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The Monster inside my Veins

von

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Das letzte Versprechen

Eine Woche später

 

Entgegen Gins Befürchtungen hatte Rye sein Wort gehalten. Am Tag der Entlassung parkte dessen Chevrolet vor dem Krankenhaus, um den Silberhaarigen abzuholen. Es war ein friedlicher Mittag. Die Sonne stand bereits im Zenit und strahlte eine angenehme Wärme aus.

Gin fühlte sich nur geringfügig besser. Ein paar der Schmerzen waren mittlerweile auszuhalten, jedoch glich sein gebrochenes Bein besonders in aufrechter Körperhaltung eher einer unbrauchbaren Last. Zudem konnte er sich nur schwer an die Krücken gewöhnen, die Rye ihm besorgt hatte. Dieser ging schweigend auf dem Parkplatz neben ihn her und versuchte sich dem langsamen, bedürftigen Schritttempo von Gin anzupassen.

„Geht es oder soll ich dich bis zum Auto tragen?“, fragte Rye ihn nach kurzer Zeit, allerdings ohne den gewohnten neckenden Tonfall.

„Nein. Ich muss sowieso lernen, erst mal damit klarzukommen.“, lehnte Gin ab, woraufhin der Schwarzhaarige nur still nickte. Dessen Miene war unergründlich. Gin war sich nicht sicher, ob er sich Sorgen machen sollte. Etwas an Ryes Ausstrahlung wirkte anders als sonst. So trüb und distanziert. Wie vor einer Woche bei seinem kurzen Besuch. Vielleicht quälten die vergangenen Ereignisse ihn noch immer und er hatte sich in der letzten Woche viele Gedanken darüber gemacht. Ob er am Ende zu einem Entschluss gekommen war und um welchen es sich handelte, mochte Gin lieber nicht erfahren.

Wenn er mich hätte verlassen wollen, wäre er jetzt nicht hier, sondern längst fort…“, beruhigte er sich gedanklich. Von jetzt an würde bestimmt alles besser werden. Sie könnten aus ihren Fehlern lernen und in einen neuen Lebensabschnitt starten. Allein, irgendwohin weit weg von hier, wo Eclipse ihnen nie wieder auf die Schliche kommen würde und wo es egal wäre, wenn der Rest der Welt in Chaos unterging. Gin wäre alles recht, solange er an Ryes Seite bleiben durfte.

„Warte, ich helfe dir.“, kam es von diesem plötzlich, wobei der Silberhaarige realisierte, dass sie am Auto angekommen waren. Rye öffnete die Beifahrertür, schob seine Arme ungefragt unter Gins Körper und hob ihn vorsichtig auf den Sitz. Die Krücken platzierte er an der Seite, bevor er die Tür schwungvoll wieder schloss und selbst in den Wagen stieg. Gin beobachtete seinen Geliebten dabei mit Misstrauen in den Augen. Irgendwas stimmte nicht. Fast jede von Ryes Handlungen wirkte auf eine seltsame Weise unbeteiligt und mechanisch. Auch sein Gesicht zeigte keinerlei Gefühle. Während er den Motor startete und losfuhr, hakte Gin zögerlich nach: „Ist alles in Ordnung mit dir?“

Rye blickte starr geradeaus. „Warum?“

„Keine Ahnung… es… wirkt nur so, als wäre was…“, antwortete Gin leise. Er richtete den Blick ebenso nach vorn, weil er die Leere in Ryes Augen nicht länger sehen wollte.

„Nein, nichts.“, versicherte der Schwarzhaarige ihm. „Ich bin froh, dass du entlassen wurdest.“, fügte er hinzu. Doch es klang überhaupt nicht, als wäre er froh darüber. Seine Stimme war erfüllt von einer kalten Leblosigkeit. Gin versuchte es zu ignorieren und lehnte sich im Sitz zurück. Er fühlte sich zunehmend unwohler und um zu vermeiden, dass sich dieses Gefühl noch mehr verstärkte, beschloss er, Rye fürs Erste nicht mehr anzusprechen.

Daraufhin verlief die ganze Fahrt in Schweigen. Minuten verstrichen, in denen keiner der beiden den jeweils anderen eines Blickes würdigte. Als befände sich zwischen ihnen eine dicke Wand. Gin schaute aus dem Fenster, aber erkennen konnte er nichts. Die Welt außerhalb des Wagens schien nicht mehr existent zu sein und alles wirkte irgendwie belanglos. Er wusste nicht einmal, wo genau sie eigentlich hinfuhren. Nur am Rande bemerkte er nach einer Weile, dass das weder der Weg zu seiner noch zu Ryes Wohnung war. Die Gegend kam ihm nicht wirklich bekannt vor.

Was wird das?“, fragte er sich im Stillen. Am liebsten hätte er Rye einfach gefragt, wohin sie gerade fuhren und aus welchem Grund. Doch er schaffte es nicht, sich selbst dazu zu überreden und verharrte stattdessen weiterhin wortlos auf dem Sitz, bis der Wagen irgendwann am Straßenrand zum Stehen kam. Erst als Gin dann von Weitem den Skytree durch die Frontscheibe entdeckte, wurde er sich allmählich darüber im Klaren, wo sie sich ungefähr befanden. Aber was sein Geliebter ausgerechnet hier wollte, blieb ihm nach wie vor ein Rätsel. Dieser saß noch immer reglos wie eine Statue hinter dem Steuer.

„Warum hältst du hier an?“, erkundigte sich Gin schließlich doch. Im folgenden Moment drehte Rye endlich seinen Kopf wieder zu ihm. Allerdings gab er keine sonderlich aussagekräftige Antwort.

„Ich will dir etwas zeigen. Komm, wir gehen ein Stück.“, meinte er tonlos und löste nebenher von beiden jeweils den Gurt. Gin verfolgte die Handlung lediglich mit gerunzelter Stirn und einem irritierten Blick in den Augen.

„Und was?“, wollte er wissen. Wieder bekam er keine klare Antwort von Rye.

„Das wirst du dann schon sehen.“

Danach stieg er ohne ein weiteres Wort aus dem Wagen. In der kurzen Zeitspanne, in welcher der Schwarzhaarige zur Beifahrertür eilte, spürte Gin, wie sich sein Körper in rasender Geschwindigkeit anspannte. Auf einmal schlug sein Herz ihm bis in die Fingerspitzen und alle Schmerzen wurden intensiver. Als die Tür neben ihn geöffnet wurde, zuckte er innerlich zusammen und sah Rye mit geweiteten Augen an. Die Hand, die dieser ihm dann ausgestreckt hinhielt, ignorierte er.

„Mir ist jetzt nicht nach Laufen.“, sagte er, jedoch nicht in der Annahme, dass ihm eine Wahl blieb.

„Keine Sorge, es dauert nicht lange.“, erwiderte Rye beschwichtigend, was Gin nicht im geringsten ermutigte, aus diesem Auto zu steigen. Er wusste nicht, was genau es war – doch etwas an dieser Situation lief eindeutig falsch. Nichts von Ryes Verhalten, geschweige denn von dessen Worten, ergab für ihn einen Sinn. Er traute dem weichen Lächeln nicht, welches sein Geliebter nun aufsetzte und musterte ihn argwöhnisch.

„Gin…“, sprach Rye mit plötzlich veränderter, melancholischer Stimme. „Ich bitte dich.“ Nahezu drängend beugte er sich tiefer herunter und hielt Gin weiterhin seine Hand hin.

Ich versteh es nicht… was ist bloß los mit ihm? Was hat er vor?“ Während dem Silberhaarigen diese Fragen durch den Kopf schwirrten, nahm er die Krücken und ließ sich letztlich von Rye auf die Beine helfen. Er hätte ohnehin früher oder später nachgeben müssen. Obwohl sein Geliebter bisher die ganze Zeit unnahbar und distanziert gewirkt hatte, schien ihn doch etwas zu quälen. Als hätte er wie beim letzten Mal im Krankenhaus versucht, eine solide Mauer um sich herum zu errichten, die jetzt nach und nach wieder Risse bekam. Wann würde sie wohl diesmal einstürzen? Und noch viel wichtiger: Was hielt Rye hinter ihr verborgen?

Gin folgte ihm so zügig wie möglich. Schon nach wenigen Metern wurde er von Erschöpfung eingeholt, was vermutlich aber eher weniger mit fehlender Kraft zu tun hatte. Rye nahm nur bedingt Rücksicht auf ihn. Auch eine Verhaltensweise, die nicht zu ihm passte und Gin umso stutziger machte.

Gemeinsam betraten sie kurz darauf eine Brücke. Als Gin seinen Blick zum Skytree schweifen ließ, fiel ihm auch deren Name wieder ein: Es handelte sich um die Kototoi-Brücke, welche über den Sumida-Fluss verlief. Wollte Rye ihm etwa hier etwas zeigen oder war das Ziel ihres Spaziergangs noch weiter entfernt?

Ungefähr in der Mitte der Brücke blieb sein Geliebter langsam stehen, bevor er sich mit den Händen auf das Geländer abstütze und in die Tiefe starrte. Gin verharrte ein paar Schritte entfernt und musterte ihn mit aufkeimender Sorge.

„Und, was ist nun? Was wolltest du mir zeigen?“, fragte er, jedoch reagierte Rye nicht sofort. Mehrere Sekunden vergingen, in denen hin und wieder ein Auto an ihnen vorbeirauschte. Als endlich für einen Moment Stille einkehrte, antwortete der Schwarzhaarige tonlos: „Nichts. Ich habe gelogen.“

Noch bevor Gin etwas erwidern konnte, fügte er hinzu: „In Wahrheit wollte ich mit dir reden.“

Gins anfängliche Entgeisterung wurde von Verwirrtheit vertrieben. Nur reden? Und wozu dann das Ganze? „Das hätten wie doch die ganze Zeit schon. Warum ausgerechnet hier?“

Da sein Gegenüber vorerst erneut schwieg, ermahnte Gin ihn: „Verdammt, Rye! Jetzt sag schon, was los mit dir ist!“

„Ich… wollte dir ein letztes Mal sagen, was du mir bedeutest…“ Rye wandte sich ihm mit leerem Blick zu, bevor er tief Luft holte und mit gebrochener Stimme verdeutlichte: „Verstehst du? Das hier ist ein Abschied. Ein Abschied für immer…“

Im ersten Augenblick begriff Gin nicht, was Ryes blasse Lippen soeben für Worte geformt hatten. Als er sich ihnen jedoch nach und nach bewusst wurde, überkam ihn auf der Stelle die Übelkeit. Mechanisch schüttelte er seinen Kopf hin und her.

„Du machst Witze, oder? Das meinst du nicht ernst…“, entwich es ihm.

„Es tut mir leid… aber es muss sein.“, erwiderte Rye leise.

Gin war dessen sinnlose Entschuldigen einfach nur noch leid. Dadurch wurde nichts besser. Gar nichts. Keine Entschuldigung der Welt würde ihm den Schmerz nehmen können, welchen er jetzt gerade empfand.

„Sagt wer?!“

„Ich.“ Ein strenger Schatten trat in Ryes Gesicht, bevor seine Augen den Silberhaarigen eindringlich fixierten. „Du wirst mir das zwar jetzt noch nicht glauben, aber sei dir sicher, dass du ohne mich ein unbeschwerteres Leben führen wirst. Und genau das wünsche ich mir für dich. Ich will dir nicht länger schaden.“

Gin benötigte eine ganze Weile, um die Bedeutung der Worte zu erfassen. Doch selbst als ihm das gelang, konnte er Rye nur verständnislos anstarren. Alles Lügen.

„Das werde ich dir nie glauben! Du schadest mir mehr, wenn du einfach gehst!“

„So etwas solltest du dir nicht einreden.“

„Einreden…?“, wiederholte Gin fassungslos. „Kapierst du nicht, dass ich dich brauche…?!“ Das sollte wütend klingen, aber es klang nur flehend.

„Nein, du brauchst mich nicht. Du hast mich nie gebraucht. Ich bin lediglich in dein Leben eingedrungen und habe Chaos angerichtet.“ Die Überzeugung in Ryes Stimme ließ kein bisschen nach. Er schien sich von keinerlei Worten beeinflussen lassen zu wollen. Als hätte nichts mehr eine Bedeutung und als sei alles, was sie bisher zusammen erlebt hatten, ein Fehler gewesen.

Doch Gin wollte diese Liebe nicht aufgeben. Denn er wusste, dass sich Rye lediglich hinter einer Maske der Abwehr versteckte, um sich vor seinen eigenen Gefühlen zu schützen. Und genau diese Maske musste wieder fallen.

„Und dafür bin ich dankbar! Durch dich habe ich erkannt, dass es weitaus mehr gibt als dieses eintönige Leben in der Organisation, was mein Vater mir jahrelang vorgeschrieben hat. Deinetwegen habe ich endlich angefangen, mich lebendig zu fühlen. Ich konnte lernen, was es heißt, zu lieben – dich zu lieben!“ Gin sprach einfach alles aus, was ihm Tag für Tag an Ryes Seite klar geworden war. Nur hätte er nie gedacht, ihm das eines Tages ins Gesicht sagen zu müssen. Allerdings schaute ihn der Schwarzhaarige nur schweigend an, was Gin signalisierte, dass es noch nicht genug war. Also redete er weiter: „Du bedeutest mir alles. Ich kann nicht mehr ohne dich leben. Und ich weiß, dass du auch nicht ohne mich leben kannst! Also hör auf, dir was vorzumachen, nur weil du glaubst, dass du mich dadurch beschützen kannst, wenn du verschwindest!“

Er hoffte, wenigstens jetzt etwas in seinem Geliebten ausgelöst zu haben. Doch da war nichts. Rye verzog keine Miene.

„Du hast recht. Ich kann nicht ohne dich leben. Aber ich werde es lernen müssen. Genau wie du von nun an lernen musst, ohne mich zu leben.“ Seine grünen Augen wirkten hart, klar und sehr tief. Egal, wie sehr Gin sie durchforstete, er fand nichts, was im Widerspruch zu den Worten stand. Hilflos ruhte sein Blick auf Rye. Wie festgefroren verweilte er am Fleck, während seine Arme allmählich zu zittern begannen. Würde er Rye nun wirklich verlieren? War dieser wirklich dazu bereit, sich in ewiger Einsamkeit zurückzuziehen, nur um ihn in Sicherheit wissen zu können?

„Aber du liebst mich… wie kannst du…“, entgegnete Gin heiser, bis seine Stimme letztlich erstarb. Er senkte den Blick, wodurch einzelne Tränen seine Augen verließen und auf den Boden tropften.

Da kam Rye plötzlich abrupt näher und umfasste sanft seine Wangen.

„Ja, das tue ich! Ich liebe dich mehr als alles andere! So sehr, dass ich niemals in einer Welt leben könnte, in der du nicht mehr existierst… und das wird eines Tages unweigerlich passieren, wenn ich bei dir bleibe…“, redete er in weicher, trauriger Tonlage auf den Silberhaarigen ein und der nun deutlich sichtbare Schmerz in seinen Augen brannte sich mit überwältigender Intensität in dessen Blick.

„Versteh doch… meine Welt ist nichts für dich. Ich unterscheide mich zu sehr von den Menschen, als dass ich auf Dauer in ihrer Nähe leben kann. Ich will damit nicht sagen, dass du schwach bist – denn das bist du keinesfalls, wenn man annimmt, dass es solche Kreaturen wie mich nicht gibt – doch es ist nun mal so… In meiner Welt bist du schwach. Und ich kann mein eigenes Versagen nicht länger ertragen. Ich bringe dich ständig in so viele Schwierigkeiten und schaffe es nicht einmal, dich vor Eclipse, geschweige denn dich vor mir selbst zu beschützen. Eclipse will eigentlich mir schaden und nicht dir. Du hast damit nichts zu tun. Wenn ich verschwinde, werden sie dich in Ruhe lassen und mich stattdessen weiter jagen.“, setzte Rye seine Erklärung fort. Doch auch wenn er sie noch so eindeutig formulierte, weigerte sich Gin, sie in irgendeiner Weise zu akzeptieren. Diese verschiedenen Welten, von denen Rye sprach, gab es für ihn nicht. Zudem würde er sich lieber freiwillig von Eclipse jagen lassen, als von dem Schwarzhaarigen getrennt zu sein.

„Damals, nachdem du zum ersten Mal gegangen bist, hast du mir etwas versprochen… dass du mich nie mehr verlassen wirst. Doch du tust es trotzdem immer wieder… Sag, was war dein Versprechen letzten Endes wert? Genau wie alles andere, was du mir versprochen hast…“ Gin konzentrierte sich nur noch auf das Gefühl von Ryes kalten Fingern auf seinen Wangen. Am liebsten würde er sie greifen und nie wieder loslassen, wenn er seine Hände nicht dazu benötigen würde, sich mithilfe der Krücken zu stützen. „Schätze, in deiner Welt existieren Versprechen, um gebrochen zu werden.“

„Nein, so ist es nicht.“, beteuerte Rye. „Aber es gibt nun mal Versprechen, die nicht eingehalten werden können.“

„Dann solltest du sie erst gar nicht geben…“ Vielleicht wäre dieser sogenannte Abschied dann nicht ganz so schmerzhaft, wenn es nichts gäbe, woran sich Gin festklammern konnte. Doch die Bedeutung von allem, was sein Geliebter je zu ihm gesagt hatte, war inzwischen viel zu groß geworden. Gin hatte ihm jedes Versprechen blind geglaubt. Und nun bereute er es zutiefst.

„Du hast recht, das hätte ich nicht tun sollen.“, stimmte Rye ihm zu. „Aber ein letztes Versprechen kann ich dir mit Gewissheit geben: Du hast mich heute zum letzten Mal gesehen. Ich werde nicht mehr zurückkommen. Nie wieder.“

Die deutlich hörbare Wahrheit in diesen Worten drang augenblicklich in Gins Bewusstsein und tröpfelte wie Säure durch seine Adern. Sein ganzer Körper wurde taub. Vom Hals an abwärts hatte er überhaupt kein Gefühl mehr. Da war nur noch Angst, Trauer und Schmerz in seinem Inneren. Hinzu kam die eisige Kälte von Ryes Fingern. Kälte, die er scheinbar heute zum letzten Mal spüren würde. Seine Knie fingen an zu zittern.

„Bitte… tu das nicht…“, brachte er hervor. Es hörte sich an, als wäre ihm etwas im Hals stecken geblieben. Als würde er ersticken. Doch Rye ging nicht darauf ein.

„Du sollst wissen, dass ich dich immer lieben werde. Ich werde dich nicht vergessen. Egal, wo ich bin und was auch geschieht.“, sagte er mit ehrlicher Stimme.

Gin musste sich bemühen, ihn zu verstehen. Ihm war auf einmal so schwindelig. Er konnte jedoch noch registrieren, wie Rye den Abstand zwischen ihren Gesichtern verringerte, bevor er fortfuhr: „Versprich du mir bitte im Gegenzug, dass du gut auf dich aufpassen wirst.“

Gin war sich nicht bewusst, dass er die Bitte mit einem abgehackten Nicken erwiderte. Tränen liefen ihm über die Wangen. Er wünschte sich nichts mehr, als dass es sich gerade nur um einen schlimmen Traum handelte. Doch der nahezu greifbare Schmerz in Ryes glitzernden Augen wirkte so täuschend echt.

Nein, nein… bitte… geh nicht…“

„Ich danke dir.“ Ryes Worte waren ein kühler Hauch an Gins Lippen. „Für alles.“

Kurz darauf folgte ein zärtlicher Druck, als der Schwarzhaarige einen Kuss begann. Gin presste die Augen zusammen. Das Gefühl zu wissen, dass er Ryes weiche Lippen nie wieder auf seinen eigenen spüren würde, raubte ihm sowohl Sinne als auch den Verstand. Der Kuss war einzig und allein von Schmerz erfüllt. Erst jetzt glaubte Gin zu fühlen, wie sehr Rye dieser Abschied ebenso weh tat. Er schien sich nicht mehr von ihm lösen zu wollen, weshalb der Kuss noch eine ganze Weile anhielt, bis sich der Silberhaarige fast vollständig in ihm verlor. Nach und nach kam es ihm wirklich so vor, als befände er sich lediglich in einem Traum.

Aber dieser Traum zersprang in Scherben, als sich Rye plötzlich von ihm löste.

„Leb wohl.“

Die geflüsterten Worte holten Gin zurück aus dem Dunst der Begierde. Noch im selben Moment spürte er einen leichten Windzug im Gesicht.

Er riss die Augen auf. Wollte nach Rye greifen. Wollte nicht das verlieren, was er am meisten brauchte. Doch seine Hand fasste ins Leere, woraufhin er mitsamt den Krücken zu Boden stürzte.

Rye war weg. Für immer.

Gin zweifelte an der Realität. Die Welt schien sich ringsherum aufzulösen. Er fühlte sich mit einem Mal mehr tot als lebendig. Ein lähmendes Gefühl breitete sich in seinem Körper aus, als hätte jemand ihm ein riesiges Loch in die Brust geschlagen. Sein Kopf drehte sich. Sein Herz schlug wohl, doch er nahm keinen Puls mehr wahr.

Schwer atmend schlang er die Arme um die Brust, als könnte er so zusammenhalten, was gerade in ihm zu zerbrechen schien. Aber es half nicht. Er konnte den schmerzhaften Verlust dennoch spüren, welcher von der Brust ausstrahlte, ihm in Wellen durch die Glieder jagte und in den Kopf schoss.

Gin besaß keine Kraft mehr, um wieder aufzustehen. Abwesend tastete er mit einer Hand nach seinen Krücken. Als er fündig wurde, umklammerte er sie jedoch nur und blieb liegen. Alles schien so sinnlos. Warum konnte nicht einfach der Tod kommen, um ihn abzuholen?

In diesem Moment vernahm Gin ein Hupen aus Richtung der Straße. Jemand stieg aus seinem Auto und eilte zu ihm.

„Hey! Was ist passiert? Können Sie mich hören?“, fragte eine männliche Person im besorgten Ton. Nur widerwillig hob Gin den Kopf. Ein Fremder.

„Kommen Sie, ich helfe Ihnen auf.“ Dieser war schon dabei, seine Worte in die Tat umzusetzen. Gin ließ die ungewollte Hilfe einfach schweigend über sich ergehen. Es war ihm ohnehin egal. Alles war egal.

Sobald er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, erkundigte sich der Mann: „Sind Sie Jin Kurosawa?“

Jetzt hatte er einen kleinen Teil von Gins Aufmerksamkeit geweckt. Er nickte.

„Ein Freund von Ihnen hat mich beauftragt, Sie genau um diese Uhrzeit hier abzuholen und nach Hause zu fahren.“, erklärte sein Gegenüber. Kurz darauf fiel dem Silberhaarigen auch das Taxi am Straßenrand auf. Wie immer hatte Rye vorgesorgt.

„Wann war das?“, wollte Gin wissen. Der Taxifahrer überlegte einen Moment, bevor er antwortete: „Letzte Woche. Er hat sich meinem Vorgesetzten am Telefon als Dai Moroboshi vorgestellt. Er ist doch ein Freund von Ihnen, oder nicht?“

Eine Schmerzenswelle durchbebte Gin. „War.“

„Oh.“, entwich es dem Mann überrascht. „Soll ich Sie trotzdem nach Hause bringen?“

Gin zuckte mit den Schultern. „Wenn er es so wollte, dann muss es wohl sein.“

 

 

 

Wie ferngesteuert und vollkommen durchnässt wanderte Rye ziellos durch die Straßen. Kurz nachdem er von der Brücke gesprungen und aus dem Sumida geklettert war, hatte sich seine Wahrnehmung von der Außenwelt verabschiedet. Die Menschen, die an ihm vorbeigingen, interessierten ihn nicht mehr. Rein gar nichts in seiner unmittelbaren Umgebung interessierte ihn noch. Er hatte seine Liebe zu Gin aufgeben müssen und somit den einzigen Sinn seiner Existenz verloren. Irgendwo im Hinterkopf beschwichtigte er sich immer noch mit der Begründung, dass dies nur zu Gins Besten gewesen war und dieser von nun an in Sicherheit leben würde. Aber nicht einmal das konnte Rye von der tiefen Trauer befreien, welche gerade fortwährend seine Sinne betäubte und durch seinen Körper strömte.

Wie sollte er in Zukunft zurechtkommen? Wo sollte er leben? Sollte er etwa einfach wieder so weitermachen wie vor seiner Begegnung mit Gin? Sich einfach dem blutsaugenden Monster in seinem Inneren hingeben?

Zu viele Fragen in seinem Kopf. Doch weder Lösungen noch Antworten konnte er finden. Er durfte nicht in alte Muster zurückfallen. Das wäre zu riskant.

Allerdings… jetzt habe ich nichts mehr zu verlieren…“ Und auch nichts mehr, wozu es sich zu kämpfen lohnte. Eigentlich könnte er aufgeben und so lange in der Welt umherirren, bis das Schicksal ihn eines Tages traf und bestrafte. Er hätte es verdient. Dafür, dass er Gin alles genommen und ihm am Ende das Herz gebrochen hatte. Hoffentlich würde der Silberhaarige ihn vergessen. Auch wenn ein Teil von Rye das nicht wollte, so würde diese Option Gin einiges an Leid ersparen. Leid, welches Rye bevorzugte allein zu erfahren.

In den nächsten Jahren würde er genug Zeit haben, um sich selbst für all seine Taten leiden zu lassen. Etwas anderes wollte er nicht mehr erleben. Diese Welt konnte ihm zusammen mit allen Menschen gestohlen bleiben.

Im nächsten Moment wurde Rye unerwartet aus seinen Gedanken gerissen, als er mit jemandem zusammenstieß. Er wusste nicht, woher die Frau plötzlich gekommen war, welche ein paar Schritte nach vorn stolperte und beinahe hingefallen wäre, wenn er sie nicht noch rechtzeitig am Arm gepackt hätte. Die Blonde drehte den Kopf zu ihm und wollte sich offensichtlich bedanken, doch als sich ihre Blicke trafen, weiteten sich hellblaue Augen hinter einer runden Brille vor Schock.

„Shu!“, stieß die Frau hervor. Sie klang, als stände ein Geist vor ihr. Langsam hob sie eine Hand mit dem Vorhaben, Ryes Wange zu berühren. „Shu… du bist es wirklich…“ Erleichterung zeichnete sich in ihrem Gesicht ab.

Rye wich umgehend zurück. „Was? Wovon spricht sie?“

Ehe er die Situation vollständig erfassen konnte, kam die vermeintlich fremde Frau ihm sofort wieder näher und legte ihre beiden Hände auf seine Schultern. Tränen bildeten sich in ihren Augen, während sie mit sorgenvoller Stimme sprach: „Wo bist du nur die ganze Zeit gewesen?! Wir dachten alle, du seist gestorben!“

Rye verstand nicht, was sie damit meinte. War sie vielleicht verrückt? Verwirrt? Oder beides? Zumindest kam sie ihm überhaupt nicht bekannt vor. Auch ihr Gesicht wollte keine Erinnerung in ihm aufkommen lassen, was vermutlich auch besser so war.

„Endlich hab ich dich gefunden…“, wimmerte sie. „Als James mir die Nachricht übermittelte, dass einer unserer Kollegen dich hier in Tokio gesehen hat, musste ich einfach hierherkommen und nach dir suchen! Aber sag, warum hast du dich nicht gemeldet? Wir hätten dich doch sofort zurückgeholt…! Das alles tut mir so furchtbar leid…“

Ihre Worte überforderten Rye. Was zum Teufel redete sie da? Wer war sie? Warum ließ sie ihn nicht einfach in Ruhe? Womöglich wäre es das Beste, sie abzuwimmeln.

„Tut mir leid, aber Sie müssen mich mit jemandem verwechseln. Ich kenne niemanden mit dem Namen Shu.“



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