugel, presse die Hände auf die Ohren und flüchte in eine Traumwelt, die keinen Widerstand nötig hat.

Die Letzte Welle

Distrikt Vier steht in Flammen. Wortwörtlich. Am ersten Februartag brennen die Schiffe im Hafen. Der Qualm ist meilenweit zu sehen, die Asche regnet selbst auf die Blumen in Annies Garten. Wie Schnee legen sich die Flocken auf den knorrigen Stamm des Flieders und erinnern Finnick an Distrikt Zwölf. Verborgen unter einer ewigen Staubschicht.

Es ist gut, dass Annie an diesem Tag in einer anderen Welt ist, in der sie mit den Löffeln in ihrer Küche spricht und über Witze lacht, die außer ihr niemand hört. So muss Finnick kein schlechtes Gewissen haben, dass er sich fortschleicht; sie merkt es schließlich nicht, wie er sie mit diesem beängstigenden Erlebnis alleine lässt. Das weiß er. Eigentlich.

Doch als er von einer der höher gelegenen Marktterrassen neben Amber und Lana sowie unzähligen Schaulustigen auf den Hafen schaut, erfüllt Angst sein Herz. Der Drang, Annie in die Arme zu schließen, weit mit ihr wegzurennen, von allem hier – noch nie ist er derart groß gewesen. Emerald Isle reicht lange nicht mehr, um diesem Albtraum zu entkommen.

Von einem der Wachtürme an der Hafenkante hängen die Leichen von fünf Friedenswächtern. Die Nachtwachen. In roter Farbe – Finnick weiß einfach, dass es Blut ist; ihr Blut – sind auf die Brustplatten ihrer Rüstungen Katniss’ Spotttölpel-Emblem und eine stilisierte Welle gemalt. Über dieser improvisierten Hinrichtung verkündet ein Banner aus aneinandergenähten Stoffstücken: ‚Das Wasser kommt – Freiheit für das Volk!‘

Hinter einer Barrikade aus Schutt, Strandgut und alten Fischernetzen stehen vermummte Gestalten, Tücher über Mund und Nasen – auch hier ist das Wellensymbol wieder zu sehen, weiße Farbe auf blauem Grund. Die Widerständler halten Speere, Harpunen, sogar Dreizacke. Aus harmlosem Arbeitsgerät werden plötzlich Waffen für eine Rebellion.

Das ist es, was hier passiert. Ganz ohne Distrikt Dreizehn, ohne großen Plan oder Führung von außen. Ungeplant, blutig, chaotisch. Distrikt Vier rebelliert.

Vor der improvisierten Blockade drängen sich hunderte Menschen. Fischer, Hafenarbeiter, Anwohner. Alle treten sich gegenseitig auf die Füße, rufen nach Wassereimern und erreichen damit nur eines: Sie behindern die Arbeit der Friedenswächter.

Die kleine Phalanx weiß uniformierter Soldaten geht im Meer aus Distriktbürgern unter und obwohl sie regen Gebrauch von ihren Schlagstöcken machen, wogt die Menge weiter um sie her, ein lebendiger Schutz für die Aufständigen.

Alleine sind die Menschen nur alte Frauen mit zittrigen Händen, ausgezehrte Fabrikarbeiter oder Invalide mit Holzbeinen – doch in der Masse werden sie zu einer wütenden Brandung, die alles zwischen sich zerreibt. So auch Snows Schergen, die voneinander getrennt werden, bis die einsamen weißen Uniformen ganz aus Finnicks Blickfeld verschwinden.

Im Hintergrund fallen die ersten Schiffe den Flammen zum Opfer, ihre brennenden Planken treiben durch das Hafenbecken und setzten weitere Rümpfe in Brand. Fisch wird es für eine lange Zeit deutlich weniger geben, begreift er. Vor seinen Augen wird gerade die Lebensgrundlage eines ganzen Distrikts vernichtet.

In Anbetracht der Umstände ist es lächerlich, dass er trotzdem voller Sorge das Inferno nach Annies Schiff absucht. Was zählt schon das Fischerboot einer Siegerin im Vergleich zu den Booten all jener, die wirklich darauf angewiesen sind?

Doch die Peppersheep bedeutet ihr so viel; ist die letzte Erinnerung an ihre Familie. Die Restauration hat ihr geholfen, sie in dieser Welt zu erden. Bei ihren Ausflügen auf das offene Meer haben sie beide sich so frei gefühlt wie sonst nur auf Emerald Isle. Es ist nicht irgendein Boot, das man einfach austauschen kann, nicht für ihn und ganz sicher nicht für Annie.

Und so kann Finnick nicht anders – als er die entflammte Peppersheep in ihrer roten Speziallackierung ausmacht, treten Tränen in seine Augen. Er will schreien und toben. Am besten da unten, in der maskierten Menge. Will die Fäuste ballen und Rache am Kapitol nehmen, dass diesen Aufstand überhaupt erst notwendig gemacht hat.

Eine Hand landet auf seiner Schulter und drückt sie so fest, dass es schmerzt. Ambers Fingerspitzen wissen genau, wo sie über seinem Schlüsselbein zugreifen müssen, damit es ihn aus seiner Starre reißt. Gnadenlos, aber es funktioniert. Jedes Mal.

»Das ist außer Kontrolle«, flucht Amber leise. Um sie her ist wütendes Gesumme wie in einem Jägerwespenstock, alle Umstehenden tuscheln – entweder voller Angst oder Wut –, sodass ihre Worte beinahe untergehen. Aber jahrelange Vorsicht hat sie gelehrt, die Stimme besser nicht unnötig zu erheben. »Wenn die so weiter machen ... wer weiß, was dann passiert. Stell dir nur vor, Snow wirft Bomben ab. Dann ist alles vorbei, bevor es überhaupt angefangen hat.«

Finnick schüttelt den Kopf. »Das kann er nicht tun. Er braucht den Distrikt, unsere Lebensmittel. Stell dir vor, er müsste seinen Leuten erklären, dass sie keine Scampi mehr für ihre Partys bekommen. Schon mit der Knappheit im letzten Jahr sind sie nicht gut umgegangen. Wenn das jetzt käme, stünde es der Zugabe einer Niederlage gleich. Das wird er nicht tun ... noch nicht.« Mit einem resignierten Ausatmen stützt er die Hände auf die steinerne Brüstung vor sich. »Aber ... diese Menschen sind in großer Gefahr. Snow wird etwas unternehmen und ich will nicht wissen, was

Es ist ein eindeutiges Zugeständnis an Ambers Nervosität, dass sie sich auf die Unterlippe beißt. In all den Jahren, die Finnick sie nun schon kennt, kann er die Gelegenheiten, bei denen sie sich derart hat gehen lassen, an einer Hand abzählen.

»Irgendetwas müssen wir doch tun können«, stößt sie schließlich hervor – aber nicht ehe ihr Blick zweimal von links nach rechts gehuscht ist. »Wir können doch nicht einfach zusehen!«

Lana ergreift ihre Hand. »Dann sollten wir gehen – von der Akademie aus hat man einen schlechten Blick auf den Hafen.«

Die Botschaft ist eindeutig. Lasst uns nicht hier darüber reden.

Obwohl sie zwei Sieger und die Leiterin der Akademie sind, weicht niemand vor ihnen zurück, als sie sich rückwärts durch die Masse drängeln. Alle haben nur Augen für den brennenden Hafen und die Wagen voller Friedenswächter, die jetzt mit quietschenden Reifen vor der Barrikade halten. Mit dem Rücken zur Szene hört Finnick noch, wie die ersten Strahlen der Wasserwerfer die Menge zersprengen.

Im Viertel rund um die Akademie hingegen ist es totenstill. Selbst die Straßenkatzen scheinen die gärende Unruhe zu bemerken und haben sich verkrochen. In der alten Lagerhalle ist dafür die Welt stehen geblieben. Da warten die Trainingsspeere auf künftige Tribute und alles erweckt den Anschein, dass gleich eine Horde an Mädchen und Jungen hereinplatzt, um Finnick und Amber von sich zu überzeugen.

»Wie viele bleiben noch?«, fragt er Lana in die allumfassende Stille hinein.

»Eine Handvoll. Diejenigen, die sich nicht trennen können.« Die Trainerin hält immer noch Ambers Hand und macht keine Anstalten, sie loszulassen. »Die paar Unglücklichen, für die das hier ihr Leben ist, genauso wie für mich.«

Amber öffnet den Mund, stößt dann jedoch nur Luft aus. Sie tauscht einen festen Blick mit ihrer langjährigen Freundin, bis diese die Augen abwendet und mit den Schultern zuckt.

»Was soll man tun? Ihr habt es auch gesehen. Die Leute sind es satt, für ihr Kapitol zu sterben.«

»Das werden sie aber, wenn sie sich nicht geschickter anstellen.« Amber starrt Finnick an.

»Ich weiß, ich weiß. Ihr habt recht. Aber was sollen wir tun? Wenn wir nicht aufpassen, können wir den ganzen Plan von Dreizehn immer noch zum Scheitern bringen. Was wenn Snow zu früh Wind davon bekommt?«

»Meinst du nicht, dass der Alte längst ahnt, dass etwas schiefläuft?« Lana hat ihre Hand aus Ambers gezogen und wirbelt gedankenverloren einen Holzspeer um ihren Oberkörper. »Ich meine ... Am hat mir erzählt, dass es in Elf ähnlich aussieht wie hier. Die Nachricht von der Rebellion wird sich verbreiten, so oder so.«

Finnick zieht eine Augenbraue an seine Co-Mentorin gewandt hoch, doch die beachtet ihn gar nicht, sondern hat nur Augen für Lanas Künste im Speerwirbeln.

»Also glaubt ihr, dass wir die Menschen aus Vier mit Dreizehn zusammenbringen sollten?«

Amber zuckt mit den Schultern. »Im besten Fall – ja. Allein sind diese Menschen dem Untergang geweiht. Das hier ist die Chance, auf die wir immer gewartet haben! Mit vereinten Kräften können wir es wirklich schaffen!«

Klappernd schlägt Lanas Speer auf den Boden. Sie hat den letzten Wurf hinter ihrem Rücken versaut, doch sie macht keine Anstalten, die Übungswaffe aufzuheben. »Das ist jetzt oder? Das wird die große Rebellion. Und wenn es schiefläuft, sterben wir alle.«

»Ich hoffe es.«

Für einen Moment tauschen die beiden Frauen ein kleines, seltenes Lächeln, das Finnick nicht wirklich versteht. Seine Gedanken sind noch bei brennenden Schiffen und sterbenden Menschen.

»Snow wird uns nicht davonkommen lassen, wenn er bemerkt, dass wir mit den Aufständen zu tun haben. Wir müssen wirklich vorsichtig sein. Falls die Leute da draußen überhaupt noch auf uns hören werden. In ihren Augen sind wir schließlich genauso der Feind wie das Kapitol.«

Mit einem Seufzen verschränkt Amber die Arme vor der Brust. »Ich weiß, dass du dir Sorgen um Annie machst. Und sie braucht dich wirklich. Lass mich gehen. Ich kann mich unter die Menge mischen und sehen, ob ich herausfinde, wer diese Aufstände organisiert. Wer hinter dieser Welle steckt. Und dann wollen wir doch mal sehen, ob die mir nicht zuhören werden.«

Lana sieht aus, als wenn sie ihrerseits widersprechen will, doch Finnick kommt ihr mit einem müden Kopfschütteln zuvor.

»Wir alle tragen dieses Risiko. Ich werde es genauso versuchen wie du. Auch für Annie. Sie verdient eine bessere Welt.«

 

Im Siegerdorf ist die Welt noch in Ordnung, wenn man von der Asche absieht, die wie ein Leichentuch darüber ruht. Annie sitzt mit einer Strickdecke auf dem Sofa, ihre Hände um eine Teetasse geschlungen, aus der es längst nicht mehr dampft. Das Porzellan ist kalt unter Finnicks Fingern, als er Annies Handrücken umfasst.

Sie hebt nur langsam den Blick, doch in ihren Augen bahnt sich ein Lächeln an. Ihre Lippen sind blutig gebissen, sodass die Wunden sich infolge der Bewegung spannen. In ihr tobt einmal mehr ein unsichtbarer Kampf.

»Hey«, flüstert Finnick.

»Hey.«

Er entwindet ihr vorsichtig die Tasse kalten Tees, bevor er sie in die Arme zieht und seine Stirn gegen ihre lehnt.

»Wo warst du?«

»Am Hafen.«

»Ist alles fort? Die Schiffe?«

»Ich fürchte ja.«

»Das war nicht das Kapitol oder?«

»Nein.«

Sie seufzt kaum hörbar und schlingt die Arme fester um ihn. »Ich will keine Angst haben, Fin, aber ... es macht mir Angst.« Ihr Atem streift seinen Nacken, sodass die Worte ihm eine Gänsehaut über den Rücken jagen. »Es macht mir Angst, weil ich diese Menschen verstehe. Ich verstehe, dass sie nicht mehr leiden wollen! Und trotzdem ... habe ich Angst vor dem, was sie auslösen werden.«

Es wundert ihn nicht, dass sie längst im Bilde über alles ist, was in Distrikt Vier vor sich geht. Er wäre ein Narr, wenn er geglaubt hätte, dass die Geschehnisse an ihr vorbeiziehen, nur weil sie in ihrer Welt unterwegs ist.

Und Finnick weiß seit jeher, dass er nicht die Kraft in sich hat, Annie in die minutiöse Planung der Rebellion von Seiten Distrikt Dreizehn einzuweihen. Aber spätestens diese Aussagen zementieren seinen Entschluss. Selbst wenn er wollte, es geht nicht. Die Worte verkanten sich wie Seeigel in seinem Hals.

»Dir wird nichts passieren«, murmelt er in ihr Haar, das so gut riecht, nach Sonne, Salz und Sommerblüten. »Was auch passiert, ich werde auf dich aufpassen. Das verspreche ich dir. Hier sind wir sicher, nur wir beide. Ok?«

Sie nickt, ehe sie einen Kuss in seine Halsbeuge drückt. Nur eine winzige Berührung ihrer Lippen, doch es fühlt sich an wie ein Bad in der winterlichen See und gleichzeitig geht die Sommersonne in seiner Brust auf.

»Sie haben übrigens Davids Vater gehängt. Für Hochverrat.« Annies Stimme hat diesen desinteressierten Flüsterton angeschlagen, der eigentlich nur Tarnung dafür ist, dass etwas sie wirklich aufwühlt.

»Oh. Woher weißt du ...?«

»Die Liste am Markt. Ich habe ihn besucht, bevor die Strafe vollstreckt wurde.« Gedankenverloren zupft sie an seinem Pullover. »Es tut mir leid, dass ich dir nichts davon erzählt habe, Fin. Aber ich wusste selber nicht, was ich dort tue. Warum ich ihn sehen musste, nach allem, was er und seine Frau mir an den Kopf geworfen haben. Ich wusste nur, dass ich es muss

Finnick schluckt angestrengt gegen die Seeigel in seinem Hals an. »Du warst im ... Gefängnis zu Besuch?« Er bemüht sich, seine Stimme ruhig zu halten, doch die letzte Prise Besorgnis schlägt trotzdem durch.

»Isla hat mir geholfen. Niemand hat mich erkannt« Wie zur Beruhigung seiner Sorgen malt Annie ein Herz unter sein Schulterblatt. »Ich habe mich nicht von den Kameras filmen lassen. Und ich war auch gar nicht lange da. Er hatte mir nämlich nichts zu sagen. Er hat nur davon gebrüllt, dass die Letzte Welle den Distrikt befreien wird oder so.«

Die Besorgnis ob Annies Alleingang streitet sich in Finnicks Brust mit der Wut über die Familie, die Annie Trost hätte spenden können und sie stattdessen nur verstoßen hat. Diese Behandlung hat sie nicht verdient – und es ist einfacher, wütend auf fremde Menschen zu sein, als das Herz von Furcht malträtieren zu lassen.

»Jedenfalls hatte das Kapitol recht mit dem Hochverrat«, fährt Annie leise fort. »Er war an diesen ganzen Aufständen beteiligt. Und ich habe ihn verstanden. Irgendwie habe ich verstanden, warum er mich so hasst. Das Kapitol hat sie alle umgebracht. Meinen Vater. Meinen Bruder. David! Und sie werden nie aufhören, mir alles zu nehmen, nur weil ich bin wie ich bin. Dabei haben sie mich erst dazu gemacht!«

»Shh.« Sacht wiegt Finnick Annie in seinen Armen. »Shhh, Annie, alles gut. Das ist furchtbar, aber nicht deine Schuld. Außerdem sagte ich doch, dass ich immer bei dir sein werde.«

»Versprich nicht, was du nicht halten kannst.«

Er will ihr widersprechen, voller Empörung ... aber sie hat recht. Er kann es nicht, nicht bei allem, was er am Morgen mit Amber und Lana besprochen hat.

»Aber ich werde alles daran setzen«, erwidert er stattdessen. »Das Kapitol wird mich nicht kampflos bekommen, wenn es darauf aus sein sollte.«

Annie schnieft leise, doch Tränen folgen keine. Sie drückt sich nur fester an seine Brust und malt fast schon trotzig weitere Herzen auf seinen Rücken. »Danke, dass du verstehst, warum ich ihn trotzdem besuchen musste.«

»Natürlich. Sie waren auch deine Familie, das weiß ich doch. Ich hätte dich auch gehen lassen, wenn du erst mit mir darüber gesprochen hättest.«

Wie ein Kätzchen zieht Annie die Knie an die Brust, ein erschöpftes, aber doch irgendwie glückliches Seufzen auf den Lippen. Nur Finnick kann nicht vergessen, was sie über ihren einstigen Schwiegervater in spe erzählt hat. Dass er zurecht verurteilt wurde. Dass er ihr gegenüber die Organisation der Aufstände zugegeben hat. Fast hätte er die Chance gehabt, einen Zugang zu den Rebellen des Distrikts zu bekommen. Aber eben nur fast.

Finnick hält Annie noch eine ganze Weile in den Armen, bis draußen die Sonne untergeht und die Asche im Dunkel verschwindet. Für einen Moment kann er vergessen, dass vor ihrer Haustür längst der Kampf tobt.

Irgendwann ist Annie so müde, dass ihr die Augen an seiner Brust immer wieder zufallen und er trägt sie hoch ins Schlafzimmer. Vorsichtig bettet er sie auf die weiche Matratze, drückt ihr einen Kuss auf die Schläfe. Er ist schon fast an der Tür, als ihre träge Stimme ihn erreicht.

»Kannst du ... kannst du die Kiste auf dem Wohnzimmertisch in den Dachboden bringen? Oder noch besser, nimm sie mit in dein Haus. Es sind seine Sachen und ich – ich will sie nicht sehen.«

»Natürlich.«

 

Er weiß nicht, warum er den Pappkarton öffnet. Er weiß es wirklich nicht. Er weiß nur, dass er es nicht tun sollte. Die Erinnerungen an diesen Mann und seine Familie gehen ihn nichts an, nur weil er sein Leben jetzt mit Annie teilt. Und gleichzeitig drängt es ihn danach, zu sehen; zu verstehen.

Er bereut, sobald er den Deckel aufgeklappt hat und auf den anklagenden Stapel Fotos blickt. Bilder einer Erinnerung, die ihn in seine Eingeweide zwicken, obwohl er genau weiß, dass Annie sich vor Jahren bewusst gegen David entschieden hat.

Der Kompass neben den Aufnahmen ist es allerdings, der seine Aufmerksamkeit gewinnt, bevor er den Karton doch wieder schließt. Das Gold ist kalt unter seinen Fingern und lenkt ihn ab von den Fotografien der unbeschwerten Annie, die aus einem fernen Leben stammen. Ein ums andere Mal klappt er den Kompassdeckel auf und zu, hält seine Hände beschäftigt, während seine Gedanken davonlaufen.

Bestimmt zwanzig Mal hat er den Schließmechanismus betätigt, ehe ihm die eingeritzten Koordinaten auf der Innenseite des Deckels auffallen. Neu im Vergleich zu der abgewetzten Prägung auf der Rückseite, die das Alters des Kompasses offenbart. Und dahinter eine kleine Welle.

Vielleicht ist es der verzweifelte Griff nach dem letzten Strohhalm, dass er aufsteht, sich in einen dunklen Kapuzenmantel hüllt und Amber aus ihrem Haus klingelt. Vielleicht stehen sie gleich vor einem Ort, der gar nichts bedeutet. Vielleicht ist es auch ein Zeichen.

 

Wenn man Finnick fragen würde, wie er sich die Rebellion in Distrikt Vier vorstellt, dann gälten seine Gedanken heruntergekommenen Bootsschuppen irgendwo in den Ausläufern der Stadt, wo geheime Treffen in Arbeitspausen abgehalten werden. In seiner Vorstellung träfen sich Fabrikarbeiter und die ärmsten Distriktbewohner in zerrissenen Kleidern, mit einfachen Holzspeeren bewaffnet. Ständig auf der Flucht vor den Friedenswächtern, Zeit und Ort ihrer Aktionen auf das Einwickelpapier der Fische geschrieben, die am Markt verkauft werden. Ein verzweifeltes Unterfangen, allein aus Wut geboren.

Nichts davon trifft zu.

Die Koordinaten auf dem Kompass des toten Rebellen führen ihn sowie Amber und Lana zu einem schicken Stadthaus, nur zwei Querstraßen vom Justizgebäude entfernt. Dreistöckig, mit dunkelblauen Fensterläden und Balkonen, die über das Straßenpflaster ragen. An einer Wäscheleine zwischen dieser und der gegenüberliegenden Fassade hängen bunte Kleider, die kein bisschen geflickt sind, sondern von gewissem Wohlstand zeugen. Hinter den zugezogenen Vorhängen im Erdgeschoss brennt gedimmtes Licht, ansonsten liegt das Haus im Dunklen.

Eine große Muschelschale neben der Tür informiert Besucher darüber, dass hier Familie Pescéano wohnt. Kein Name, der Finnick etwas sagt. Dafür ahnt er, dass hier Kinder zuhause sind, denn auf der perlmutternen Schale sind lauter kleine Fingerabdrücke, die bunte Fische formen.

»Das kann es nicht sein«, spricht Amber aus, was er denkt. »Lass mich noch mal schauen!«

Stumm reicht Finnick ihr den Kompass, ohne den Blick von der Hausfront zu wenden.

Lana, die bei Amber zu Besuch war, als er diese abgeholt hat, und die sich das Abenteuer nicht nehmen lassen will, tritt neben ihn, den Kopf ebenfalls in den Nacken gelegt. »Verdammt, wenn das ihr Haus ist, dann haben sie es echt gut. So schön habe ich in meinem ganzen Leben nicht gewohnt.«

An ihrer Seite flucht Amber leise und schüttelt das kleine Navigationsgerät, das eigentlich für die Hochseenavigation gemacht ist. »Komm schon, Mistding!«

Finnick wirft ihr einen warnenden Blick zu. »Nicht so laut.«

»Sag das dem Scheißgerät«, zischt Amber zurück. »Es muss irgendeine Macke weghaben. Da geht gar nichts mehr, immer wenn ich die Koordinaten eingebe, lande ich hier. Als wenn das Teil wirklich nur auf dem Meer funktioniert, das ist doch lächerlich!«

»Gib mal her.«

Mit einem harten Schlag pfeffert Amber das Teil vor Finnicks Brust. Sie hat recht – das Display zeigt ihnen unmissverständlich an, dass sie ihre Koordinaten gefunden haben. Er gibt sie noch einmal ein – was ihm einen bitterbösen Seitenblick von Amber einbringt –, aber nichts ändert sich.

»Na schön, gehen wir doch mal davon aus, dass wir hier richtig sind«, merkt Lana mit einem Schulterzucken an. »Warum auch nicht? Wir sollten es einfach hinter uns bringen.«

Bevor Finnick oder Amber sie aufhalten können, betätigt sie den Klingelknopf unterhalb der Muschelschale. Das helle Glockenläuten hören sie selbst durch die schwere Holztür, ebenso wie die näherkommenden Schritte.

Amber stöhnt leise und zieht ihre Kapuze tiefer in die Stirn, dann geht die Tür auch schon einen Spaltbreit auf. Eine zierliche Frau lugt hindurch, schätzungsweise in Floogs Alter. Ihr dunkles Lockenhaar wird von einem bunten Tuch zusammengehalten und trotz der späten Uhrzeit trägt sie noch eines der vornehmen Kleider, die auch auf der Wäscheleine hängen. Als hätte sie Besuch erwartet.

Irgendetwas an dem Bild kommt Finnick vage bekannt vor. Hat er sie schon einmal gesehen – vielleicht sogar am Hafen, unter den vermummten Rebellen? Er kann es nicht sagen.

Bei seinem Anblick zieht die Frau misstrauisch die Augenbrauen zusammen. »Ja? Kann ich Ihnen helfen?«

Finnick nimmt einen tiefen Atemzug und tritt vor, sodass das Licht aus dem Hausflur auf ihn fällt. Er schiebt die Kapuze ein Stück zurück, bemüht um ein ehrliches Lächeln – nicht das Kameralächeln, das man von ihm kennt.

Die Augen der Frau weiten sich, doch ihr Mund wird im selben Moment zu einem schmalen Strich. Nicht ein Laut des Erkennens kommt über ihre Lippen. Nicht einmal dann, als Amber sich mit verschränkten Armen neben ihn stellt.

»Wir wollen nur jemandem etwas zurückbringen«, erklärt Finnick in lockerem Plauderton, doch mit gedrückter Stimme. Er hält den Kompass so vor, dass die junge Frau die eingeritzten Ziffern nebst Welle im Deckel sieht. »Ich glaube, das könnte jemandem aus diesem Haus gehören?«

Panik flammt in den Augen der mutmaßlichen Mrs Pescéano auf. Sie macht einen kleinen Schritt zurück und Finnick fürchtet schon, dass sie die Tür zuschlagen wird. Doch dann tritt sie zur Seite.

»Kommen Sie bitte herein. Aber schnell, bevor die Katze entwischt.«

Von einer Katze ist weit und breit nichts zu sehen, als Finnick rasch an der Frau vorbei drängt, dafür umarmen ihn prompt Wärme und Geruch des fremden Hauses. Direkt von dem kleinen Vorraum hinter der Tür tritt er in das Wohnzimmer, das ihn ein wenig an die Bilder von Annies altem Zuhause erinnert, nur in einer wohlhabenderen Ausgabe.

Er selber hat nie so ein Haus gekannt, geschweige denn diese Fülle an persönlichen Gegenständen und Bequemlichkeiten. Alles, was er besitzt, stammt vom Kapitol. Und letztlich ist seine Siegervilla zwar groß, aber leer. Hier allerdings reihen sich Bilderrahmen auf dem Fenstersims aneinander, jemand hat gleich mehrere bunt durcheinandergewürfelte Kerzen angezündet und Stapel von zerlesenen Büchern bedecken die wenigen freien Flächen.

Alles strahlt eine Gemütlichkeit aus, die Finnick nur von der heruntergekommenen Villa auf Emerald Isle kennt – oder in seltenen Momenten in Annies Wohnzimmer im Siegerdorf empfindet. Nur der Fernseher, auf dem tatsächlich ein Programm des Kapitols läuft, bricht mit dem Wohlgefühl.

Er sieht eine Sprecherin in einem Blazer mit Schulterpolstern, die so spitz sind, dass sie an Speerspitzen erinnern. Doch anstatt von Unruhen im Land zu berichten, widmet sie sich ausführlich der Schilderung einer Feierlichkeit, bei der die Regierung dem Erlass irgendeines bedeutenden Gesetzes gedenkt. Was ihn wieder daran erinnert, warum er hier ist und nicht dort im Kapitol die Hand von irgendjemandem hält, der Snow gut bezahlt.

»Mrs Pescéano«, wendet er sich an ihre unfreiwillige Gastgeberin, »unser überraschender Besuch tut mir wirklich leid –«

Die Frau würgt ihn mit einer schneidenden Handbewegung ab. »Spar dir die überflüssigen Worte.«

Auf diese Art kommt sie Finnick erst recht bekannt vor. Er durchforstet geistig die Erinnerungen an die Familien von seinen 14 toten Tributen, doch an eine wie Mrs Pescéano erinnert er sich nicht – und dabei vergisst er weder die Kinder noch die Gesichter auf ihren Beerdigungen. Vielleicht gehört Mrs Pescéano auch zu jemandem, der vor ihm kam ...

Die mutmaßliche Rebellin mustert ihn ihrerseits ebenso intensiv, als müsse sie erst überlegen, was sie mit ihm anfangen soll. Ein wenig wie die Karrieretribute in der Arena, wenn sie sich nicht entscheiden können, ob sie dem neuen Verbündeten nicht doch den Kopf abhacken. Schließlich deutet sie auf den Kompass in seiner Hand. »Woher habt ihr den?«

»Von einem ... Bekannten«, entgegnet Finnick.

»Das glaube ich kaum. Ich kannte den wahren Besitzer nämlich. Also noch einmal: Woher habt ihr den Kompass?«

Finnick hört, wie Amber an seiner Seite tief Luft holt. Er ahnt, was ihr Unflätiges auf der Zunge liegt und so bleibt ihm keine Zeit, zu überlegen. In Gedanken schickt er ein Stoßgebet an die Götter vergangener Länder, an die er gar nicht glaubt – auf dass er seine Worte nicht bereuen wird.

»Ich gebe zu, es ist nicht mein Bekannter, dem dieser Kompass gehört hat. Aber der einer Person, die mir – uns – nahesteht. Jemanden, den Sie wahrscheinlich auch kennen, wenn Sie uns erkannt haben. Jedenfalls sind sie und der Besitzer des Kompasses sind nicht im Guten auseinandergegangen, aber als letzte Kontaktperson hat sie dennoch dieses Vermächtnis von den Friedenswächtern erhalten. Und so bin ich am Ende zu diesem Kompass gekommen.«

Sein Gegenüber zieht die Augenbrauen zusammen. »Und weshalb seid ihr dann hier? Ihr wisst offenbar, dass der Besitzer tot ist. Hier gibt es niemanden, der diesen Kompass vermisst. Er erfüllt für uns keinen Zweck mehr.«

»Aber die Wellen vermissen etwas«, schaltete Amber sich ein. »Gerade jetzt, in diesen schwierigen Zeiten ...«

Mrs Pescéano, von der Finnick immer noch nicht weiß, ob sie das überhaupt ist, tritt einen Schritt zur Seite und stützt eine Hand auf dem Esstisch ab – unmittelbar in Reichweite des dicken Kerzenständers darauf. Ihre Augen blitzen voller Entschlossenheit zu der potentiellen Waffe.

»Was meine Begleiterin damit ausdrücken möchte«, interveniert Finnick hastig, »ist, dass Sie Unterstützung brauchen. Deshalb sind wir hier.« Er dreht den Kompass so in seiner Handfläche, dass das Kerzenlicht sich in der eingeritzten Welle auf der Deckelinnenseite bricht. »Ein einzelner Wassertropfen trocknet schnell im Sonnenlicht, doch ein ganzer Ozean ist stark. Und was ist ein Ozean, wenn nicht eine Ansammlung unzähliger Wassertropfen?«

Der Blick seiner Gesprächspartnerin ruht einen Moment auf dem Wellensymbol, ihre Lippen zu einer harten Linie gepresst, die trotzdem nicht verbergen kann, dass ein leichtes Zittern durch sie zieht. Dann hebt sie wieder den Kopf und die Strenge ist zurück auf ihren Zügen. »Und wenn ich euch sage, dass ihr hier nicht findet, was ihr sucht?«

»Dann werden wir es anders versuchen. Wobei das Risiko besteht, dass die Friedenswächter auf unsere Versuche aufmerksam werden. Eine Gefahr für beide Seiten. Aber wenn Sie uns nicht helfen können ... Wir werden auch alleine kämpfen. Wir müssen einfach.«

Finnick zuckt mit den Achseln, klappt den Kompass zu und tut, als würde er in Richtung Haustür gehen wollen. Einen Augenblick lang verharrt Mrs Pescéano still, dann wirbelt sie herum und greift nach seinem Handgelenk. Ihre Finger sind eiskalt, der Griff fest – genauso wie ihr Blick, der Finnick aus dunklen Augen durchbohrt.

»Wie viel wisst ihr?«

»Nicht genug. Aber wir haben mit eigenen Augen gesehen, was am Hafen passiert ist. Das reicht uns. Wir wollen wissen, ob wir hoffen können. Helfen können.«

»Du bist ein Sieger.« Mrs Pescéano bringt es nicht als Vorwurf heraus, eher als Feststellung. »Ein beliebter Sieger. Hast du überhaupt eine Ahnung, welchen Preis du bezahlen wirst, wenn dein Ungehorsam bekannt wird?«

Dazu kann Finnick nur bitter auflachen. »Den schlimmsten Preis zahle ich bereits jedes Mal, wenn ich das Kapitol betrete. Also ja – ja ich weiß, was auf dem Spiel steht. Genau deshalb bin ich ja hier. Damit es ein Ende hat.«

Ein grimmiges Lächeln hebt Mrs Pescéanos Mundwinkel. »Niemand ist wütender als die Personen, die das Kapitol lieben sollten, nicht wahr? Der mächtigste Feind ist der, den man sich selber schafft. Das hat meine Mutter zumindest immer gesagt.«

Verwundert mustert Finnick sie. Mit dieser Reaktion hat er wiederum nicht gerechnet. Offenbar sieht man ihm seine Verwirrung an, denn Mrs Pescéanos lacht leise auf.

»Meine Mutter war Ophelia Waterstone«, erklärt sie mit einem Zwinkern.

Er schnappt nach Luft. Auch Amber und Lana klappen die Münder auf. Und plötzlich ist klar, warum der Anblick von Mrs Pescéanos so bekannt ist. Es fällt Finnick wie Schuppen von den Augen – sie ist ganz das Ebenbild ihrer Mutter, dass er sich nur wundern kann, weshalb es ihm nicht eher eingefallen ist. Immerhin verdankte er Ophelia einst seinen Platz in der Akademie. Damals, vor so vielen Jahren. Vor dem Tod von Distrikt Viers zweiter Siegerin aller Zeiten. Überlebende der 23. Hungerspiele, Begründerin des Tributtrainings.

»Du ... du bist Marlia Waterstone?«, fasst Amber das Erstaunen in Worte. »Die Fast-Tributin der 52. Hungerspiele?«

Mrs Pescéanos lächelt nachsichtig. »Ich bin Marlia, ja. Allerdings nicht mehr Waterstone. Ich habe den Nachnamen meines Mannes angenommen. Das Erbe meiner Eltern wiegt schließlich so schon genug.«

Einen Moment schweigen alle, bis Lanas belegtes Räuspern die Stille als Erstes bricht. Die heutige Leiterin der Akademie blinzelt ein paar Mal, aber ihre Augen schimmern trotzdem feucht. »E-es tut mir so leid –«

»Wofür? Für den Tod meiner Mutter?« Mit einer beneidenswerten Ruhe winkt Marlia Pescéanos ab. »Als ihre Schülerin hättest du ihn nicht verhindern können. Das Kapitol bekommt schließlich immer, was es will. Und du hast dich wenigstens gut um ihr Erbe gekümmert. Zumindest hatten unsere Tribute in den letzten Jahren so etwas wie eine Chance.«

»Aber ich zweifle immer mehr daran, ob das etwas ist, worauf ich stolz sein sollte«, gesteht Lana mit brüchiger Stimme, die Finnick so gar nicht von ihr kennt. »Vor allem nach den letzten Tributen, die ich zum Tode verurteilt habe ... nach Eric, nach Cordelia ...«

»Sag so etwas nicht!«, fährt Amber dazwischen. Sie ergreift mit beiden Händen die ihrer Freundin, die mit einem Mal viel kleiner erscheint, obwohl sie doch so groß und trainiert ist wie die härtesten Seemänner und Frauen des Distrikts. »Wenn, dann sind wir alle Schuld. Wir alle haben dieses System am Leben gehalten!«

Marlia zuckt angesichts von Lanas Selbstvorwürfen allerdings nur mit den Schultern. »Ich weiß ehrlich gesagt nie ganz, ob ich die Idee der Akademie verdammen oder lieben soll. Wenigstens nimmt sie vielen Kinder, die nie eine Chance hätten, die Angst vor der Ernte. Und das ist ein Gefühl, was ich nur zu gut kenne. Aber vermutlich kann ich mir darüber ohnehin kein Urteil erlauben, immerhin haben Freiwillige mir nur das Leben gerettet, aber ihr seid diejenigen, die das das Training – oder gleich die Arena – überlebt haben. Und jetzt seid ihr hier und wollt dem Regime die Stirn bieten. Das muss etwas Gutes heißen, schätze ich.«

Finnick erwidert Marlias Worte mit einem sanften Lächeln, auch in Lanas Richtung. »Man könnte es wohl Schicksal nennen, dass unsere Wege sich auf diese Art kreuzen.«

»Oder Fügung.« Ein Funkeln tritt in Marlias Augen. Sie strafft die Schultern und streicht den Rock ihres Kleides glatt. »Ausgerechnet heute treffen wir von der Letzten Welle uns. Und wir wissen nicht, wie oft das noch möglich sein wird. Womöglich ist das heute also zugleich auch die letzte Chance. Unsere Informationen verbreiten sich nur noch langsam durch den Distrikt, seit die Friedenswächter verstärkt wurden und so viele von uns festgenommen haben. Ihr könnt euch also noch glücklich schätzen, wenn heute überhaupt ein paar Leute zusammenkommen.«

»Das ist ein Problem, bei dem wir vielleicht sogar helfen können«, entgegnet Finnick. Er muss sich darum bemühen, seine Stimme ruhig zu halten, denn sein Herz schlägt längst Saltos vor lauter Aufregung. Bis zuletzt hat er gezweifelt, doch mit einem Mal schmeckt er die Hoffnung in der Luft wie süßen Blumenduft im Sommer.

»Wir kommen nicht mit leeren Händen«, sprudelt es aus ihm hervor. »Wir können euch Informationen anbieten. Aus anderen Distrikten – von anderen Rebellen

Das Funkeln in Marlias Augen wächst sich zu einem wahren Feuer aus. Ihre Wangen werden roter und sie beißt sich auf die Lippe, als würde sie andernfalls befürchten, Finnick gleich mit Fragen zu bestürmen. Vielleicht schmeckt auch sie die Hoffnung.

»Dann kommt«, murmelt sie nach kurzer Bedenkzeit hastig. »Ich zeige euch, wie ihr zu unserem Treffpunkt kommt.«

Finnick folgt ihr in die Küche, wo Marlia eine Klappe öffnet, die in den Boden eingelassen ist – ein Gemüsefach, das ohne Kühlung frisch hält. Es ist bis zum Rand mit Kartoffeln und anderen Lebensmitteln gefüllt, doch Marlia hebt den gesamten Korb einfach heraus. Dann tastet sie mit den Fingerspitzen über die hölzerne Auskleidung des Bodenlochs, bis sie eine Einkerbung findet.

Zu Finnicks Erstaunen öffnet sich eine zweite Klappe, die den Blick auf eine enge Stiege freigibt. Er kann nicht weiter als ein paar Handbreit sehen, so dunkel ist es in dem Loch. Ein kühler, modriger Mief steigt aus der Finsternis, der nach Meer und Mysterien riecht.

»Es ist nicht gerade einladend, ich weiß«, sagt Marlia. »Aber von den alten Tunneln unter dem Stadtkern gibt es keine Karten, weder im Distrikt noch Kapitol, also ist man nirgends sicherer als dort unten. Und man kommt nur dorthin, wenn man jemandem mit einem Haus in der Altstadt kennt.« Sie gräbt zwischen den Kartoffeln herum und zieht schließlich eine Taschenlampe hervor, die sie Finnick in die Hand drückt. »Hier. Ich muss noch auf jemand anderen warten, aber ihr geht besser schon einmal. Es gibt nur einen Weg, ihr könnt es nicht verfehlen.«

Finnick tauscht einen Blick mit Amber und Lana, die beide synchron nicken. Falls das hier ein Fehler ist, dann ist es ohnehin zu spät. Also schaltet er die Taschenlampe ein und zwängt sich durch die Öffnung des Gemüsefachs, die gerade so breit genug für seine Schultern ist. Jemand wie Trexler würde unmöglich hier durch passen.

Trotz der Taschenlampe empfängt ihn nur Dunkelheit. Der Lichtstrahl trifft auf nackten Stein, an dem hin und wieder feuchte Flecken prangen, aber das war es. Je tiefer er hinabsteigt, desto intensiver wird der Geruch nach Salzwasser und Algen, fast so, als stünde er am Strand.

Hinter sich hört er Ambers und Lanas Tritte auf der Stiege, gepaart mit ihrem nervösen Atem. Was, wenn sie von Friedenswächtern erwartet werden? Oder dort unten festsitzen? Hat das Tunnelsystem freie Ausgänge? Er hat keine Ahnung, denn bis eben wusste er nicht einmal von den Tunneln. Welchem Zweck mögen sie wohl einst gedient haben? Ihm fallen nur grausige Möglichkeiten ein, ganz wie in den unteren Etagen des Kapitols, bei Dr. Gaul ...

Finnick zwingt sich, durchzuatmen – was er im selben Atemzug bereut, angesichts der muffigen Luft. Wenigstens erreicht der Lichtstrahl nun endlich den Boden. Ausgetretener Stein erstreckt sich vor ihm, weit bis in die Finsternis hinein. Zu beiden Seiten bedrängen ihn feuchte Wände, die Decke hängt tief. So tief, dass er nur gebeugt weitergehen kann.

Er weiß nicht, wie lange sie dem Tunnel zu dritt stumm folgen, doch irgendwann sieht er in der Ferne ein Licht und während sie immer näher kommen, gesellen sich Stimmen dazu. Aber nicht nur das – von der Tunneldecke hängen plötzlich Schnüre hinab, an die kleine Muscheln geknüpft sind. Das bemerkt er allerdings erst, nachdem er geradewegs in sie hineinläuft und die Vordersten davon klackernd gegeneinanderstoßen. Eines muss er den Rebellen der Letzten Welle lassen – sie bedenken alles Mögliche bei der Sicherung ihrer Treffen.

Nun deutlich vorsichtiger wagt Finnick sich weiter vor, den Lichtstrahl seiner Taschenlampe abwechselnd zwischen Boden und Decke schwenkend. Zusätzliche Fallen oder Warnsysteme erwarten ihn zum Glück nicht, dafür öffnet sich der Gang schlagartig zu einem größeren Raum hin und schon findet er sich den Anhängern der Letzten Welle gegenüber.

Rund um einen kleinen Gitterkorb am Boden, in dem ein Feuer brennt, steht eine bunte Ansammlung der unterschiedlichsten Menschen, die Finnick in Distrikt Vier je auf einem Haufen gesehen hat. Er erkennt eine kaum volljährige Verkäuferin aus der Bäckerei, in der er öfters Annies Lieblingskuchen kauft; einen alten Mann, den er meint von der Hafenkontrolle zu kennen, genauso wie Leute in bunten Kleidern aus dem Tuchbezirk.

Kaum fällt der erste Blick auf ihn und seine Begleiterinnen, verstummen die geflüsterten Gespräche. Als hätte jemand die Fernbedienung ergriffen und die Stummschalttaste gedrückt. Alles scheint fest mit Marlia gerechnet zu haben, doch es braucht nur einen Sekundenbruchteil, damit die Anwesenden sich von der Überraschung erholt haben.

Kollektiv weicht die Menge einen Schritt in die Schatten zurück, bis neben dem Feuerkorb nur noch ein breiter Kerl steht, der ganz sicher sein gesamtes Leben auf See verbracht hat, so wettergegerbt ist sein Gesicht.

»Wer seid’n ihr?«, ruft er ihnen entgegen, während eine Hand zu seiner rechten Seite wandert.

Finnick würde um sein Ruderboot wetten, dass er dort ein Messer trägt. Und eigentlich freut es ihn, dass diese Leute bereit sind, mit dem Feuer zu spielen. Dennoch ist er nicht scharf darauf, es auf ein Handgemenge ankommen zu lassen – selbst wenn er es mit Sicherheit gewinnen würde.

»Marlia hat uns hereingelassen«, antwortet er dem Mann daher laut und deutlich, ohne jedoch zu brüllen. »Sie kommt gleich nach. Hier –« Er zieht den Kompass hervor, die Seite mit den eingeritzten Koordinaten nebst Welle erneut vorgestreckt. »Das Schicksal hat uns zu euch geführt. Wir kommen als Verbündete.«

»So, so ...«, brummt der Kerl. Seine Hand nimmt er trotzdem nicht von der Hüfte. »Du komms’ mir irgendwie bekannt vor. Komm mal näher, Bürschchen.«

Mit einem Seufzen tritt Finnick ans Feuer und zieht seine Kapuze ganz vom Kopf. Prompt hört er aus der Ansammlung in den Schatten ein leises Keuchen. Ein schmächtiger Junge in einem langen Umhang der Segelmacher flüstert deutlich vernehmbar: »Das ist Orgien-Odair!«

Ein unfreiwilliges Lachen entschlüpft Finnick, doch er würgt es in einem Husten ab. »Die Bezeichnung ist mir neu«, murmelt er an Amber gewandt, die sich ein Grinsen ebenso wenig verkneifen kann.

Zum Glück für den Flüsterer werden sie just in diesem Moment unterbrochen, denn weitere Schritte nähern sich von hinten und Marlia taucht in Begleitung einer zweiten Frau auf.

Anstatt Finnick noch eines Blickes zu würdigen, ruft der Mann, der offenbar so etwas wie ein unerklärter Anführer ist, ihr entgegen: »Sag mal, was bringst du uns solche Kapitolslieblinge hierher? Was soll das, Marls? Das hatt’n wir so nicht abgesprochen!«

»Entspann dich, Rob. Sie haben mich gefunden, nicht umgekehrt. Sie wollen hier sein. Und bei Neptun, wir brauchen jede Unterstützung, die wir kriegen können.«

Der Mann namens Rob spuckt auf den Boden. »Pah! Darf ich dich daran erinnern, dass der –« Er hält inne und weist auf Finnick wie eine besonders abstoßende Meeresschnecke. »Dass der mit allem im Kapitol rummacht? Wahrscheinlich lutscht der Snow höchstpersönlich noch –«

Seine nächsten Worte gehen in einem überraschten Gurgeln unter. Amber ist vorgeschnellt und hat eine Hand um seinen Hals geschlossen, die Zähne gebleckt.

»Ich würd vorsichtig sein, mit dem, was du sagst. Du hast nämlich keine Ahnung – Bürschchen.«

»Lass gut sein, Amber.« Finnick schüttelt den Kopf und zieht sie an der Schulter zurück, bevor noch jemand auf die Idee kommt, ein Messer zu ziehen. »Er hat ja recht, dass ich mich mit fragwürdigen Menschen umgebe.«

In den letzten Jahren hat er genug Vorurteile über sich gehört, um solche Worte an sich abperlen zu lassen. Wenn diese Beleidigungen der Preis für eine Rebellion mit echter Hoffnung sind, nimmt er das in Kauf.

»Glück gehabt«, faucht Amber dem Rebellenführer dennoch zu, als sie ihre Hand zurückzieht. »Finnick ist einfach viel zu weich.«

Auf diese Aussage hin spuckt der Mann erneut aus, bevor er sich den Hals reibt und Marlia einen wütenden Blick der Sorte »Was habe ich dir gesagt?« zuwirft. Diese zuckt allerdings nur mit den Schultern.

»Du musstest ja unsensible Worte gegenüber Siegern wählen, Rob. Dümmer wäre es nur, ein Krokodil zu kitzeln. Und sollte sich noch jemand über die drei beschweren wollen ...« Sie hebt die Stimme zu einer unmissverständlichen Ansage: »Erinnert euch daran, wer ursprünglich die Letzte Welle gegründet hat. Nämlich zwei Sieger. Erinnert euch an meine Eltern, Ophelia und Brandon, die vor so vielen Jahren ihr Leben gaben für die Hoffnung auf ein besseres Panem. An mich, die deshalb ihre beiden Geschwister an die Spiele verloren hat. Wir leiden alle unter dem Kapitol und wir werden ganz sicher nicht die Unterstützung jener verschmähen, die Snow aus denselben Gründen hassen wie wir!«

Die Worte hallen von den nackten Steinwänden wieder und niemand wagt es, etwas zu erwidern. Vermutlich hat Finnick sich darin getäuscht, wer hier das sagen hat. Der Typ namens Rob mag zwar eine große Klappe haben, doch auf Marlias Statement hin zieht er den Kopf ein und überlässt ihr kommentarlos das Feld.

Dennoch erkennt Finnick das Misstrauen, das ihm sowie Amber und Lana entgegenschlägt. Wirklich überzeugt haben sie die übrigen Rebellen nicht und allein mit seinem Lächeln oder schmeichelnden Worten wird er sie nie für sich gewinnen. Dafür hoffentlich mit Informationen. Und so packt er aus über die Zustände in Distrikt Elf und den Sturm, der nicht nur in ihrem Distrikt wütet.

Schnell wird klar, dass keines Wellenkinder, wie sich die Anhänger der Letzten Welle selber nennen, Ahnung davon hat, was andernorts geschieht. Mit jedem Wort über zerstörte Lagerhäuser, bestrafte Spielmacher und anhaltende Unruhen rücken sie näher an ihn heran; begierig darauf mehr zu erfahren. Von Dreizehn erzählt er trotzdem nichts, sondern deutet nur vage an, dass es durch ihren Stand Möglichkeiten gibt, Informationen über die Distriktgrenzen hinaus zu erhalten.

»Dann beweis es uns!«, fordert Rob schließlich unwirsch. »Beweis uns, dass du es ernst meinst und besorg uns Bilder, einen Artikel ... irgendwas! Worte kenne ich selber viele, aber ich will Tatsachen sehen!«

Finnick tauscht einen Blick mit Amber. »Es wird etwas dauern«, gesteht er zögerlich. »Aber ja, das kann ich tun. Unter der Voraussetzung, dass diese Informationen unwiderruflich zerstört werden, sobald ihr euch von ihrem Wahrheitsgehalt überzeugen konntet.«

Er wird sich mit Beetee etwas überlegen müssen, um die Letzte Welle einzubinden, aber mancher Preis kann nicht hoch genug sein im Vergleich zu dem, was man gewinnen wird. Doch schlussendlich ist es Lana, die auf sein Versprechen noch eins draufsetzt und womöglich die erste richtige Brücke baut.

»Ich würde euch gerne gemeinsames Training in der Akademie anbieten«, sagt sie mitten in eine Diskussion über den möglichen Angriff einer Fischfabrik hinein.

Bis eben haben Marlia und Rob angestrengt das Für und Wider erörtert, ob man es Distrikt Elf gleichtun sollte und damit die eigenen Leute dem Risiko aussetzen kann, ihre Arbeitsstätte zu verlieren. Nun schauen jedoch alle zu Lana, die sich noch gar nicht beteiligt hat. Ihr Blick bleibt starr auf das brennende Feuer gerichtet, als sie weiterspricht.

»Es sind ohnehin kaum noch Schüler da – und niemand, der im Jubeljubiläum antreten könnte und dabei wirklich eine Chance hat.« Lana seufzt leise. »Ich bringe nicht noch mehr Kinder in ein frühes Grab, weil sie mir vertrauen. Also ...«

Aus dem Augenwinkel sieht Finnick, wie Amber Lanas Hand fest drückt und sie mit einem stolzen Lächeln bedenkt. Davon bestärkt hebt Lana den Kopf und schaut in die Runde.

»Es dürfte ein Leichtes sein, Zeit dafür zu finden, euch zu trainieren. Denn egal wie gut ihr auch plant, ihr seid den Friedenswächtern unterlegen. Körperlich, in Sachen Bewaffnung und allgemein in puncto Fertigkeiten. Snows Männer haben jahrelang trainiert. Bisher war das Glück auf eurer Seite, aber wenn ihr wirklich etwas bewegen wollt ... wird das nicht reichen. Manchmal kann man Feuer nur mit Feuer bekämpfen.«

Einen Moment lang tauschen die Rebellen unsichere Blicke. Gerade die Älteren sehen verlegen auf ihre Hände hinab, die teils schon von Arthritis geplagt sind. Es ist ausgerechnet Rob, der sich als Erster ein Herz fasst.

»Bin dabei. Wollt schon immer mal wissen, ob ich die Spiele nicht hätt überleben könn’.«

Und somit ist es besiegelt. Nach Robs Vorbild folgen einige, die sich ebenfalls bereiterklären, von Lana zu lernen. Ehe Finnick es sich versieht, reißt ihn der allgemeine Enthusiasmus mit, wie die reißende Strömung im offenen Meer.

Bis spät in die Nacht fachsimpeln sie über die nächsten Schritte. Aus einer guten Idee entspringt eine zweite, eine dritte ... und als er spätabends mit Amber in das schlafende Siegerdorf zurückschleicht, scheint er zu schweben. Am liebsten würde er seine Freude laut hinausschreien, doch er begnügt sich damit, neben Annie im Bett zu liegen, einen Arm um sie geschlungen, und davon zu träumen, wie sie über den Horizont ins ewige Blau segeln.

Bald.

Zerbrechliche Zukunft

Heute ist ein perfekter Tag. Die Sonne strahlt auf das Meer hinab und bricht sich glitzernd auf den Wellenkronen. Erste Vogelschwärme ziehen über den wolkenlosen Himmel, kleine Einsiedlerkrebse huschen zu meinen Füßen durch den Sand und der Wind trägt das Versprechen von Frühling mit sich. Vor lauter Glück könnte ich die ganze Welt umarmen.

Warum eigentlich nicht? Ich bin schließlich alleine! Lachend reiße ich die Arme empor, als die eiskalte Brandung meine Zehen streift. Ein Schauer jagt mir den Rücken hinab und ich drehe das Gesicht zur Sonne, um es zum Ausgleich von ihren Strahlen kitzeln zu lassen.

So lebendig habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. In diesem Augenblick scheint der ganze Winter nur ein weit entfernter, böser Traum zu sein. Dabei hat er kaum geendet. Doch von der Bucht auf Emerald Isle aus kann man die Schäden am Hafen nicht erkennen, genauso wenig wie die Galgen, die Toten oder die neuen Patrouillen der Friedenswächter. Alles, was sich vor mir erstreckt, ist das endlose Meer – und ganz in der Ferne die Grenztürme.

Ich muss mich schon anstrengen und die Augen zusammenkneifen, um zu erkennen, welcher von ihnen es ist, auf dem vor drei Tagen ein Sprengsatz explodiert ist. Das Kapitol hat in Rekordzeit aufgeräumt, sodass nur noch die geschwärzte Außenwand von dem Anschlag zeugt. Dieses Mal konnten sie niemanden hängen, denn das explosive Gemisch hat auch den Täter das Leben gekostet. Heißt es zumindest.

Mit mir redet Finnick nur zögerlich über diese Dinge, als habe er Angst vor der Wirkung der Worte. Aber ich habe öfter mitbekommen, wie er und Amber sich ausgetauscht haben. Überhaupt reden sie ziemlich häufig miteinander, wenn sie denken, dass ich schlafe oder beschäftigt bin. Erst neulich habe ich die Beete für das Frühjahr vorbereitet, während die beiden in gedrückter Stimme über irgendeinen Rob und dessen Zorn geredet haben.

Ich weiß, dass es an der Zeit wäre, mir Sorgen zu machen. Seit Anfang des Jahres hat Finnick mich so oft wie nie zuvor mit nach Emerald Isle genommen. Eigentlich haben wir immer den April abgewartet, bevor er sich an die Überquerung der Meerenge getraut hat. Doch all diese Grenzen und Regeln existieren nicht länger. Es ist schon das zweite Mal diese Woche, dass ich die Zehen in den weichen Sand bohre, bis ich meine Füße in dem eiskalten Meerwasser nicht mehr spüre.

Nichts ist in Ordnung, aber wenn ich hier stehe, kommt es mir so vor. Mit dem Wind im Haar fliegen die Sorgen einfach davon. Lieber sammle ich Muscheln, anstatt über das nachzudenken, was ich – noch dazu alleine – nicht ändern kann. Immerhin verfolge ich ein ehrgeiziges Großprojekt: Aus mehreren alten Netzen, Ästen, Schnüren und unzähligen Muschelschalen knüpfe ich ein großes Mobile, von dessen Verästelungen später Nachbildungen lokaler Fabelwesen wie Meerjungfrauen und echten Meereslebewesen hängen sollen.

Jeden Abend, wenn ich mit Finnick zusammensitze, arbeite ich daran. Er liest mir aus den alten Büchern vor, im Kamin knistert ein Feuer und ich bastle kleine Figuren. Egal was draußen passiert, das sind die Momente, die ich für immer in meiner Seele bewahren möchte. Manchmal kann ich sogar fast glauben, dass wir eine ganz normale Familie sind.

Hin und wieder ertappe ich mich gar bei dem Gedanken, wie es wäre, wenn wir ein Kind hätten. Meist sind es nur wenige Sekunden, in denen ich einen Knoten zurechtziehe – und plötzlich taucht das Bild auf, wie eines Tages ein winziges Baby unter dem Mobile liegt und lachend die Fäustchen danach ausstreckt. Die Vorstellung durchzuckt mich wie eine statische Entladung – zu schnell fort, um sie zu begreifen, und was bleibt, ist ein eigenartiges Kribbeln im ganzen Körper.

Früher, vor den Hungerspielen, habe ich auch das ein oder andere Mal über Kinder – meine Kinder – nachgedacht. Natürlich, denn es schien so klar wie das Wasser in den Lagunen hier auf Emerald Isle, dass ich eines Tages David, meinen besten Freund, heiraten würde. Und wenn Mann und Frau in Distrikt Vier sich trauen lassen, bekommen sie Nachwuchs. Dafür sorgt das Kapitol schon.

Nur wer mindestens zwei eheliche Kinder hat, erhält beispielsweise die Genehmigung für Hochseefischerei oder darf ein eigenes Boot mit Angestellten unterhalten. Erbt man den Betrieb der Eltern, verfallen diese Rechte nach vier Jahren, sofern man die Auflagen des Kapitols nicht erfüllt. Wer keine Kinder bekommt, dem bleibt nur die Arbeit in schlechtbezahlten Fabriken oder bei den Tuchmachern.

Also habe ich selbstverständlich an die Zukunft gedacht und mir Namen für die zwei Kinder überlegt, an denen kein Weg vorbeigehen würde. Und manchmal, bei der Wiederholung von alten Hungerspielen im Fernsehen, habe ich mir vorgestellt, dass die Tribute ihre Namen tragen. Ich habe mich so oft an Gräbern mit diesen Namen stehen sehen, dass es nach meinem eigenen Sieg geradezu eine Erleichterung war, zu wissen, dass diese Kinder nie leben müssen.

Doch nie habe ich die beiden als Babys vor mir gesehen. Manchmal gab es verschwommene Schemen von Zwölfjährigen in meinen Träumen von der Zukunft, aber nicht mehr. Und jetzt, wo ich durch das Siegerinnendasein wenigstens von dieser Last befreit bin, sind da plötzlich diese Visionen von strahlenden blau-grünen Augen in einem runden Gesicht und fröhliches Glucksen.

Selbst jetzt, alleine am Strand, kann ich die Lider schließen und das Kind vor mir sehen. Es hat Finnicks wellige Haarstruktur und eine Mischung aus unseren Haarfarben, ein Ton wie ein Glas schwarzen Tees mit Honig, das von den ersten Sonnenstrahlen des Tages erwärmt wird. Um seine Nase verteilen sich unzählige Sommersprossen und wenn es lacht, klingt es ein wenig wie mein kleiner Bruder Cyle einst.

Seufzend hebe ich eine weitere Muschelschale auf und spüle sie im Salzwasser ab. So schön Emerald Isle auch ist, hier verfolgen mich die Gedanken stärker als daheim im Siegerdorf. Einfach alles auf der Insel schafft es, das zu erwecken, was im Distrikt selber nicht mal einen Traum wert ist. Dabei weiß ich, dass es sich um Irrsinn handelt. Deshalb habe ich auch noch nie mit Finnick darüber geredet.

Kinder gehören, ganz rational betrachtet, nicht in diese grausame Welt. Jetzt, wo es eine Wahl gibt, ist es nur vernünftig, sich dagegen zu entscheiden. Ich will es nicht wollen. Ohnehin ist das Risiko viel zu groß. Das Kapitol würde Finnick sicher hart bestrafen, wenn seine Vaterschaft herauskäme – und unserem Kind wäre ein Platz in den Hungerspielen garantiert.

Ich stecke die Muschel in meine Umhängetasche und spritze mir kaltes, brennendes Meerwasser ins Gesicht, um die Gedanken zu klären. Hoffentlich lassen diese wilden Hirngespinste mich bald in Ruhe, wenn sie merken, dass ich nicht nachgebe.

Und davon mal abgesehen ... haben Finnick und ich natürlich noch nie miteinander geschlafen. Wer bin ich also, solche Gedanken zu haben? Klar würde es auch anders funktionieren, ein Kind zu zeugen, aber das käme mir erst recht falsch vor. Dieses Künstliche erinnert einfach zu sehr an das Kapitol und seine Mutationen.

Eine Weile bleibe ich noch in der Brandung hocken und lasse mich doch von den Gedanken überwältigen, die ich gerade vertreiben wollte. Kleine Wassertropfen laufen mir den Rücken hinab und ich erschaudere bei der Vorstellung, dass es Finnicks Fingerspitzen sein könnten.

Das ist falsch. So sollte ich nicht von ihm denken. Ich weiß schließlich, was er durchmacht, jedes Mal im Kapitol. Jede Nacht, die er nicht bei mir ist. Es bricht ihn, ein Spielzeug für Fremde zu sein. Wenigstens bei mir soll er sicher sein vor all diesen Begehren, die ihn auf seinen Körper reduzieren.

Warum nur sehne ich mich dann auf einmal danach?

Frustriert schlage ich die Fäuste in den weichen Sand zu meinen Füßen und werfe ganze Hände voll davon in den Ozean. Ich schreie dem Wind allen Frust entgegen wie eine wütende Seemöwe; verfluche Snow und jeden einzelnen Menschen, der Finnick wehgetan hat, bis mein Hals trocken ist und der Saum meines Kleides dreckig. Auf den Wangen klebt mir getrocknetes Salz, aber ich weiß nicht, ob es Meerwasser oder Tränen sind. Und trotzdem entringt sich mir bei dem Blick auf das offene Meer wieder ein Lächeln.

Manchmal ist die Freiheit auf Emerald Isle erstaunlich traurig, aber es bleibt Freiheit, hier lautstark schreien zu dürfen. Jetzt geht es mir wenigstens besser. Bevor das Wellengluckern in meinen Ohren wieder zu dem Gelächter eines Babys werden kann, wende ich mich ab.

Es geht mir gut. Ich bin in Sicherheit. Mir fehlt es an nichts. Finnick und ich haben einander, das reicht. Diese Worte wiederhole ich den ganzen Weg zurück zur Villa in meinem Kopf.

Dort angekommen quetsche ich mich durch das rostige Gartentor und atme mehrmals tief durch, bevor ich die Haustür aufstemme. Finnick soll meine Aufregung nicht bemerken, sonst macht er sich nur unnötig Sorgen. Doch die Vorsicht ist umsonst, denn auf mein gerufenes »Bin wieder da!« antwortet mir nur Stille.

Weder in der Küche noch im Wohnzimmer treffe ich Finnick an. Wollte er vielleicht rausgehen und fischen? Ich stelle die Tasche voller Muscheln neben dem Kamin ab, ehe ich das Haus durch die Hintertür wieder verlasse. Nur die größte und schönste Jakobsmuschel nehme ich mit, um sie Finnick gleich zu zeigen.

Auf den Holzdielen unserer Veranda liegen tatsächlich ein paar Netze zur Reparatur, Finnick ist allerdings nicht zu sehen. Auch im Garten ist kein bronzener Haarschopf in Sicht, also laufe ich den sandigen Weg bis zur kleinen Lagune hinter dem Haus hinab.

»Finnick?«

Nur eine Möwe kreischt. So alleine ist mir zwar nicht wohl dabei, doch ich betrete den wackligen kleinen Holzsteg, den Finnick in den letzten Wochen repariert hat und lasse meinen Blick über das Wasser schweifen. Nichts. Wenn Finnick tauchen gegangen wäre, dann würden zumindest seine Kleider hier liegen, rede ich mir ein, mindestens ein Paar Schuhe ... und er würde doch nicht in diesem seichten Gewässer in Schwierigkeiten geraten, noch dazu bei so gutem Wetter.

In meinem Bauch bildet sich ein Knoten. Ich weiß genau, dass wir beim Frühstück darüber gesprochen haben, dass er im Haus bleiben und sich um ein paar dringende Reparaturen kümmern will. Warum ist er dann nicht da? Habe ich ihn womöglich nur verpasst? Oder ... ist unser Versteck etwa aufgeflogen? Sind die Friedenswächter hier?

Schon klopft mein Herz wieder schneller. Nein, das ist Quatsch, schelte ich mich selber. Die Jakobsmuschel an die Brust gedrückt, gehe ich zurück zum Haus. Aber auf halber Strecke fange ich doch an zu laufen und schließlich stürme ich förmlich durch das Wohnzimmer in den Eingangsbereich der alten Villa.

»Fin?«, rufe ich und meine Stimme hallt in dem leeren, doppelstöckigen Raum wieder. »Finnick!«

Ich schaue hinauf in den zweiten Stock und lausche in die Stille hinein. Ob er oben ist? Zumindest die Bücher, aus denen er mir vorliest, hat er früher in einem der oberen Zimmer gefunden. Aber er sagt auch, dass es dort nicht länger sicher ist, da der Boden langsam verrottet und bei Belastung jederzeit durchbrechen könnte.

Nun, was sein muss, muss sein. Behutsam lege ich meine Jakobsmuschel auf ein Fensterbrett, bevor ich den ersten Fuß auf die Treppe ins Obergeschoss setze. Immerhin sind die Stufen massiver Marmor und der mottenzerfressene Samt darauf höchstens staubig, aber sonst ungefährlich.

Mit angehaltenem Atem wage ich mich empor. Ich lausche auf jedes kleine Geräusch. Ist das ein Klackern? Und ... Flüstern? Zwei Männer?

Gerade überlege ich, ob ich erneut nach Finnick rufen sollte, da versiegen die Laute und ich höre stattdessen Schritte. Keine Sekunde später öffnet sich knarzend eine Tür. Ein kleiner Schrei verlässt meine Kehle –

»Annie!«

Im Flur vor mir steht Finnick, einfach nur Finnick. Alleine, einen Stoffbeutel mit Werkzeug in der Hand. Niemand sonst, erst recht kein Friedenswächter. Finnicks helle Augen schimmern im Zwielicht des dunklen Obergeschosses verdächtig, doch ich habe nicht die Chance, darüber nachzudenken, denn schon ist er bei mir.

Die Werkzeugtasche fällt mit einem ‚Klong‘ zu Boden und dafür legt Finnick ganz vorsichtig die Hände auf meine Schultern. »Annie?« Seine Stimme klingt irgendwie ... verschnupft. Als hätte er zu viel von der staubigen Luft in diesem Haus eingeatmet. »Hey ... tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken – ist alles in Ordnung? Ist etwas passiert? Hast du ... sie wieder gesehen?«

Ich spüre, wie der sanfte Druck seiner Hände auf meinen Oberarmen zunimmt und mit einem Mal weiß ich nicht mehr, ob ich lachen oder weinen soll. Natürlich denkt er an das Schlimmste, an Visionen von Shine; einen nervlichen Zusammenbruch meinerseits. Was habe ich mir nur gedacht? Woher kamen bloß diese Sorgen auf einmal? Wenn jemand auf sich aufpassen kann, dann doch Finnick!

Halb lachend, halb schluchzend wische ich mir die Augen. »Alles gut. Es ist nur – d-du warst nicht unten, als ich zurückgekommen bin ... Ich dachte –« Schnaubend schüttle ich über mich selber den Kopf. »Ich hatte plötzlich solche Angst um dich. Ich dachte schon, dass die Friedenswächter hier wären ... Ich weiß nicht mal warum, es ist so lächerlich!«

Mit einem Seufzen schließt Finnick die Augenlider und tritt die letzte Treppenstufe zu mir herab, bevor er mich fest in die Arme nimmt. Eine Hand streicht mir über den Rücken, die andere vergräbt er in meinen Haaren.

»Oh Annie ...« Jetzt ist es eindeutig, dass er schnieft. Seine Fingerspitzen zittern sogar leicht, während sie in Kreisen meine Wirbelsäule entlangfahren. »Ich bin hier«, sagt er leise und sein Atem streift mein Ohr, dass es mir kalte Schauer den Rücken hinab jagt. »Ich bin immer noch hier und glaub mir, ich werde lieber kämpfen, als dich alleine zu lassen.«

Sein Herzschlag so nah an meinem ist mir schmerzlich bewusst, genauso wie jede Faser seines Körpers, die sich unter meinen Händen spannt, als ich ebenfalls die Arme um ihn schlinge. Schon hundert Mal habe ich Finnick auf diese Art umarmt, doch ausgerechnet jetzt drängen sich andere Empfindungen dazwischen. Ich schiebe den Gedanken mit aller Macht von mir und vergrabe das Gesicht an seiner Schulter.

»Tut mir leid«, hauche ich gegen seinen Hals und zur Antwort drückt er mich noch fester.

»Schon gut, das ist doch nichts Schlimmes, Annie. Ich dachte nur, ich schaue mal, was man hier oben retten kann, solange du weg bist, aber ich habe wohl die Zeit vergessen ... Ich wollte doch nicht, dass du dir Sorgen machst.« Finnick lehnt sich ein kleines Stück zurück, damit er mir einen Kuss auf die Stirn drücken kann. »Das hier soll doch unser sicherer Hafen sein«, setzt er flüsternd hinzu und da ist wieder der traurige Glanz in seinen Augen. »Es tut mir leid, dass du dir wegen mir Sorgen machen musstest.«

Rasch schüttle ich den Kopf. »Ist schon vergessen. Ich bin nur ein bisschen ... durch den Wind gerade.« Ein Seufzen auf den Lippen, verschränke ich die Hände in Finnicks Nacken. »Wir sollten den letzten Abend hier lieber genießen. Noch einmal am Strand entlanggehen, den Sonnenuntergang ansehen ...«

Finnick lächelt und ich schlucke schwer, in dem Versuch, mich nicht in seinen Augen zu verlieren. Er streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht – eine simple Geste, doch selbst diese Berührung sorgt für einen wohligen Schauer auf meiner Haut. Am liebsten würde ich gar nichts anderes tun, als hier mit ihm zu stehen, in seiner Umarmung. Aber da er meine Hand ergreift und sich anschickt, die Treppe hinunterzugehen, folge ich ihm natürlich.

 

Wir verbringen den Abend auf der Veranda, anstatt drinnen, da das Wetter bereits erstaunlich milde ist. Wie so oft knüpfe ich weitere Muschelstücke an das Mobile, doch Finnick liest heute ausnahmsweise nichts vor. Stattdessen repariert er im Laternenschein die Netze, die er rausgelegt hat.

Seine Finger sind flink – flinker als meine. Er kann manche Knoten so schnell wickeln, dass mir schon vom Zusehen schwindelig wird. Dabei war ich nie schlecht in dieser Disziplin. Finnick hat nur viel mehr Übung. Selbst im Kapitol hat er immer etwas gefunden, das man verknoten kann, und wenn es nur zwei Servietten waren.

Ich weiß, dass ihn das Handwerk beruhigt, so wie es mir hilft, zuhause den Garten zu pflegen. Und genau das macht mir jetzt doch Sorgen. Sobald er seine Hände beschäftigen muss, bedeutet das, dass ihn etwas aufgeregt. Sehr.

Diese Beobachtung verdrängt sogar meine Gedanken an Babyglucksen und die Zukunft, die wir vielleicht gar nicht haben. Und sie erinnern mich an die verdächtigen Tränen in Finnicks Augen heute Nachmittag.

Zaghaft linse ich zu ihm hinüber. Seine Augenbrauen bilden einen geraden Strich, während er altes und neues Garn miteinander verknüpft. Er scheint meinen Blick nicht einmal zu fühlen, so versunken ist er in die Tätigkeit. Nur hin und wieder schnalzt er leise mit der Zunge, wenn ihm ein Faden entgleitet oder die Knoten nicht ganz gleichmäßig sind.

»... Fin?«

Er zuckt kaum merklich zusammen. »Ja?«

»Sei ehrlich – es ... wird nicht alles wieder in Ordnung kommen, oder?« Ich setze den kleinen Handbohrer ab, mit dem ich Löcher in die Muschelschalen mache und beobachte aufmerksam seine Reaktion. »Ich meine – im Distrikt. Oder ... in ganz Panem? Mit den Hungerspielen und allem ...«

Die Garnfäden, die Finnick gerade verknoten wollte, entgleiten ihm und mit einem Seufzen lässt er das Netz sinken. »Annie ...«

Plötzlich ist da eine Entschlossenheit in mir, die mich selber überrascht. Meine Hände sind ganz ruhig, als ich die Arbeit niederlege und zu Finnick an das Verandageländer rücke. »Du kannst es mir sagen. Heute kann ich das ab. Morgen vielleicht nicht mehr, aber jetzt ... jetzt schon. Irgendwann muss ich es ja hören und dann am liebsten von dir.«

»Das kann ich dir doch nicht ... Oh Annie.«

»Hey«, erwidere ich sanft, »du sagst doch immer, dass ich stärker bin, als alle denken.«

»Und aufmerksamer. Danke für die Erinnerung.«

Ein kleines Lächeln streift meine Lippen, als ich sehe, wie er mich ansieht, den Kopf leicht schiefgelegt. So voller Sorge, aber auch Bewunderung. Früher einmal wäre ich unter so einem Blick ganz sicher errötet. Heute wärmt er mein Herz.

»Es wäre schwer, es nicht zu sehen«, sage ich leise. »Die Aufstände, die Maßnahmen, die veränderte Siegertour, die ... Letzte Welle. Es ist leicht, das alles an diesem Ort zu vergessen. Aber vergessen kann auch gefährlich sein.«

Gedankenverloren dreht Finnick das Reparaturgarn durch die Finger, bevor er antwortet. »Das stimmt.« Seine Mundwinkel zucken traurig. »Ich vergesse nur viel zu gerne, so lange du mit mir hier bist.«

Hätte er die Aussage mit einem Zwinkern oder seinem üblichen breiten Grinsen unterlegt, wäre es sicherlich der perfekte Spruch, um unzähligen Personen im Kapitol schwache Knie zu bereiten. Doch so wie er stattdessen neben mich rutscht, meine Hand ergreift und den Kopf an meine Schulter lehnt, weiß ich, dass es mehr sind als nur schöne Worte.

Ich lasse mich ebenso gegen ihn fallen, sodass wir einander nur durch den gegenseitigen Druck aufrechterhalten, und gemeinsam sehen wir hinauf zu den ersten Sternen. Sie funkeln wie nichts im Kapitol, obwohl es dort genug Glas, Glitzer und Diamanten gibt.

»Unser Leben wird sich wohl bald verändern«, murmle ich in die Nacht hinaus. »Fragt sich nur, in welche Richtung.«

Finnick drückt meine Hand fester. »Vielleicht können wir die Richtung ja bestimmen, wenigstens dieses Mal.«

»Glaubst du daran?«

»Ich muss.« Mit seinem vom vielen Knotenknüpfen aufgerauten Daumen streicht Finnick über meinen Handrücken. »Es tut mir so leid, Annie –«

»Shhh. Ist schon okay. Ich werde nicht fragen, also musst du auch nichts sagen. Es reicht mir, wenn du davon überzeugt bist.«

»Bist du dir sicher? Ich – ich will dich nicht belügen ...« Er atmet tief ein, macht eine Pause, doch es folgt nichts weiter.

Ich kann nicht erahnen, welcher Sturm gerade in Finnicks Innerem tobt – aber das spielt ohnehin keine Rolle für meine Entscheidung. Ich vertraue ihm. Mehr als irgendwem sonst. Wir lieben einander, daran gibt es nichts zu zweifeln. Und das ist alles, was zählt. Also schlinge ich beide Arme um ihn, ehe ich einen Kuss auf sein Haar hauche.

»Ganz sicher sogar«, antworte ich ihm. »Schließlich weiß ich selber nie, was der nächste Tag für mich bedeutet. Ob es mir nicht wieder schlechter geht. Lass uns einfach noch ein wenig länger das Vergessen genießen, ja?«

Finnicks tiefes Seufzen vibriert bis in meinen Körper hinein. »Ich werde alles dafür tun, dass es wieder besser wird. Besser als es je war. Damit der Morgen keine Angst mehr bedeutet. Das verspreche ich dir, Annie.«

 

Der nächste Tag beginnt genauso strahlend wie der vorige. Schäfchenwolken, ein erster Streifen blauen Himmels und zwitschernde Vögel begrüßen mich zusammen mit Finnick, der zum Frühstück ein paar Krabben und Gartengemüse in der Pfanne röstet. Wir essen auf der Veranda und lassen die Beine über den Rand baumeln, während die Sonne langsam das Meer glutorange färbt. Ein Morgenritual, an das ich mich glatt gewöhnen könnte. Eigentlich habe ich es schon, denn die letzten Wochen fühlen sich länger an als nur der Übergang von Winter zu Frühling. Wenn der Distrikt uns nur nicht mit seinen Verpflichtungen rufen würde ...

Dafür ist die See immerhin spiegelglatt, sobald Finnick und ich mit den ersten richtigen Sonnenstrahlen zurück an die Küste fahren. Rückblickend betrachtet werde ich annehmen, dass es vielleicht zu viel des Guten war; zu viel Glück in einem Land, in dem die Hoffnung höchstens auf Sparflamme brennen darf. Ich werde mir vorwerfen, dass ich hätte bemerken müssen, wie sich die dunklen Wolken nicht am Horizont zusammenbrauen, sondern aus ganz anderer Richtung kommen. Doch in diesem Moment habe ich nur Augen für die Schildkröte, die neben unserem Ruderboot schwimmt und zum Abschied fast mit der Flosse zu winken scheint.

Zurück am Festland verstecken Finnick und ich wie immer das Boot und mischen uns unter das frühmorgendliche Getümmel am Hafen. Über die letzten Wochen haben wir das Vorgehen perfektioniert: Wir haben extra abgetragene Arbeitskleidung auf dem Gebrauchtwarenmarkt gekauft, damit wir in der Menge nicht durch unsere makellosen Jacken oder Hosen auffallen. Im Bootsschuppen bewahren wir einen Sack mit alten Kohlen aus dem Kamin auf, die wir nach der Ankunft zerbröseln und zusammen mit etwas Sand und trockenem Lehm dafür nutzen, uns dreckig zu machen. Finnick fährt sich damit durch die Haare, bis sie nicht mehr so glänzen, wie sie es nach einer Wäsche mit dem Shampoo aus dem Kapitol tun, und ich flechte das meine in einem schludrigen Kranz um den Kopf.

Das ist der Vorteil daran, wenn einen alle Welt in erster Linie aus dem Fernsehen kennt – sobald man einmal vor den Leuten steht, noch dazu genauso verdreckt wie sie, sehen sie zuerst das, was die Kameras sonst verschlucken. Unsere Menschlichkeit. Jeder kleine Makel, für gewöhnlich von Make-up verdeckt und jetzt vom Dreck hervorgehoben, bricht mit den Erwartungen der Menschen an das Aussehen zweier Sieger. Ein paar Fischernetze, die wir über den Schultern tragen, komplettieren die Tarnung.

Die Menschenmenge am Hafen ist spürbar geschrumpft und alle gehen ihrer Arbeit mit gesenktem Kopf nach. Wo einander einst fröhliche – teils derbe – Begrüßungen oder Witze zugerufen wurden, herrscht nun gedrückte Stimmung. Nur noch die wichtigsten Arbeitsanweisungen werden von Hafenangestellten sowie Fischerinnen und Fischern ausgetauscht. Dafür sorgen die fünf Friedenswächter, die an jedem Pier stehen, um die Ausweise zu kontrollieren und nebenbei immer wieder wie zufällig ihre neuen Gewehre herumschwenken.

Aber nicht nur an den notdürftig reparierten Stegen sind heute Soldaten postiert. Auch an den wenigen Marktständen, die seit dem großen Brand noch übrig sind, stehen dieses Mal Männer in voller Montur. Dort, wo Finnick und ich in letzter Zeit immer wieder Kleinigkeiten als Alibi für das Siegerdorf besorgt haben, halten sie die Kunden an, kontrollieren Taschen und Werkzeuge. Ich kann nicht hören, was die Friedenswächter sagen, doch ihre Hände, die unentwegt auf die Pistolengriffe an ihren Hüften trommeln, sprechen Bände.

Auch Finnick fällt das auf, denn er greift nach meinem Arm und zieht mich enger an sich. Besorgt sehe ich ihn an, eine kleine Falte zwischen den Augenbrauen. Der erste Instinkt sagt mir, dass wir unseren Abstand vergrößern sollten, wie im Kapitol. Ich ernte allerdings ein sachtes Kopfschütteln und Finnick legt eine Hand auf meinen unteren Rücken, mit der er mich sanft, doch bestimmt voran schiebt.

»Schau mal da vorne«, sagt er in ganz normaler Lautstärke, als wäre alles in bester Ordnung und nicht etwa die Anspannung in der Luft so greifbar wie die Elektrizität in Distrikt Fünf, »da gibt es schön gefärbte Stoffe und Garne. Perfekt für Großmutter, genau so etwas wünscht sie sich. Was meinst du, welche Farbe wird ihr für die neue Hängematte gefallen?«

Ich halte den Atem an. Doch wir gehen an den Friedenswächtern vorbei, ohne dass uns jemand aufhält. Die Männer sehen beim Klang von Finnicks Stimme nicht einmal auf.

»Ich weiß nicht«, murmle ich verwirrt, »vielleicht ...«

Mein Blick huscht über die Reihe an Ständen, bis ich den finde, den Finnick meint. Bunte Stoffballen stapeln sich in der Auslage, in allen Farben des Regenbogens. Hauptsächlich sind die Waren für Reparaturen auf hoher See gedacht, falls mal ein Netz oder Ersatzsegel defekt ist – oder bei längeren Fangtouren eben die Hängematten unter Deck. Für gewöhnlich wird hier am Hafen ungefärbter Naturstoff verkauft, da dieser günstiger ist. Angesichts der Umstände wirken all die Farben in ihrer Schönheit erst recht völlig fehl am Platz.

Trotzdem sticht mir ein besonders kräftiges Sonnengelb ins Auge. »Das da gefällt Mag- ähm, Großmama bestimmt«, sage ich rasch. »Das hat dieselbe Farbe wie die Sonnenblumen im Garten.«

»Stimmt, das ist perfekt.« Finnick schiebt mich mit einem Lächeln um zwei Fischer herum an den Stand. Als wären wir wirklich nur zum Einkaufen hergekommen, zieht er ein paar zerknitterte Geldscheine aus dem Seesack, in dem wir die nötigsten Sachen transportieren. »Was macht das, wenn wir drei Meter von dem Gelb nehmen?«, fragt er die Verkäuferin.

Die winkt ab. »Nur den Standardpreis. Farben kosten im Moment keinen Aufpreis – kleine Sonderaktion.«

Finnick stockt kurz. »Sind Sie sicher? Ich kann gut bezahlen –«

»Keine Sorge.« Die Frau verbirgt den Mund hinter ihrer vom vielen Färben fleckigen Hand, bevor sie leise weiterspricht. »Der Distrikt ist düster genug, da müssen wir es nicht noch schlimmer machen. Zum Glück kann uns ja niemand verbieten, den bunten Stoff günstiger anzubieten, nicht?« Sie zwinkert kaum merklich.

Ein kleines Lächeln zupft an Finnicks Mundwinkeln. »Dann machen Sie bitte fünf Meter draus. Und wir nehmen noch etwas von der bunten Schnur hier.«

Während die Verkäuferin den Stoff abmisst, nähern sich die Friedenswächter dem Stand nebenan. Ich höre ihre durch die Schutzhelme verzerrten Stimmen, die aufgrund des statischen Rauschens der Mikrofone darin irgendwie künstlich klingen, weniger menschlich.

»Standerlaubnis?«, fragt einer, während die anderen in Rekordgeschwindigkeit die Pappschachteln voller Angelhaken und Krimskrams untersuchen, der dort verkauft wird. Mit ihren gepanzerten Handschuhen durchwühlen sie rücksichtslos die Kartons, sodass ein Großteil des Inhalts auf dem Pflaster zu ihren Füßen landet – und sogleich unter ihren schweren Stiefeln zerquetscht wird.

Die Besitzer des Stands, offenbar ein Brüderpaar, händigen mit einer kleinen Verbeugung ihre Unterlagen aus und beantworten jede Frage des Kommandanten wie aus der Pistole geschossen, doch selbst diese Unterwürfigkeit schützt sie nicht.

»Ihre Erlaubnis läuft in weniger als sechs Monaten ab und hier ist kein Antrag angehängt, nachdem Sie sich um Verlängerung bemüht hätten oder die Weitertragung ihres Standplatzes an Dritte beantragt hätten. Ihnen ist klar, dass nach der neuen Direktive der Distriktordnung damit die Betriebserlaubnis entfällt?«

Finnick zieht sacht an meiner Hand, um meine Aufmerksamkeit zurückzugewinnen, doch ich kann den Blick kaum von den beiden zitternden Männern am Nachbarstand abwenden. Die bunten Stoffe verschwimmen an den Rändern zusehends vor meinen Augen, als ich es dennoch schaffe.

»Sir, das tut uns schrecklich leid – wir ... wir haben erst v-vor zwei W-wochen von der neuen Direkte erfahren u-und ... dass Amt hatte noch keine Zeit, den Antrag zu sichten –«

»Nun, das ist Ihr Versäumnis, nicht unseres. Sie hätten sich früher kümmern müssen.«

»A-aber die Änderung wurde erst vor zwei Wochen verkündet und wir waren am ersten Tag beim Amt!«

»Hören Sie auf, mir Geschichten zu erzählen.« Der Kommandant schnaubt leise und wendet sich vom Stand ab. »Abräumen«, weist er seine Leute an, »und stellen Sie sicher, dass Sie alle Waren konfiszieren!«

Angesichts von derart viel Ungerechtigkeit würde ich am liebsten schreien. Wenn Finnick nicht meine Hand fest umschlungen halten würde, hätte ich sie längst zur Faust geballt. Stattdessen bohre ich die Fingernägel nur so tief in seinen Handrücken, dass er zuckt und ich ein schlechtes Gewissen bekomme.

Wehklagen und entrüstete Schreie der Standbesitzer neben uns schallen über den ganzen Hafen, aber unter den Augen so vieler Friedenswächter wagt es niemand auch nur hinzusehen. Mit kantigen Bewegungen verstaut die Stoffverkäuferin unsere Waren im Seesack, den Blick starr auf ihre Hände gerichtet, genauso wie Finnick, als er rasch bezahlt. Aber wir hören alle genau, wie die Soldaten den Stand nebenan dem Erdboden gleichmachen. Das Gelächter klingelt in unseren Ohren, während wir das Schauspiel des Einkaufsbummels steif zu Ende bringen.

Wir wenden uns gerade zum Gehen, da höre ich einen Friedenswächter rufen: »Ey, Sie da!«

Mir stockt der Herzschlag. Was jetzt? Weitergehen? Rennen? Umdrehen und dumm stellen?

Finnick atmet tief ein. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie er sich strafft, die Brust rausgestreckt, und in die Rolle des Kapitol-Finnicks schlüpft. Er dreht sich nur halb zu dem Mann hinter uns um, ohne meine Hand loszulassen.

Der Soldat hat inzwischen aufgeholt. Ich erkenne kleine Kratzer auf dem polierten Weiß seiner Brustplatte, genauso wie die winzigen Worte ‚Panem für immer‘, die sich um das goldene Emblem des Kapitols in der rechten Ecke winden. Seine Augen verschwinden jedoch hinter dem verspiegelten Visier seines Helms und alles, was mir entgegensieht, sind die Reflexionen von Finnick und mir, besorgt und doch wütend.

»Sie haben nicht zufällig an dem Stand für Eisenwaren eingekauft?«, fragt der Friedenswächter uns. Seine Stimme klingt trotz der Verzerrung jünger, unerfahrener als die seines Kommandanten.

»Nein, Sir«, sage ich deutlich und Finnick an meiner Seite hält dem Mann ungefragt den Seesack entgegen, sodass er Stoff und Kordeln sieht.

»Nur ein bisschen Leinen für unsere Großmutter – sie kennen’s ja sicher, im Alter wollen die Knochen nicht mehr so und wir wollen ihr eine neue Hängematte knüpfen«, erklärt Finnick mit einem schmalen Lächeln. »Ihre Arthritis wird schließlich auch nicht besser, auch wenn der Winter jetzt wenigstens hinter uns liegt und es endlich wärmer wird –«

»Ja ja, schon gut.« Fast abwehrend hebt der Soldat die Hände. »Gut dann ... möge das Glück mit Ihnen sein. Ach ja und – heute Abend gibt es Pflichtprogramm im Fernsehen. 19:30 Uhr, seien Sie bis dahin auf jeden Fall in der Nähe Ihres Empfangsgeräts. Keine Ausnahmen dieses Mal. Es geht um eine große Ankündigung, Befehl von ganz oben.«

Ich kann förmlich hören, wie Finnick die Augenbrauen hochzieht. »Pflichtprogramm? Das ist aber reichlich kurzfristig –«

»Sagen Sie das nicht mir. Informieren Sie lieber auch Ihre Nachbarn.«

Bevor Finnick erneut den Mund öffnen kann, nicke ich. »Natürlich. Schönen Tag Ihnen noch, Sir.«

Der Friedenswächter ruckt mit dem Kopf und ehe er es sich anders überlegt, wende ich mich ab und zwinge Finnick somit, mir zu folgen.

»Pflichtprogramm ...«, haucht er leise an meiner Seite.

»Denkst du, was ich denke?«

»Das Jubeljubiläum?«

Ich nicke. »Irgendwas muss dieses Jahr ja ... anders werden, nicht wahr?«

»Wohl oder übel. Und nach allem, was Mags bisher erzählt hat, wird das Kapitol daraus sicherlich ein großes Spektakel machen. Wundert mich eher, dass die Ankündigung für die Übertragung so kurzfristig kommt ...«

In Gedanken versunken verlassen Finnick und ich den Hafen. Über unser knappes Entkommen können wir uns allerdings kaum freuen, genauso wenig wie über den Himmel, der sich auf dem Weg zurück ins Siegerdorf zu einem strahlenden, klaren Blau öffnet. Ein viel mächtigerer Schatten als ein paar Regenwolken liegt auf dem Distrikt und lässt die roten Dächer der Stadt hinter uns verblassen.

 

Die Neuigkeit von dem heutigen Pflichtprogramm verbreitet sich wie ein Lauffeuer im Distrikt. Dafür sorgen die Friedenswächter, die den Vormittag über in Kolonnen durch die Straßen ziehen und alles auf den Kopf stellen. Von meinem Garten aus höre ich die Durchsagen aus ihren neuen Einsatzwagen, mit denen sie im gleichen Atemzug Hausdurchsuchungen ankündigen. Angeblich um sicherzustellen, dass überall einsatzfähige Fernsehgeräte bereitstehen. Dass sie in Wahrheit nach Anhängern der Letzten Welle suchen ist offensichtlich.

Den ganzen Tag versuche ich, mich mit Gartenarbeit abzulenken. Wenn ich die Hände nur tief genug in der Erde vergrabe, so bleibt keine Zeit, an das Unausweichliche zu denken – hoffe ich zumindest. In Wirklichkeit sitze ich teilweise eine halbe Stunde da, lasse Erdkrümel durch meine Finger rieseln und stelle mir vor, was das Kapitol sich wohl für das Jubeljubiläum ausgedacht hat.

Im fünfundzwanzigsten Jahr wurden die Tribute von ihrem eigenen Distrikt gewählt und im fünfzigsten Jahr musste die doppelte Anzahl in die Arena. In meiner Wahrnehmung sind das kaum zu überbietende Grausamkeiten. Schlimmer wäre es nur, wenn sie die Altersbeschränkung herabsetzen würden. Oder?

Je länger ich nachdenke, desto mehr Grauen fallen mir ein. Sie könnten die Kinder auswählen, deren Eltern oder Vormünder die geringste Produktivität im Distrikt haben. Oder nur Geschwisterpaare zusammen in die Arena schicken. Vielleicht sogar ein Elternteil gemeinsam mit ihrem Kind?

Die Erde unter meinen Fingern scheint mir angesichts dieser Gedanken langsam den Mund zu füllen und würgend stürme ich ins Bad, wo ich mir die Hände wasche, bis die Haut rot und spröde ist.

Selbst Finnick steht neben sich. Nach unserer Rückkehr ins Siegerdorf ist er bei mir geblieben und hat tatsächlich angefangen, aus Stoff und Schnüren eine Hängematte zu fertigen, doch ich beobachte, wie er manche Knoten vier, fünf Mal auflöst und neu bindet, bevor er weitermacht.

Wir sind beide dankbar, als es endlich Abend wird und wir uns mit den anderen Siegern in Floogs’ Haus treffen. Nervös scherzend drängeln wir uns auf sein Sofa und die umstehenden Sessel. Nur Riven fehlt, denn sie sieht sich die Übertragung lieber mit ihrer Familie an, was ihr keiner von uns vorhält.

»Vielleicht präsentiert Snow uns ja auch nur seinen frisch renovierten Palast, mitsamt goldenem Klo – ich meine natürlich Thron«, sagt Amber und beißt extra laut auf ein Stück frittierte Kartoffelscheibe, die sie sich als »Snack, um das große Drama angemessen zu würdigen« mitgebracht hat.

»Ich glaube nich’, dass der Präsident es irgendjemanden wissen lass’n würd, dass er menschliche Bedürfnisse hat«, erwidert Trexler und erntet damit ein kleines Schnauben von Isla, die ihren Kopf an die Schulter ihres Mannes gelehnt hat.

Als der Fernseher schließlich von alleine zum Leben erwacht und uns mit Flickerman im Trainingscenter begrüßt, müssen wir fast zeitgleich über unsere Nervosität lachen. Anstatt des Jubeljubiläums bekommen wir Hochzeitskleider präsentiert. Katniss Everdeens Kleider, um genau zu sein. Riesige, weiße Roben mit Röcken aus zig Schichten Stoff, die alle aussehen wie das Sahnehäubchen auf einer Torte. An manchen hängen Perlen und andere glitzern, aber hässlich sind sie allemal.

Offenbar soll das Kapitol für seinen Favoriten abstimmen und dem Geschrei aus dem Publikum zufolge hat jeder Entwurf eine feste Fanbase. Amber macht sich einen Spaß daraus, Caesars Stimme nachzuäffen und ihre unverblümte Meinung über die einzelnen Kleider vorzutragen, sodass wir zumindest etwas zum Lachen haben nach den Anspannungen des Tages.

»Und hier sehen wir den Entwurf mit dem Titel ‚Toter Schwan – vom Krokodil gefressen und wieder hochgewürgt‘ – ein wahres Meisterwerk!«, ruft Amber ungeachtet ihres vollen Mundes. »Beachten Sie vor allem die Details auf dem Rock, die an hervorquellende Innereien erinnern sollen, werte Damen und Herren.«

Kichernd kuschle ich mich fester an Finnick, mit dem ich mir einen Sessel teile. Ich wünschte, wir könnten so etwas viel häufiger tun. Einfach mit unserer Familie zusammensitzen und Spaß haben.

Doch selbst die schönsten Abende kommen irgendwann zu einem Ende und das nicht, weil ich eingeschlafen bin – auch wenn ich zwischenzeitlich nah dran war dank der Wärme in Floogs’ Wohnzimmer und dem sanften Streicheln von Finnicks Fingerspitzen auf meiner Schulter. Flickerman verabschiedet sich von den Zuschauern, erinnert noch ein letztes Mal an das Voting und dann ... heißt es, dass wir dranbleiben sollen für Neuigkeiten bezüglich des Jubeljubiläums.

Mein Magen sinkt dem Fußboden entgegen. Zeitgleich lässt Amber ein halblautes »Ach nö« hören. Also doch.

Die Leichtigkeit des Abends entschwindet nicht nur aus Floogs’ Haus, sondern auch aus dem Fernsehstudio. Wo eben noch lachende Gesichter gezeigt wurden, sind nun ernste – aber ebenso begierige – Mienen zu sehen und die getragene Hymne erschallt, während Präsident Snow gefolgt von einem kleinen Jungen ganz in Weiß auf der Bühne erscheint.

Mags seufzt. »Es ist noch genau wie damals ...«, verkündet sie in ihrer leise schleppenden Stimme. »Gleich wird er einen Umschlag aus dem Holzkasten da ziehen und die Besonderheit des Jubeljubiläums verkünden.«

Nicht ohne uns zuvor mit einer Rede über die Bedeutung des Jubiläums zu quälen allerdings. Mit jedem Wort des Präsidenten rutsche ich weiter an die Kante des Sofas vor und den anderen geht es ebenso. Sogar der sonst so stoische Trexler vergräbt sein Gesicht in Islas Haaren. Ich selber kralle die Finger in Finnicks Arm, aber ich habe trotzdem das Gefühl, immer weiter von ihm fortzutreiben, wie eine lose Boje auf See.

»Auch in schweren Zeiten brauchen wir stets eine Erinnerung daran, wie viel Leid die Aufstände uns gebracht haben – damit wir niemals dazu verdammt werden, die Geschichte zu wiederholen«, sagt Snow bedeutungsschwanger und sein Blick gilt der Kamera – und geht direkt in mein Herz.

Ich wimmere leise. Es ist doch längst zu spät, die Letzte Welle in Distrikt Vier lässt sich nicht mehr aufhalten, schon gar nicht von mir alleine. Wir alle schwimmen in ihr mit und ich kann nur hoffen, dass sie Snow eines Tages genauso mit sich reißen wird.

»Annie«, flüstert Finnick an meiner Seite heiser, »sieh mich an. Bitte.« Er umfasst mein Gesicht mit beiden Händen und mir bleibt gar nichts anderes übrig, als in dem wilden Sturm seiner Augen zu versinken. »Was immer gleich geschieht, denk daran, dass unsere Liebe stärker ist als alles sonst.«

Mein Kinn zittert haltlos, doch ich nicke. Mit geschlossenen Lidern lehne ich die Stirn gegen Finnicks und horche in die angespannte Stille hinein. Alle im Raum halten die Luft an, während das leise Knistern eines Briefumschlags ertönt, der geöffnet wird.

»Am fünfundsiebzigsten Jahrestag werden als Erinnerung für die Rebellen daran, dass nicht einmal die Stärksten unter ihnen die Macht des Kapitols überwinden können, die männlichen und weiblichen Tribute aus dem bestehenden Kreis der Sieger ausgelost.«

Die Worte verschlingen sich in meinem Kopf zu einem Knoten. Bestehender Kreis der Sieger ... Das kann nicht sein, das ist gegen die Regeln ... Regeln, die letztes Jahr schon einmal gebrochen wurden. Und mit diesem Gedanken verliere ich endgültig den Halt.

»Dieser Wichser!«, brüllt eine laute Stimme – »Nein!«, eine andere, panischere – »Das können die nicht machen!«

Ich reiße die Augen auf. Alles, was ich sehe, ist grün-blau, wie das Meer im Sommer, wie das Versprechen von Frieden und schönen Zeiten und der Hoffnung auf Kinderlachen und all das zerfällt zu Asche, als Finnick eine stumme Träne die Wange hinabläuft. Dieses Mal sind es nicht meine Hände, die meine Ohren verdecken und alle Geräusche ertränken, sondern seine warmen, schützenden, kräftigen Hände, die mich festhalten und es irgendwie schaffen, jeden Gedanken in mir festzuhalten; meinen Kopf zusammenzuhalten und die dafür sorgen, dass ich nicht wieder in tausende Scherben zerbreche, obwohl Risse meine Haut durchziehen wie feinstes Porzellan.

Das Kapitol will uns tot sehen. Uns alle, aber Finnick und mich im Besonderen. Es ist ihnen egal, ob unsere Körper leblos aus der Arena geborgen werden oder einer von uns als leere Hülle zum Sieger gekrönt wird, denn sie werden uns sowieso brechen. Ich weiß es und Finnick auch. Dieses Jahr gibt es nur zwei Namen, die auf den Loszetteln stehen werden.

Finnick lässt nicht los. Er wiegt sich mit mir von einer Seite zur anderen, aber seine Hände bleiben auf meinen Ohren, selbst als er mich küsst und wieder küsst und alle übrigen Empfindungen für einen Moment verschwinden. Und ich weigere mich, weiter zu denken. Nicht für eine Sekunde kann ich an irgendetwas denken, was passieren wird, wenn wir diesen Raum verlassen. Solange wir hier drinnen sind, ist die Welt noch in Ordnung, sind wir in Sicherheit ...

Um uns herum ist alles in Bewegung. Aus dem Augenwinkel sehe ich wilde Gesten, flackernde Lichter, spüre einen Luftzug, der meine Haare durcheinanderwirbelt –

Eine Hand landet auf meiner Schulter. Amber. Ihre schwarzen Augenbrauen bilden einen wütenden Strich. Sie öffnet den Mund, nein, reißt ihn viel mehr auf, gestikuliert wirr, stößt eine Faust in die Luft ... Ich schüttle verwirrt den Kopf. Nun sagt auch Finnick etwas, sieht Amber eindringlich an – und dann sinkt sie neben uns auf die Knie. Wieder öffnet sie den Mund und dieses Mal erreichen die Worte mich, denn Finnick löst vorsichtig eine Hand von meinem Ohr.

»Du gehst nicht erneut in die Arena«, sagt Amber leise, aber fest. »Das lasse ich nicht zu, hörst du?«

»Das ist egal.« Ich hole Luft und zeitgleich rutscht mir ein zittriges, frustriertes, trauriges Lachen raus. »Es ist alles egal, weil Finnick gehen wird. Mit dem Kopf werde ich immer in der Arena sein.«

Ambers Schultern beben und sie presst ihre Handflächen gegeneinander. »Ich werde ihn umbringen«, flüstert sie. »Ich werde Snow eigenhändig die Kehle durchschnei-«

Finnick drückt die Hand zurück auf mein Ohr und unterbindet damit erneut alle Geräusche. Trotzdem sehe ich, dass Riven zur Tür hereinstürmt, nur eine Jacke über dem Nachthemd. Auch sie gestikuliert wild und wird erst ruhiger, als Floogs ihre Oberarme umfasst und sie schließlich in eine vorsichtige Umarmung zieht.

Ich tippe Finnick auf den Handrücken. Unglücklich sieht er mich an, lässt dann aber langsam seine Barriere sinken. Im Wohnzimmer ist es stiller als angenommen. Anstatt wilden Geschreis erwarten mich das Plärren des Fernsehers, der inzwischen zum Standardprogramm übergegangen ist, und immer wieder ungläubige Wortfetzen, die unbeantwortet im Raum hängen bleiben.

»Snow muss verrückt geworden sein.«

»Das wird selbst den Leuten im Kapitol nich’ gefall’n.«

»Wir müssen trainieren, nur für den Fall.«

Riven schluchzt. »Ich will nicht wieder in die Arena ... Nicht schon wieder ...«

Mags sitzt als Einzige ganz still da und betrachtet uns alle nacheinander. Trexler, der Isla in seine kräftigen Arme geschlossen hat und ihr leise Dinge zuflüstert; Amber, die immer noch vor mir kniet und deren Muskeln verdächtig zucken; Floogs, der Riven ein Taschentuch anbietet, und schlussendlich Finnick, der jetzt meine Hände festhält.

»Keiner von euch muss gehen«, sagt Mags bedächtig. »Ich denke, wir wissen alle, dass nur einer von uns die wahre Chance hat, zurückzukehren.«

»Also denkt nicht einmal daran, euch freiwillig zu melden, klar?« Finnick erdolcht Floogs und Trexler förmlich mit seinen Augen. »Das ist Snows Rechnung an mich und ich werde sie mit Freuden begleichen.«

Ein wütender Schrei verkantet sich in meinem Hals. Ich will das nicht, er soll bei mir bleiben, leben –

»Und die andere Person werde ich sein.« Mehrere Münder klappen bei Mags’ Worten auf, doch sie schüttelt den Kopf. »Keine Widerworte. Wir wollen dem Kapitol schließlich nicht geben, was es will.« Ihr Blick kommt auf mir zur Ruhe. »Zeigen wir ihnen, dass das Leben immer einen Weg findet zu siegen, solange das Meer flüstert.«


Nachwort zu diesem Kapitel:
Liebe Leser,

endlich komme ich mal wieder dazu ein neues Kapitel hochzuladen! Es tut mir wirklich sehr leid, dass teils so große Abstände zwischen den Kapiteln sind, aber das Leben gestaltet sich gerade etwas turbulent und das wird sich wohl erst mal nicht ändern. Trotzdem hoffe ich, dass ihr weiterhin mit Spannung dabei seid und Gefallen an der Geschichte findet. Falls nicht lasst mich gerne eure Meinung wissen ;)
Wie dem auch sei, jetzt kommt endlich Fahrt in die Geschichte und wir werden ein paar bekannte Gesichter demnächst öfter sehen.
Und falls ihr bis hierhin gelesen habt: Vielen, vielen Dank, ohne eure Favos hätte ich wahrscheinlich nie so weit geschrieben, denn ihr gebt mir Motivation! Die Gelegenheit nutze ich auch gleich mal für ein bisschen schamlose Eigenwerbung: Ich habe vor kurzem einen OS über Johanna geschrieben – vielleicht habt ihr ja Lust auch da mal reinzulesen? Hier findet ihr „Geliehens Glück“: https://www.animexx.de/fanfiction/393755/?js_back=1
Ich würde mich sehr freuen.

Bis zum nächsten Kapitel
eure Coronet Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Liebe Leser,
endlich wieder ein neues Kapitel in dem ein paar andere Sieger vorkommen! Ich muss sagen, Johannas fiese Art zu schreiben macht mir tatsächlich Spaß, ebenso wie die Gedanken zur Rebellion, die bereits daran arbeitet einen Tribut als neuen Hoffnungsträger auszuerwählen… Wie seht ihr das? Glaubt ihr, dass alles Zufall war, oder hat Distrikt 13 da mehr Einfluss gehabt?
Ich hoffe jedenfalls, dass meine Vision für euch auch spannend ist! Falls ihr mir ein kleines Review dalasst würde ich mich sehr freuen :)
Ansonsten wünsche ich euch eine ruhige Vorweihnachtszeit. Erholt euch von diesem verrückten Jahr und bleibt gesund – hoffentlich lesen wir uns bald in einem neuen Kapitel!
So long
Coronet Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Frohes neues Jahr, liebe Leser!
Ich hoffe ihr hattet ruhige Festtage und seid alle bei bester Gesundheit. Um die Feiertage rum habe ich mir eine kleine Pause gegönnt, aber jetzt bin ich voller Tatendrang zurück und dank einem tollen Weihnachtsgeschenk auch mit einem neuen Schreibprogramm gerüstet, mit dem es sich komfortabler schreiben lässt, als mit OpenOffice. Mit all den Funktionen habe ich mich die letzten Tage beschäftigt anhand des neuen Kapitels. Kann sein, dass sich dadurch mein Schreibprozess künftig etwas länger streckt, aber dafür sollte es der Qualität der einzelnen Kapitel helfen :)
Jedenfalls geht es jetzt weiter mit Meeressturm und damit auch der Vorbereitung auf die 74. Hungerspiele. Was, glaubt ihr, hat Beetee wohl Finnick gegeben?
Bis zum nächsten Mal,
eure Coronet Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Arme Annie, erst ein Tag der sie völlig aufwühlt und dann bleibt sie auch noch in dem Wissen zurück, dass Finnick den Abend mit einer anderen Frau verbringen muss. Wie wird es ihm damit wohl ergehen? Und was wird nur aus den beiden entzweiten Tributen? Keine guten Voraussetzungen für den Start der Spiele...

Vielen Dank fürs Lesen! Lasst auch gerne eure Meinung in den Kommentaren da, ich bin immer gespannt was ihr denkt. Hoffentlich bis nächstes Mal! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Hoffnung ist eine mächtige Sache - sie kann einen schützen, aber auch sehr verletzen. Finnick ist gefangen in den Hungerspielen und weiß wie gering die Chancen für seine Tribute sind und trotzdem kann er nicht aufhören sich selber, Annie und den Tributen Hoffnung zu machen. Wird sich das noch rächen?
Was, denkt ihr, wird beim Blutbad geschehen? Aus Katniss Perspektive haben wir ja nur einen Bruchteil mitbekommen... Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Damit hat die Geschichte 100k Wörter erreicht! Wahnsinn, wie lange ich schon an der Geschichte schreibe (und dass es auch noch gelesen wird). Vielen Dank an alle, die Annies Geschichte bis hierhin verfolgt haben! Auf zu den nächsten 100k - oder so ;) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Vielen Dank fürs Lesen! Falls ihr noch Lust habt, mehr über Cordelia und Riven zu erfahren - ich habe einen kleinen OS als Sidestory veröffentlicht: https://www.animexx.de/fanfiction/395302/?js_back=1
Es würde mich freuen, wenn ihr vorbeischaut! Komplett anzeigen

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Von: irish_shamrock
2023-05-01T13:26:54+00:00 01.05.2023 15:26
Meine liebe Coronet,

ich möchte weinen bei Mags Worten. Da hast du die Bombe nun auch für Distrikt vier platzen lassen und eigentlich habe ich mich bei den Worten von Amber und Trexler sogar köstlich amüsiert, bliebe da nicht der bittere, faulige Nachgeschmack des Jubeljubiläums.
Auch wenn mir die Szene auf Emerald Island gefallen hat, unabhängig Annies Gedanken an Kinder, deren Namen und der Tatsache, dass jene dann ohnehin auf Grabsteinen Stunden, hatte dieser Moment etwas Leichtes, aber auch Bedrückendes.
Was ihnen jedoch wieder in den heimischen Gefilden widerfährt, ist einfach nur stumpfsinnige Bürokratie und Niedertrampeln möglicherweise Aufständischer. Letztendlich sitzt die Regierung am längeren Hebel. Was mir allerdings gefällt, ist die Tatsache, dass alles bereits köchelt, und Katniss wohl wirklich nicht mehr als ein Gesicht für die Revolte ist, denn eigentlich hatte ich beim Lesen der Bücher (von 1 und 2 war ich so begeistert, im 3. Band hab selbst ich der faulen, selbstgefälligen Kuh den Tod gewünscht) den Eindruck, dass es durch die ... nicht Naivität aber irgendwie ... Dummheit und Gleichgültigkeit Katniss', dass ihr die Tragweite nicht bewusst ist, ihr die Weitsicht fehlt. Klar muss sich etwas verändern. Aber letztendlich bleibt sie nur ein "Platzhalter", eine "Werbefläche" für die Spiele der Großen und hat keine Ahnung davon, was sie all den Unschuldigen, den gepeinigten Seelen antut. Es bleibt ein Spiel großer Egomanen.
Was für eine Aufregung!!

Alles Liebe,
irish C:
Von: irish_shamrock
2023-05-01T12:20:17+00:00 01.05.2023 14:20
Meine liebe Coronet,

uff, ein recht heftiges, wenn auch hoffnungsvoll-kämpferisches Kapitel. Obwohl ichein wenig unsicher bin, was die Beteiligten der letzten Welle betrifft. So wirklich mag ich noch nicht glauben, dass sie, obwohl augenscheinlich brennend vor Wut, auch den Mumm/Mut haben, sich dem Kommenden auch anzunehmen. Brennende Schifferboote und gehängte Friedendwächter zum Trotz. Irgendetwas ist mir da trotzdem noch nicht ganz geheuer. Aber du wirst dir schon etwas dabei gedacht haben und vielleicht werde ich ja eines besseren belehrt ^^ ...

Liebe Grüße,
irish C:
Von: irish_shamrock
2023-05-01T11:19:40+00:00 01.05.2023 13:19
Hallo Coronet,

Schreibblockaden sind richtig fiese Biester x.x ... ich hoffe, dass du weiterhin von diesen bösen Drangsalieren verschont bleibst!
Nichtsdestotrotz freue ich mich, dass du dich Annies Sicht wieder annehmen konntest, auch wenn die Geschehnisse mit bitteren Folgen aufwarten.
Auch dieses Mal hast du die Verbindung zur Hauptstory gut eingeflochten. Der Druck auf die Bewohner der Distrikte, hier natürlich im Speziellen Distrikt vier, wächst gefühlt mit jedem Pulsschlag und auch hier sind die Folgen und Risiken Unausweichlichen, bedrohlich und abzusehen. Der Unmut wächst und die Gegenwehr steht in den Startlöchern. Es muss Annie sehr viel Mut abverlangt und vor allem Überwindung gekostet haben, sich ihrem einstigen fast-beinahe-Schwiegervater zu stellen.

Ich hüpfe rasch zum nächsten Kapitel.
Liebe Grüße,
irish C:
Von: irish_shamrock
2023-05-01T10:35:09+00:00 01.05.2023 12:35
Hallo Coronet,

es muss tatsächlich schon eine ganze Weile her sein, dass ich mich deiner faszinierenden Geschichte rund um Finnick, Annie und den Hunger Spielen angenommen habe. Die arge Verzögerung tut mir wahnsinnig leid :( ...
Auch musste ich mich erst einmal wieder einfinden, aber das war kein Problem.
Riven - die "Problemsiegerin" - ihr Auftreten und Verhalten hast du gelungen rübergebracht. Sie ist wütend, unendlich traurig und vor Zorn so verblendet, dass sie mutwillig aggressive Züge an den Tag legt. Dass Annie ihr ein wenig den Wind aus Segeln nehmen kann (haha, kleiner Distrikt 4 Witz), hilft vielleicht, das Vergangene zu verstehen - wenngleich zu akzeptieren schwer fällt.
Uff, dass Beetee und Finnick in Kontakt stehen, bringt ein wenig Licht in die Wirrungen der Rebellion. Obschon Senea Cranes Tod wohl zu erwarten, aber dennoch überraschend kommt. Es gefällt trotzdem, dass es dir immer wieder gelingt, die Fäden zwischen Buch/Film zu einzuknüpfen, dass der Verlauf noch erhalten und getreu nachvollziehbar ist, ohne abzudriften aber gleichzeitig zeigst du in beeindruckender Weise, wie das Leben in Distrikt 4 hätte verlaufen können, stünde Katniss als Prota der Bücher nicht im Fokus.

Meine liebe Coronet,
ich gelobe Besserung was das kommentieren der nächsten Kapitel betrifft, immerhin schreibst du fleißig und tapfer weiter!

Alles Liebe,
irish C:
Von: irish_shamrock
2021-10-30T17:28:06+00:00 30.10.2021 19:28
Meine liebe Coronet,

ich bin wahrhaftig und tatsächlich und vor allem vom letzten Absatz sehr ergriffen.
Noch mal das Sterben, das ganze Grauen und dieses fulminante Finale der 74. Hungerspiele zu erleben - wenngleich aus Annies Sicht - hat mir Schauer über den Rücken gejagt und Tränen in die Augen getrieben.
Wie so oft muss ich wiederholt betonen, wie großartig du schreibst und dass es jedes Mal ein wahres Erlebnis ist, deinen Ideen und deren Umsetzung zuzusehen.
Großes Kino - wirklich.
Und nicht minder ... wortreich als das Original.
Bei S. Collins jagte bereits ein Feuerwerk das nächste, doch bei dir wird hinter die Kulissen geblickt. Welche Fäden werden bzw wurden wie verknüpft. Wie kam es zu den Regeländerungen beim/zum großen Finale. Wie hatte Snow Finnick zwingen können, sich zu verkaufen?! ...

Für deine weiteren Schreibideen wünsche ich dir viel Inspiration, Geduld und dass dir die Musen weiterhin derart auf die Pelle rücken ;) ...

Auch wenn ich nicht weiß, ob dieses Kapitel tatsächlich das letzte in dieser Geschichte ist (da du nichts dergleichen hier angegeben hast, hoffe ich einfach auf 1, 2 weitere Kapitel), wünsche ich dir und treuen Fans noch ganz viel Freude am Schreiben, Lesen und Inspirationensammeln und Ideenwälzen ❤ ...

Alles Liebe,
irish C:

PS: am Handy tippen ist voll doof
PPS: Es wird definitiv eine Story zu Band 2 fällig!!!
Antwort von:  Coronet
31.10.2021 18:19
Liebe irish,

ich kann nur sagen - Vielen, vielen, vielen Dank für diesen lieben Kommentar und all deine netten Worte hier und auch in den vergangenen Wochen/Monaten, das bedeutet mir sehr viel, gerade weil mir die letzten Kapitel nicht unbedingt leicht gefallen sind. Es freut mich sehr, dass dich die Geschichte auch aus diesem anderen Blickwinkel ergreifen konnte, auch wenn der Ausgang längst feststeht. Und natürlich ehrt es mich, dass du Annies und Finnicks Reise so fleißig bis zu diesem Zeitpunkt verfolgt hast und mich immer wieder an deinen Gedanken teilhaben lässt, das ist ja auch nicht selbstverständlich.

Tatsächlich ist dies noch lange nicht das Ende ihrer Geschichte und auch nicht dieser im Besonderen. Schon seit geraumer Zeit warten einige Kapitel zu den 75. Hungerspielen und auch der Rebellion darauf, das Licht der Welt zu erblicken (sogar das Ende ist schon geschrieben). Wenn du also noch Lust hast, dann kannst du dich noch weiter mit den beiden auf Reisen begeben.

In dem Sinne nehme ich deine Wünsche für viele weitere Inspiration und Geduld auf jeden Fall dankend auf und hoffe, dass sie mir bei dieser Geschichte noch weiter nützlich sein werden ❤

Ganz liebe Grüße
Coro
Von: irish_shamrock
2021-10-07T15:48:06+00:00 07.10.2021 17:48
Hallo Coro,

ich freue mich, dass es ein neues Kapitel gibt :) ...
Die Begegnung zwischen Finnick und Dr. Gaul jagt mir jetzt noch einen Schauer über den Rücken.
Wie immer bin ich beeindruckt und sehr angetan, wie du an deiner Parallelstory arbeitest und fleißig alles so bastelst, dass es als Nebenhandlung zum Original selbigem in nichts nachsteht.
Es sind diese kleinen, raffinierten Momente und Situationen, Worte und Handeln, die so eindringlich sind, dass mir jetzt noch beim Gedanken an pinke Giftschlangen und Jägerwespen alles kribbelt.

Ich wünsche dir viel Kraft fürs Weiterschreiben.

Liebe Grüße,
irish C:
Antwort von:  Coronet
09.10.2021 21:52
Liebe irish,

und ich freue mich wiederum, von dir zu lesen :)
Haha, es freut mich ja ein wenig, das zu lesen - dann habe ich mit Dr. Gaul schon einmal eines meiner Ziele erreicht, sie soll ein unbequemer Charakter sein. Und es freut mich, dass diese ganzen Geschehnisse nicht zu sehr an den Haaren herbeigezogen wirken. Die letzten Kapitel waren in der Hinsicht wirklich nicht einfach, deswegen hat's auch wieder länger gedauert (leider).

Vielen Dank für deine lieben Worte zu dem Kapitel, das spendet auf jeden Fall wieder neue Motivation!

Liebe Grüße
Coro
Von: irish_shamrock
2021-09-12T15:44:39+00:00 12.09.2021 17:44
Meine liebe Coronet,

wieder lässt du mich sprachlos zurück. So viele Eindrücke, Ideen, dass mir der Kopf schwirrt. Allein Annies Recherche hat mir die Spucke geraubt. Auch wenn es nicht so fulminant gewesen sein mag, finde ich ihren Mut und ihre Tapferkeit bemerkenswert. Auch Snow gegenüber.
Das Spektakel im Palast ist so mitreißend beschrieben, auch wenn ich zu meiner Schande gestehen muss, gerade noch mal Band 1 hervorzukramen um mich zu vergewissern, dass es wirklich Marvel war, der Rue getötet hat. Er war es. ...
Ob es die Artikel in der Zeitung, die Erkenntnis über den Verwandtschaftsgrad Snow und Gauls oder der Bruch des Bündnisses der Karrieros war- dieses Kapitel hat mich begeistert.
Und so harre ich deinen nächsten Worten.

Alles Liebe,
irish C:
Antwort von:  Coronet
22.09.2021 15:54
Liebe irish,

haha, oh je, ich fürchte, das Kapitel ist etwas lang geworden. Es gab einfach so vieles, das ich noch unterbringen wollte/musste. Ich finde es schön, dass du Annies Recherche aufregend findest, auch wenn es nicht so großartig erscheint auf den ersten Blick, denn ich gebe dir völlig recht - für sie ist das eine ziemlich mutige Sache.
Es ist schön, zu lesen, dass dich das Kapitel mit seinen vielen kleinen Erkenntnissen so begeistert hat, denn gerade habe ich einen kleinen Motivationsknick. Da kommen so liebe Worte genau zur rechten Zeit :) Vielen Dank also, dass du dir wieder die Zeit für einen Kommentar genommen hast!

Ganz liebe Grüße
Coro
Von: irish_shamrock
2021-08-13T16:13:54+00:00 13.08.2021 18:13
Liebe Coronet,

was für ein Kapitel!
Du zündest ein Feuerwerk nach dem anderen und bringst Figuren zusammen, die man im dieser Konstellation wohl nie erwartet hätte und dennoch ergeben die Folgesituationen Sinn.
Das Schöne an Fanfiction ist ja, dass alles so gestaltet werden kann, wie es sich der Schreiber vorstellt und da herzlich wenig über eventuelle Zusammenkünfte der revoltierenden bekannt ist, ist und bleibt es umso spannender, deinen Ideen zu lauschen :) ...
Ich bin noch immer ganz hibbelig und bedanke mich für diese tollen Worte, die spannend, erhellend und so passend gewählt sind, dass deine Geschichte weiter Formen annehmen wird.

Ein schönes Wochenende dir und liebe Grüße,
irish C:

Antwort von:  Coronet
16.08.2021 19:46
Liebe irish,

bei deinen lieben Worten werde ich ja ganz rot! Vielen Dank für den lieben Kommentar, bei diesem Kapitel freut es mich ganz besonders, wenn es gefällt, denn zugegeben hatte ich ein wenig Bammel, dass es nicht jedem gefallen könnte, was ich mir da ersonnen habe. Gerade weil hier so verschiedene Charaktere aufeindertreffen.
Aber schön, wenn es hier spannend bleibt :)
Ich bin auch schon ganz gespannt, was du wohl zu den kommenden Entwicklungen sagen wirst!

Ganz liebe Grüße und eine tolle Woche dir!
Von: irish_shamrock
2021-07-30T13:35:23+00:00 30.07.2021 15:35
Hallo Coronet,

Ich möchte definitiv nicht mit Annie tauschen. Caesar, Dr. Gaul. Das arme Mädchen wird nie in Ruhe gelassen.
Mit dem Auftauchen der Ärztin hätte ich wirklich nicht gerechnet, doch ihr Auftritt hat dennoch etwas Bedrohliches. Zum Glück kam Finnick noch rechtzeitig. Hoffentlich verweist er die Alte aus dem Appartement.

Bis zum nächsten Kapitel ;) ...

Liebe Grüße,
irish C:
Antwort von:  Coronet
30.07.2021 16:52
Und nochmal Hallo :)

Oh ja, ich glaube, das möchte niemand. Aber schön, wenn dich der Auftritt von Dr. Gaul überraschen konnte :D
Was aus ihr wird, wird sich dann im nächsten Kapitel zeigen ;)

Liebe Grüße und schon einmal ein tolles Wochenende
Coro
Von: irish_shamrock
2021-07-30T12:58:59+00:00 30.07.2021 14:58
Hallo Coronet,

da du fleißig weiterschreibst, komme ich natürluch nicht an den neuen Kapiteln vorbei :)
Bei der Menge an Worten frage ich mich immer, wann ihr alle nur die Zeit zum Schreiben findet und Ergebnisse liefert, die so lesenswert sind, dass ich richtig schön abtauchen kann?!
Wie dem auch sei:
Ein tolles, wortreiches Kapitel, auch wenn die Handlung kaum bedrückender sein kann.
Dass im Kollektiv von den gefallenen Tributen, den Kindern, Abschied genommen wird, war so schön wie beklemmend.
Die Szene im Trainingsraum hatte etwas Befreiendes, und ich denke, dass es Annie guttat, etwas mehr noch als Finnick, dem der Stein auf der Brust wohl mit jeder neuen, erschütternde Nachricht mehr Pfund wiegt. (So grausam das auch klingen mag x.x)
Als Ausgleich gibt's Johanna, die als Boxbuddy wohl immer noch am besten geeignet ist.

Ich freue mich aufs nächste Kapitel. :)

Liebe Grüße,
irish C:

Antwort von:  Coronet
30.07.2021 15:34
Hey!

Es freut mich immer, von dir zu lesen :)
Sagen wir mal so - ich habe gerade unfreiwillig etwas mehr Zeit fürs Schreiben als die meisten anderen, daher schaffe ich es tatsächlich gerade recht regelmäßig ein neues Kapitel hochzuladen. Aber ewig wird das so sicher auch nicht weitergehen, haha.
Ich bin auf jeden Fall froh, dass es dir wieder gefallen hat! Und ich stimme dir da auf jeden Fall zu, für Annie war es in der Tat befreiend, Wut und Angst gleichermaßen rauszulassen.
Vielen Dank für die lieben Worte und ganz liebe Grüße
Coro


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