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Meeressturm

von

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Die stärkste Macht

Im Festsaal unter dem Trainingscenter ist es gespenstisch still. In dem Moment, da Katniss Everdeen mit ihrem dritten Pfeil auf die Vorräte der Karrieros zielt, könnte man ein Glitzersteinchen von den üppigen Kleidern der Sponsorinnen fallen hören.

Selbst Beetee hat aufgehört, wilde Notizen für mögliche Regeländerungen auf seinen kleinen Schreibblock zu kritzeln. Obwohl er und Finnick seit Tagen über nichts anderem mehr gebrütet haben – hier, im Trainingscenter und sogar auf einer Party im Präsidentenpalast – scheint ihr verzweifeltes Ringen nach einem Plan für den Augenblick vergessen. Beetees Finger mit dem Stift in der Hand schweben immer noch über dem Papier, aber seine Augen sind fest auf die Bilder aus der Arena gerichtet.

Grelles Weiß erfüllt den Bildschirm, als ein Apfel nach dem anderen aus dem Netz fällt und fast meint Finnick, dass der Marmorboden unter seinen Füßen erzittert. Hastig wechselt die Ansicht zu einer höher gelegenen Kamera, die von oben das verheerende Ausmaß der Detonationen einfängt. Von der einst stolzen Vorratspyramide bleibt nur ein Häufchen Asche.

Die Wucht hat Katniss von den Füßen geworfen. Sie liegt flach atmend auf der Erde und starrt mit einem wilden Ausdruck auf die von ihr verursachte Verwüstung. Ein Rinnsaal Blut läuft aus ihrem Ohr, aber das nimmt sie anfangs gar nicht wahr. Auf allen vieren kriecht sie zurück in das Gebüsch am Rand der Lichtung.

Beetee stößt ein leises Zischen aus. „Verdammt, das war clever.“ Sein Blick huscht suchend über die Leinwände, während er die Mine seines Stifts immer wieder ein- und ausfährt.

Finnick mustert seinen Verbündeten, dessen kleine Ticks ihn nach all den Tagen, die sie die Köpfe zusammengesteckt haben, die Wände hochtreiben könnten. „Sie haben’s verdient“, brummt er missmutig. Das Karrierobündnis ist angezählt und er bedauert es kein bisschen.

Sein Gegenüber lässt sich allerdings nicht zu einer Antwort herab. Mit der Zunge zwischen den Lippen verfolgt er angespannt, wie die Tribute aus Eins und Zwei aus dem Wald herausstolpern und zuerst fassungslos, dann wutentbrannt, auf die verkohlten Überreste ihrer Vorräte starren.

Erst da wird Finnick klar, worüber Beetee sich wirklich Sorgen macht. Natürlich. Sein Schützling, der auf das Lager aufpassen sollte, gehört auch zu den Karrieros. Zumindest solange er nützlich für sie ist. Jetzt steht er jedoch genauso bestürzt vor dem kläglichen Häufchen Asche wie die anderen Tribute. Wäre er nicht vorhin dem Mädchen aus Distrikt fünf gefolgt, hätten die Explosionen ihn vielleicht getötet.

Kaum, dass Cato ihn erblickt, wird seine erboste Stimme laut. „Was ist hier passiert? Wer hat das getan?!“

Der Tribut versucht stammelnd, eine Erklärung für die Verwüstung zu finden, doch den Karriero interessiert das nicht länger. Grob packt er den Speer des Jungen und entreißt ihn seinem Griff. „Das brauchst du nicht mehr“, zischt er mit einem gehässigen Grinsen. Mit einem letzten Rest Entschlossenheit will der Kleine weglaufen, aber Cato ist schneller – und stärker.

Beetees Augen weiten sich und der Stift in seinen Fingern kommt zur Ruhe. Cato schließt die kräftigen Hände um den Kopf des vierzehnjährigen Tributs. Es braucht bloß einen energischen Ruck und sein Körper fällt leblos zu Boden.

Im Festsaal geschehen viele Dinge auf einmal. Irgendwo im Saal lacht jemand. Beetees Augen schließen sich erschöpft. Eifriges Getuschel breitet sich unter den Gästen aus dem Kapitol aus. Eine übermütige Sponsorin fordert laut, dass man Enobaria und Brutus eine Flasche teuersten Champagner bringen soll, um auf den nahenden Sieg anzustoßen. Gloss und Cashmere hingegen erheben sich steif aus der gemeinsamen Sitzecke mit den Mentoren aus Distrikt zwei.

Cashmeres Lippen sind ein schmaler Strich, als sie mit klappernden Absätzen davonstolziert, eine sichtlich ausgedünnte Herde der Bewunderer an den Hacken. Nicht mehr lange und es wird sich zeigen, ob Marvel Cato gewachsen ist. Der Frieden ist zum Scheitern verurteilt.

Während die Karrieros darüber streiten, ob der- oder diejenige, die für das Auslösen der Minen verantwortlich ist, vielleicht bei den Explosionen gestorben ist, wendet Finnick sich wieder Beetee zu. „Ich– Es tut mir wirklich leid“, flüstert er betreten.

Doch Beetee schüttelt nur den Kopf. „Ich wusste, es würde passieren. Dass Jaxley überhaupt solange dabei war, ist schon ... überraschend.“ Trotzdem kann er den Schmerz in seinen dunklen Augen nicht verbergen.

„Wir sollten morgen weiter machen“, besänftigt Finnick ihn. „Geh lieber zu Wiress. Sie wird dich brauchen.“

Seine Gedanken wandern zu Annie, die ihn ebenso braucht, das hat er im Gefühl. Die ganzen letzten Tage war sie geistig abwesend, den Blick immer wieder auf Geschehnisse gerichtet, die außer ihr niemand sieht. Furcht beschleicht ihn, dass die Explosion möglicherweise einen Anfall ausgelöst haben könnten. Hoffentlich hat sie es gar nicht gesehen; sich nur irgendwo versteckt.

Wenn er und Beetee nicht verzweifelt versuchen würden, einen Notfallplan für die Regeländerung auszuhecken, zwischen all den restlichen Verpflichtungen, die Snow Finnick auferlegt hat, dann würde er Annie gar nicht erst so viel alleine lassen. Immerhin ist sie oben, bei den anderen – in Sicherheit.

Der Mentor aus Distrikt drei seufzt leise und reibt sich die Augen unter seiner Drahtbrille. „Du hast wohl recht ... aber morgen, morgen reden wir weiter ...“

In Schweigen versunken verlassen die beiden den Festsaal, in dem die Sponsoren ausgelassen mit Enobaria und Brutus feiern. Unterdessen warten die drei letzten Karrieros am See auf den Einbruch der Nacht, um herauszufinden, ob die Explosionen ihrer Vorräte einen Tribut in den Tod gerissen haben. Solange ist zumindest Katniss in ihrem Gebüsch außer Gefahr. Bis die nächtliche Verkündung der Toten offenbart, dass niemand in dem Inferno umgekommen ist.

In der dritten Etage wünscht Beetee Finnick eine gute Nacht und verschwindet im Dunkel seines Appartements. Zwar ruft Finnick ihm ein aufmunterndes „Bis morgen!“ hinterher, aber tief im Herzen weiß er, dass es bald keine Rolle mehr spielt. Das Kapitol wird auch ohne ihr Zutun eine Regeländerung einführen und alles seinen Gang gehen. In Distrikt dreizehn ist man offenbar zu demselben Ergebnis gekommen, denn bisher halten sie sich erstaunlich zurück.

Anstelle von Ruhe erwarten Finnick im vierten Stock grelle Lichter, Lärm und aufgeregte Schreie. In seinem Kopf bilden sich bereits hunderte grauenhafte Szenarien mit Annie – panisch, verwirrt, verzweifelt – aber das, was er sieht, sobald er den offenen Wohnbereich betritt, übertrifft sogar diese schmerzlichen Vorstellungen.

Die Frau mit den pinken Haaren, die dort auf dem Teppich kniet, ist ihm völlig unbekannt, aber für ihren geschmacklosen Aufzug gibt es nur eine Erklärung – sie ist aus dem Kapitol. Und sie hat sich über Annie gebeugt. Er ahnt, wer sie ist und warum sie hier ist. Wut kocht in ihm hoch wie Milch in einem geschlossenen Topf.

„Weg von ihr!“, schreit er, noch im Türrahmen stehend. Die Worte halten die Frau aber nicht davon ab, Annie weiterhin mit ihren beringten Händen zu betatschen und leise auf sie einzureden. Und Amber, die elende Verräterin, sie steht nur da und sieht zu!

In wenigen Schritten überbrückt Finnick die Distanz und reißt die Kapitolsfrau an ihrem dünnen Arm hoch. „Fass sie nicht an!“ Entschlossen versetzt er ihr einen Stoß vor die Brust, bevor er sich zwischen sie und die am Boden kauernde Annie schiebt. Er wagt es nicht, die pinkhaarige Kapitolerin aus dem Blick zu lassen.

Mit großen Augen stolpert die Frau rückwärts und fällt schließlich ungalant auf ihren Hintern. Sie stammelt irgendwas davon, dass sie nur helfen wolle, aber Finnick hört gar nicht zu. Es ist ihm egal. Genauso egal wie Snows ewige Strafen.

„Lass sie einfach in Ruhe! Ihr habt genug Schaden angerichtet!“ Seine Stimme überschlägt sich beinahe so sehr wie die eines weinenden Tributs im Interview mit Caesar Flickerman.

Am ganzen Leib zitternd hält er inne, die Hände zu Fäusten geballt. In seinem Unterbewusstsein registriert er, dass Amber ihm etwas zuzischt und sich ihre kalten Finger fest um seinen Oberarm schlingen, aber er ignoriert sie. Sein Blick durchbohrt die kleine Frau in dem rosa Kostüm, anstelle des Dreizacks, den sie für ihre abscheulichen Verbrechen verdient hätte.

„Du rührst Annie nie wieder an!“, verlangt er. „Nie. Wieder!“

Sämtliche Farbe weicht aus den bleichen Zügen der Kapitolsfrau. „Ich habe nicht-“, hebt sie an.

„Es ist mir egal, wie ihr es nennt! Eure Therapie oder was auch immer ... ihr werdet Annie nie wieder quälen!“

„Ich-“, stammelt die Frau noch einmal, aber dann gewinnt ihre zitternde Unterlippe den Kampf. Rückwärts schiebt sie sich über den Boden von ihm fort, wobei ihr enger Rock hochrutscht.

Der Ausdruck in ihrem Gesicht erinnert Finnick mit einem harschen Ziehen in der Magengegend daran, wie sein erstes Opfer in der Arena ihn angesehen hatte. Am Füllhorn. Distrikt ... neun? Sie hatte dieselbe Angst in den braunen Augen geschrieben wie diese Frau.

Ohne sie anzusehen, entreißt er Amber seinen Arm und dreht sich zu der einzigen Person im Raum um, die in diesem Moment zählt. Nur wartet da nicht mehr das zusammengekrümmte Bündel Elend auf ihn. Sie ist weg. Annie ist weg.

Es braucht ein paar Sekunden, in denen er nur den leeren Fleck Teppich anstarrt, auf dem dunkle Tränenspuren zu sehen sind. Dann reißt er den Blick hoch. Wo sind die Friedenswächter, die sie geschnappt haben? Er springt los, getrieben von seinem rasenden Herz, das so heftig trommelt wie Platzregen auf einem Blechdach.

„Annie? ANNIE?“

Nirgends blitzt eine verdächtige weiße Rüstung auf. Da ist nur die Frau aus dem Kapitol, die weiterhin zitternd auf dem Boden hockt. Doch bevor er auch nur daran denken kann, sie anzuschreien, steht Amber plötzlich wieder vor ihm, die kräftigen Arme in die Seiten gestemmt.

„Reg dich ab, Odair!“, bellt sie so laut, dass man es wohl noch im zwölften Stock hört. Ärger funkelt in ihren dunklen Augen. Er sieht die Ohrfeige nicht kommen; fühlt es erst, als es zu spät ist. Klatsch. Ein brennendes Ziehen rast durch seine Wange und augenblicklich füllt sich sein Mund mit metallischem Geschmack. Amber hatte schon immer einen kräftigen Schlag.

„Fuck, Hart, wofür ist das denn?“ Ein dünner Faden Blut tropft über seine Lippe auf den Teppich und irgendwo im Hintergrund hört er ein hysterisches Luftschnappen, das verdächtig nach Cece klingt.

„Reiß dich am Riemen, Odair“, zischt Amber mit unterdrückter Stimme zurück. „Niemand hat Annie entführt! Bei deinem Theater ist sie von ganz alleine abgehauen.“ Sie schüttelt den Kopf.

Betreten spürt Finnick, wie fünf Paar Augen schwer auf ihm ruhen. Seine Wut verebbt langsam, aber das Zittern in seinen Gliedmaßen bleibt. Die pinkhaarige Frau vor ihm starrt ihn an wie eine Maus die Katze. Übelkeit breitet sich in seinen Eingeweiden aus. Was hätte er beinahe getan?

Seine Stimme klingt rau, als er endlich die Sprache wiederfindet. „Was macht diese Frau hier?“ Ganz kann er die Abscheu nicht verbergen.

Floogs räuspert sich. „Mh, Finnick, das ist Dr. Gaul, aus dem-“

„Labor“, seufzt die junge Frau mit dem pinken Haar. Sie versucht ein kleines Lächeln, aber es scheint ihr auf halbem Wege im Hals stecken zu bleiben. „Dr. Gaia Gaul, Abteilung für genetische Ursachen- und Optimierungsforschung.“ Ihr Blick senkt sich auf die zitternden Hände in ihrem Schoß. „Ich bin nur zu einem Routinebesuch gekommen. Ich wollte nicht ...“

„Sie wollten sich nur von Annies Wohlbefinden überzeugen, nicht wahr?“, souffliert Floogs hilfsbereit.

„Schön“, entgegnet Finnick harsch, „dann weiß sie ja, dass alles in Ordnung ist, oder? Sie hat Annie gesehen, es geht ihr –“

„Finnick?“, unterbricht ihn eine Stimme, die er unter tausenden wiedererkennen würde. Seine geliebte Muschelsplitter-Sängerin, die Erinnerung daran, dass alles besser werden kann; sein Flüstern des Meeres.

„Annie?“ Er hasst die Entfernung, die in diesem Augenblick zwischen ihnen liegt. Sie steht im Durchgang zur Küche, durch den die Avoxe immer verschwinden, ihre Arme fest um den Oberkörper geschlungen. Das Zittern kann sie trotzdem nicht vor ihm verbergen. „Wie geht es dir? Hat sie dir etwas getan?“

Annie schüttelt den Kopf, dass die braunen Haare nur so fliegen. „Nein, alles – alles gut. Dr. Gaul hat nichts getan. Wirklich. Ich habe mich nur ... erschrocken. Es war so laut. Wie in der Arena ...“ Ihre blau-grünen Augen wandern losgelöst durch den Raum, bevor sie zu ihm zurückschießen. „Du bist wieder da“, stellt sie fest und ein kleines Lächeln zieht ihre Mundwinkel nach oben.

„Ja“, sagt er leise, in Ermanglung besserer Worte. „Ich hab mir solche Sorgen gem-“, aber weiter kommt er nicht, denn da ist sie schon auf ihn zugestürzt und hat ihre schmalen Arme mit erstaunlicher Kraft um ihn geschlungen.

Sie presst ihre Wange an seine Brust und er fühlt, wie sein Shirt feucht wird. Die Welt um sie herum ist vergessen. „Bleibst du diesmal ein wenig länger?“

Er würde so gerne etwas anderes sagen, aber die Wahrheit siegt wieder einmal. „Ich habe heute Abend noch ... einen Termin.“

An der Art, wie Annie sich in seinen Armen versteift, merkt er, dass sie die Bedeutung hinter seinen Worten begreift. Er hat Kundschaft. Trotzdem – oder gerade deswegen? – lässt sie nicht los.

Erleichtert verbirgt er sein Gesicht in ihrem Haar, dass auch nach zwei Wochen im Kapitol den schwachen Duft von salziger Seeluft verströmt. Nicht auszumalen, was geschehen wäre, wenn die Friedenswächter Annie wieder mitgenommen hätten.

Lange darf dieser Moment allerdings nicht währen. Dr. Gaul hockt immer noch da, die silbern umrahmten Augen inzwischen weit aufgerissen. Für jeden im Distrikt vier Team ist es ein offenes Geheimnis, wem Finnicks Herz gehört, aber im ganzen Kapitol glauben sie, eine andere Wahrheit zu kennen. Nur, dass in dieser Situation selbst ein Eremit aus den fernen Bergen erkennen würde, was er wirklich empfindet.

Immer wieder sieht Dr. Gaul von Finnick zu Annie und zurück, bis sie betreten den Blick abwendet, als sie seinen Augen begegnet. „Es tut mir leid“, flüstert sie in die angespannte Stille hinein. „Ich wusste nicht ...“ Noch einmal schaut sie kurz hin und her, eine Hand an den Hals gelegt. „Ich werde in meinen Bericht schreiben, dass alles in bester Ordnung ist und sich Annie auf dem Weg der, ähm, Heilung befindet. Weitere Behandlungsschritte erscheinen mir nicht notwendig.“

Überrascht ringt Finnick nach Luft. Die Fesseln um sein Herz lösen sich mit jedem Wort von Dr. Gaul weiter.

„Ich denke, Annie hat alles hier, was sie braucht“, schließt die Forscherin mit einem wehmütigen Lächeln an ihn gewandt. „Damit ist diese Angelegenheit abgeschlossen. Einen schönen Abend noch.“ Hastig wirft sie ein Kopfnicken in die Runde und verschwindet dann in Richtung Fahrstuhl.

 

Auch später, als Finnick längst im Bad steht, um sich auf sein abendliches Treffen vorzubereiten, geht ihm das letzte, fast schon traurige Lächeln auf dem Gesicht von Snows Agentin nicht aus dem Kopf. Sie ist unbestreitbar an grausigen Experimenten im Namen des Präsidenten beteiligt – er muss nur an Annies Schilderungen des Wolfs mit den Augen eines Kindes denken – und doch lag etwas Weiches darin. Mitleid?, fragt er sich, nicht zum ersten Mal. Oder eher Schock? Immerhin hat er sie zu Boden gestoßen.

Er starrt in den Spiegel, zu seinem perfekten Abbild. Es bewegt sich wie er und doch sieht er nicht sich selbst, sondern eine leere Fassade, eine Lüge. Wie so oft dient es als Erinnerung daran, dass nicht einmal Annie ihn anfangs leiden konnte. Genau deswegen. Für die Menschen da draußen ist er bloß ein Herzensbrecher ohne Gefühle, eine Marionette Snows.

Die wütenden Worte Johannas kommen ihm wieder in den Sinn. Die, die sich nicht lieben, spielen es aller Welt vor und die, die sich lieben, müssen es verstecken. Ich wette, jemand würde diese Geschichte lieben.

Unvermittelt trifft ihn die Erkenntnis, wer diese Laune des Schicksals liebt. Der Blick in den Augen von Dr. Gaia Gaul hat es verraten. Das Kapitol. Sie haben es oft genug bewiesen. Wie nennt Caesar Flickerman die Tribute aus Distrikt zwölf? Das tragische Liebespaar. Und alle applaudieren.

Snow mag die Liebe seiner Sieger fürchten, aber seine Untertanen lechzen geradezu danach. Ein Lächeln stiehlt sich auf die Züge von Finnicks Spiegelbild. Endlich weiß er, wie sie sich die Regeländerung zunutze machen können!

Haymitch! Er muss mit ihm reden!

Ohne noch einen Blick an sein Aussehen zu verschwenden, packt er seine Anzugjacke und stürmt los, durch den dunklen Flur zum Aufzug. Ungeduldig hämmert er auf die geschwungene Zwölf am Bedienfeld.

Er war bisher nie auf der letzten Etage des Trainingscenters, aber er nimmt sich keine Zeit, die Unterschiede in Augenschein zu nehmen. Anstatt zu klopfen, reißt er die Tür auf und stürmt in das Appartement. Die Lichter sind aus, doch der Grundriss ist derselbe. Mit großen Schritten durchquert Finnick das leere Wohnzimmer und läuft auf die Mentorenzentrale zu.

Weit kommt er allerdings nicht, denn plötzlich fliegt eine Tür zu seiner Linken mit einem Krachen auf. „Wo hast du gesteckt?“, verlangt eine herrische Stimme. Vor ihm steht Effie Trinket, in einem fliederfarbenen Bademantel und, zu Finnicks Entsetzen, komplett ungeschminkt. Ihr Schock ist mindestens ebenso groß wie seiner. Quiekend schlägt sie sich die Hände vor den Mund und verschwindet hinter ihrer Zimmertür.

„Miss Trinket?“, fragt er vorsichtig. „Es tut mir leid, aber wissen sie, wo Haymitch ist? Ich, äh, suche ihn.“

„Ähm“, dringt es hinter der schweren Holztür hervor, „nun, das wüsste ich selber gerne. Katniss braucht ihn schließlich! Aber nein, er hat sich seit Stunden nicht blicken lassen! Ich meine – da haben wir wirklich eine Chance, das darf er doch nicht auf’s Spiel setzen.“ Finnick hört ein Schniefen, ehe sie sich wieder auf seine Worte besinnt. „Wieso suchst du ihn?“

So genau kann er das gar nicht sagen, stellt er fest. Er weiß bloß, dass er sich sicher sein muss, bevor er seine Entscheidung bereut. „Miss Trinket, bitte seien Sie ehrlich. Hat Haymitch sich die Sache mit dem Liebespaar ausgedacht?“

Die kleine Frau schnappt nach Luft. „Wie bitte?“

„Miss Trinket, bitte. Ich würde Haymitch die Frage selber stellen, aber – er ist nicht hier. Vertrauen Sie mir. Es ist wichtig.“

„Sieht das nicht jeder? Der Junge liebt sie wirklich!“, stößt die Eskorte gepresst hervor. „Er brauchte sich das nicht ausdenken. Aber natürlich ist es ... hilfreich. Wir haben ja sonst nicht viele Strategiemöglichkeiten.“

Das siegesgewisse Grinsen auf Finnicks Gesicht vergrößert sich. Haymitch wird damit umzugehen wissen, dessen ist er sich sicher. Jetzt muss er es nur noch in die Tat umsetzen. Dann wird das Kapitol bekommen, wonach es sich sehnt – und Snow das, was er fürchtet.

 

***

 

Mit einem sanften Ruck kommt der Wagen zum Stehen. Einen Moment lang bleibt Finnick sitzen, den Blick auf den hohen Wolkenkratzer gerichtet, vor dem sein Fahrer gehalten hat. Aus unzähligen hell erleuchteten Fenstern pulsiert das Leben.

Am liebsten würde er hier unten bleiben, im Halbdunkel des Autos, zwischen weichen Lederpolstern und mit einem schweigsamen Friedenswächter als Chauffeur. Allein bei dem Gedanken daran, auszusteigen und seinem nächsten Termin entgegenzutreten, verknotet sein Magen sich in einen komplizierten doppelten Achterknoten.

Selten hat er eine Woche wie diese erlebt. Es scheint, dass Snow alles daran setzt, ihn aus dem Distrikt vier Appartement – und damit von Annie – fernzuhalten. Einladungen zu unnützen Partys und weiteren Stelldicheins füllen seinen Terminplan, genau wie heute Abend. Eine Menge Geld hat zweifellos den Besitzer gewechselt, damit er in dieser Nacht einmal nicht Titania Creed mit seiner Anwesenheit beehren muss, sondern jemand neuen.

Der Friedenswächter beobachtet ihn aufmerksam im Rückspiegel, also wirft Finnick ihm ein übertriebenes und absolut unaufrichtiges Lächeln zu, fährt sich durch die Haare und tritt hinaus auf den Bürgersteig. Seine Gedanken kreisen um Haymitch und seine Tribute, aber diese Überlegungen muss er nun für die Nacht verdrängen. Hoffentlich ist es morgen nicht bereits zu spät, seinen Plan Beetee zu verkünden.

Die warme Sommernacht lockt Finnick mit vollmundigem Blumenduft und Gelächter, das von einem Restaurant ein paar Häuser entfernt zu ihm herüberweht, doch er ist sich des stechenden Blicks seines Chauffeurs im Rücken nur allzu bewusst. Keine Fehltritte.

Straffen Schrittes betritt er die kühle Lobby des hoch aufragenden Wohngebäudes. Heller Marmor und feine Goldakzente setzen ein deutliches Statement für den Wohlstand der Menschen, die sich hier ein Leben leisten können. Der Rezeptionist hebt nur kurz den Blick und nickt ihm zu. Offenbar ist er über sein Kommen unterrichtet.

Der Fahrstuhl informiert Finnick, dass das Gebäude mehr als vierzig Stockwerke hat. Sein Klient wohnt nur in Etage vierzehn, was ihn überrascht. Er kennt die Preise nicht, aber bloß eine Stunde mit ihm ist nicht billig. Für gewöhnlich wohnen seine Liebschaften in den riesigen Penthouses ganz oben in den Wolkenkratzern.

In der vierzehnten Etage selber hält sich der Prunk eher zurück. Zwar ist der Boden mit einem schweren grauen Teppich belegt, der jeden Schritt schluckt, aber die Wohnungstüren reihen sich dicht aneinander und davor liegen vereinzelt bunte Schuhpaare und Regenschirme. Manche haben auffällige Klingelschilder aufgehängt, die stolz die Namen der Anwohner verkünden. Untern den glänzenden goldenen Flurlampen wirken die Spuren des Lebens ernüchternd normal.

Vor der Tür von Finnicks heutigem Kunden herrscht Leere. Verunsichert schaut er auf das Memo – nur Adresse und Datum, kein Name – das Cece ihm beim Frühstück zugeschoben hat. Er ist richtig hier. Nervös betätigt er die Klingel.

Es dauert nicht lange und ein groß gewachsener Mann öffnet ihm die Tür. Ein warmes Lächeln breitet sich auf dessen Gesicht aus. „Schön, dass Sie hergefunden haben. Bitte sehr.“ Einladend weist er in seine Wohnung.

Doch Finnick steht wie angewurzelt draußen und starrt seinen neuen Kunden an. Das schlichte Äußere und die kurzen dunklen Locken kommen ihm bekannt vor, er weiß nur nicht mehr woher ... womöglich der Spross einer reichen Familie, der erst noch groß rauskommen will?

Der schwarze Stoff des legeren Anzugs seines Käufers raschelt leise, als dieser mit einem fragenden Blick beiseitetritt. In Gedanken weiter rätselnd, folgt Finnick seiner Einladung.

In der Wohnung ist es dunkel. Nur ein paar Kerzen erhellen den versenkten Wohnbereich und irgendwo spielt leise Klaviermusik. Das ganze Ambiente jagt ihm einen Schauer über den Rücken.

Er hasst diese Klienten, die es auf die romantische Art versuchen. Komischerweise fällt es ihm leichter, wenn sich beide Seiten einig sind, dass das Interesse rein körperlicher Art ist. Hoffentlich erwartet der junge Mann, der Ende zwanzig sein muss, keine aufrichtigen Gefühle. Finnick ist schon vollauf damit beschäftigt, Titania Creed zufriedenzustellen.

Er vergräbt die Hände in den Hosentaschen und wartet darauf, was sein neuer Liebhaber unternimmt, um sich seinem Takt anzupassen. Der schließt jedoch nur die Tür und verharrt dann in einigem Abstand. Wieder drängt sich Finnick die Frage auf, wo er diesen Mann nur zum ersten Mal gesehen hat. Der schlichte schwarze Anzug ist so untypisch für das Kapitol, er fällt auf wie ein Hai unter Fischen.

„Es freut mich, dass wir uns endlich persönlich kennenlernen, Mr. Odair.“

„Die Freude ist ganz meinerseits“, entgegnet er mit einem leichten Kopfnicken. Zumindest ist sein Gegenüber höflich.

Der weiche Kerzenschein tanzt über die dunkle Haut des Manns und bringt sein dezentes goldenes Make-up zum Glühen. Unvermittelt regt sich eine Erinnerung in Finnicks Gedanken. Er hat ihn tatsächlich schon einmal gesehen, aus der Ferne. Umringt von Gratulanten. Vor ihm steht der Stylist von Distrikt zwölf.

Vor Überraschung entkommt Finnick ein Keuchen. Sicher, auch die gefeierten Modeschöpfer sind mal Kunden der Sieger, aber nie war einer aus Zwölf darunter. So wie die Wohnung des Mannes aussieht, verdient er trotz seines neugewonnenen Ruhmes nicht mehr als seine Vorgänger. Wie kann er sich das Treffen leisten?

Sein Gegenüber scheint die Verwirrung zu bemerken, denn ein belustigtes Funkeln stiehlt sich in seine dunklen Augen. „Verzeih, falls das hier einen – merkwürdigen Eindruck macht. Es kommt mir zugegeben sehr falsch vor“, entschuldigt sich der Stylist mit einer kleinen Verbeugung. „Darum soll es hierbei nicht gehen. Oder um falsche Gefühle und dergleichen.“

Reichlich verwirrt mustert Finnick den jungen Mann, dem seit der Wagenparade das ganze Kapitol zu Füßen liegt. Der Schöpfer des Mädchens in Flammen. Aus der Nähe wirkt er weit weniger unnahbar. Fast wie ein Arbeiter aus den Distrikten.

„Worum geht es sonst?“, stellt er die einzige Frage, die ihm in den Sinn kommt. „Es gibt viele andere Dienste ...“

Der Stylist lächelt warm. „Nun, Mr. Odair, so weit wollen wir nicht gehen. Es gibt da eine oder besser zwei Personen, die mit ihnen sprechen wollen. Ich bin nur ein einfacher Mittelsmann, wenn man so will.“

Bevor er weiterredet, unterbricht Finnick ihn. „Oh, bitte, nenn mich Finnick.“ Die ganzen Förmlichkeiten gefallen ihm nicht. Nur Snow nennt ihn ‚Mr. Odair‘, keiner seiner Kunden.

Sein Käufer neigt den Kopf. „Nur zu gerne. Ich bin Cinna.“

„Also, Cinna – wem soll ich meine Aufmerksamkeit schenken?“

Bestürzt hebt dieser seine Hände. „Missversteh mich bitte nicht, Finnick. Es geht hier keinesfalls um deine üblichen, ah, Verpflichtungen.“ Seine dunklen Augen bohren sich in Finnicks. „Nur ein Gespräch – unter Freunden?“

Zusehends verwirrter mustert Finnick den Stylisten. Für eine Unterhaltung hat er all das Geld ausgegeben? Die hätte er umsonst haben können, im Trainingscenter oder bei einer der zahlreichen Partys des Präsidenten.

„Bitte, folge mir.“

Die Hände immer noch in den Hosentaschen vergraben, folgt Finnick Cinna in einen angrenzenden Raum, der offenbar so etwas wie ein Atelier ist. Ringsum an den Wänden befinden sich deckenhohe Regale voller Stoffballen und anderem Krimskrams. Wie geköpfte Trainingsdummys ragen Schneiderpuppen aus der Dunkelheit hervor, die meisten mit halbfertigen Kleiderstücken behängt. An einer davon scheint sogar ein langer Schwanz herabzuhängen.

Finnick will schon den Kopf angesichts der komischen Mode schütteln, als der plüschige Tigerschwanz geräuschlos über den Boden fegt. Bildet er sich jetzt bereits Sachen ein? Nein, sein Eindruck wird bestätigt von zwei gelblich schimmernden Katzenaugen, die in der Dunkelheit aufflammen. Sie sind nicht alleine. Entsetzt macht er einen Schritt zurück. Kratziges Gelächter füllt seine Ohren.

Was auch immer in Cinnas Atelier auf ihn lauert, ist schnell. Scharfe Klauen packen sein Kinn – und auf ein Klatschen des Stylisten hin erhellt unvermittelt taghelles Licht den fensterlosen Raum.

Gegenüber Finnick steht nicht etwa eine Raubkatze, bereit zuzuschlagen, sondern die wohl unheimlichste und entstellteste Frau, die ihm je begegnet ist. Sie ist der Ähnlichkeit mit einem Menschen so weit entfremdet, dass er sich unweigerlich die Frage stellt, ob sie nicht eher ein Tiger ist, den das Kapitol nach dem Vorbild einer Person geformt hat.

„Endlich treffen wir uns“, schnurrt die Frau, während sie sein Kinn leicht anhebt. „Endlich kann ich mich von Roans prächtigem Werk überzeugen.“ Ihre überdimensionierten Schnurrhaare erzittern bei den sehnsüchtigen Worten. „Und wie hübsch du bist.“

„Süße, ich hoffe, du willst ihm nicht an die Wäsche“, mischt sich jemand Drittes dazwischen, den Finnick nur zu gut kennt. „Dann schlägst du ihn sicherlich in die Flucht.“

Die Tigerdame zieht ihre Hand mit den langen, scharfen Fingernägeln zurück, als hätte sie sich verbrannt. „Ich bin Tigris“, zischt sie leise, wobei sie die Buchstaben schwer über ihre Zunge rollt. „Und ihn kennst du eh.“ Sie tritt einen Schritt zur Seite und enthüllt einen feixenden Haymitch, der hinter ihr an einem großen Tisch lehnt.

Reglos starren die Mentoren einander an. Schließlich grinst Distrikt zwölfs berühmter Trunkenbold dreist. „Damit hast du nicht gerechnet, was?“

Unwirsch lässt Finnick ein Brummen hören. Am liebsten würde er laut lachen. Vorhin noch hat er den Mentor gesucht und jetzt hat Haymitch ihn gefunden. Zunächst jedoch kramt er in seinem Gedächtnis nach einer Erinnerung an die menschgewordene Tigerfrau. „Entschuldigung – Tigris – sind wir uns schon einmal begegnet?“

Die katzenhafte Gestalt lässt ein leichtes Grollen hören. Erst beim Anblick ihrer erhobenen Mundwinkel, die ihre scharfen Zähne enthüllen, wird ihm klar, dass es ihre Version eines Lachens sein muss. „Nein, noch nicht. Aber Cinna hier war so freundlich, das zu ändern.“ Sie dreht ihm den Rücken zu und präsentiert Finnick damit ihren getigerten Schwanz, der ein eigenes Leben zu haben scheint, so wie er hin und her peitscht.

„Entschuldige, dass ich dich unter falschen Vorgaben hierher gelockt habe“, mischt sich Cinna ein. „Aber es erschien uns der sicherste Weg, um in Kontakt zu treten. Keine Sorge, mein Atelier ist sorgfältig ausgewählt und überprüft. Hier können wir uns unbesorgt unterhalten, besser als im Trainingscenter.“

„Also ... hast du – habt ihr – bei Snow eine Nacht gekauft, um – ja warum?“ Misstrauisch gleitet Finnicks Blick zwischen dem Stylisten, Haymitch und der raubtierhaften Frau vor und zurück.

„Ach, Süßer“, gluckst Haymitch, „überleg mal! Vielleicht könnte es etwas mit Dreizehn zu tun haben ...“

„Dreizehn?“, echot Finnick überrumpelt. Seine Gedanken unternehmen eine Schlingerfahrt auf stürmischer See. Weiß Haymitch längst Bescheid? Und was ist mit Cinna und Tigris? Sicher, es gibt im Kapitol ein ganzes Untergrundnetzwerk, doch bisher war zwischen ihnen und den Siegern jeglicher Kontakt untersagt. In Distrikt dreizehn befürchtet man, dass zu viel Durchmischung Aufsehen an falscher Stelle erregt.

„Oh ja“, schnurrt Tigris, „wir sind eingeweiht. Teils seit Jahrzehnten.“ Das tiefe Rumpeln aus ihrer Kehle erinnert Finnick an eine Mutation in der Arena. „Ich warte nur auf den Tag, da sie hier einmarschieren und endlich dieses Elend beenden. Sein Leben beenden. Coriolanus Leben.“

Haymitch lacht bitter. „Dem kann ich mich nur anschließen. Seit vierundzwanzig Jahren warte ich auf das Gleiche. Fast hätte ich jegliche Hoffnung am Boden einer Flasche verloren.“

Der Hass tropft aus jedem ihrer Worte, sodass Finnick ihnen einfach Glauben schenken muss. „Also seid ihr alle Teil des Plans.“

In Cinnas Augen tritt erneut ein Funkeln. „So kann man es nennen, ja.“

„Oder waren es zumindest, bis man vergessen wurde“, grummelt Haymitch dazwischen.

Ungerührt fährt Cinna fort. „Wir sind davon überzeugt, dass die Spiele nicht länger stattfinden dürfen. Ich weiß, du denkst vermutlich, dass ich gut reden habe, solange ich Teil des Zirkus bin ...“

„Wer das System stürzen will, muss es von innen kennen“, knurrt Tigris. „Und wer das System kennen will, muss ein Teil von ihm sein.“ Ihre gebleckten Reißzähne glitzern unter den großen Leuchtstoffröhren an der Decke. „Ich war fast mein Leben lang ein Teil. Als naive Jugendliche habe ich geholfen, diese Hölle aufzubauen, und nun werde ich sie einreißen, bis nichts als Asche bleibt – denn Asche ist alles, was mir blieb, nachdem Coriolanus sich entschied, dass ich ihm nicht länger von Nutzen war.“

Wie hypnotisiert verfolgt Finnick den Tigerschwanz, der im Einklang mit Tigris wütenden Worten zuckt. „Du warst Stylistin?“

„Oh ja. Ich habe all das Elend ertragen, unfähig mich freizumachen, aus Angst vor Coriolanus.“ Ihre gelben Augen verengen sich. „Beinahe bin ich dankbar, dass dein Stylist, Roan, mir alles genommen hat – meine Kleider, meine Entwürfe, meinen Stolz – als er mein Studio in Flammen steckte. Ohne seinen Verrat würde ich vielleicht heute noch dort stehen und nach Coriolanus Regeln spielen.“

Es braucht einen Moment, bis diese Erkenntnis in Finnick einsinkt. Wie ein Schatten in mondloser Nacht löst sich eine Erinnerung aus dem Nebel seiner Gedanken. Tribute aus Distrikt eins, gehüllt in scharfkantige Diamanten, ihre Körper blutrot geschminkt. Dazu die begeisterten Rufe Caesar Flickermans. „Was für eine Pracht, was für eine – Brutalität! Einen großen Applaus für Tigris, meine Damen und Herren, die Distrikt eins zu den 63. Hungerspielen einen ganz neuen Stil verleiht!“

Es waren ihre letzte Spiele als Stylistin. Angesichts des lodernden Hasses in ihrem Blick ist Finnick sicher – das zwischen ihr und dem Präsidenten ist etwas Persönliches.

Der doppelte Achterknoten in seinem Magen löst sich langsam, aber sein Platz wird von einer unbestimmten Skepsis ausgefüllt. Wenn Snow von diesem Treffen erfahren sollte ... die Konsequenzen will er sich nicht einmal vorstellen. Sie tanzen auf dünnem Eis.

Prüfend lässt er den Blick durch Cinnas Atelier gleiten, aber vor lauter glitzernden Stoffbahnen und Modezeichnungen an den Wänden kann er nicht beurteilen, ob dieses Zimmer wirklich geschützt ist, oder doch nur eine perfide Falle.

Cinna allerdings folgt wachsam seinem Blick. „Ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, wenn ich dir versichere, dass wir hier sicher sind. Echtes Feuer. Immerhin ist dieser Ort meine Lebensversicherung. Sonst hätte man mich längst in das tiefste Loch unter der Erde gesteckt.“

Schnaubend stößt Haymitch sich vom Tisch ab und kommt zu Finnick herüber, um ihm auf die Schulter zu klopfen. „Klar, das hier ist ein Schock für dich, aber jetzt vertrau ausnahmsweise dem alten Säufer, ja?“ Er zwinkert und mimt mit der freien Hand, wie er ein Cocktailglas hebt und in einem Zug leert.

„Okay.“ Langsam atmet Finnick aus. Es ist völlig verrückt, doch was bleibt ihm anderes, als diesem eigenartigen Trio zu trauen? Nachdem sie ihn gekauft haben, gehört er für den Abend ihnen. „Also, warum genau habt ihr ein Vermögen ausgegeben, um mich zu sprechen?“

Tigris, die zwischen den kopflosen Schneiderpuppen umherstreicht, entfährt ein neuerliches Grollen. „Um dir eine Botschaft zu überbringen.“ Sie lässt ihre mit langen Fingernägeln bewährte Hand seufzend über den Seidenstoff eines hellgelben Kleids fahren. „Ihr Sieger müsst vorsichtiger sein! Eure Bewegungen haben Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Die falsche Aufmerksamkeit. Unter den Friedenswächtern gibt es Gerüchte. Und alles, was die Soldaten reden, erreicht früher oder später auch Coriolanus.“

„Friedenswächter?“, fragt Finnick und kann nicht verhindern, dass Besorgnis seine Stimme ins Schwanken bringt. Ist es möglich, dass Edmont am Ende doch geplaudert hat? Nur warum sollte der rundliche Mann auspacken? Unvorsichtigkeit? Oder gar Verrat?

„Sie gehen ein und aus in der Bar eines guten ... Freundes. Man erfährt so einiges, wenn man gelernt hat, zuzuhören.“ Tigris Schnurrhaare zucken verächtlich. „Man erzählt sich, dass die Sieger gemeinsame Sache machen. Einander unterstützen, anstatt sich zu hassen. Und diese Solidarität darf nicht sein.“

Finnicks Mund ist so trocken, als hätte er seit Tagen nichts getrunken. „Gibt es noch mehr solcher ... Gerüchte?“

„Eine Menge, jedes haarsträubender als das vorherige“, entgegnet die ehemalige Stylistin. „Aber du und Beetee – ihr müsst aufpassen. Ich habe eure Namen gehört.“ Sie entblößt ihre nadelspitzen Zähne. „Mehr als einmal. Und auf Haymitch sind sie ebenfalls aufmerksam geworden.“

Der alte Sieger grinst sarkastisch, schweigt aber.

„In Ordnung.“ Finnick erlaubt sich, durchzuatmen und seine angespannten Fäuste zu lockern. Es ist nicht das erste Mal, dass er vorsichtig sein muss. Sie werden das überstehen, irgendwie.

„Aber das ist noch nicht alles“, durchbricht Cinna seine mutmachenden Gedanken. Der Stylist seufzt schwer. „Du weißt von den Unruhen in Distrikt elf. Die Lage hat sich verschlimmert. Vorgestern haben Rebellen das Depot 43 dort in die Luft gejagt, ein strategisch wichtiger Versorgungspunkt für das Kapitol. Ohne lang weiterzureden – Dreizehn baut darauf, dass der Distrikt unter der harten Hand des Kapitols kippt. Wenn nötig sollen die Leute dort angestachelt werden. Ein Sieger aus Elf soll her.“

„Aber ihr weigert euch die Hoffnung für Distrikt zwölf aufzugeben?“, rät Finnick ins Blaue hinein. Immerhin steht er vor denen, die Katniss Everdeen zur Unvergesslichkeit verholfen haben. Zumindest zwei von ihnen.

Cinna sieht auf seine dezenten goldenen Manschettenknöpfe herab, während Tigris im Hintergrund ihr unheimliches Raubtiergelächter hören lässt. „Ich würde auf Katniss Everdeen wetten, ja.“

„Ich bin es dem Mädchen schuldig“, ergänzt Haymitch, dieses Mal ganz ohne seinen üblichen Schalk. „Verdammt, sie erinnert mich an mein jüngeres Ich. Sie hat diesen ungebrochenen Überlebenswillen, den ich ersoffen habe. Auch wenn ich weder Thresh noch Rue den Tod wünsche.“ Seine rotunterlaufenen Augen schauen unendlich traurig drein.

„Hm“, brummt Finnick zustimmend. „Deswegen haben wir euch unsere Sponsorengelder gegeben.“

„Wofür ich nie genug danken kann.“ Haymitch fährt sich über das stoppelige Kinn. „Aber ihr Überleben garantiert kein Geld der Welt. Trotzdem bist du genau deswegen hier. Weil ich weiß, dass ihr anderen Sieger schlauer seid als die Höhlenratten in Dreizehn. Ihr erkennt wahres Potential. Und so leid es mir tut, aber Distrikt elf braucht keine Sieger mehr. Diesen Kampf hat das Kapitol längst verloren, sie wissen es nur noch nicht.“

Tigris heftet aus der Ferne ihre glühenden Katzenaugen auf Finnick. „Leider hat man in Dreizehn nicht verstanden, wie das Publikum seine Sieger auswählt, dabei ist es seit dem Beginn der Spiele gleich.“ Sie steckt ein paar Nadeln an dem Oberteil des hellgelben Kleides um und lässt dann prüfend ihren Blick über die angetäuschten Falten gleiten. „Katniss ist längst etwas Besonderes. Nicht für die Spielmacher oder Politiker – für die einfachen Menschen. Tragischer Heldenmut, zwei Schicksale die ihren Weg kreuzen und nur einer darf überleben“, schnurrt sie mit einem bedrohlichen Unterton. „Katniss Everdeen hat dank ihrer mutigen Aktionen in der Arena bereits bewiesen, wie ungerecht die Spiele sind. Die Leute wollen eine Heldin in ihr sehen, die nicht den Regeln des Kapitols folgt. Es liegt in unserer Hand, ob es zur Tragödie wird.“

„Sie ist ... eine Hoffnung auf mehr“, setzt Haymitch hinzu. „Kein Thresh, der genau wie die Karrieros seinen Weg freikämpft, oder Rue, die so klein und unschuldig ist. Zweimal hat sie sich den Karrieros gestellt und gewonnen! Distrikt dreizehn macht einen Fehler, wenn sie das ignorieren.“ Während seiner inbrünstigen Rede ballt sich seine Hand immer fester zur Faust, bis seine Knöchel weiß hervortreten. „Aber wir brauchen verdammt nochmal Unterstützung, damit das klappt! Wenigstens als Reserveplan. Ich bin nicht bereit, diese Tribute aufzugeben!“

Fast bricht Finnick in lautes Gelächter aus. Bisher hat er nie verstanden, warum Annie manchmal in den unpassendsten Momenten ein Kichern entweicht, doch jetzt schnellen Hoffnung und Erleichterung so rasant durch ihn, dass er nur mit Mühe widersteht. „Wie passend, dass das Kapitol uns die Chance quasi auf dem Silbertablett serviert. Eine Regeländerung? Es ist nicht mal Stunden her, dass mir der Geistesblitz kam, was man aus dieser Situation machen kann. Ich hoffe, es stört dich nicht, aber ich habe ein kleines Gespräch mit deiner Eskorte geführt.“

„Elfchen?“ Jetzt ist es an Haymitch, verwirrt dreinzusehen.

Finnick kann sich ein triumphierendes Grinsen nicht verkneifen. „Richtig, Effie Trinket. Was sagte sie noch gleich? ‚Der Junge liebt sie wirklich‘.“ Aufgeregt läuft er zwischen Cinnas Entwürfen auf und ab. „Und da kam mir die Erkenntnis – wovor fürchtet Snow sich?“

Tigris saugt die Luft durch ihre gespitzten Zähne und entlässt sie mit einem tiefen Knurren. „Coriolanus behauptet, keine Furcht zu kennen, und doch jagt ihm jeder Schatten in der Dunkelheit Angst ein“, kichert sie, bevor Finnick seine rhetorische Frage beantworten kann.

„Ähm“, räuspert er sich überrascht, „nun, ich meine die Liebe.“

Für einen Sekundenbruchteil verharrt Tigris wie erstarrt, dann schlingt sich ihr Tigerschwanz eng um ihre Hüfte. „Nein“, flüstert sie unerwartet weich, „er fürchtet sie nicht, er hasst sie.“ Spätestens jetzt ist Finnick sich sicher – sie stand dem Präsidenten einst näher, als ihr lieb ist.

„Umso besser. Jedenfalls kontrolliert er genau, welcher Sieger wen liebt – oder lieben muss. Aber die Zuschauer können sich mit Liebesgeschichten identifizieren. Das Kapitol verzehrt sich nach Drama, einer berührenden Geschichte – und in den Distrikten haben so viele einen geliebten Menschen verloren, für sie ist es ein Teil ihres eigenen Schmerzes.“ Er kommt hinter einer Schneiderpuppe zum Stehen, die Katniss flammendes Kleid von den Interviews trägt. „Liebe brennt am hellsten. Es braucht eine Regeländerung, die aus Katniss und Peetas Geschichte ein Inferno macht.“

Stille senkt sich wie eine schwere Decke über das Atelier. Haymitchs graue Augen stieren auf das Kleid, als könne er es immer noch brennen sehen. Langsam wandert sein Blick zu Finnick dahinter. „Dafür müssen wir sie zusammenbringen. Oh, das wird der Kleinen nicht gefallen ...“ Er stützt sich mit den Händen auf dem großen Arbeitstisch ab. „Es gibt nur eine Lösung, um die beiden wirklich in ein tragisches Liebespaar zu verwandeln. Wir brauchen zwei Sieger“, stellt er nüchtern fest.

Tigris fällt eine Stecknadel aus der Hand und ihr Aufprall scheint so laut wie die Explosionen der Minen am Nachmittag. „Das wird Coriolanus niemals zulassen! Ganz zu schweigen, dass ihr damit euren Kopf riskiert!“

Eine leise Stimme in Finnicks Innerem pflichtet ihr bei. Das ist zu viel des Guten, das ist tollkühner als jeder seiner Pläne.

Doch Haymitch hebt nur einen Zeigefinger in ihre Richtung. „Richtig. Aber erstens, machen die Spielmacher die Regeln; zweitens würde das Kapitol die daraus resultierende Quotensteigerung nur zu gerne mitnehmen – und drittens: Was, wenn das Kapitol seine eigene Regeländerung bricht? Das wäre unverzeihlich. Sollte diese Regeländerung auch nur zur Auswahl stehen, gäbe es keinen Weg zurück. Die Zuschauer würden dafür stimmen. Da würde ich drauf wetten.“

Cinna hat die Stirn in tiefe Falten gelegt, aber schließlich nickt er ebenfalls. „Ja, das würden sie. Plutarch muss es nur in Senecas Unterlagen bringen ... sie würden nicht einmal ahnen, wer dahintersteckt.“

Über die Stylisten hinweg tauschen die beiden Mentoren einen langen Blick. „Zwei Sieger, aus demselben Distrikt“, sagt Haymitch leise. „Drei Distrikte hätten im Moment die Chance. Man kann nicht sagen, dass es unfair wäre.“

Finnick schluckt schwer, als eine Flutwelle der Anspannung ihn durchspült. Nach dieser Lösung verzehrt sich insgeheim jeder Mentor. Er kann sich nicht einmal vorstellen, was die Regeländerung auslösen wird. Nur eines ist sicher: Die Hungerspiele werden sich ändern.

Von einer reißenden Strömung ergriffen wird er immer weiter hinaus auf die stürmische See aus wilden Tagträumen von der erfolgreichen Rebellion gezerrt. Für Annie. Für ihre gemeinsame Zukunft schwört er sich. Er hebt den Kopf und sieht Haymitch fest an. „Ich bin dabei.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: irish_shamrock
2021-08-13T16:13:54+00:00 13.08.2021 18:13
Liebe Coronet,

was für ein Kapitel!
Du zündest ein Feuerwerk nach dem anderen und bringst Figuren zusammen, die man im dieser Konstellation wohl nie erwartet hätte und dennoch ergeben die Folgesituationen Sinn.
Das Schöne an Fanfiction ist ja, dass alles so gestaltet werden kann, wie es sich der Schreiber vorstellt und da herzlich wenig über eventuelle Zusammenkünfte der revoltierenden bekannt ist, ist und bleibt es umso spannender, deinen Ideen zu lauschen :) ...
Ich bin noch immer ganz hibbelig und bedanke mich für diese tollen Worte, die spannend, erhellend und so passend gewählt sind, dass deine Geschichte weiter Formen annehmen wird.

Ein schönes Wochenende dir und liebe Grüße,
irish C:

Antwort von:  Coronet
16.08.2021 19:46
Liebe irish,

bei deinen lieben Worten werde ich ja ganz rot! Vielen Dank für den lieben Kommentar, bei diesem Kapitel freut es mich ganz besonders, wenn es gefällt, denn zugegeben hatte ich ein wenig Bammel, dass es nicht jedem gefallen könnte, was ich mir da ersonnen habe. Gerade weil hier so verschiedene Charaktere aufeindertreffen.
Aber schön, wenn es hier spannend bleibt :)
Ich bin auch schon ganz gespannt, was du wohl zu den kommenden Entwicklungen sagen wirst!

Ganz liebe Grüße und eine tolle Woche dir!


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