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Der eine zählt des anderen Tassen

von

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Wie zwei Säcke

Wider Erwarten ging es Lene an den darauffolgenden Tagen besser, ja, sie verspürte sogar eine Art Freude, wenn sie vor ihre Klasse trat und all ihre Kinder vor sich sitzen sah. Da waren Hannah und Christoph, die sich natürlich noch immer nicht leiden mochten und nun, so schien es, ihr Heil darin suchten, sich, mehr als zuvor, im Unterricht zu beteiligen. Kaum stellte sie eine Frage, zeigten sie auf, das Ich, ich, ich nun gemeinschaftlich auf den Lippen. Lene gab sich indes Mühe, die beiden Kontrahenten im Kampf um ihre Aufmerksamkeit, zu ignorieren, beide, um sich eher Ronja und Sama zuzuwenden. Doch wie sie feststellen musste, bedurfte es hier nicht ihres Eingreifens. Ronja und Sama schienen sich nicht nur sehr gut zu verstehen, sondern so etwas wie freundschaftliche Bande zu knüpfen. Dennoch nahm sich Lene vor, mit beiden ab und an zu sprechen, einfach, um zu sehen, wie sie mit der Situation zurechtkamen und wie sich Sama entwickelte. Denn, dass die beiden ein wenig wie in ihrer eigenen Welt wirkten, konnte Lene nicht bestreiten. Hatte Ronja zuvor keine Freunde in der Klasse gehabt, so war es jetzt Sama, der sie ihre ganze Aufmerksamkeit schenkte und sie so auch von der Klasse isolierte. Freilich konnte sie sich auch täuschen. Vielleicht war Sama ebenso geartet wie Ronja? Um dem auf den Grund zu gehen, musste sie mit beiden Mädchen sprechen – und sie eben auch niemals aus den Augen lassen. Ein wenig erinnerte sie all das an ihre schräge Aktion im Urlaub, da sie Jakob mit ihrem Feldstecher gefolgt war. Nur, er hatte es bemerkt; bei den beiden Mädchen musste sie sich deswegen umso mehr anstrengen, um den teilnehmenden, jedoch unsichtbaren Beobachter spielen zu können.
 

Dass am Donnerstag plötzlich Amar in der Klasse auftauchte, brachte Lene vorerst auch nicht von ihrer soliden Stimmung ab, jedenfalls nicht gänzlich. Der Junge betrat die Klasse nach Unterrichtsbeginn, hatte weder Schulzeug noch eine Tasche dabei und wirkte allgemein so, als hätte er sich verirrt. Hinzukam, dass er wohl deutlich älter als 12 Jahre war. Lene schätzte ihn auf 15, wenn nicht gar 16. Das mochte einerseits an seiner Größe und bulligen Gestalt sowie an seiner bereits sehr tiefen Stimme liegen, andererseits aber auch an seinem starren, durchdringenden Blick, der ihr zu sagen schien: „Bleib mir bloß fern!“ Doch was blieb ihr, als ihn zu fragen, ob er Amar sei und ihm, als er nickte, die Hand zu reichen, die er jedoch nicht ergriff, und ihn trotzdem in der Klasse willkommen zu heißen. Zu Susanne setzte sie ihn nicht, denn sie bezweifelte, dass sich das stille Mädchen um ihn würde kümmern können. Und so blieb ihr nur, ihm vorerst den Platz ganz hinten in der Wandreihe zuzuweisen. Ein wenig schäbig kam sie sich dabei allerdings vor, erinnerte sie doch gerade dies an ihre eigene Schulzeit, als ihre Lehrerin einen der größten und auch aggressivsten Schüler ganz nach hinten gesetzt hatte. Wohl auch, weil sie ihn nicht in ihrer Nähe hatte haben wollen. Ja, auch von Amar ging etwas latent Bedrohliches aus. Das spürte sie sehr genau. Davon einmal abgesehen, dass er nicht der kleine Junge war, den sie erwartet hatte, störte sie sein starrer, ja, finsterer Blick, der ihr stets zu folgen schien. Und dann seine bullige Statur, für die er zweifelsohne nichts konnte. Aber das gepaart mit diesem Blick und seiner zur Schau getragenen Unwilligkeit. Wie er da schon hockte. Die Arme vor der massigen Brust verschränkt, die Beine übereinander geschlagen. Dazu dieses Starren ... Nein, es war ihr geradeso, als gäbe sich hier irgendein Typ von der Straße als Amar aus.
 

Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, wollte sie diesen Kerl nicht in ihrer Klasse haben. Doch was sollte sie tun? Sich an Dolores wenden und sie bitten, ihn ihr wieder abzunehmen? Wo aber sollte er sonst hin?
 

In der Pause dann versuchte sie sich zusammenzunehmen. Amar war Amar, ein Junge, der Schreckliches erlebt hatte – wie auch Sama. Beide mussten damit erst einmal fertig werden und gleichzeitig hier in Deutschland ankommen. Das war nicht leicht. Und wer weiß, was genau ihm widerfahren war … Doch mit ihm zu sprechen, das traute sie sich nicht. Zu sehr machte er ihr den Eindruck, von allem und allen Abstand halten zu wollen. Er hatte Grenzen gesetzt, wenn auch nonverbale, die sie nicht überschreiten würde.
 

Die Klasse schien das ebenfalls zu spüren, denn sie ließen ihn in Ruhe.
 

Der Freitag begann wie der Donnerstag geendet hatte – ruhig und gleichzeitig war Lene innerlich doch aufgewühlt, dass sie sogar bisweilen im Unterricht den Faden zu verlieren meinte, sich jedoch jedes Mal wieder zur Raison rief. Das geplante Treffen heute Abend mit Jakob ging ihr allerdings nicht aus dem Kopf. Der Gedanke daran, was sie anziehen konnte, trieb sie dazu, ihren heimischen Kleiderschrank vor ihrem inneren Auge zu durchmustern. Schließlich handelt es sich ja nicht um irgendeine Opernaufführung, sondern um eine Premiere, die obendrein schon im Vorfeld so hochgelobt worden und seit Wochen als ausverkauft galt. Wie hatte es Jakob da vollbringen können, überhaupt an Karten zu kommen? All diese Fragen schossen ihr durch den Kopf und sie war mehr als erleichtert, als die letzte Stunde dem Ende zuging. Sie schwor sich, dass sie sich nächste Woche um Amar kümmern, ja, wenigstens an ihn herantreten würde. Sie musste, schließlich war sie seine Lehrerin, ebenso wie die von René, Jenny, Sascha, Ronja, Christoph, Hannah, Susanne und all den anderen. Sie hatte sich ihm zuzuwenden, um ihm zu signalisieren, dass er willkommen sei.
 

Am Abend dann ... oh, was war das für eine Aufregung! Zuerst hatte ihr das Kleid, das sie eigentlich hatte tragen wollen, nicht mehr gepasst. Und so musste sie sich eingestehen, dass sie wohl unbemerkt einige Pfunde zugelegt hatte, was sie noch zusätzlich irritierte. Doch Zeit, sich ihrer leisen Wut hinzugeben, hatte sie nicht. Die Uhr mahnte. Um 19 Uhr wollte sie sich mit Jakob am Hackeschen Markt treffen, besser am Dom und dann … Ach, sie griff sich an die Brust. War sie denn ein kleines Mädchen oder warum durchschauerte sie diese unbändige Aufregung? Konnte sie denn nicht einen, wenigstens einen einzigen klaren Gedanken fassen? Wieder durchmusterte sie ihren Kleiderschrank. Fand sich da nichts Passendes? Gar nichts? Einen Minirock konnte sie schlecht tragen. Eine Jeans? Unwillkürlich musste sie grinsen. Was für ein Schwachsinn! Ja, hatte sie denn nichts, was es sich zu tragen lohnte und diesem Ereignis angemessen war? Sie schüttelte den Kopf, leicht resigniert, und griff dann doch wieder zu ihrem Kleid. Wenn sie sich ein wenig Mühe gäbe … und so fett war sie ja nun auch noch nicht … sie musste eben den Bauch einziehen, aber die Brust durfte sie ebenso wenig rausstrecken, denn sonst … Na ja … Als sie endlich in diesem Kleid steckte und sich im Spiegel betrachtete, gefiel sie sich – zumindest ein wenig. Sie strich sich über den Bauch, und die Brüste. Es würde schon gehen, jedenfalls an diesem Abend. Schließlich zog sie ihre hochhackigen Schuhe an. Die pflegte sie sonst nicht zu tragen, sie mochte sie noch nicht einmal, doch für heute Abend waren sie wohl die richtige Wahl. Aber ob sie in ihnen überhaupt richtig laufen konnte, stand auf anderen Blättern. Sie setzte einen Fuß vor den anderen, knickt prompt um, fluchte leise und fühlte sich augenblicklich wieder fett in ihrem Kleid, dessen Nähte doch sehr spannten. Na, das konnte ja was werden …
 

Eine Stunde später stöckelte sie zum Dom, immer darauf bedacht, nicht wieder umzuknicken und gleichzeitig ja nicht zu viel Luft zu holen. Sie fühlte sich in diesem Moment schon mehr als unwohl, aber als sie dann Jakob von ferne sah, begann ihr Herz so zu rasen, dass sie wusste, was sie sogleich ereilen würde. Und richtig: da war sie auch schon – eine Hitzeattacke. Und nun? Sie musste ja weiter – zu Jakob, denn der hatte sich just in dem Augenblick, da sie innerlich zu verdampfen drohte, umgedreht. Sie sah noch, dass er ein Jackett trug und um den Hals einen Schal. Schon standen sie sich gegenüber.
 

„Helena“, stieß er hervor und dann waren sie sich beide wieder so nah, ehe er von ihr abließ, sie bei den Händen nahm und betrachtete. „Du siehst“, setzte er dann an und verzog den Mund, „… so gut aus.“
 

„Du aber auch“, entgegnete sie, blies die Wangen auf und verwünschte diese Hitze. Am liebsten hätte sie sich hier und jetzt all ihre Kleider vom Leib gerissen, vor allem dieses enge Korsett, wie sie ihr Kleid nannte.
 

„So habe ich dich noch nie gesehen“, fuhr er fort.
 

Wieder kam er ihr näher, so nah, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten. Und dazu sein Blick … Sie zuckte leicht, als sie seinen Atem auf ihren Lippen spürte und es war ihr so, als schlügen Wellen über ihr zusammen, da sie ihre Arme um seinen Hals legte, ihm zuerst in die Augen sah und ihn dann auf die Wange küsste. Einmal, zweimal und dann – es durchfuhr sie, ebenso wie später an diesem Abend, als sie nebeneinander auf dem ersten Rang in der ersten Reihe saßen. Nur mit Mühe konnte sie sich beruhigen, um der Zauberflöte zu folgen. Er neben ihr … Ab und an gestattete sie sich einen Seitenblick auf ihn, sah, dass er, die Beine übereinandergeschlagen und die Hände im Schoß gefaltet, doch viel entspannter in seinem Sessel saß als sie. Und offensichtlich war er ganz bei der Musik, dieser wunderbaren, leichten Musik. Wie konnte sie da nicht auch … sich konzentrieren … Sie wandte sich ab, holte tief Luft, schlug ebenfalls die Beine übereinander, verschränkte die Arme vor der Brust und schloss kurz die Augen. Was aber war das nur, das sie dennoch trieb, sich an ihn zu lehnen, nur um sogleich seine Hand in der ihren zu wissen. Sie sah auf. Er lächelte, murmelte: „Helena“ und wandte sich dann wieder dem Geschehen auf der Bühne zu. Und so auch sie an seiner Schulter lehnend, aber keineswegs ruhiger. Sie schnappte erneut nach Luft, schloss wieder die Augen, hielt sie auch geschlossen, zwang sich, nur auf die Musik, den Gesang zu achten und alles andere auszublenden. Und es gelang – für eine Weile. Ja. Bis sie die ersten Takte der wohl berühmtesten aller Opern-Arien vernahm. Augenblicklich setzte sie sich gerade auf, sah diese einzigartige Sopranistin auf der Bühne, die die Königin der Nacht interpretierte. Und das so wunderbar – Worte konnten es nicht beschreiben … Und wieder begann ihr Herz zu rasen und sie reckte sich nach vorn, so als könne sie dadurch besser lauschen, bekäme dadurch viel mehr mit. Es war … Sie holte tief Luft, sah kurz zu Jakob hinüber, ob auch er … und ja, auch er … Doch als sich ihre Blicke trafen, da meinte sie … ja, sie musste noch einmal hinsehen … in seinen Augen standen Tränen. Tränen. Und er flüsterte, leicht schulterzuckend, so als müsse er sich dafür entschuldigen: „Es ist so schön. Diese Musik …nicht wahr?“
 

Sie nickte, wandte sich der Bühne zu, vernahm diese Töne, diese glasklaren Töne, sah wieder zu ihm. Eine Träne lief ihm die Wange hinab. „So schön“, wiederholte er ganz leise. Und sie, von einem inneren Drängen gepackt, sah ihm in die feucht glänzenden Augen, wischte ihm dann mit dem Daumen die Träne weg und flüsterte: „Du bist schön, Jakob.“ Er blinzelte, sie nickte. „Ja, das bist du“, und strich ihm neuerlich über die Wange, fuhr ihm dann durchs Haar, bis in den Nacken hinab, kam ihm näher und spürte plötzlich wieder seinen Atem auf ihren Lippen. Sie reckt sich leicht, schloss die Augen und ... Es war ein kleiner Kuss, ein winziges Fünkchen nur, doch Lene durchzuckte es, ihr Magen zog sich zusammen und es drängte sie, Jakob wieder anzusehen, ihm über die Wange zu streichen. Und am liebsten hätte sie es gehabt, wenn er sie noch einmal geküsst hätte. Doch hier in der Oper? Vor aller Augen? Unmöglich … Aber allein, dass er es getan hatte … dass er ... Sie lehnte sich wieder an seine Schulter und er nahm ihre Hand und … sie sah wieder auf, nur um tief Luft zu holen und seinen Duft, dieses leichte Parfum, in sich aufzunehmen und ihre Hand über seine Brust und seinen Bauch gleiten zu lassen. Vielleicht nannte man es Kuscheln, was sie hier taten, vielleicht, denn auch er lehnte sich an sie.
 

Später standen sie sich vor der Oper gegenüber – bei den Händen haltend, jedoch nicht recht wissend, was nun. In Lenes Innerem rumorte es und so blieb ihr nur, ihm in die Augen zu schauen. Er hatte die Lippen zu einem seiner typischen Lächeln verzogen, bleckte jedoch nicht die Zähne. Und selbst wenn er’s getan hätte … selbst wenn … Sie strich ihm über die Wange, hörte sich dann sagen: „Ich würde mich freuen, wenn wir noch irgendwo etwas trink …“
 

„Möchtest du mit zu mir kommen?“, unterbrach er sie. Er hielt den Mund leicht geöffnet, wirkte plötzlich etwas unruhig, so als müsse er sich das, was er soeben gesagt hatte, noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Doch dann nickte er. „Möchtest du?“
 

Sie selbst war über seine Frage ebenso erschrocken, hatte sie doch nicht damit gerechnet. Ahnte sie, ja wusste sie, was das bedeutete, oder besser, bedeuten konnte? Und wollte sie das? Wenn sie einmal bei ihm war, würde sie an diesem Abend ganz sicher nicht mehr nach Hause fahren. Aber wenn sie jetzt … nein …
 

„Möchtest du?“, hörte sie ihn erneut fragen und fühlte sich ob seines Blickes leicht verunsichert. „Morgen ist Samstag …“, fuhr er fort. Sie nickte.
 

„Ist das ein Ja?“
 

Sie konnte nicht antworten, nickte nur wieder, biss sich dann auf die Unterlippe und wich seinem Blick aus.
 

„Dann komm“, sagte er, nahm ihre Hand, wollte los.
 

„Jakob“, murmelte sie. Sofort war er bei ihr. „Was?“
 

Ihr Herz flatterte und sie befürchtete, wieder von einer Hitzeattacke gepackt zu werden, als er sich leicht zu ihr hinabneigte und flüsterte: „Daheim wartet jemand auf dich.“
 

„Was? Wer?“
 

Er schmunzelte, schwieg jedoch.
 

„Wer?“, drängte sie ihn.
 

„Na, die Geige … Schon lang hat sie dich nicht mehr gesehen. Und wenn ich ehrlich bin, fragte ich dich auch nur ihretwegen.“
 

„Jakob …“
 

Er zog die Augenbrauen hoch und zuckte mit den Schultern. Dann legte er den Kopf schräg und sah sie einen Moment lang an. „Also?“
 

Wenig später saßen sie beide in der S-Bahn. Nebeneinander. Er hatte seinen Arm um sie gelegt, was ihr sehr gefiel, gleichwohl die Aufregung noch nicht von ihr gewichen war. Nie zuvor hatte sie sich so schnell darauf eingelassen, einem Mann nach Haus zu folgen. Noch nie … aber Jakob war anders als andere Männer. Der war … Sie holte tief Luft, legte ihm die Hand auf die Brust, schmiegte sich an ihn. Sie wollte sich, gerade wegen der Unruhe, die in ihr herrschte, ein wenig entspannen, als sie plötzlich eine Bewegung wahrnahm und leicht zurückschreckte. Ihr gegenüber hatten zwei Frauen platzgenommen: vollkommen in schwarz gekleidet und vollverschleiert. Einzig die Augen waren durch einen schmalen Schlitz sichtbar. Und Lene war es so, als werde sie von den beiden gemustert, angestarrt. Augenblicklich spürte sie ein seltsam ziehendes Gefühl in sich und wollte sich schon an Jakob wenden, als dieser ihr ins Ohr flüsterte: „Die hocken da wie zwei schwarze Säcke …“



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