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Der eine zählt des anderen Tassen

von

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Was für ein Tag!

Erst am Ende dieses Schultages kam Lene dazu, ihr Handy wieder anzuschalten, um Jakob auf seine Frage nach einem Treffen zu antworten. Doch gerade in diesem Moment lief ihr Ronja in die Arme. Diesmal ohne Sama. Beide Mädchen schienen sich zu verstehen. Ronja, das hatte Lene bereits in den Einführungsstunden beobachtet, sprach viel mit Sama – und, wenn diese etwas nicht verstand, was häufig genug der Fall war –, dann begann sie einfache Wörter zu gebrauchen und sie mit Gesten zu untermalen. Lene war klar, dass vor ihr selbst ein ganzes Stück Arbeit läge. Ob sie Sama auf den Übergang in eine weiterführende Schule würde vorbereiten können, war fraglich. Was sie jedoch positiv stimmte, war die Tatsache, dass Ronja sie in alles einwies, ihr alles zeigte, sie herumführte wie eine Patin es tat. Sehr gewissenhaft eben.
 

„Danke“, sagte Lene. „Danke.“
 

„Wofür?“, fragte Ronja und sah ihre Lehrerin ernst an.
 

„Na, dass du Sama unter deine Fittiche nimmst.“
 

„Ach das, ja …“, gab Ronja zurück und zuckte mit den Schultern. „Meine Eltern sagen zwar immer wieder, dass es nur Probleme geben werde mit den Flüchtlingen und dass man aufpassen solle …“
 

„Das sagen sie?“
 

Ronja nickte.
 

„Und von welchen Probleme sprechen sie konkret?“
 

Ronja zuckte wieder mit den Schultern. „Sie sagen, dass es wohl schwer werde, sie zu integrieren. Ich denke aber, dass man dem entgegenkommen kann, indem man diesen Menschen hilft. Oder nicht?“
 

Lene sah Ronja einen Moment lang nur an, denn sie konnte nicht sofort reagieren. Zu viele Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Das Mädchen, das da vor ihr stand, war – ja, wieder erschreckte es sie, wie reif Ronja bereits war. So umsichtig, weitsichtig. Dieses 10jährige Mädchen: kleine, schmächtig, das Haar zu einem unordentlichen Zopfe gebunden. Eigentlich wirkte sie wie eine 8jährige und war doch im Kopf so rege wie manch Erwachsener nicht.
 

„Deine Eltern sagen also …“, setzte Lene wieder an und Ronja nickte. „Ja, sie sagen, dass es Probleme geben könnte und dagegen möchte ich an, möchte etwas tun.“
 

„Das ist gut, sehr gut. Gerade diese Menschen, die Flüchtlinge, benötigen jetzt unsere Hilfe. Und wenn du dazu bereit bist, dich um Sama zu kümmern, dann denke ich, werden wir es schaffen, sie auch in die Klasse zu integrieren. Oder was meinst du?“
 

Ronja schwieg einen Moment lang, dann sagte sie: „Es ist wichtig, dass sich Sama in der Klasse wohlfühlt, ja, noch wichtiger ist es aber, dass sie und ihre Eltern das Leben in Deutschland kennenlernen und mit ihm vertraut gemacht werden. Aber dazu braucht es den Austausch. Leider habe ich heute noch nicht viel von ihr erfahren können, da ich kein Arabisch kann, aber das wird schon. Wir haben uns darauf geeinigt, dass sie es mir beibringt und ich ihr Deutsch. Und sobald wir über einen Grundwortschatz verfügen, wird sie auch mehr Vertrauen fassen. Da bin ich sicher. Derzeit ist sie allerdings noch sehr schüchtern.“
 

All das sagte Ronja so, als wäre es das Normalste von der Welt, dass ein Kind ihres Alters so dachte und sich auch so ausdrücken konnte. Lene befremdete das noch immer. Und so gern sie Ronja inzwischen auch hatte, spürte sie doch, dass gerade diese Reife einen nicht unerheblichen Abstand, ja einen Raum schuf, den Lene selbst immer wieder Gefahr lief, mit ihren eigenen Emotionen zu füllen. Bisweilen wusste sie in sich ein Gefühl der Unheimlichkeit aufkommen, wenn sie Ronja gegenüberstand. Ja, Ronja war ihr noch immer unheimlich, so, wie damals, als sie in der 5. Klasse nach der Stunde zu ihr nach vorn gekommen war und gesagt hatte, dass sie die Sterne in einen Raum jenseits allen Seins mitnehmen wollten. Und gleichzeitig spürte sie doch ins sich das Verlangen, dieses Mädchen einfach in ihre Arme zu ziehen, sie an sich zu drücken, ihr über den Kopf zu streichen, sie anzulächeln, auch wenn sie vielleicht niemals darauf reagieren würde. Ja, was Lene neben all dieser Ewachsenheit schreckte, war die Tatsache, dass Ronja, soweit sie sich erinnern konnte, bisher kein einziges Mal gelächelt hatte. Auch dies wäre ein Thema, worüber sie mit den Eltern sprechen könnte. Denn, woran lag es, dass Ronja niemals ein freudiges gar ausgelassenes Verhalten zeigte? War das wirklich nur ihrer Reife geschuldet? Aber sprachen nicht gerade die großen Philosophen davon, dass zur Lebensweisheit auch ein ordentliches Maß an Freude gehörte und eben auch die Fähigkeit, diese auszudrücken und auszuleben? Gut, wenn sie sich an ihre eigene Schulzeit erinnerte, dann hatte auch sie eine Phase durchlebt, in der sie kaum gelächelt geschweige denn gelacht hätte. Diese Emotionen hatte sie erst später zugelassen, als sie aus der Pubertät heraus war. Doch Ronja war noch weit von der körperlichen Umstellung entfernt – anders als einige ihrer Klassenkameradinnen.
 

„Doch ich denke, dass sich die Schüchternheit tatsächlich legen wird, wenn sie erst einmal Deutsch kann“, hörte sie Ronja in ihre Gedanken hinein sagen und zwang sich, diesem Mädchen in die Augen zu sehen. Doch wieder überkam sie das seltsame verschreckende Gefühl, nicht zu wissen, wer da nun eigentlich vor ihr stand: ein Kind oder eine Erwachsene?
 

„Ja“, setzte sie schließlich an, denn Ronja, das wusste sie, erwartete eine Reaktion von ihr. „Ja, ja, da hast du vollkommen recht. Integration beginnt bei der Sprache.“
 

„Nicht nur“, entgegnete Ronja, „aber auch.“
 

Nur mit Mühe konnte Lene ein Kopfschütteln unterdrücken, gar eine Geste, die ihren Gefühlszustand verraten hätte. Ronja sollte nicht spüren, wie verunsichert sie war – sie, als ihre Lehrerin hatte all das zu deckeln. Auch die Eltern hatten ihr geraten, normal mit ihr umzugehen und das bedeutete, sie wie eine Erwachsene zu behandeln. Und gleichzeitig musste sie sich immer wieder klar zu machen, dass Ronja mitnichten erwachsen war. Sie war ein Kind von 10 Jahren, ein kleines Mädchen, das sie niemals überfordern durfte – auch und gerade in Hinblick aufs Samas Betreuung nicht. Aber wie leicht es war, diese Kleine als Erwachsene zu betrachten und wie verlockend, ihr Aufgaben zu übertragen, die weit über das hinausgingen, was ein Kind ihres Alters fähig war anzugehen. Sich immer wieder bewusst zu machen, dass sie es noch mit einem Mädchen zu tun hatte, fiel Lene nicht immer leicht. Und so auch jetzt, da sie sich selbst daran erinnern musste, wie wichtig es war, Ronja zwar Verantwortung zu übertragen, sie dabei jedoch immer im Augen zu behalten – und das mehr noch als ihre Klassenkameraden. Dennoch war Lene davon überzeugt, dass diese Aufgabe auch Ronja zugutekäme, denn zuvor hatte sie sich stets ein wenig isoliert. Wenn sie nun aber mit Sama arbeiten würde, könnte das ihrem Ansehen in der Klasse nur helfen und ihre Fähigkeiten im Umgang mit anderen Menschen weiterentwickeln. So dachte Lene und musste sich im nächsten Moment doch sehr zusammennehmen, Ronja nicht über den Kopf zu streichen. Stattdessen legte sie ihr die Hand auf die Schulter und nickte. „Ronja, ich danke dir nochmals, dass du dich um Sama kümmern möchtest. Aber bitte komm zu mir, wenn es Probleme gibt. Ja?“
 

Ronja nickte, sagte jedoch nichts.
 

Drei Stunden später stand Lene Jakob am Bahnhof Friedrichstraße gegenüber, nahm seine Hand, sah ihm ins schmale Gesicht, bemerkte seine leicht zerstrubbelten, wohl vom Wind gekämmten Haare und legte ihm einfach ihre Arme um den Hals, ehe sie ihr Gesicht an seine Wange schmiegte.
 

„Jakob“, murmelte sie und vernahm auch ihren Namen, so dicht an ihrem Ohr, dass sie sich noch enger an ihn schmiegte. Sie brauchte das jetzt, denn ihr war wieder so kalt wie vor fünf Tagen auf dem Sommerdeich. Nur war dieser Kälte diesmal kein Hitzeschauer vorausgegangen. Sie wusste nicht, was es war – vielleicht die Aufregung, ihn wiederzusehen? Die Freude? Sie spürte seine Hände in ihrem Rücken und seine Arme, wie sie sie umfingen. Und sie küsste ihn auf die Wange, hob dann den Kopf. „Jakob“, murmelte sie noch einmal, sah auf seine leicht geöffneten Lippen, reckte sich, doch er zuckte plötzlich zurück.
 

„Was?“, hörte sie sich fragen.
 

„Wir sollten nicht so eng beieinander sein“, erwiderte er und löste sich aus ihrer Umarmung.
 

„Wieso?“ Sie war verwirrt.
 

„Wir hätten uns gar nicht treffen sollen …“
 

„Wieso denn bloß? Du wolltest es doch auch …“
 

„Weil … weil …“, begann er zu drucksen, „ich … Lene, als deine Mail vorhin kam, da …“
 

Er unterbrach sich, griff sich an den Mund.
 

„Jakob, was?“
 

„Lene, ich war so aufgeregt danach, dass ich … ich … ich glaube, ich hab …“
 

Wieder unterbrach er sich und sie sah ihn nur umso verwirrter an, schwieg jedoch und so fuhr er schließlich fort: „Lene, du darfst nichts Falsches von mir denken, aber ich glaube … ich neige zu Herpes. Und ich glaube … es kribbelt schon … und ich habe zwar schon etwas genommen dagegen, aber …“
 

Er senkte den Blick, sagte dann: „Wir sollten uns fernbleiben und dabei wollte ich doch …“
 

Lene wusste im ersten Moment nicht, wie sie reagieren sollte und so nahm sie nur seine Hände, drückte sie leicht, sagte dann ganz leis: „Das macht doch nichts.“
 

„Aber ich wollte dich … nun … küssen. Ich hatte es mir so fest vorgenommen und nun …“
 

„Jakob“, hörte sie sich nur sagen und wusste nicht, ob es Rührung war, die sie ihm gegenüber empfand.
 

„Leidenschaft“, fuhr er da plötzlich auf, sah sie ganz ernst an und kam ihr wieder näher. „Ich würde dich gern so leidenschaftlich küssen, wie es ein Mann nur irgend kann.“
 

Lene konnte nur nach Luft schnappen, ihn ansehen. „Jakob“, sagte sie dann, „das … das wirst du und ich freue mich darauf.“ Und mit diesen Worten umfasste sie sein Gesicht, reckte sich und küsste ihn – ganz leicht und murmelte: „Aber nicht hier, nicht jetzt, und nun lass uns etwas essen gehen.“
 

„Ich kann jetzt nicht ans Essen denken“, entfuhr es ihm. „Du hast mich …“
 

Sie war ihm noch immer nah, spürte seinen Atem im Gesicht, erwiderte: „Ich brauchte das eben.“ Und mit diesen Worten küsste sie ihn noch einmal, nur diesmal schloss sie die Augen. Ihr war es in diesem Moment egal, was geschehen würde. Außerdem kannte sie diese Bläschen nur allzu gut und hatte eine Salbe daheim, die sie auftragen würde – zur Sicherheit. Hier und jetzt nun wollte sie ihn spüren. Seine Lippen, seine leichten Barstoppeln, seinen Atem. „Was für ein Tag!“, murmelte sie. Nur um ihn dann noch einmal zu küssen. Und diesmal zuckten auch seine Lippen und ein Blitz schoss ihr durch den Magen. Er begann auf ihren Kuss zu reagieren, langsam, tastend – und doch … „Jakob“, murmelte sie gegen seinen leicht geöffneten Mund, „das ist …“
 

Sie unterbrach sich, sah ihm in die Augen und fuhr ihm durchs Haar.
 

„Lass uns ein paar Schritte gehen“, kam es prompt von ihm und sie nickte.



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