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Der eine zählt des anderen Tassen

von

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Ja?

Und dann stand Lene vor ihrer Klasse, der 6., die sie in diesem Jahr die Aufgabe hatte, auf die weiterführenden Schulen vorzubereiten. Doch im Grunde wusste sie schon, welche Empfehlung sie jedem Einzelnen am Ende des ersten Halbjahres überreichen würde. Da waren Hannah und Christoph, beide in der vorderen Reihe, jedoch je allein sitzend. Sie würden ebenso eine gymnasiale Empfehlung erhalten wie Susanne, auch wenn diese nie den Mund auftat. Und dass Ronja auf ein Spezialgymnasium für Höchstbegabte gehen würde, stand ebenso fest. Für Matthias, Merten und Enrico, Sophia, Luca und all die anderen würde sie die Sekundarschule empfehlen – bei einigen von ihnen wusste sie, dass das Abitur machbar wäre, bei anderen zweifelte sie. Und es waren gerade diese Fälle, die sie sich freute, endlich loszuwerden, denn gerade hier waren es die Eltern, die auf eine gymnasiale Empfehlung drängten, wie etwa bei Jenny, die zwar eine wunderschöne Schrift besaß und ebenso viel Fleiß zeigte, doch eben kaum eigene Gedanken produzierte. Und da war noch Sascha … oh, dieser Sascha, der hatte sich an diesem Morgen ausgerechnet neben Susanne gesetzt, wohl, weil er wusste, dass er von ihr abschreiben konnte, wenn es bei ihm einmal wieder nicht langte. Lene hatte zu Beginn des 5. Schuljahres schnell durchschaut, dass sich Sascha – ganz im Gegensatz zu seinen Eltern – recht gut einschätzen konnte. Und um die nicht zu enttäuschen, versuchte er mit besseren Schülern, vor allem Schülerinnen, anzubandeln. Nun war es eben Susanne, die das Opfer seiner Avancen werden sollte … Und das alles nur, um seinen Eltern zu gefallen und ihnen den Sohn zu präsentieren, den sie wollten. Im Grunde konnte er ihr leidtun, dieser blonde große Kerl. Sie würde wohl einen harten Kampf mit den Eltern auszufechten haben, wenn sie ehrlich wäre … wenn, denn, wie ihr Petra einmal sagte, seien Notlügen durchaus erlaubt, um sich allzu aufdringliche Eltern vom Leib zu halten …
 

Tja, blieben noch die beiden Neuen, würden sie das Klassenziel überhaupt erreichen? Das fragte sie sich, stutzte und ließ ihren Blick noch einmal über ihre Rasselbande gleiten: wo waren die Neuen überhaupt?
 

Sie wollte schon auf und zu Dolores hinunter in die erste Etage, um sie zu fragen, was nun sei, warum die Neuen nicht in ihrer Klasse säßen, als ihr Handy ein kaum überhörbares Brummen von sich gab. Zuerst versuchte sie es zu ignorieren, doch es brummte erneut und ihr war klar, eine Nachricht war eingegangen. Und so, als müsste sie sich ihrer Klasse gegenüber rechtfertigen, murmelte sie: „Bitte entschuldigt, es kann wichtig sein.“
 

Warum sie das sagte, wusste sie nicht, denn im Grunde galt auch für sie das Handyverbot während der Stunde. Nur in Ausnahmefällen war es dem Lehrer oder der Lehrerin gestattet, das Handy zu nutzen. Das sollte, so hatte es die Lehrerkonferenz festgelegt, eine Vorbildfunktion für die Schüler haben, die ja beinahe nicht mehr ohne konnten. Da sollte wenigstens die Schule eine handyfreie Zone sein. Doch nun hatte ihres gebrummt, weil sie vergessen hatte, es auszustellen. Vorhin. Im Lehrerzimmer. Und nun stand sie da – schon mit dem Telefon in der Hand, begab sich zum Fenster, öffnete es, lehnte sich etwas hinaus, holte tief Luft, sah, dass sie eine Mail erhalten hatte, überlegte kurz, ob sie sie öffnen sollte und entschied sich, einem inneren Drängen folgend, dafür.
 

Lene,
 

ich bin dazu ausgebildet worden, die großen Fragen der Menschheit anzugehen und kann noch nicht einmal meine eigenen beantworten. Seit einer Stunde schon starre ich auf den Bildschirm meines PC. Die Mail an dich ist geöffnet, doch ich weiß nicht, wie beginnen. Seit unserem Auseinandergehen auf dem Bahnhof Hamburg-Altona vor vier Tagen haben wir uns weder gesehen, gesprochen, gelesen.
 

Am Freitagabend findet die Premiere einer neuen Inszenierung der Zauberflöte in der Staatsoper statt. Würdest du mir die Freude bereiten, dich dorthin einladen zu dürfen? Ich kann dir versichern, dass es eine wunderbare Inszenierung mit der weltberühmten Sopranistin Diana Damrau als Königin der Nacht sein wird.
 

In Erwartung deiner Antwort
 

Jakob
 

Lenes Herz begann schneller zu schlagen und am liebsten hätte sie Jakob sofort geantwortet, doch das ging nicht. Die Pflicht. Und so stellte sie ihr Handy auf stumm, schaltete es schließlich ganz aus und wollte sich gerade wieder der Klasse zuwenden, als sie plötzlich mitten auf dem Schulhof ein braunhaariges Mädchen stehen sah – ganz allein. Es bedurfte nur eines Augenblickes und Lene war klar, wer dort wartete …
 

„Sama?“, rief sie aus dem Fenster und erhielt als Antwort einen Blick, den sie nicht einordnen konnte. „Bist du Sama?“
 

Das Mädchen schwieg weiterhin und in Lenes Kopf begann es zu arbeiten. Was sollte sie, was konnte sie tun?
 

„Philipp“, rief sie gedämpft, „komm mal bitte her.“ Er war der erste, der ihr, nun wieder halb der Klasse zugewandt, ins Auge gesprungen war. Sofort war der kleine blonde Junge bei ihr und sah sie fragend an. Sie legte ihm die Hände auf die Schultern, wandte sich dann vollends an die Klasse. „Da unten steht eure neue Mitschülerin Sama. Sie kommt aus Syrien. Sie ist sehr schüchtern, traut sich nicht hoch. Philipp, du“, wandte sie sich an den kleinen Jungen, „wirst hier am Fenster bleiben und mit ihr reden, während ich nach unten gehe und sie hole. Klar?“
 

Philipp nickte. Er war eigentlich der Clown der Klasse, doch kannte Lene ihn auch als einen sehr empathischen Jungen. „Ruf sie beim Namen. Aber nicht zu laut.“
 

Wieder nickte er.
 

„Und ihr anderen verhaltet euch still. Ist das klar?“
 

Seltsamerweise gab es kein Gemurr.
 

„Danke“, sagte sie. „Nur Philipp darf, denn wir wollen sie nicht verschrecken. Nun los Philipp …“ Sie gab ihm ein Zeichen. Er folgte ihrer Geste und dann hörte sie ihn plötzlich rufen: „Hallo, ich bin Philipp und du, bist Sama?“
 

Innerlich dankte sie dem Jungen für seinen wachen Verstand und stürmte dann aus dem Klassenzimmer, um ihren neuen Schützling vom Hof abzuholen. Doch kaum war sie unten, blickte sie, einer inneren Eingebung folgend, nach oben zum Fenster und wusste nicht, wie ihr geschah: da stand nicht nur Philipp, sondern fast die ganze Klasse hatte sich an den Fenstern versammelt und schweigend sahen die Kinder hinab. Einige hatten die Hand zum Gruß erhoben, andere lächelten nur. Lene konnte einen Moment lang gar nichts tun, außer nach oben zu schauen und Sama dann einfach die Hand hinzustrecken, die die Kleine tatsächlich auch nahm.
 

„Ich bin Lene, deine Lehrerin“, sagte sie. „Und das da oben …“ Sie deutete zu den Fenstern hinauf. „… das sind deine Klassenkameraden. Das da ist Philipp und das da ist Merten und da, siehst du, da steht Ronja und …“
 

Sie unterbrach sich, fuhr sich mit der Hand über den Mund, winkte dann zu ihrer Klasse hinauf und wandte sich an Sama. „Magst du auch? Winken?“
 

Sie machte es ihr vor, doch die Kleine reagierte nicht und so fragte sie sie leise: „Und du bist Sama?“
 

Diese sah sie noch immer schweigend an – mit ihren großen braunen Augen. „Sama“, wiederholte Lene langsam und dann – sie wusste im ersten Moment nicht, ob sie sich verhört hatte, vernahm sie plötzlich ihren eigenen Namen. „Lene.“
 

Sie konnte nur nicken und lächeln und wieder nicken und schließlich ein kleines „Ja“, hervorbringen und die Hand des Kindes leicht drücken. „Ich bin Lene und du bist Sama.“
 

„Sama“, wiederholte das Kind und deutete auf sich, dann auf Lene und sagte: „Lene.“
 

Was war das für ein Moment!
 

Die Frage, wo Amar geblieben war, stellte sich Lene in diesem Moment nicht. Später erfuhr sie von Dolores, dass er erkrankt sei und erst nächste Woche käme. Nun, erst einmal wollte sie Sama nach oben bringen. Als sie die Klasse zusammen mit dem Mädchen betrat, saßen die anderen Kinder schon wieder an ihren Plätzen. Ganz ruhig und sahen sie und Sama an. Lene konnte nicht anders als „Danke“ zu sagen. „Danke.“ Und sie beschloss, ihrer Klasse für ihr gutes Verhalten eine Überraschung zu bereiten. Das musste einfach sein. Das hatten sie sich alle verdient. Und als dann auch noch Ronja ungefragt aufstand und sagte: „Sama kann neben mir sitzen“, musste Lene doch sehr mit ihren Emotionen kämpfen.
 

Dass an Unterricht nicht zu denken war, verstand sich von selbst. Lene teilte den Stundenplan aus, verteilte auch die bereits zurechtgelegten Klassensätze an Büchern für Geschichte und Biologie und wies die Kinder darauf hin, diese bis morgen einzuschlagen. Dabei huschte ihr Blick immer wieder nach hinten, in Ronjas Ecke, die, so meinte sie, Sama tatsächlich helfend zur Seite stand. Dieses stets ernste Mädchen kümmerte sich um den kleinen Neuling. Unwillkürlich musste sie schmunzeln.
 

Erst in der großen Pause kam Lene dazu, sich der Mail von Jakob neuerlich zu widmen. Dass sie sich dafür eigens in den Kartenraum, den man auch von innen abschließen konnte, verzog, wurde ihr erst bewusst, als sie den Schlüssel im Schloss herumdrehte und sich auf einen Hocker sinken ließ.
 

Lene, las sie nochmals
 

ich bin dazu ausgebildet worden, die großen Fragen der Menschheit anzugehen und kann noch nicht einmal meine eigenen beantworten. Seit einer Stunde schon starre ich auf den Bildschirm meines PC. Die Mail an dich ist geöffnet, doch ich weiß nicht, wie beginnen.
 

Wie hatte sie sich das vorzustellen? Er, in seinem Bürosessel, mit krummem Rücken vor seinem PC hockend, klickend und doch nicht wissend? Ach, Jakob, murmelte sie. Und dann schrieb sie:
 

Jakob, und verzichtete damit ebenso wie er auf die doch so sehr förmlich wirkende Anrede Lieber.
 

Vielen Dank für dieses wunderbare Gedicht von Rilke, das ich dem Wortlaut nach bereits vergessen hätte, wenn du es mir nicht zugesteckt hättest. Die Erinnerung an diese Momente, da du es mir zugeflüstert hast, bleiben jedoch.
 

Auch ich möchte dich gern wiedersehen, aber zu der Premiere einer bereits im Voraus so gefeierten Inszenierung? Die Karten sind ausverkauft … Wie willst du, wie kannst du? Du siehst mich verwirrt …
 

Sie unterbrach sich, las ihren Text noch einmal, fragte sich dann, ob er nicht zu viel Gefühl transportiere, da sie sich selbst noch gar nicht so sicher war, entschied sich jedoch, die Erinnerung an die Momente, da er ihr das Gedicht ins Ohr geflüstert hatte, nicht zu streichen. Und so schrieb sie weiter:
 

Wir können uns doch auch auf ein gemeinsames Abendessen treffen. Was meinst du?
 

In Erwartung deiner Antwort
 

Lene
 

Die Antwort kam mit dem Klingelzeichen zur nächsten Stunde, und auch wenn es sie zum Aufbruch trieb, las sie doch Jakobs Mail:
 

Lene,
 

warum nicht heute das gemeinsame Abendessen? Wenn du Zeit hast?
 

Und darf ich deinen weiteren Zeilen entnehmen, dass du mich am Freitagabend begleiten würdest, wenn ich Karten hätte? Dann darf ich dir versichern, dass wir auf dem ersten Rang, erste Reihe Mitte sitzen werden. Zuvor gibt es eine Werkseinführung. Ich darf also mit deiner Anwesenheit auch an diesem Freitagabend rechnen?
 

Dein Jakob, der nun, da er eine Mail von dir erhalten hat, beruhigt an die Fragen gehen kann, die ihn umtreiben, aber nicht berühren.
 

Ps.: Lene, sag ‚Ja‘ zu heute Abend.



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