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Der eine zählt des anderen Tassen

von

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Draußen auf den Stufen

„Jakob …“, begehrte Lene ebenso leise auf, doch er unterbrach sie. „Aber es stimmt doch. Sieh sie dir doch nur an! Und du hast Angst.“
 

Sie nickte unmerklich.
 

„Ich auch“, erwiderte er, packte ihre Hand, stand auf und zog sie mit sich auf einen anderen Vierersitz. „Es ist schlimm, dass man im eigenen Land Angst haben muss.“
 

„Na ja, im Grunde …“, setzte Lene an, „ist es nicht die Angst vor den Frauen – nur vor ihrer …“
 

„Verschleierung“, warf Jakob ein, schüttelte den Kopf und sagte dann: „Weiß ich, wer unter diesem Kittel steckt? Ob eine Frau oder ein Mann mit Sprengstoffgürtel?“
 

„Jakob“, hob sie wieder an.
 

„Na, was denn? Entweder Sprengstoffgürtelträger oder sprechender Sack.“
 

„Wie bitte?“
 

„Schwarze sprechende Säcke sind das!“
 

Lene schwieg einen Moment, sah dann kurz zu den Frauen hinüber, die von all dem keine Notiz zu nehmen schienen. Auch deren Männer nicht, die sich nun zu ihnen gesetzt hatten. Ja, sie hatten sich noch nicht einmal umgewandt. Doch wenn Lene ganz ehrlich zu sich selbst war, dann musste sie Jakob recht geben: Wusste sie, wer sich unter diesem Vollschleier verbarg? Wusste sie es mit Sicherheit, wenn man nur die Augen sehen konnte?
 

„Das fällt unter das Vermummungsverbot“, ereiferte sich Jakob, fuhr sich mit der Zunge mehrmals über die Lippen und ließ sich auf dem Sitz ihr gegenüber nieder. „Aber der Staat, der tut nichts dagegen.“
 

„Jakob“, versuchte sie ihn zu beschwichtigen, da er lauter geworden war und sie befürchtete, dass die Frauen und vor allem deren Männer ihn wohlmöglich verstehen konnten. Doch er schien sich daraus nichts zu machen. „Der Staat“, fuhr er fort, „duldet das, duldet die Angst seiner Bürger. Was ist das für ein Staat, der … der seine Bürger nicht schützt?“
 

„Aber das ist doch deren Freiheit, so herumzulaufen, wie sie wollen“, entgegnete Lene.
 

„Freiheit? Freiheit nennst du das? Religionsfreiheit wohlmöglich?“ Jakob verengte die Augen zu Schlitzen. Lene gefiel es nicht, wie er sie ansah. Es erinnerte sie zu sehr an die Szene im Wattenmeer. Und Angst packte sie wieder. „Ich sag dir etwas“, fuhr Jakob fort, „das da, das gehört ganz und gar nicht zu unserer Kultur und fällt auch nicht unter die Religionsfreiheit. Das ist pervers!“
 

„Jakob!“, schnappte sie.
 

„Und perfide ist es, wie uns diese Regierung weismachen möchte, dass das hier ...“ Wieder fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen.
 

„Aber unsere Gesellschaft“, hielt sie so ruhig wie möglich dagegen, „sieht die Religionsfreiheit vor. Und solange diese Frauen nicht gegen unser Grundgesetz verstoßen …“
 

„Tun sie nicht? Nein?“, fuhr er auf, deutete mit den Zeigefinger auf die Frauen und funkelte Lene gleichzeitig an. Sie schwieg einen Moment, betrachtete Jakob, der die Arme nun vor der Brust verschränkte und die Beine übereinandergeschlug. Er wirkte ein wenig verknotet, wie er da so saß. „Ist der Islam wohlmöglich nur eine Religion? Ja?“
 

Die letzten Worte hatte er so laut ausgerufen, dass sich, so bemerkte es Lene durch einen Seitenblick, einige der Mitfahrenden nach ihnen umsahen. Ihr war das peinlich, sehr sogar, doch Jakob schien von all dem überhaupt keine Notiz zu nehmen, denn er hob plötzlich wieder den Zeigefinger und sagte: „Wenn du das glaubst, dann muss ich dir sagen, dass du nicht nur auf dem Holzweg bist, sondern einer Art von Meinungsbildung erlegen bist, die dazu beiträgt, unsere Demokratie zu zerstören. Die Leute, die so etwas proklamieren, dass der Islam nur eine Religion sei, sind ideologisch verblendet!“
 

Lene wagte es nicht, noch einmal zu den Mitreisenden hinüber zu sehen, mied jedoch auch Jakobs Blick. Sie war aufgeregt und gleichzeitig wie gelähmt.
 

„Verblendet“, wiederholte er, „denn der Islam gehört nicht zu Deutschland. Hat er nie. Der Islam ist eine die Demokratie zerstörende gewaltbereite, menschenverachtende Ideologie. Und er nutzt die Freiheiten, die ihm die Demokratie bietet, um sie aus ihrem Inneren heraus zu zerstören …“
 

„Aber diese Frauen“, flüsterte Lene. Vergebens. Jakob hatte sich offensichtlich in Rage geredet. „Ich hasse es“, fuhr er auf, „überall und immer diese Kopftücher und Schleier zu sehen. Sie gehören ebenso wenig in unsere Kultur wie ...“
 

„Aber diese Frauen“, beharrte Lene und schielte hinüber zu den Frauen und deren Männern. Doch alle vier verhielten sich so, als würden sie von all dem nichts mitbekommen. Im Inneren dankte sie ihnen für ihre Zurückhaltung, denn den Gedanken daran, was wäre, wenn die Männer eingriffen, wollte sie nicht weiterdenken. Und also sagte sie etwas lauter: „Diese Frauen, die kannst du fragen, die wollen doch unsere Demokratie ganz sicher nicht zerstören.“
 

Jakob funkelte Lene an, schüttelte dann den Kopf und sagte: „Der oder die Einzelne ist es niemals – es ist diese gwaltbereite und menschenverachtende Ideologie des Islam, und vor allem das Establishment …“
 

„Welches Establishment?“
 

„Die Regierung, die es zulässt, dass solche Leute unkontrolliert herkommen und sich so verhalten dürfen, als wären sie noch immer in ihren Ländern, die Regierung, die es zulässt, dass diese Leute unsere Kultur nicht annehmen, dass sich Parallelgesellschaften auf dem Boden unseres Staates herausbilden, die unser Grundgesetz missachten, die Demokratie unterhöhlen. Der Islam ist keine Religion …“
 

Jakob sprach laut, sehr laut. Noch dazu war er rot im Gesicht und seine Augen funkelten.
 

„Das ist …“
 

„Jakob“, stieß Lene hervor, „bitte, du unterhältst das ganze Abteil.“
 

„Na und?“, widersprach er barsch, „dann tue ich es eben. Alle sollen hören …“
 

„Aber niemand will es hören“, rief plötzlich ein anderer Fahrgast, der sich erhoben hatte und auf Jakob zutrat.
 

„Sie? Was mischen Sie sich da ein?“, entgegnete Jakob und erhob sich nun, da ihm der andere so nah gekommen war.
 

„Ich mische mich ein, weil Sie Stuss reden, Mann, und auch, weil sie diese beiden Frauen in einer Weise angegangen sind, die ich nicht dulde.“
 

„Ach, Sie dulden es nicht, dass ich die Wahrheit sage? Das ist ja interessant …“, entfuhr es Jakob.
 

„Ja, Mann, weil wir in einer Demokratie leben. Hören Sie auf Ihre Freundin, Sie ... Wir leben in einer Demokratie“, fauchte der Mann.
 

„Ach so? Tun wir das? Und warum wird es mir dann verboten, meine Meinung zu sagen?“, versetzte Jakob. „Ist es ist nicht im Grundgesetz verankert, das Recht auf …“
 

„Weil sie niemand hören will, Ihre freie Meinung. Und soll ich Ihnen auch sagen warum?“
 

Jakob schwieg einen Moment und der Mann fuhr fort: „Weil es absoluter Mist ist, den Sie da von sich geben.“
 

„Mist? Mist?“, prustete Jakob. „Nennen Sie die Wahrheit Mist?“
 

„Ja, Mist, denn was haben Ihnen diese Frauen getan?“
 

„Nichts, aber …“
 

„Sehen Sie. Also halten Sie endlich die Klappe und hören Sie auf …“
 

„… über den Islam herzuziehen?“, fragte Jakob dazwischen und das plötzlich so leise, dass der andere ihn verwirrt ansah. „Ja?“, fuhr er fort. „ist es das, was sie mir unterstellen möchten? Dass ich gegen den Islam hetze?“
 

Jakob sah den vor ihm stehenden Mann mit zu Schlitzen verengten Augen an. Er wirkte dabei ... – ja, Lene durchzuckte es wieder, denn dieses Bild erinnerte sie nur umso mehr an die Szene im Watt. Und am liebsten wäre sie davongerannt – weit weg. Aber das ging nicht. Und da sie es wusste, spürte sie wieder eine elende Hitze in sich aufsteigen. Sie musste etwas tun, agieren … Irgendetwas.
 

„Jakob“, hörte sie sich schließlich selbst sagen, „bitte, hör auf.“
 

Augenblicklich wandte er sich um, den Unterkiefer vorgeschoben, die Zähne gefletscht. So sah er sie an. „Bitte lass mich, dieser Mann hier versteht nicht, worum es geht.“
 

„Hänfling“, kam’s von dem, „an Ihrer Stelle würde ich auf Ihre Freundin hören!“
 

„Wollen Sie mir etwa drohen?“
 

„Wenn’s anders nicht in Ihren Schädel reingeht …“
 

„Das könnt ihr, einem drohen“, zischte Jakob und schien ganz unbeeindruckt. „Nur das … Drohen, einem wohlmöglich noch Gewalt androhen …“
 

„Da Sie es sagen“, erwiderte der andere ebenso ungerührt, „solchen wie Ihnen kann man im Grunde nur mit Gewalt kommen. Aber keine Angst, an dir halbem Hemd mache ich mir nicht die Finger dreckig. Nicht jetzt. Aber wenn ich dich noch einmal erwische, wie du …“
 

„Wie ich was? Die Wahrheit sage?“, peitschte Jakob dazwischen, zuckte jedoch zurück, als ihm der Mann plötzlich näherkommend, den Zeigefinger unter die Nase hielt. „Pass auf Bürschchen, sonst nimmt es mit dir noch ein schlimmes Ende.“
 

Und mit diesen Worten wandte sich der Mann ab. Und Jakob ließ sich, ohne noch etwas zu sagen, auf seinen Sitz zurückfallen. Einen Moment lang schwieg er, suchte dann Lenes Blick, die nicht wusste, ob sie die Kommunikation mit ihm wollte. Sie wusste ja noch nicht einmal, ob es nicht besser wäre, an der nächsten Haltestelle auszusteigen und den Zug zurück zur Friedrichstraße zu nehmen, denn sie fühlte sich schlecht, fertig, müde und war doch gleichzeitig innerlich so unruhig, dass sie beinahe zu brennen meinte. Und würde Jakob jetzt auch nur ein Wort, ein einziges, an sie richten, dann würde sie … Sie rieb sich die Augen, zwang sich, an die Scheibe gepresst, nach draußen in die Nacht zu sehen. Einfach nur, um Ruhe zu finden. Jakob schwieg, so als erahnte er ihre Verwirrung – oder war er es in gleicher Weise, verwirrt? Ihr im Grunde in diesen Momenten egal. Vollkommen. Ihr war kalt und zugleich so heiß. Sie schnappte nach Luft, rieb sich die Stirn, wollte auf, als der Zug hielt und blieb doch sitzen. Irgendwann hörte sie Jakob sagen: „Schlachtensee, wir müssen raus.“
 

Er war aufgestanden, sah auf die hinab. Sie wusste es, spürte es, bemerkte auch seine Hand, die er ihr reichte. Sie hob mühsam den Kopf.
 

„Komm“, sagte er, „wir müssen, wenn du noch immer möchtest.“
 

Wenn du noch immer möchtest …
 

Sie fühlte sich fiebrig und von einer Schwere gepackt, der sie sich kaum erwehren konnte. Vor Stunden noch hatte sie mit ihm in der Oper gesessen und dieser wunderbaren Musik gelauscht, hatte sich an ihn geschmiegt, sich von ihm küssen lassen und sich gewünscht, der Kuss möge intensiver werden, ja, hatte sogar selbst daran gedacht, ihn zu bitten, sie nach Haus zu begleiten, um den Abend bei Kerzenschein und einem Glas Wein ausklingen zu lassen. Doch nun, nun fühlte sie sich in der Falle, ihm ausgeliefert – oder noch nicht einmal das … vielmehr von ihren eigenen Gefühlen verraten. Wieder schnappte sie nach Luft, erhob sich dann und stürmte, so schnell es ihre Stöckelschuhe zuließen, an ihm vorbei ins Freie, ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen. Auf dem Bahnsteig blieb sie einen Moment lang stehen, sah dann gen Himmel, schüttelte den Kopf, ehe sie der Treppe entgegeneilte, Jakobs Rufe ignorierend. Sie brauchte das jetzt, laufen, auch wenn sie diese hochhackigen Dinger an ihren Füßen ganz kirre machten … Aber da sie den Weg zum See hinab kannte … Welch Ironie des Schicksals. Wie oft war sie schon hier gewesen, allein, um dem See Runde um Runde ihre Probleme anzuvertrauen. Sollte sie es als Zeichen nehmen? Ja? Sie wollte lachen, doch brachte sie es nicht fertig. Dafür klammerte sie sich am Geländer der Treppe fest, hielt den Kopf gesenkt, nahm Stufe um Stufe und fragte sich dabei, wie dämlich sie eigentlich sei, jetzt zum See zu wollen. Vernünftiger wäre es doch, den nächsten Zug gen Innenstadt zu nehmen. So aber … Sie hielt kurz inne. Schon war Jakob an ihrer Seite. Sie wusste seinen Blick auf sich gerichtet. Doch sie wollte ihn nicht erwidern.
 

„Helena …“
 

„Nenn mich nicht Helena“, rief sie aufbrausend und bemerkte, dass er leicht zurückzuckte. Sie schüttelte wieder den Kopf, begann sich Luft zuzufächeln, wandte sich dann abrupt um, sah die Treppe hinauf. Wie leicht es wäre, wie leicht …
 

„Lene“, hörte sie ihn da sagen und noch einmal: „Lene.“
 

Sie sah ihn an, wollte etwas sagen, wusste jedoch nicht wie. Ihre Gedanken kreisten, ja tobten in ihrem Kopf – so sehr, dass ihr schwindlig wurde und sie sich auf die Treppenstufe setzen musste. Einen Moment noch stand er, ehe er sich neben ihr niederließ, die Knie umfassend. Er schwieg, sah sie nur an. Sie holte wieder tief Luft, lauschte. Der Gegenzug fuhr ein. Den würde sie nicht mehr schaffen. Der nächste käme erst in 20 Minuten. Also eine Taxe rufen? Ja? Wie viel würde die kosten? Da hörte sie plötzlich in ihre Gedanken hinein Jakob leise sagen:
 

Wir wandeln in den Abendglanz
 

den weißen Weg durch - Taxusbäume,
 

du hast so tiefe, tiefe Träume
 

und windest einen weißen Kranz.
 

Komm, du bist müde. Kurze Rast:
 

Du lächelst in die heißen Fernen,
 

du lächelst zu den ersten Sternen,
 

und ich weiß, dass du Schmerzen hast.
 

Ich sehne mich so ... Du verstehst …“
 

Er unterbrach sich abrupt, räusperte sich, sagte: „Na ja.“
 

Sie hob den Blick, sah ihm in die Augen, sagte: „Das war wieder Rilke.“
 

Er nickte.
 

„Den magst du?“
 

Wieder nickte er.
 

„Schön und artig aufgesagt“, fuhr sie fort.
 

Er nickte erneut. „Das konnte ich schon immer gut, Gedichte auswendig lernen.“
 

„Ich sehe es.“
 

„Mein Pfarrer und späterer Freund sagte mir immer wieder, wie wichtig es sei, Dinge auswendig zu lernen: Gedichte, Psalmen, ja ganze Texte, Philosophische Pamphlete, denn im Extremfall könne man sich, so er, nur auf das eigene Hirn verlassen …“
 

„Im Extremfall?“
 

Jakob nickte wieder, sagte: „Er war Inhaftierter des Regimes, in dem auch du groß geworden bist, saß …“
 

„… im Stasiknast?“
 

„… und wurde freigekauft, sollte ins Bundesgebiet, wollte aber hier in Berlin bleiben. Es war ein Glücksfall, dass wir uns über den Weg liefen. Er lehrte mich Rilke und die Freude an der Physik und Mathematik und dafür bin ich ihm dankbar. Er war mehr als ein Freund für mich – mehr, viel mehr, mein einziger Vertrauter“, sagte Jakob, erhob sich, sah auf Lene hinab, schwieg einen Moment. Dann sah sie seine Hand dicht vor ihrer Nase und hörte ihn sagen:
 

„Wie soll ich meine Seele halten, dass sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie hinheben über dich zu anderen Dingen?“
 

Sie sah auf, schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht.“
 

„So komm mit mir, Lene. Komm mit mir. Bitte.“



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