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Blut und Gold

von

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TEIL II - KAPITEL V: Yuriy

Yuriy träumte.

Er wusste, dass er träumte, weil er wieder in Russland war und wieder sein Schwert in der Hand hatte. Das Pferd unter ihm schnaubte und stieß einen Schwall warmer Atemschwaden in die kühle Luft. Er fühlte die Schneeflocken auf seinen Wimpern und Haaren, und er fröstelte, weil ihm der Mantel fehlte. Im Dienst von Volkov hatte er mehr Zeit auf einem Pferderücken verbracht, als auf seinen eigenen Beinen. Für Volkov war er losgezogen, für Volkov hatte er erobert, für Volkov hatte er geschlachtet. Er träumte nie von Volkov.

Wovon er träumte, war das Morden. Aber er träumte immer nur von seinen Folgen, wenn das eigentliche Morden bereits vorbei war. Auch jetzt hob Yuriy die Augen und blickte auf das weite Feld vor sich, das getränkt war von Blut und gekrümmten, toten Körpern, über die sich bereits der Frost hermachte. Zwischen ihnen: Der Rest von Volkovs Soldaten - Yuriys Soldaten - wie Totenreiter in ihren langen, dunklen Fellmänteln, als sie mit ihren Pferden verborgene Pfade zwischen den Leichen suchten.

„Es ist etwas Göttliches daran, über Leben und Tod zu entscheiden”, sagte Boris.

Der Satz kam aus seinem Mund, aber es war etwas, das Volkov zu sagen und Yuriy zu leben pflegte, damals, in einer anderen Zeit. Yuriy wandte den Kopf. Es war seine verdiente Strafe, dass er Boris nur noch so sah, wie er ihn jetzt sah und wie er ihn eigentlich in der Realität nie gesehen hatte: Bläuliche Lippen mit einem gefrorenen Lächeln. Glänzende, leblose Augen. Yuriys prächtiger Mantel mit der goldenen Spange um seine Schultern, tropfnass vor dunklem Blut, das aus einer Wunde in seinem Bauch sickerte. Yuriy sah zu, wie er die Hand gegen die Wunde presste und mit jeder Minute schwerer atmete.

„Menschen sollten sich nicht wie Gott verhalten”, sagte Yuriy leise.

Boris verzog die Lippen erneut zu einem toten, frierenden Lächeln, das nichts mit seinem . „Gott hat die Menschen nach seinem Abbild geschaffen. Warum sollten wir nicht genauso grausam sein?”

„Das bist nicht du”, sagte Yuriy und kam sich albern vor. Er wusste, dass es nur ein Traum war. Das machte die Enge in seiner Brust aber auch nicht besser. „Diese Aussagen, diese Haltung, das bist du nicht.”

Boris sah ihn mit seinen hellen Augen an. Dann nahm er die blutgetränkte Hand von seiner Bauchwunde und legte sie Yuriy auf den Arm, um ihn einen Moment lang schraubstockartig zu umklammern.

„Du weißt nicht einmal, wer du bist”, sagte er, „du weißt nicht einmal, was du tust und wo du bist. Aber keine Sorge.” Er neigte die kalten Lippen zu Yuriys Wange und drückte einen Kuss auf seine Haut. „Ich werde dich immer finden. Und das ist alles, worauf es ankommt.”

Dann ließ er los, noch ehe Yuriy ihn aufhalten konnte, und fiel mit geweiteten Augen von seinem Pferd, genau so, wie er es auch in der Realität getan hatte. Und genau wie damals machte Yuriys Pferd einen Satz nach vorne und trug ihn fort, während Boris von toten Leibern und gefrorener Erde verschluckt wurde.

Yuriy wachte auf.

Nadeschda schob besorgt die Schnauze gegen seinen Arm und er schaffte es, sie einen Moment lang beruhigend hinter den Ohren zu kraulen. Dann krümmte er sich zusammen wie ein verwundetes Tier und schnappte nach Luft, versuchte zu atmen, ohne dass es ihm so recht zu gelingen schien. Wie lächerlich, dass es immer noch so wehtat, dass er sich immer noch so schuldig fühlte, dass er aber auch nicht die leise Hoffnung ablegen konnte, ob Boris nicht doch … Denn immerhin hatte er nie eine Leiche gefunden, auch wenn er noch einmal zurückgekommen war, später, und das ganze Feld nach ihm abgesucht hatte, bis das Blut in seinen Gewändern begonnen hatte, starr zu frieren. Boris’ Tod hatte ihn in tiefe Verzweiflung gestürzt, aber er hatte ihn auch befreit - von Volkov, von seiner eigenen Raserei, von einem alten Leben, das er auch nicht mehr zurück wollte. Vielleicht war Konstantinopel nicht das Endziel seiner Reise, aber er war hier mit dem Pinsel in der Hand eine bessere Version von sich selbst, als in der Heimat mit dem Schwert.

Yuriy vermisste Kai.

Die Träume waren wesentlich weniger gewesen, als sie sich noch regelmäßig gesehen hatten. Kai hatte etwas an sich, das Yuriy fesselte und da war eine unleugbare Spannung zwischen ihnen, die über regelmäßiges Kampftraining nur mäßig abgeleitet werden konnte. Kai hatte eine rasche Auffassungs- und eine scharfe Beobachtungsgabe, und einen trockenen Humor, der sich erst nach und nach gezeigt und Yuriy begeistert hatte. Dass er sich zu Kai hingezogen fühlte war etwas, das er schon länger wusste und akzeptierte. Manchmal glaubte er, dass es Kai genauso ging: Da war immer wieder ein Aufblitzen von Interesse in seinen Augen, das über bloße Freundschaft hinausging. Gleichzeitig war es schwierig zu beurteilen, weil Kai sich bei Avancen, die Yuriy ihm machte, in den entscheidenden Momenten immer zurückzog. Es war frustrierend. Noch frustrierender war nur, dass Kai seit ein oder zwei Wochen überhaupt nicht mehr auftauchte und ihm lediglich über Maxim eine Nachricht hatte überbringen lassen, die Yuriy nicht gerade viel sagte. Dass Maxim ihm in der gleichen Unterhaltung auch erstaunlich schonungslos angedeutet hatte, dass die Dinge politisch nicht gut standen und man nicht sagen konnte, ob seine Arbeit in der Hagia Sophia auf längere Sicht weitergehen würde, hatte nicht unbedingt dazu beigetragen, dass es Yuriy besser ging.

Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Nadeschda den Kopf hob und die Ohren spitzte. Immerhin hatte er sich emotional zumindest wieder einigermaßen gefangen, als es kurz darauf an der Tür seines Kellion klopfte.

„Morgenstund’ hat Gold im Mund”, erklang dann auch sogleich Ivans Stimme etwas zu energisch und fröhlich, um mit Yuriys Stimmung zu korrelieren.

Dementsprechend rieb Yuriy sich seufzend über das Gesicht in der Hoffnung, damit die letzten Spuren des Traums zu verscheuchen, ehe er die Beine von der Schlafstätte schwang und sich über die Schüssel gebeugt Wasser ins Gesicht spritzte. Der Schreiber klopfte erneut, während Yuriy sich in aller Ruhe die Tunika über den Kopf zog und glattstrich. Nadeschda wartete bereits an der Tür darauf, dass er sie ihr öffnete, und huschte dann sogleich hinaus, um sich Streicheleinheiten von Ivan einzuholen.

Ivan hatte eine Energie, der man sich schwer entzog, auch oder vielleicht gerade wenn man die Auswirkungen einer schlechten Nacht nicht so ganz abzuschütteln vermochte. Glücklicherweise brauchte Ivan aber keine oder nur wenige Antworten auf seinen Strom an Klatsch und Tratsch über das Kloster im Besonderen und Konstantinopel im Allgemeinen, sondern gab sich mit gelegentlichen, gegrunzten Lauten zufrieden. Es war immer wieder erstaunlich, wieviel Ivan wusste; dann wiederum war er absolut kein Einsiedler und auch wenn nicht alle mit seinem spröden, bisweilen fast zynischen Humor zurechtkamen, hatte er doch ein gut aufgestelltes soziales Netzwerk in Konstantinopel, besonders für einen Mönch.

Nach dem morgendlichen Gottesdienst und dem gemeinsamen Frühstück fragte Ivan: „Kommst du heute mit zu Sergei?”

Yuriy schüttelte den Kopf. „Ich mache mit dem Fresko weiter, bevor das Zeitfenster sich schließt. Ein paar Farben sind schon angerührt und müssen aufgebraucht werden.”

„Immer nur Arbeit im Kopf”, seufzte Ivan.

Er hielt Yuriy jedoch nicht auf, weshalb dieser sich wenig später in Nadeschdas Begleitung wieder auf dem Weg in die Hagia Sophia befand.

Auch wenn er heute keinen Sinn für seine Umgebung übrig hatte und sich beeilte, zu seinem Ziel zu gelangen, anstatt den Weg zu genießen, wie er es sonst doch manchmal gerne machte, fielen ihm subtile Unterschiede zu der Stadt vor Irenéos Rückkehr auf. So waren wesentlich mehr Stadtwachen positioniert, die bei genauerem Hinsehen alle das Emblem des Prinzen trugen. Sie taten nichts, waren sogar freundlich oder zumindest nicht unfreundlich, aber die Bevölkerung zeichnete sich dennoch durch eine gewisse Unruhe aus, die nicht einmal so richtig greif-, aber dennoch spürbar war.

Yuriy mochte diese Soldaten nicht.

Er mochte die Soldaten nicht, er mochte die ihm folgenden Blicke nicht, er mochte Kais Abwesenheit nicht und er mochte es nicht, dass kein Raulus ihn begrüßte, als er die Hagia Sophia betrat und seinen Arbeitsplatz erreichte. Einen Moment lang stand er einfach nur da, fassungslos über dieses Fehlen, nachdem er Raulus fest eingebläut hatte, wie wichtig es war, die Tagesstunden mit besonders gutem Licht nach Möglichkeit zu nutzen. Und dabei hatte er gedacht, dass der junge Mann eigentlich ein gutes Auge für Details besaß und sorgfältig arbeitete, wenn man es erst einmal geschafft hatte, seine Energie auf ein Ziel zu bündeln. Aber diesen Eindruck der Sorgfalt warf Yuriy nun zum Fenster heraus. Mit einem frustrierten Schnauben massierte er sich die Nasenwurzel und atmete tief ein. Raulus hatte die letzten beiden Tage schon gefehlt und er hatte angenommen, dass er vielleicht ein zu hart gefeiert hatte, aber der dritte Tag in Folge war einfach einer zu viel. Genug war genug. Es wurde Zeit für Handlungen.

Yuriy hatte Glück, denn Maxim war in einer Ecke der Hagia Sophia zu finden, wo er sich angeregt mit einer noch recht jung wirkenden Nonne unterhielt, deren jadegrüne Augen Yuriy prüfend musterten, als er mit raschen Schritten auf sie und den Patriarchen zutrat. Es dauerte einen Moment, ehe er in ihr die Diakonissa Mariam erkannte, die er bisher nur einige Male im Vorübergehen gesehen hatte, wenn sie auf dem Weg zu einer Taufe gewesen war. Obwohl man nur das Aufblitzen dunkler Haare unter dem Schleier erkennen konnte, zeigte sich doch schon allein an ihrem Gesicht, dass sie eine außergewöhnliche Schönheit war, die eine fast kraftvolle Ausstrahlung besaß. Yuriy neigte erst vor Maxim, dann vor ihr den Kopf, was ihren Zügen ein wenig die Arroganz nahm, um stattdessen einem befriedigten Lächeln Platz zu machen.

Das Lächeln, mit dem Maxim ihn bedachte, war wiederum so warm wie immer. „Mein lieber Freund! Wie kann ich dir helfen?“

„Mit Verlaub, ehrwürdiger Vater“, sagte Yuriy und versuchte seine Ungeduld und Frustration dabei mühevoll im Zaum zu halten, „der Gehilfe, der mir zugeteilt wurde, erweist sich als faules, krankes Ross. Sicher wisst Ihr, wo ich seine Stallungen finde, damit ich diesen Gaul einmal ordentlich zureiten kann. Mit einem seit Tagen verschwundenen Gehilfen kann ich einfach nicht arbeiten.“

Maxims Lächeln wurde alarmierend besorgt, während die Diakonissa nur mühsam ein Lachen zu unterdrücken schien.

„Ich lasse die Herren wohl lieber alleine“, sagte sie mit samtiger Stimme, verneigte sich vor dem Patriarchen und ging nach einem letzten Blick auf Yuriy mit festen Schritten ohne Eile davon.

Yuriy verschwendete keinen weiteren Gedanken mehr an sie, sondern fixierte erneut den Patriarchen, der nach Worten suchen zu schien.

„Die Dinge sind momentan ein wenig schwierig”, sagte er schließlich, „ich werde dir einen neuen Gehilfen zukommen lassen.”

„Ich möchte keinen neuen, ich möchte diesen”, sagte Yuriy, der nichts war, wenn nicht stur, besonders wenn er sein Toleranzlevel an Frustration schon längst überschritten hatte.

Maxim schenkte ihm einen Blick, als ob er sich genau darüber sehr im Klaren war, dann kratzte er seinen Bart. „Manchmal sind die Wege Gottes für uns unergründlich, mein Freund. Ich fürchte, dass du diesen Gehilfen unter Umständen nicht mehr zurückbekommst. Man hat mir gesagt, dass er wieder zurück in die Provinz gerufen wurde, um dort seiner eigentlichen Tätigkeit als Straßenprüfer nachzukommen.”

Yuriy wusste mit bestimmter Klarheit, dass das nicht der Wahrheit entsprach. Er konnte nicht sagen, ob Maxim log oder ebenfalls angelogen worden war und jetzt nun einfach nicht die richtigen Informationen übermittelte. Das war jedoch im Endeffekt auch nicht weiter von Belang, denn das Ergebnis war das Gleiche.

„Dann ist es ja gut, dass wir die Werkzeuge Gottes sind”, sagte er mit wesentlich mehr beißendem Sarkasmus, als ein Mönch in einem Gespräch mit dem Patriarchen von Konstantinopel aufbringen sollte. „Ich habe nämlich die große Vision, dass der Herr mich in das Blachernen-Viertel schickt, um dort jemandem ordentlich das Fell zu gerben und ihn Demut und Arbeitsamkeit zu lehren.”

Etwas zuckte um Maxims Lippen, als ob er sich nur mühsam ein Lachen verkneifen konnte. Dann jedoch schüttelte er den Kopf, die blauen Augen plötzlich ernst. „Yuriy, ich habe dich nicht hierher gebracht, damit du dich noch mehr in Dingen verstrickst, die nicht deine Kämpfe sind. Du sollst hier zur Ruhe kommen, dich und Gott wiederfinden. Und vielleicht dein wunderbares Talent für Schöpfung statt Zerstörung nutzen, so wie wir alle.”

Da war vieles, das Maxim wusste und ihm - vielleicht auch dem Rest der Welt - verschwieg. Yuriy war sich darüber immer im Klaren gewesen, aber selten war es so deutlich gewesen wie in diesem Moment. Er starrte den Patriarchen an und überlegte einen Moment lang, die Antworten auf alles, was in dieser Stadt gerade geschah, einfach aus ihm herauszuschütteln. Etwas sagte ihm aber, dass er an Maxims Defensive einfach abprallen würde. Der Mann war nichts wenn nicht ein Bollwerk in allen Fällen, in denen er etwas zu verteidigen hatte. Yuriys rohe Kraft würde gar nichts bewirken.

Also zwang er sich dazu, tief durchzuatmen. Dann sagte er leise: „Eure Sorge ehrt mich. Aber Raulus kennt sich mit dem Sachverhalt schon aus und ist neben all seinen Fehlern ein heller, kreativer Kopf. Wenn ich jetzt wieder jemanden neu anlernen muss, verliere ich nur Zeit. Also bitte ich Euch, mir zu sagen, wo ich ihn finden kann.”

Maxim schien einen Moment lang sorgfältig abzuwägen. Dann seufzte er und gab sichtlich auf, strich sich aber erneut durch den Bart und wiegte sorgenvoll den Kopf. „Sei vorsichtig, mein Freund. Konstantinopel ist voller silbriger Spinnfäden, die seine Teile zusammenhalten, und man fährt bisweilen besser damit, behutsam vorzugehen.”

„Die Zeit für Behutsamkeit ist vorbei”, sagte Yuriy.

Maxim musterte ihn einen langen Moment. Dann nickte er langsam und verzog den Mund einen kurzen Augenblick zu einem fast grimmigen Ausdruck - ein erstaunlicher Anblick für den Patriarchen, der sonst immer so ein sonniges, ausgeglichenes Gemüt zeigte. „Vielleicht hast du Recht. Nun, es gibt nicht viele Latiner, die in der Stadt geblieben sind und im Blachernen-Viertel wohnen. Das Domizil des Romulus wird von zwei großen, geflügelten Steinlöwen flankiert. Du wirst es bald sehen, wenn du der Straße in Richtung des Blachernen-Palasts folgst.” Er hielt inne, zögerte einen Moment lang sichtlich. Dann senkte er die Stimme und murmelte: „Es gibt einen Hintereingang. Du tust vielleicht gut daran, dich vor den Augen der Stadtwache zu drücken und den Weg durch den Garten zu nehmen.”

Yuriy öffnete den Mund zu einer Erwiderung, aber Maxim schüttelte den Kopf und hob die Hand in einer erstaunlich autoritären Geste.

„Sei vorsichtig und überlege dir gut, welche Risiken du eingehen willst - und warum.” Seine Augen suchten noch einmal Yuriys Gesicht ab, dann nickte er ihm zu und ging.

Yuriy stand einen Moment still. Dann schüttelte er den Kopf und strebte dem Ausgang zu, und Nadeschda huschte still wie ein Schatten zurück an seine Seite, als er mit festen Schritten den kühlen Marmorboden der Hagia Sophia hinter sich ließ und hinaus trat in das goldene Licht des mittäglichen Konstantinopel.

Yuriy war noch nie im Blachernen-Viertel gewesen, weil er dort schlichtweg nichts zu suchen hatte. Seine Unterredungen mit dem Basileus waren immer im Großen Palast gewesen, den er nun genauso hinter sich zurückließ wie das Hippodrom, in dem schon länger keine Wagenrennen mehr abgehalten worden waren. Der Weg in das am anderen Ende der Stadt gelegene Blachernen-Viertel war lang und mühsam, besonders zu Fuß. Er schlug seine Mantelkapuze über den Kopf, damit sein Haar nicht in der Sonne leuchtete, aber Nadeschda war ein eindrucksvolles Geschöpf, das von vielen mit staunenden Blicken und Worten kommentiert wurde. Fast wünschte er sich, sie im Kloster gelassen zu haben, aber dann wiederum war alleine die Vorstellung davon absurd. Sie gehörte mittlerweile zu ihm, wie seine Arme zu ihm gehörten.

Der Traum der vergangenen Nacht schien ihn bis in die Realität zu verfolgen. Als er einmal den Kopf hob, ganz in der Nähe des Deuteron und somit nicht mehr so weit von seinem Ziel entfernt, meinte er, einen Falken über seinem Kopf kreisen zu sehen.

Mit einem Kopfschütteln vertrieb er das seltsam flaue Gefühl in seinem Magen, das sich in seine Knochen auszubreiten drohte und sich anfühlte, als ob etwas Großes auf ihn zukam, dessen Dimensionen er noch nicht abschätzen konnte. Es war einfacher, sich in die Wut zu stürzen, die vor allem Raulus auslöste: Raulus, wegen dem er überhaupt erst diesen elendslangen Fußmarsch durch Konstantinopel zurücklegen musste. Raulus, der nicht einmal eine Nachricht überbracht hatte. Raulus, der sich etwas anhören würde können, wenn er ihn erst einmal bei seinem Schwager aufgestöbert hatte.

Zu dem Zeitpunkt, an dem er das Haus mit den Steinlöwen erreichte, war sein Ärger bereits so groß, dass er ihn schnurstracks hinter das Haus führte. Nadeschda bewies hier ihr fantastisches Gespür. Auf sein leises Pfeifen hin begann sie eifrig die überwachsene Mauer zu beschnuppern, bis sie eine halb verborgene Pforte gefunden hatte, die Yuriy mühelos überwand. Niemand hielt ihn auf, als er schnurstracks auf das Haus zuhielt.

Im Atrium begrüßte ihn eine Dienerin mit dunkler Haut, die vor Schreck über sein unvermitteltes Erscheinen beinahe den Korb in ihren Armen fallen ließ.

„Ich suche Raulus”, sagte er ohne sonderliche Begrüßung.

Die Dienerin blinzelte und schien sich nur mit Mühe von ihrem Schreck zu erholen. „Mein Herr, hier seid Ihr falsch. Und der Dominus ist leider außer Haus …”

„Dann holt mir die Herrin des Hauses.” Sicherlich konnte Raulus’ Schwester ihm auf irgendeine Weise weiterhelfen.

Die Dienerin schien einen Moment zu zögern, aber ein scharfer Blick sorgte schnell dafür, dass sie sich rasch verbeugte und den Gang entlang huschte, um in einem Zimmer zu verschwinden. Yuriy hielt sich nur mühsam davon ab, im Atrium auf und ab zu marschieren wie ein eingesperrtes wildes Tier. Warten war nicht seine Stärke.

Glücklicherweise stellte man seine Geduld nicht lange auf die Probe. Es dauerte nicht lange und rasche Schritte erklangen. Dann blickte er auf und sah eine Frau auf sich zukommen, deren gelber Schleier kaum ihr wildes Haar bändigen konnte. Sie trug eine kostbare Tunika aus gelber Seide und eine ebenso kostbare Palla um die Schultern, außerdem schwere, metallene Reifen um die Oberarme und in den Ohren. Sichtlich schien sie nicht erfreut über den Besuch zu sein, aber als sie erkannte, um wen es sich handelte, blieb sie wie angewurzelt stehen und starrte ihn mit halb offenem Mund an.

Yuriy konnte den Blick nicht von ihren unfassbar vertrauten, grünen Augen nehmen, genauso wie er nicht anders konnte, als sich zu fragen, ob Maxim genau gewusst hatte, was ihn im Haus des Romulus erwarten würde.

Einen Moment lang starrten sie sich schweigend an, während Yuriy stillschweigend verarbeitete, dass Raulus und Iulia scheinbar ein und dieselbe Person waren.

Dann machte Yuriy einen tiefen Atemzug und donnerte: „Nun? Willst du mir nicht erklären, was in Dreiteufelsnamen hier vor sich geht?”



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  LittleLionHead
2020-09-05T06:57:06+00:00 05.09.2020 08:57
Might have a teeny tiny weakness for guys on horseback. Und beim Lesen hab ich mich dran erinnert dass ich ganz zu Beginn dieser Geschichte darauf gehofft hatte dass es irgendwann eine solche Szene gibt. Heh. Du bist meine gute Fee! :) Der Rest des Traums ist natürlich sehr dunkel. Aber er gibt uns wieder einen kleinen Einblick in Yuriys Vergangenheit und seine Beziehung zu Boris. Generell mag ich an diesem Kapitel sehr, dass wir so nah an Yuriy dran sind. Ich habe das Gefühl, wie erfahren hier eine ganze Menge, die später noch wichtig wird. Und ich liebe es dass Yuriy bzgl Raulus und Iulia die Wahrheit erfährt. Liebe für das Kapitel!
Von:  esperluette
2020-08-29T16:27:44+00:00 29.08.2020 18:27
Die äußerliche Handlung ist eher minimalistisch, aber wieder sind alle Reflexionen und Worte aufgeladen mit… so viel! Ich hab die Luft angehalten!

Yuriys Traum war irgendwie worauf ich gewartet hab? Insofern als dass wir Genaueres zu seiner Vergangenheit und Boris erfahren und generell bin ich einfach sucker für seine inneren Prozesse. Stimmungsmäßig passend beklemmend. Und so wahnsinnig schöne Worte: „Der Satz kam aus seinem Mund, aber es war etwas, das Volkov zu sagen und Yuriy zu leben pflegte, damals, in einer anderen Zeit.“. Du machst mich fertig mit dem Falken! Der nicht nur den Traum real werden lässt und in die Vergangenheit deutet, sondern eventuell sogar in die Zukunft?! Die Spannungsschraube zieht auch nochmal mehr an, wo Yuriy, der in dieser Stadt vielleicht unpolitischste merklich auch in den Sog von dem gerät was gerade im Gange scheint und ich mich frage, welche Rolle er dabei spielen wird.

Den Eindruck den Ivan hier im Vorbeigehen abgibt ist irgendwie so kongruent zu meinem sonstigen Bild von ihm :))

Hin und her gerissen bin ich bei Maxim. Was weiß er überhaupt? Seine Andeutungen, oder was ich dafür halten will, im Verlauf der Geschichte sind - argh! Ich glaube, der weiß einfach alles, zumindest zu viel, sonst hätte er ja einen eigenen Erzählstrang, das wär ja langweilig ^^° Gedanke am Rande, wie hat er Yuriy als Maler aufgetrieben, ist das überhaupt relevant? Ein paar Andeutungen sind glaub ich irgendwo gefallen, muss nochmal nachlesen gehen.

Iulia, endlich! Das Zusammentreffen auf das alle gewartet haben! Major Cliffhanger!
Von:  Marron
2020-08-29T00:04:46+00:00 29.08.2020 02:04
Maxim du altes Schlitzohr! ^0^
Ich bin hier gerade so heftig am Lachen, ich wackle auf meinem Stuhl hin und her!

*kicher* Armer Yuriy, man hat ihn voll auflaufen lassen. Aber andererseits - hätte er es denn geglaubt, wenn man es ihm nur erzählt hätte?
Es passt so wunderbar zu seinem Charakter, wie er hier einfach los stürmt und sich nur so nebenher Gedanken macht, ob er vielleicht nicht alles sehen kann, was los ist. Tja, Iulia, wilde Tiere sollte man schlafen lassen und nicht wecken. :) Aber das Mädchen musste ja unbedingt ihren Freiheitsdrang ausleben.
Könnte mir sogar vorstellen, dass Yuriy sich ihre Erzählung anhört und sie dazu überreden will, trotzdem wieder als sein Gehilfe zu arbeiten. Oder er erwartet es eher, weil das eben die Konsequenzen sind, die man vorher im Blick haben sollte. Aber ich bin natürlich dennoch gespannt, was da noch so kommt. (Und wie Romulus reagieren wird, sollte er davon irgendwie erfahren)

Und noch eine Sache: Boris!!! *quietsch* Okay, das war mein Fangirl-Moment.
Nun, der Traum ist echt heftig. Ich bin sehr gespannt. Denn er sagt nichts darüber aus, was mit Volkov passiert ist. Sag mir nicht, der kommt als Komplize von Ireneos auch noch mit ins Spiel. (Und wenn Yuriy einfach so abgehauen ist aus Russland, ist das sehr gut möglich! Der wird einen seiner - scheinbar - besten Soldaten wohl nicht so einfach gehen lassen!)

Hmm, zum angeblichen Tod von Boris halte ich es wie immer in Filmen und Anime, etc.: Siehst du keine eindeutige Leiche, ist die Person höchst wahrscheinlich nicht tot! Wenn Yuriy sogar keine Leiche gefunden hat, denke ich, dass da noch was kommt. Ich bin sehr gespannt. Kann ja immerhin sein, dass Boris sich der Sache (welcher Seite auch immer) angeschlossen hat, um Yuriy wieder zu finden. Wäre eine herrlich dramatische Idee, wenn er dann auf Yuriy UND Kai treffen würde. XD

Uii, Maxim scheint aber wirklich sehr viel zu wissen. Und habe ich da die Anspielung mit Mariam richtig verstanden? Kommt da schon wieder der Schwerenöter durch - oder geht mir einfach nur die Fantasie in den paar Zeilen durch?
Aber ich finde es unglaublich, wie gut du darin bist, so viele der Charaktere hier aufkreuzen zu lassen. Bisher hat jeder eine Rolle bekommen, die den Charakteren des Anime/Manga entspricht. Es fließt alles zusammen, als wäre das nur die logischste Erzählung, die einzig mögliche. Hut ab, da steckt sicher sehr viel Arbeit hinter.
(Und ich kenn das. Ich bin momentan völlig verzweifelt in meinem Versuch, die Charas in die Hungerspiele zu packen und es noch Sinn machen zu lassen. -.-) Ich will gar nicht wissen, wie viel Grübelei vorher da rein geflossen ist, bevor du überhaupt das erste Kapitel hochgeladen hast! Ich glaub, wenn die Geschichte hier jemals fertig ist (was sicherlich nicht so bald sein wird!), werde ich erstmal ne kleine Party schmeißen, zumindest gedanklich!


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