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The Monster inside my Veins

von

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Hinter der Fassade des Bosses

Am nächsten Tag

 

„Du hast ja Nerven, dich hier noch Blicken zu lassen.“, wurde Rye entgegen geschleudert, kurz nachdem er das Büro des Bosses betreten hatte. Nie hätte er gedacht, dass er mal freiwillig hierherkommen würde. Doch wegen des letzten Ereignisses fühlte er sich irgendwie dazu gezwungen. Es gab so vieles, was er dem Älteren zu sagen hatte. So vieles, was er ihm erklären musste und was er noch erfahren wollte, bevor er sich für immer verabschieden würde.

„Wenn Sie mich auf diese Weise begrüßen, scheinen Sie über das, was passiert ist, wohl schon bestens informiert zu sein.“, erwiderte er, ein wenig erleichtert darüber, nicht mehr selbst alles beichten zu müssen. Wie üblich hatte der Boss überall seine Quellen. Doch wenn er deshalb bereits Bescheid wusste, warum hatte er dann noch nichts unternommen?

„In der Tat.“, bestätigte er Ryes Vermutung tonlos.

„Wussten Sie auch von Eclipses Plan?“

„Nein. Zwar konnte ich mir denken, dass sie dich früher oder später zurückholen wollen, wenn du damals wirklich geflohen bist… aber, dass sie Gin da mit reingezogen haben, kam auch für mich etwas unerwartet.“

Rye wusste nicht, ob er das wirklich glauben sollte. Aber noch mehr störte ihn diese unbekümmerte Tonlage, die deutlich signalisierte, dass sich der Boss kein bisschen um Gins Zustand scherte.

Er ist so ein… abscheulicher Mensch…“ Rye fing unbewusst an, dem Älteren einen kleinen Teil seiner Schuld zuzuschieben.

„Wäre es nicht Ihre Aufgabe gewesen, dafür zu sorgen, dass er in Sicherheit bleibt?“, konfrontierte er ihn direkt. Schließlich war dieser Kerl Gins Vater. Und was das betraf, zweifelte Rye nicht im geringsten an Connors Aussage. Denn nun konnte er sich endlich erklären, warum er beim Anblick des Bosses so oft das Gefühl verspürt hatte, seinem Geliebten anzusehen. Sie ähnelten einander sehr, auch wenn beide es jeweils bis aufs Blut bestreiten würden.

Sein Gegenüber verengte verbittert die Augen, bevor er mit strenger Stimme entgegnete: „Wäre es nicht deine Aufgabe gewesen, dafür zu sorgen, dass so etwas gar nicht erst notwendig ist? Wage es nicht, mir zu erzählen, was ich hätte tun können, noch bevor ich es überhaupt wusste. Du hingegen hast gewusst, dass Eclipse dir höchstwahrscheinlich auf den Fersen ist und hättest rechtzeitig Vorkehrungen treffen können. Du hättest dich von Gin fernhalten und einfach verschwinden sollen, wo du noch die Chance dazu hattest. Aber so naiv und selbstsüchtig wie du bist, hast du rein gar nichts unternommen und ihn mit deinem hoffnungslosen Liebesgeschwätz ständig einer tödlichen Gefahr ausgesetzt.“

Im ersten Moment klang das für Rye lediglich wie eine Ausrede, um sich nicht rechtfertigen zu müssen. Doch dann wurde er sich dem wahren Kern in den Worten nach und nach bewusst. Dieser war allerdings nicht der Grund, warum ihn plötzlich vor Schock ein Schauer durchbebte.

Liebesgeschwätz? Bedeutet das etwa…“, begann er gedanklich seine aufkeimende Befürchtung. „Woher wissen Sie…“

„Hältst du mich etwa für blind? Ich kenne Gin gut und lange genug, um zu merken, wenn sich irgendwas in ihm verändert und er sich plötzlich in manchen Situationen komplett anders verhält, als ich es eigentlich von ihm gewohnt bin. Du hast all seine Prinzipien und das, wofür er bisher gelebt hat, vollkommen zunichte gemacht, indem du ihn dazu gebracht hast, sich von seinen Gefühlen leiten zu lassen. Gefühle, die einzig und allein erst durch dich entstanden sind. Und genau auf diese Weise hast du ihn regelrecht zerstört.“, erklärte der Boss, während sein eindringlicher Blick ununterbrochen auf Rye gerichtet war. Dieser fühlte sich zuerst von den kalten Augen eingeschüchtert, bis das letzte Wort jedoch mit einem Schlag Wut und Entsetzen in ihm auslöste.

„Zerstört?“, wiederholte er völlig entrüstet. „Nur weil er meinetwegen nach und nach angefangen hat, Gefühle offen zu zeigen, habe ich ihn noch lange nicht zerstört! Im Gegenteil, ich habe einen richtigen Menschen aus ihm gemacht! Denn Gefühle sind das, was Menschen überhaupt erst ausmachen! Was ist also falsch daran, welche für jemanden zu entwickeln?!“

Natürlich war Rye inzwischen der Meinung, dass Gin niemals hätte Gefühle für ihn entwickeln dürfen. Doch Gefühle im Allgemeinen spielten sehr wohl eine wichtige Rolle, denn Menschen ohne Gefühle waren nicht mehr als leblose Marionetten. Und bevor er Gin kennengelernt hatte, war dieser genau das gewesen. Eine Marionette, dessen Fäden der Boss stets fest in seinen Händen gehabt hatte.

„Du verstehst offenbar nicht, worauf ich hinauswollte.“

Nach dieser ungewöhnlich ruhigen Antwort runzelte Rye verwirrt die Stirn, bevor sein Gegenüber nach einigen Sekunden begann zu erklären: „Gin ist ohne jegliche Zuneigung und Liebe aufgewachsen. Unter anderem, weil ich es so wollte. Er konnte sich darunter nie etwas vorstellen. Doch du hast ihm in einer sehr geringen Zeitspanne nahezu alles mit der Wucht einer Flutwelle entgegen geschleudert, sodass er sich die Bedeutung seiner Gefühle gar nicht richtig bewusst werden und folglich auch nicht lernen konnte, wie er mit ihnen umgehen soll.“

Das klang zugegebenermaßen ein wenig einleuchtend, jedoch würde Rye diese Erklärung trotzdem nicht einfach so hinnehmen. Denn so war es nicht richtig. Es stimmte nicht, dass er die alleinige Schuld für Gins seelischen Zustand trug.

„Versuchen Sie gerade, die Fehler Ihrer Erziehung auf mich abzuwälzen?“, fragte er in bedrohlich leiser Tonlage. Dieser machtgierige, alte Mann war zweifellos der Ursprung des Problems. Nur seinetwegen war es Gin so schwergefallen, sich seine Gefühle vollkommen einzugestehen.

Allerdings würde es mich schon interessieren, was zwischen uns passiert wäre, wenn Gin anfangs nicht so kalt und abweisend gewesen wäre…“ Das würde Rye in diesem Universum wohl nicht mehr erfahren. Vielleicht wäre sogar alles viel, viel schlimmer ausgegangen.

„Erziehung ist etwas Individuelles. Jeder tut dies auf seine eigene Weise.“, meinte der Boss tonlos. Ryes Miene verfinsterte sich.

„Was aber nicht bedeutet, dass es richtig sein muss.“, konterte er.

„Ansichtssache.“ Der Ältere zuckte mit den Schultern. „Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es bei weitem einfacher ist, sich distanziert zu seinen Mitmenschen zu verhalten. Solche Gefühle wie Liebe bringen nichts als Schmerz und Kummer. Ich wollte Gin dieses unnötige Leid ersparen, welches er deinetwegen letztlich dann doch durchleben musste.“

Allmählich staute sich so viel Wut in Rye an, dass er sie kaum noch unterdrücken konnte. Noch nie war er einem so egozentrischen Menschen begegnet. Dieses Verhalten widerte ihn nahezu an.

Du wolltest ihm unnötiges Leid ersparen? Warum hast du ihn dann jahrelang wie einen Leibeigenen behandelt und ihn ständig auf lebensgefährliche Missionen geschickt?!“, hätte er am liebsten geantwortet, doch er schluckte die Worte herunter und sagte stattdessen: „Liebe ist kompliziert. So kompliziert, dass Schmerz und Kummer nicht ausreichen, um sie vollends zu definieren. Sie hat auch eine Menge gute Eigenschaften an sich.“

Der Boss lehnte sich in seinem Stuhl etwas nach hinten und musterte ihn mit einem abschätzigen Ausdruck in den Augen.

„Nur weil Sie keine guten Erfahrungen gemacht haben, bedeutet das nicht, dass es für alle Menschen so sein muss. Sie hätten Gin deswegen niemals Ihre Prinzipien aufdrängen sollen!“, fuhr Rye unkontrolliert fort. Er konnte seine Wut nicht länger im Zaun halten, welche sich wegen der darauffolgenden Antwort noch um ein Vielfaches vergrößerte: „Doch. Ich weiß, was gut für ihn ist.“

Rye spürte förmlich, wie sich jeder Muskel seines Gesichts vor Zorn verzog und sich seine Hände zitternd zu Fäusten ballten. Während er abrupt einen Schritt nach vorn setzte, erwiderte er: „Achja? Woher wollen Sie das wissen? Etwa nur, weil Sie sein Vater sind, sich aber nie wie einer verhalten und Gin immer von oben herab behandelt haben?!“

Zugleich benutzte er diesen Vorwurf als eine Art Test. Auch wenn er Connors Worten Glauben schenkte, wollte er die Wahrheit noch einmal aus dem Mund seines Gegenübers hören. Ein niederträchtiges Lächeln stahl sich innerlich auf seine Lippen, als sich deutlich sichtbarer Schock in der Miene des Bosses abzeichnete und dieser kurz darauf mit einem Ruck aufstand.

„Halt den Mund!“, schrie er und schlug dabei die Hände schallend auf den Tisch. „Das geht dich nichts an und du als dahergelaufenes Häufchen Elend hast schon gar nicht das Recht dazu, dich in diese Angelegenheiten einzumischen! Du weißt nicht das Geringste!“

Plötzlich wirkte sein Gesicht doch ziemlich alt. So, wie es sich wegen des kleinen Wutanfalls in Dutzend tiefe Falten verzog und ein paar Äderchen an seinen Schläfen hervortraten. Rye starrte zu Boden.

„Also ist es wahr, was dieser Connor zu Gin gesagt hat. Sie sind tatsächlich sein leiblicher Vater…“ Es nochmals vom Boss bestätigt zu bekommen, erzeugte aus unerklärlichen Gründen eine vollkommen neue Wirkung. Auf einmal konnte er es doch nicht mehr glauben.

„Du…“, setzte der Ältere fassungslos an. Er schien den Trick durchschaut zu haben, jedoch kümmerte Rye das nicht.

„Ich habe nichts mehr zu verlieren.“, meinte er und warf dem Boss ein Lächeln zu. „Mag sein, dass ich nur ein dahergelaufenes Häufchen Elend bin und nicht von Anfang an mit dabei gewesen war, um mir über euer Verhältnis ein Urteil bilden zu können… doch ich habe eine sehr gute Beobachtungsgabe. Mittlerweile kann ich Gin gut genug einschätzen und weiß, wie er über Sie denkt. Leider sind Sie dagegen schwerer zu durchschauen. Ich weiß nicht, was Sie in Wirklichkeit fühlen. Doch das, was ich bisher gesehen habe, macht mich wütend. Besonders jetzt, wo ich die Wahrheit kenne. Ein Vater sollte nicht so mit seinem Kind umgehen.“

„Wie ich bereits sagte: das geht dich nichts an.“ Die Stimme des Bosses nahm einen scharfen, düsteren Tonfall an. Er schien sich von den Worten nicht beeinflussen lassen zu wollen, womit Rye ihn aber nicht so leicht davonkommen ließ. Auf keinen Fall würde er sich aus der Sache heraushalten, wenn er stets hatte mit ansehen müssen, wie Gin unter dem Verhältnis zu seinem Vater litt.

„Gin geht mich sehr wohl was an.“, widersprach er deshalb.

„Aber nicht mehr lange.“

Die kalten Worte versetzten Rye einen Stich. Sofort erinnerte er sich wieder an einen der Gründe, warum er eigentlich hier war.

„Das stimmt allerdings…“ Er hörte die tiefe Trauer in seiner eigenen Tonlage. Den Funken Widerstand, sich gegen sein Vorhaben zu wehren. Doch das ging nicht.

Der Boss starrte ihn mit geweiteten Augen an.

„Mir ist klar, dass Sie vorhaben, mich rauszuschmeißen. Schließlich habe ich mein Versprechen gebrochen, dass keines Ihrer Mitglieder je wieder durch mich zu Schaden kommen wird.“, fuhr Rye fort, wohl wissend, dass er bald noch all seine Versprechen an Gin brechen würde. „Aber Sie müssen mich nicht rausschmeißen. Denn mein Entschluss steht bereits fest: Ich werde freiwillig gehen.“

Damit schien der Boss niemals gerechnet zu haben.

„Woher kommt das denn so plötzlich?“, wollte er wissen.

„Ich glaube, so ist es besser für alle Beteiligten. So sehr ich Sie auch verachte… mit der Behauptung damals, dass ich nichts als Chaos anrichte, liegen Sie zweifellos richtig. Ich hätte schon viel früher gehen sollen.“ Irgendwie fühlte es sich für Rye ein wenig befreiend an, seinen Hass gegenüber diesem Mann zum ersten Mal offen auszusprechen. Auch wenn das für beide keine Überraschung mehr war.

Im Unterschied zu Gin hat er mich schon immer als das Monster gesehen, was ich in Wirklichkeit bin. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, wenn Gin das auch von Anfang an getan hätte. Doch selbst wenn er das gewollt hätte, hätte ich das nie akzeptiert… weil ich… immer nur an mich selbst denke und mir meine eigenen Bedürfnisse wichtiger waren als Gins Sicherheit…“, dachte Rye verzweifelt, während er kurz darauf bemerkte, dass die Reaktion des Bosses nicht seinen Erwartungen entsprach: Keinesfalls erfreut, sondern nachdenklich in Schweigen versunken.

„Freut Sie das nicht?“, hakte Rye verdutzt nach.

„Es geht dabei nicht um mich.“ Der Boss fuchtelte verneinend mit einer Hand in der Luft. „Zwar will ich dich liebend gern loswerden, doch ich habe trotzdem ein paar Bedenken. Gin war schon immer so gewesen, dass er sich an etwas festklammern musste, um zurechtzukommen. Jetzt erscheint es mir so, als hätte er sich an dich festgeklammert. Demzufolge kannst du dir sicher denken, was höchstwahrscheinlich passieren wird, wenn du verschwindest.“

Rye konnte sich das nicht nur denken, er war sich sogar zu hundert Prozent sicher, was sein Verschwinden in Gin auslösen würde. Und dieses Wissen bereitete ihm noch viel mehr Schmerzen, als der Gedanke, für immer von seinem Geliebten getrennt zu sein. Damals hätte es sich Rye nicht mal erträumen können, dass er Gin jemals etwas bedeuten würde. Doch nun, nach all den Monaten, die sie gemeinsam miteinander verbracht haben, schien dieser nicht mehr ohne ihn leben zu wollen.

Meine Abwesenheit in der letzten Woche hat ihn völlig fertig gemacht. Das habe ich zunehmend an den Nachrichten bemerkt, die er mir geschickt hatte… Letztlich war er sogar dafür bereit gewesen, sein Leben für mich zu opfern und hat alles getan, was Eclipse von ihm verlangt hatte…“ Er würde Gins verzweifeltes Flehen in jenem Moment niemals vergessen. Dessen Angst, ihn zu verlieren, war in seiner Stimme so erschreckend greifbar gewesen, dass Rye sogar jetzt noch das Gefühl hatte, sie klar und deutlich zu hören. Er wollte den Silberhaarigen nicht allein zurücklassen. Doch er wollte ebenso wenig, dass dessen Leben seinetwegen durch Dunkelheit getrübt wurde. Dunkelheit, in welcher Dutzend tödliche Bedrohungen lauerten.

„Damit wird er zurechtkommen müssen. Sein Leben geht auch ohne mich weiter. Aber nicht in der Organisation.“, spielte Rye es herunter, mit dem Wunsch, dass Gin auch ohne ihn irgendwann sein Glück finden würde. Er sollte nicht für immer mit einem gebrochenen Herzen weiterleben. Anders als ich…“

„Bitte?“, entwich es dem Boss empört.

„Das ist meine Bedingung.“, stellte Rye daraufhin klar. „Sie werden Gin aus der Organisation nehmen und ihm eine Chance auf ein normales Leben ermöglichen. Ein Leben ohne Morde, Verbrechen und anderen gefährlichen Geschäften. Er soll mit solchen Sachen nichts mehr zu tun haben. Außerdem werden Sie für seine Sicherheit sorgen. Wenn Sie meine Bedingung nicht erfüllen können, werde ich Gin mit mir nehmen. Ob Sie das wollen oder nicht.“

Er ließ es viel mehr wie eine Drohung klingen. Denn schließlich würde dieser alte Mann auf keinen Fall zulassen, dass er Gin einfach mitnahm. Genau deshalb hatte er das gesagt. Um sichergehen zu können, dass seinem Geliebten nichts zustoßen würde, sobald er nicht mehr an dessen Seite wäre.

„Vage Worte. Deine Entschlossenheit überrascht mich. Aber ich werde deine Bedingung akzeptieren.“, antwortete der Boss zu Ryes Erleichterung. Letzten Endes schien Gin ihm vielleicht doch nicht vollkommen egal zu sein.

Eines Tages wird auch seine Fassade zusammenfallen. Es ist nur eine Frage der Zeit. Irgendwo tief in seinem gefrorenen Herzen muss auch er einen verwundbaren Punkt haben. Bleibt bloß offen, wer oder was diesen Punkt treffen wird…“, dachte Rye fest überzeugt, bevor er sagte: „Ich hoffe, Sie halten Ihr Wort.“

„Solange du deins auch hältst.“

„Sicher. Sobald Gin aus dem Krankenhaus entlassen ist, werden Sie mich nie wieder sehen.“ Rye wollte noch gar nicht an diesen Tag denken. Doch er würde unweigerlich kommen. Schneller, als ihm lieb war. Von da an wäre er wieder allein. Ohne Liebe und Wärme. Nur er und all den unermesslichen Hass, welchen er auf sich selbst verspürte. Der Teufelskreis würde von Neuem beginnen und alles wäre wieder so hoffnungslos und leer wie vor seiner Begegnung mit Gin. Eben so, wie er es verdient hatte.

Inzwischen hatte sich Stille im Raum ausgebreitet, die dazu beitrug, dass Rye immer weiter von seinen negativen Gedanken eingehüllt wurde. Fast kam es ihm so vor, als wäre er längst nicht mehr hier und bereits wieder auf sich allein gestellt. Irgendwo mitten im Nirgendwo, wo es stockfinster und sein größter Feind sein Verlangen nach Blut war. Rye versuchte sich wieder auf seinen Gegenüber zu konzentrieren.

„Darf ich Sie noch etwas fragen?“, begann er leise. Jetzt hatte er noch die Chance, so viel Informationen wie möglich über Gin zu erlangen. Wenn er ihn schon verlassen musste, dann nicht ohne ihn wirklich gekannt zu haben. Er wollte alles wissen. Alles, was der Boss ihm sagen konnte. Insofern dieser sich nicht querstellte, was zum Glück noch nicht der Fall zu sein schien.

„Jetzt brauchst du auch nicht mehr förmlich zu sein. Frag einfach.“, forderte er.

Rye zögerte einige Augenblicke, bevor er es wagte, die Frage zu stellen: „Was ist mit Gins Mutter passiert?“

Das Gesicht des Bosses verzog sich, als würde jemand ihm ein Messer in den Bauch rammen. Für den Hauch einer Sekunde wirkte er wie versteinert. Das schien er zu sein; sein verwundbarer Punkt.

„Was glaubst du denn?“ Mühsame Beherrschung lag in seiner Stimme.

„Dieser Connor sagte, Sie haben sie in den Selbstmord getrieben…“, murmelte Rye. Irgendwie konnte er sich das nicht vorstellen. Zwar war dieser Mann zweifellos ein furchtbarer Mensch, doch war er auch wirklich so furchtbar?

„Damit hat er recht.“, erwiderte er kühl.

Rye rang kurz um seine Fassung. Nein. Das durfte einfach nicht wahr sein.

Wie konnte er Gin so etwas antun…?“ Diese Frage füllte seinen ganzen Kopf. Spätestens jetzt hatte er auch seine letzte Hoffnung aufgegeben, dass noch ein winziger Funken Gutes in diesem Kerl steckte. Er hatte Gins Leben vollkommen ruiniert. Ihm seine Familie genommen. Die Chance auf eine unbeschwerte Kindheit. Auf ein normales Leben. Das war unverzeihlich.

Er verdient den Tod…“, wurde Rye schließlich bewusst. Sein Körper nahm automatisch eine feindselige Haltung an. Drauf und dran, seinen Gedanken in die Tat umzusetzen und den Boss zu…

„Sie war eine Prostituierte.“, fügte dieser plötzlich begleitet von einem Seufzen hinzu. „Diese Arbeit war ihre Hauptgeldquelle. Sonst hatte sie nichts. Sie lebte sozusagen in ständiger Armut und konnte sich ihren Lebensunterhalt kaum finanzieren. Als sie dann schwanger wurde, hat sie das vermutlich überfordert.“

In seiner Stimme schwangen keinerlei Gefühle mit. Zumindest dem Anschein nach. Denn während sich Rye nach und nach wieder beruhigte, erkannte er schlussendlich auch die Maske, die das wahre Empfinden des Älteren verbarg. Auf einmal verspürte er ein dringliches Verlangen, ihm diese Maske herunterzureißen.

„So jemand wie Sie kann doch bestimmt jede Frau der Welt haben. Warum also ausgerechnet eine Prostituierte? Ich bezweifle, dass Sie so etwas nötig hatten.“, sagte Rye mit dem Ziel, dem Boss mehr Informationen zu entlocken.

„Mag sein. Aber ich wollte keine Frau haben. Das wollte ich nie. Genauso wenig, wie ich ein Kind wollte.“ Allmählich schien die harte Schale Risse zu bekommen. Die Stimme des Bosses klang nicht länger so kalt und unbeteiligt. Eher gequält. Gequält von einem Ereignis, das bestimmt schon 30 Jahre zurücklag.

Ryes Interesse wurde immer größer.

„Das müssen Sie mir genauer erklären.“, meinte er, woraufhin der Boss seine Absichten allerdings zu erkennen schien.

„Muss ich das?“, hakte er in eindringlicher Tonlage nach, während seine Miene wieder ausdruckslos und unnahbar wirkte. Doch Rye wollte noch nicht aufgeben.

„Ich bitte darum.“ Erstaunt beobachtete er, wie sich der Boss nach diesen Worten an die Stirn fasste und hoffnungslos den Kopf schüttelte, bevor er entgegnete: „Ich habe noch nie mit jemandem darüber gesprochen. Betrachte diese kleine Geschichte einfach als mein Abschiedsgeschenk für dich.“

Ryes Augen begannen zu leuchten. Aufmerksam hörte er zu, was Renya Karasuma ihm zu erzählen hatte…

 

Auch wenn es mittlerweile schon über 30 Jahre her ist, sind die Erinnerungen noch so greifbar nah für mich, als sei es gestern gewesen. Damals hatte ich noch die Angewohnheit, mindestens drei Mal die Woche einen Abendspaziergang in den stillen Gegenden der Stadt zu machen. An jenem Tag hatte es plötzlich angefangen, in Strömen zu regnen. Da ich keinen Schirm bei mir trug und der Weg nach Hause noch zu weit gewesen war, musste ich mich spontan unter einem Baum unterstellen. Das Warten störte mich nicht sonderlich, da ich es irgendwie als seltsam beruhigend empfand, einfach nur still dazustehen und dem Regen zu lauschen. Ich hatte nicht einmal gemerkt, wie schnell oder langsam die Zeit eigentlich verging.

Bis zu dem Moment, als eine gewisse Frau aus unerklärlichen Gründen meine Aufmerksamkeit weckte. Ich hätte mir bis dahin niemals erträumt, dass sie es sein würde, die alles verändert. Ihr Bild von jenem Abend habe ich noch ganz genau vor meinen Augen. Trotz des schlechten Wetters war sie sehr freizügig gekleidet gewesen. Und nachdem ich sie ein paar Minuten beobachtet hatte, war mir auch aufgefallen, warum. Ich hatte sie schon öfters um diese Uhrzeit in der Gegend herumlaufen sehen. Selbst bei Regen suchte sie scheinbar verzweifelt nach Freiern. Wie ein hilfloses Hundewelpen wanderte ihr Blick in alle Richtungen, bis ihre großen, himmelblauen Augen mich schließlich entdeckten.

Ich hätte gehen, ihr einfach den Rücken zukehren sollen, solange ich noch die Möglichkeit dazu hatte. Aber ich tat es nicht. Obwohl ich Leute wie sie zutiefst verachtete, war ein kleiner Teil von mir doch ein wenig neugierig gewesen, ob sie wirklich den Mut hätte, mich anzusprechen.

Tatsächlich kam sie mit langsamen Schritten in meine Richtung. Ihre langen, silbernen Haare glänzten im Regen. Ihr Gesicht war von Güte und Feinfühligkeit gezeichnet. Sie lächelte mich an. Ich wandte den Blick von ihr ab. Hoffend, dass sie es sich noch anders überlegen würde. Jedoch registrierte ich, wie sie wenige Meter neben mir im nassen Gras verharrte. Schweigend blieb sie auf Sicherheitsabstand, da sie wohl dachte, ich könnte ihr gefährlich werden.

Ich spürte ihren unsicheren Blick auf mich. Sie traute sich nicht einmal bis unter den Baum. Und das war auch gut so, da ich nach kurzer Zeit anfing, mich von ihrer Anwesenheit genervt zu fühlen.

Geh weiter. Ich habe kein Geld für dich. Keinen einzigen Yen.“, wies ich sie ab. Doch sie regte sich nicht und erwiderte nur leise: „Es regnet.“, worauf ich ihr antwortete: „Dann stell dich woanders unter.“

Sie gehorchte meinem Befehl nicht. Blieb wie angewurzelt stehen. Nach kurzer Zeit bemerkte ich, wie sie näherkam und sich neben mir an den Baumstamm lehnte. Sie fror am ganzen Leib. Während ich ihr Zittern wahrnahm, fragte ich mich gedanklich, warum sie nicht einfach aufgab und nach Hause ging. Wo auch immer das war.

Wenn Sie noch länger hier stehen, erkälten Sie sich noch. In einem Hotel-“, begann sie zögernd, doch ich ließ sie erst gar nicht ausreden.

Das kann dir egal sein. Mit mir ist kein Geschäft zu machen, hast du verstanden?“, wies ich sie ein zweites Mal ab und fügte hinzu: „Du bist mir auch zu hässlich. Krumme Beine.“

Das sagte ich nur, weil ich dachte, ich würde sie nach einer Beleidigung endlich loswerden. Aber das geschah nicht. Sie rührte sich immer noch nicht vom Fleck.

Sie schauen mich doch gar nicht an.“

Erst nach diesen Worten drehte ich meinen Kopf wieder in ihre Richtung. Sie war in der Tat nicht hässlich, wurde mir bewusst. Eher ungewöhnlich schön. Aber das habe ich ihr bis zu ihrem Tod niemals gesagt.

Ich bin immer noch derselben Meinung.“, beharrte ich. Sie schaute mich wehmütig an und entgegnete: „Das ist nicht wahr.“

Scheinbar hatte sie mir das vom Gesicht ablesen können. Es war mir letztlich auch egal und ich ließ ihre Worte unerwidert. Für eine Weile lauschten wir dem Rauschen der Regentropfen. Ihr Zittern nahm nicht ab und sie fing an von einem Fuß auf dem anderen zu treten.

Ich wollte Sie nicht wirklich anwerben. Ich dachte mir nur, dass Sie sehr einsam wirken.“, brachte sie irgendwann hervor. Zwar lag sie damit richtig und ich war mein ganzes Leben lang schon einsam gewesen, doch ich hatte das nie als etwas Negatives betrachtet. Mit der Zeit war mir klar geworden, dass sie auch einsam gewesen war. Anders als ich hatte sie das allerdings wohl nicht ertragen können.

Mag sein, was aber nicht bedeutet, dass ich Gesellschaft benötige. Und von einer wie dir schon gar nicht.“ Ich versuchte so unfreundlich wie möglich zu sein. Doch auf diese Weise schien ich sie nicht loszuwerden.

Einer wie mir?“, tat sie unwissend, obwohl sie in Wirklichkeit genau wusste, wie ich das gemeint hatte.

Stell dich nicht dumm.“, sagte ich im schroffen Ton.

Sie haben doch bloß Angst, dass es Ihrem Image schaden könnte.“ Ihre plötzliche Direktheit überraschte mich. Diesmal war ihre Annahme jedoch falsch, weshalb ich ihr antwortete: „Nein. Ich verabscheue nur Menschen, die so wenig Selbstwertgefühl haben, dass sie ihren Körper für Geld verkaufen müssen.“

Prostitution war mir in meinen über 200 Jahren schon oft genug begegnet. Womöglich handelte es sich um die älteste Arbeit auf Erden. Aber ich habe bis heute nicht verstanden, warum Menschen dazu neigen, so etwas zu tun, wenn sie in Geldnot sind. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich mich bisher nie in einer solchen Lage befanden habe und ich es daher nicht nachempfinden kann.

Meine Worte schienen ihr einen Schauer über den Rücken zu jagen. Sie gab mir erst nach mehreren Sekunden eine Antwort, die lautete: „Am Tage arbeite ich in einem Café. Dem Kohikan in der Nähe des Asakusa-Schreins. Aber der Lohn reicht nicht aus.“

Mein Gefühl sagte mir, dass sie wollte, dass ich sie eines Tages dort besuchen komme. Warum hätte sie mir sonst den Namen des Cafés verraten? Natürlich war ich nie dort gewesen. Solche Orte waren schlichtweg nichts für mich, auch wenn ich damals die Öffentlichkeit noch nicht allzu sehr gemieden habe, wie ich es heute tue.

Ich musterte sie schweigend für einen kurzen Moment, wobei mir auf einmal die dunklen Schatten unter ihren Augen auffielen, welche eindeutig auf Schlafmangel hinwiesen. Wieso machte sie sich scheinbar selbst so sehr fertig?

Schon mal daran gedacht, dir eine vernünftige Arbeit zu suchen?“, fragte ich. Irgendwie konnte ich mir nicht vorstellen, dass sie für nichts zu gebrauchen war. Ein gequältes Lächeln erschien in ihrem Gesicht.

Das habe ich versucht. Doch ich scheitere meistens schon an den Vorstellungsgesprächen. Abgesehen von meinem Körper… habe ich nicht viel zu bieten, schätze ich…“ Ihre Stimme klang niedergeschlagen. Ich musste mich zurückhalten, sie für diese törichten Worte nicht ordentlich zurechtzuweisen.

Das ist völliger Unsinn.“, meinte ich nur.

Finden Sie?“

Jeder Mensch hat irgendwelche Fähigkeiten zu bieten. Vielleicht musst du noch herausfinden, in was du… sonst noch gut bist. Vor allem aber ist es wichtig, stets selbstbewusst vor anderen aufzutreten und sich in schweren Situationen nicht unterkriegen zu lassen. Man muss den Leuten zeigen, wer man ist und für was man steht. Du wirst nie vorankommen, wenn du immer nur an dir selbst zweifelst.“ Das war lediglich ein Ratschlag von mir, den sie sich zu Herzen nehmen, aber genauso gut auch vergessen konnte. Hätte sie Ersteres getan, wäre sie heute vermutlich noch am Leben. Ich weiß es nicht. Ich weiß noch nicht einmal, wie die Welt dann für mich aussehen würde und was sich dann alles verändert hätte.

Ihre blauen Augen funkelten mich an. Ich glaubte, so etwas wie Bewunderung in ihnen zu erkennen.

Sie haben womöglich recht. Ich werde darüber nachdenken.“, erwiderte sie etwas fröhlicher. Ich nickte, woraufhin sie die einkehrende Stille nach kurzer Zeit unterbrach.

Sie scheinen wohl doch ein guter Mensch zu sein, auch wenn es auf dem ersten Blick nicht so aussieht.“, gestand sie kichernd. Warum dachte sie das plötzlich?

Ich bin keinesfalls ein guter Mensch, merk dir das.“, entgegnete ich. Und obwohl das mein voller Ernst gewesen war, hatte sie bis zum bitteren Schluss an das Gute in mir festgehalten. Egal, wie oft ich ihr das Gegenteil bewiesen habe.

Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich mich selbst davon überzeugen möchte?“ Mir entging der aufreizende Unterton in ihrer Stimme nicht.

Mach, was du willst. Aber bedenke, dass wir uns nie wieder begegnen werden, sobald der Regen aufgehört hat.“ Davon bin ich in diesem Moment noch fest ausgegangen. Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich ihr noch viele, viele Male begegnen würde. Und dass es mir irgendwann sogar ein kaum merkliches Lächeln auf den Lippen zaubern würde, sie zu sehen.

Das glaube ich nicht.“ Sie hingegen hatte es scheinbar schon gewusst. „Man sieht sich immer zwei Mal im Leben.“

Ich musste zwar ein Schmunzeln unterdrücken, aber darauf eingehen tat ich nicht.

Dürfte ich Ihren Namen erfahren?“, erkundigte sie sich nach einer Weile leise. Es war so vorhersehbar gewesen, dass diese Frage kommen würde.

Wenn wir uns ein zweites Mal im Leben begegnen.“, wich ich ihr vorerst aus. Eigentlich wollte ich ihr meinen Namen nie sagen, da ich sie auch nicht kennen wollte. Doch das Schicksal, wenn es so etwas wirklich gab, schien andere Pläne für mich zu gehabt zu haben.

Sie zog einen Schmollmund, bevor sie erwiderte: „Na schön. Meinen verrate ich Ihnen trotzdem schon.“ Sie streckte ihre Hand aus. „Ich bin Alice. Alice Kinoshita, was so viel wie ‚unter dem Baum‘ bedeutet. Ein komischer Zufall, nicht wahr?“

Sie schien nach und nach offener zu werden. Meine Hand zuckte, doch ballte sich kurz darauf zur Faust. Mir war der Gedanke noch zuwider, sie anzufassen. Auch wenn ihre Hände sehr glatt und weich aussahen. Ihr Name bestätigte meine Vermutung, dass sie zur Hälfte Ausländerin war. Daher kam wohl auch ihr ungewöhnliches Aussehen. Höchstwahrscheinlich fiel es ihr nicht sonderlich schwer, neue Freier für sich zu gewinnen.

Sagst du diesen albernen Spruch zu jedem, den du unter einem Baum kennenlernst?“, fragte ich etwas unbeeindruckt mit hochgezogener Augenbraue, um ihr nicht die Hand geben zu müssen. Sie lachte. Es war ein helles, sehr schönes Lachen.

Es kommt leider nicht so oft vor, dass ich attraktive Männer wie Sie unter einem Baum bei Regen kennenlerne.“, erwiderte sie anschließend. Ich zuckte unbemerkt zusammen. Komplimente war ich überhaupt nicht gewohnt. Und mir fiel auf, dass ich keine leiden konnte. Ich verzog mein Gesicht und drehte mich leicht von ihr weg, womit ich sie wohl verletzte.

Oh, Entschuldigung… ich wollte Ihnen nicht zu nah treten.“, hörte ich ihre Worte hinter meinem Rücken.

Schon gut.“, sagte ich. Da bemerkte ich, dass der Regen allmählich nachgelassen hatte und ich somit endlich von dieser Begegnung erlöst war. „Der Regen hat aufgehört. Du solltest jetzt nach Hause gehen.“

Das hätte sie schon viel früher tun sollen. Womöglich würde sie sich nun erkälten. Aber das hatte mich nicht weiter zu interessieren.

Das sollte ich wohl… Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.“ Dass sie das einfach so zugab, verwunderte mich. Ich ertappte mich, wie ich das auch ein klein wenig hoffte. Aus welchen idiotischen Gründen auch immer. Ich antwortete nichts mehr und ließ sie gehen, ohne mich nochmal zu ihr umzudrehen. Schließlich machte ich mich ebenso auf den Nachhauseweg.

Es vergingen mehrere Tage, an denen sie mir einfach nicht aus dem Kopf gehen wollte. Ständig dachte ich an ihre Erscheinung. Ständig sprach ich ihren Namen in Gedanken aus und verfluchte mich selbst dafür unzählige Male. Ich glaubte sogar fast, dass ich anfing, krank zu werden. Noch nie hatte ich mich so seltsam gefühlt.

An einem kühlen Nachmittag konnte ich es nicht lassen, zumindest den Schrein zu besuchen, welchen sie erwähnt hatte. Er befand sich direkt neben dem buddhistischen Tempel Sensō-ji. Vor Ort erfuhr ich, dass traditionell viele Feste im Schrein ausgerichtet werden. Darunter auch das Sanja-Matsuri, welches jedes Jahr über einen Zeitraum von drei bis vier Tagen an einem Wochenende im Mai stattfindet. Ich war froh gewesen, dass ich in keines dieser Feste geraten war und an diesem Tag eher wenig Menschen unterwegs waren. Umso schneller bemerkte meine wachsame Persönlichkeit, dass sich eine gewisse Frau ebenso vor Ort befand und stets ein paar Meter entfernt hinter mir her lief. Als ich mich zu ihr umdrehte, senkte sie peinlich berührt den Blick. Dieses Verhalten, was nahezu dem eines schüchternen Schulmädchens glich, amüsierte mich trotz der Tatsache, dass es eigentlich vollkommen infantil war.

Ich blieb stehen und starrte sie so lange an, bis sie sich letztlich doch traute, mir ein paar Schritte näherzukommen. Diesmal war sie glücklicherweise wettergemäß gekleidet. Der Rollkragenpullover und die braune Strickweste standen ihr gut. Dazu trug sie einen leuchtend roten Schal und offene Handschuhe, die ihre zarten Finger mehr zur Geltung brachten.

Hallo. Ich hätte nicht gedacht, Sie hier zufällig zu treffen.“, begrüßte sie mich. Ich nickte streng und erwiderte: „Zufällig? Wen willst du hier veralbern?“

Ein leichter Rosa Hauch breitete sich auf ihre Wangen aus.

Naja… wenn ich ehrlich sein soll… meine Schicht war gerade vorüber und ich habe Sie von Weitem wiedererkannt. Da habe ich spontan beschlossen, Ihnen nachzugehen…“, gestand sie und plötzlich kam ich mir vor wie in irgend so einem amerikanischen Highschool-Film, die zu der Zeit gerade beliebt gewesen waren.

Verstehe.“, antwortete ich begleitet von einem Seufzen.

Warum haben Sie mir nicht geglaubt?“, hakte sie nach. War das nicht offensichtlich genug?

Es ergab keinen Sinn für mich, dass du ausgerechnet heute hier sein würdest.“

Aber Sie sind doch auch hier.“

Sie hatte recht. Diese zweite Begegnung hatte nur stattfinden können, weil ich den Schrein besuchen wollte. Und ich hätte ihn wahrscheinlich nie besuchen wollen, wenn ich sie zuvor nicht getroffen hätte. Schon seit meiner Ankunft habe ich gewusst, dass das ziemlich dumm von mir gewesen war. Warum hatte ich mich überhaupt dazu entschieden? Noch nie war mir mein eigenes Verhalten so sehr ein Rätsel gewesen.

Das… ist wiederum wirklich nur Zufall.“, redete ich mich raus. Aber ich konnte ihr wohl nichts vormachen.

Und ich dachte schon, Sie haben gehofft, mich hier wiederzusehen.“, erwiderte sie leicht enttäuscht. Meine Augen weiteten sich und ich merkte, wie sich mein Gesicht automatisch verzog. Ich kannte es nicht, dass jemand seine Gedanken einfach so offen aussprach. Und ich hätte sie eigentlich auch nicht so eingeschätzt.

Entschuldigung. Ich hab es schon wieder getan… blöde Angewohnheit…“ Sie schaute verlegen zur Seite. Von ihren anderen Angewohnheiten wollte ich am liebsten gar nicht erst erfahren. Ich schwieg, wodurch sie sich nach wenigen Sekunden unwohl zu fühlen schien.

Das letztes Mal tut mir auch wirklich leid. Sie mögen wohl keine Komplimente…“, fuhr sie nachdenklich fort.

Gut erkannt.“, antwortete ich, bevor sie versprach: „Dann werde ich so etwas in Zukunft für mich behalten.“

In Zukunft? Dachte sie etwa, ich würde noch mehr Zeit mit ihr verbringen wollen? Aber noch viel wichtiger…

Warum machst du dir die Mühe?“, fragte ich.

Einfach so. Ich will nur höflich sein.“ Sie lächelte mich an und zuckte mit den Schultern. „Verraten Sie mir nun Ihren Namen? Meinen haben Sie wahrscheinlich schon vergessen.“

Ich zog eine Augenbraue nach oben. „Dieses alberne Wortspiel war leider schwer zu vergessen, Alice.“

Es fühlte sich irgendwie schön an, ihren Namen auszusprechen. Mir fiel auf, dass mir der Name tatsächlich gefiel. Wieder etwas, wofür ich mich innerlich verfluchte. Ihre Wangen färbten sich rot und sie fing an zu kichern.

Dann war es immerhin nicht umsonst.“, sagte sie anschließend. Danach wartete sie gespannt auf meine Antwort, jedoch schaute ich sie lediglich wortlos an. Ich konnte mich noch immer nicht damit anfreunden, ihr meinen Namen zu verraten. Aber da ich es ihr beim letzten Mal sozusagen versprochen hatte, blieb mir wohl nichts anderes übrig.

Mein Name ist Renya Karasuma. Der Vorname genügt.“, sprach ich, woraufhin ihre Augen groß wurden.

Renya Karasuma…“, wiederholte sie leise für sich. „Ein recht ungewöhnlicher Name. Aber er gefällt mir. Vielen Dank.“

Ich nickte. „Es ist lediglich ein älterer Name.“

Verstehe…“, antwortete sie, während sie den Blick durch die Gegend schweifen ließ und mich anschließend unsicher ansah. Etwas schien sie noch auf dem Herzen zu haben. Doch sie traute sich nicht, es auszusprechen.

Ist was?“, gab ich ihr einen kleinen Anstoß, woraufhin sie sofort nach unten auf ihre Füße starrte.

Ich habe mich nur gefragt, ob Sie vielleicht Lust auf einen Spaziergang hätten.“, murmelte sie nach einer Weile beschämt.

Warum?“, bohrte ich. Mir fiel kein plausibler Grund ein. Immerhin passten wir nicht zusammen. Weder ich zu ihr noch sie zu mir. Und trotzdem lag in diesem Moment irgendeine seltsame Anziehungskraft in der Luft, die mich dazu gebracht hatte, nicht auf der Stelle abzulehnen.

Warum nicht? Wir könnten auch zusammen in ein Café gehen und uns ein wenig unterhalten…“, schlug sie vor. Der Gedanke daran schien die Röte in ihrem Gesicht intensiver werden zu lassen. Mir dagegen wurde unwohl.

Für so etwas bin ich nicht zu haben.“, entgegnete ich deshalb. Ich hätte am liebsten hinzugefügt, dass ich keine Sekunde länger mit ihr verbringen wollte, jedoch entwich mir kein weiteres Wort aus dem Mund. Was wohl daran lag, dass mich die plötzlich tiefe Entschlossenheit in ihren Augen faszinierte. Mein Gefühl sagte mir, dass sie kein Nein akzeptieren würde.

Sie machen doch gerade auch nur einen Spaziergang. Also können wir doch auch zusammen gehen.“, brachte sie als Argument.

Können wir nicht. Ich hasse Gesellschaft.“ Nach diesen Worten kehrte ich ihr den Rücken zu und ging. Allerdings klang ihre folgende Antwort immer noch so nah, als würde sie direkt neben mir stehen. Weil sie mir wieder hinterherlief, wie ich kurz darauf feststellen musste.

Das dachte ich mir schon. Aber wissen Sie was? Menschen, die keine Gesellschaft mögen, wissen meist gar nicht, dass sie sie eigentlich am meisten brauchen.“, meinte sie in einem belehrenden Tonfall. Ich schüttelte den Kopf.

Und wie kommst du darauf, dass ich gerade dich brauche?“, fragte ich spottend. Es fiel ihr überraschend leicht, mit meinem zügigen Tempo mitzuhalten.

Nur so eine Vermutung. Wie ich schon sagte, Sie wissen es bloß noch nicht.“ In ihre Stimme mischte sich plötzlich ein etwas selbstgefälliger Unterton, der mich nur zu einem weiteren Kopfschütteln brachte.

Träum weiter.“, wies ich sie ab. Ein klein wenig amüsierte mich ihr Verhalten, auch wenn ich mich größtenteils davon genervt fühlte. Zudem wollte ich es nicht ganz wahrhaben, dass ich gerade tatsächlich von einer Frau verfolgt wurde. Sie selbst schien das auch sehr amüsant zu finden und hielt noch immer taff mit meinem Schritttempo mit.

Laufen Sie jetzt etwa vor mir davon?“, fragte sie lachend, wobei mich ein Schock durchlief. Ich war noch nie vor etwas davongelaufen. Und das sollte sich in Zukunft auch nicht ändern, weshalb ich beschloss, zu einem anderen Plan überzugehen, welchen ich jedoch nicht mehr umsetzen konnte, da diese Frau ihn wortwörtlich durchkreuzte. Mit dem eigentlichen Vorhaben, sich mir in den Weg zu stellen, knickte sie unerwartet mit ihren hochhackigen Stiefeln um und landete vor meinen Füßen. Dabei glitt der rote Schal von ihren Schultern.

Ich blieb wie angewurzelt vor ihr stehen, noch verärgert darüber, dass ich beinahe über sie drüber gefallen wäre. Während sie sich über den eintretenden Schmerz beschwerte, blinzelten mich ihre hellblauen Augen hilflos an. Dann verzog sie die Lippen zu einem beschämten Lächeln.

Verzeihung…“, sagte sie kaum hörbar.

Wir kennen uns insgesamt noch nicht mal eine halbe Stunde und du musstest dich bereits drei Mal bei mir entschuldigen. Ein paar Male zu viel, meinst du nicht?“ Ich hockte mich zu ihr herunter, hob zuerst den Schal auf und hielt ihn ihr anschließend hin. Doch anstatt ihn sich selbst wieder umzubinden, griff sie danach und legte ihn mir um die Schulter. Ich erstarrte und konnte sie lediglich verdutzt anstarren.

Ich verspreche, dass ich mich bessern werde.“, erwiderte sie lächelnd. „Der Schal steht Ihnen besser als mir. Er passt zu Ihrer Haarfarbe.“

Meine Hand wanderte zu dem langen Stoff, doch verharrte letztlich mitten in der Luft. Der Schal trug ihren Geruch. Wahrscheinlich irgendein Billigparfüm.

Sie können ihn gern behalten, wenn Sie wollen.“, kommentierte sie meine unvollständige Geste. Warum sollte ich das wollen, schwirrte es mir durch den Kopf. Doch bevor ich ihr eine Antwort geben konnte, startete sie einen halbherzigen Versuch, sich wieder aufzurappeln. Sie schien überhaupt keine Kraft in den Beinen zu haben. Seufzend hielt ich ihr meine Hand hin und half ihr auf.

Danke.“, meinte sie und musterte mich anschließend mit einem warmherzigen Ausdruck in den Augen, bevor sie fröhlich hinzufügte: „Kommen Sie, ich habe mir sagen lassen, dass die Takoyaki dort hinten besonders gut schmecken sollen. Die würde ich gern mal probieren.“

Bestimmt sind sie dafür auch besonders teuer.“, entgegnete ich unbeeindruckt, während ich mich fragte, wie sie überhaupt urplötzlich auf die Idee kam, dass ich mit ihr gemeinsam etwas essen wollte.

Macht nichts. Wenn ich für den Rest des Monats sparsam bin, reicht es noch. Ich rechne mir das immer genau aus, damit ich auch wirklich nicht zu viel ausgebe.“, erklärte sie in stolzer Tonlage. Irgendwie fand ich das lächerlich und traurig zugleich.

Na dann.“ Ich ließ mich von ihr zu dem betreffenden Imbiss-Stand führen, wo wir uns zwei Portionen von diesen Takoyakis bestellten, die ihr wohl wirklich sehr zu schmecken schienen. Zugegebenermaßen verbrachte ich mehr Zeit damit, ihr dabei zuzusehen, wie sie sich an den Geschmack des Essens erfreute, als selbst meine Portion zu verzehren. Letzten Endes schob ich ihr den Rest davon auch noch zu, wofür ich ein strahlendes Lächeln von ihr zurückbekam, das mich auf eine unbeschreibliche Weise erwärmte. Ich konnte mir nicht erklären, was auf einmal mit mir los war und warum ich den Tag fast bis zum Ende mit ihr verbrachte, ohne dabei den Drang zu verspüren, sie einfach stehenzulassen und nach Hause zu gehen. Vielleicht gab es da über mir irgendeine höhere Gewalt, die mich dazu zwingen wollte, stets in der Nähe dieser Frau zu bleiben. Ich würde es nie mit Sicherheit wissen können. Aber ich beschloss fürs Erste, diese Gewalt über mich entscheiden zu lassen.

Und so kam es, dass ich mich von da an immer öfters mit Alice traf. Wobei sie sich mir überwiegend selbst aufgehalst hat, was mir aber irgendwann nichts mehr ausgemacht hatte. Auch nicht dann, als sie mir eines Tages mal heimlich bis zu meinem früheren Anwesen gefolgt war, woraufhin sie erst dann vollständig realisiert hatte, wie viel Vermögen ich in Wirklichkeit besaß. Überraschenderweise hatte sich ihre Haltung mir gegenüber deshalb nie verändert, auch wenn ich mir oft genug eingebildet hatte, sie würde mich wegen meines Geldes nur ausnutzen wollen. Bis heute verstehe ich nicht, warum ich ihr das hin und wieder vorgeworfen habe, obwohl sie mich nie direkt um Geld gebeten hatte. Nicht einmal, nachdem sie mir erzählt hatte, dass ihre Arbeit als Prostituierte aufgegeben hatte. Das habe ich bis zum Schluss angezweifelt. Doch es war die Wahrheit gewesen. Sie hatte mich nie angelogen. Nie. Und dennoch habe ich ihr so vieles nicht geglaubt. Sie falsch eingeschätzt und sie zu Unrecht für Dinge beschuldigt, die sie nie getan hatte. Ich wünschte wirklich, ich hätte sie besser behandelt. Umso mehr kränkt es mich, dass sie mich trotz aller Strapazen immer bedingungslos geliebt hatte. Ich bin mir über ihre Liebe nur sehr langsam im Klaren geworden. Und selbst als ich es längst wusste, habe ich ihre Gefühle für mich bis zu ihrem Tod verleugnet.

Eigentlich hatte ich mir von Anfang an geschworen, mich nie von solchen Gefühlen mitreißen zu lassen, da ich es schlichtweg ablehne, zu lieben und geliebt zu werden. Aber umso länger und öfter sie in meiner Nähe war und je intensiver sie mir ihre Gefühle verdeutlichen wollte, desto schwächer wurde ich. Bis letztlich der Tag kam, an dem alle Dämme brachen.

Ich erinnere mich daran, wie sie mich an einem Abend im Sommer besucht hatte, um wie die vielen Male zuvor ein gemeinsames Essen für uns zuzubereiten. Da ich ihre Kochkünste schon nach sehr kurzer Zeit zu schätzen gelernt hatte, hatte ich dagegen auch nichts einzuwenden. Immer, wenn sie sah, dass mir ihr Essen schmeckte, schien sie das unbeschreiblich glücklich zu machen. Auch an diesem Tag.

Die Temperaturen hatten nahezu ihre Höchstgrenze erreicht, sodass ich es vermieden hatte, auch nur einen Fuß vor die Tür zu setzen. Sie hingegen hatte sich passend zum heißen Wetter ein leichtes Kleid angezogen, welches ihr gerade mal bis zu den Knien gegangen war. Es hat ihr sehr gut gestanden. Und sie wusste, dass ich dieser Meinung gewesen war.

Ich hätte das nie, niemals tun dürfen. Doch das Gefühl ihrer weichen Lippen auf meine, während ihre zarten Hände meine fest umschlossen hielten, hatte mir einfach restlos den Verstand geraubt. Ich konnte mich nicht widersetzen, als ihre schöne Stimme meinen Namen flüsterte und sie mich kurz darauf zum Schlafzimmer führte. In dieser Nacht war mir bewusst geworden, dass sie die Einzige war, die ich jemals gewollt hatte. Die Einzige, für die ich jemals so etwas wie Liebe empfinden würde.

Und doch erkannte ich bereits am nächsten Morgen, dass es niemals so sein durfte. Ich hatte einen schwerwiegenden Fehler begangen und stellte mir verzweifelt die Frage, wie ich mich bloß von einer Frau hatte in die Irre führen lassen können. Von einer Frau, die ich niemals haben könnte. Denn zusammen mit einer Frau glücklich zu werden und sie bis zum Ende meiner Tage aufrichtig zu lieben, ist nicht die für mein Leben bestimmte Aufgabe. Alice durfte kein Teil meines Lebens sein.

Mit diesem Entschluss versuchte ich die folgenden Wochen auf Abstand zu bleiben und den Kontakt zu ihr bestmöglich gering zu halten, bis ich ihn schlussendlich irgendwann komplett abbrechen würde. Aber wen machte ich eigentlich was vor? Hatte ich wirklich geglaubt, sie nach allem einfach abweisen zu können, ohne dass sie sich nicht dagegen widersetzen würde? Vermutlich nicht. Meine distanzierte Art schien sie zuerst etwas zu verunsichern und sie wusste nicht, wie sie mit mir umgehen sollte. Ich habe ihr angemerkt, dass sie mich nicht verlieren wollte, weshalb sie sich wohl dazu entschied, mir etwas Zeit zu geben. Zeit, die mir nicht ausreichte und die ihr zu lang andauerte.

Schließlich kam der entscheidende Tag, an dem sie alles auf eine Karte hatte setzen wollen. Gegen meinen Willen besuchte sie mich und stellte mich zur Rede.

Was ist nur los mit dir? Ich mache mir schon die ganze Zeit Sorgen, dass ich irgendwas falsch gemacht habe…“, waren ihre Worte, während ich in meinem Arbeitszimmer stillschweigend auf die Tischplatte starrte. Es überraschte mich nicht, dass sie wieder einmal die Fehler bei sich suchte. Ich hatte ihr ja auch stets allen Grund dazu gegeben.

Wenn es wegen dieser Nacht ist-“, setzte sie an, doch ich unterbrach sie sofort, da ich nicht über dieses Thema sprechen wollte.

Ist es nicht.“

Ihre Augen verengten sich und sie presste die Lippen fest zusammen, bevor sie in mit aufbrausender Stimme erwiderte: „Natürlich! Genau seitdem meidest du mich. Du siehst mich nicht einmal mehr an…“

Der letzte Satz war lediglich ein leises Flüstern. Es stimmte, dass ich sie nicht mehr ansah. Weil ich ihren Anblick nicht mehr ertragen konnte.

Ich hörte, wie sie langsam auf mich zukam und sich anschließend mit den Händen auf den Schreibtisch abstützte.

Renya, bitte, sieh mich an…“, wimmerte sie, während ihr ein paar silberne Haarsträhnen über die Schultern fielen und sie vergebens meinen Blick suchte.

Du flehst wegen Nichtigkeiten.“, antwortete ich und erhob mich von meinem Stuhl, um ihr nicht mehr so nah sein zu müssen. Ich spürte, wie ihre Augen mir zum Fenster folgten und sie weiterhin an der Stelle stehen blieb.

Nein. Ich will wissen, warum du so zu mir bist… Mochtest du es nicht? Ist es das?“

Ich schüttelte den Kopf. Genau da lag das Problem: Ich mochte es.

Was dann? Sag es mir doch…“, drängte sie, woraufhin ich mir doch eine Antwort zurechtlegte: „Ich weiß einfach nicht, ob es richtig war.“

Für mich war es das.“ Ihre Stimme klang aufrichtig. Näher.

Für dich…“, entgegnete ich leise. Kurz darauf zuckte ich innerlich zusammen, als sie plötzlich nach meiner Hand griff und hinter mir verharrte. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, seit sie mich das letzte Mal berührt hatte. Ein Gefühl wie Sehnsucht baute sich in mir auf. Aber ich ging nicht weiter drauf ein.

Weißt du, ich bin eigentlich hierhergekommen, weil ich dir etwas erzählen wollte… aber wenn ich dich jetzt so ansehe, bin ich mir nicht mehr so sicher, ob ich das wirklich noch will…“, begann sie nach einer Weile zögernd. Ein wenig neugierig war ich schon, worum es sich handeln könnte.

Sag es, damit dein Weg nicht umsonst war.“

Meine Haltung wurde automatisch wachsamer, als ihre Hand auf einmal anfing zu zittern. Also war es wohl keine gute Neuigkeit.

Ich…“ Ihre Stimme versagte. Ich entschied mich doch dazu, den Kopf zu ihr zu drehen. Mit einem ernsten Blick in den Augen hakte ich nach: „Ja?“

Jetzt war sie diejenige, die mich nicht ansehen wollte. Ihr ganzer Körper spannte sich an, bevor sie schließlich fortfuhr: „…bin schwanger…“

Der Schock erfasste mich nahezu wie eine gewaltige Schneelawine. Meine Augen weiteten sich. Plötzlich begann ich, an der Realität zu zweifeln.

Schwanger?“, wiederholte ich möglichst gefasst. „Von wem?“

Die Antwort lag klar auf der Hand. Jedoch wollte ich es einfach nicht wahrhaben.

Sie verzog ihr Gesicht vor Schmerz und Entsetzen. „Soll das ein Witz sein? Von dir natürlich…!“

Ich schluckte. Versuchte, ruhig zu bleiben. Ein Teil in mir weigerte sich noch immer, es zu akzeptieren. Und ich ließ zu, dass dieser Teil die Oberhand gewann. Ein ironisches Lächeln bildete sich auf meine Lippen und ich gab ein weiteres Kopfschütteln von mir, was sie zu kränken schien.

Warum glaubst du mir nicht? Wie oft habe ich dir bereits gesagt, dass ich nicht mehr zum Bordell gehe? Ich habe mit niemanden außer dir geschlafen…“, versuchte sie mich zu überzeugen, obwohl sie das keinesfalls musste, da ich ihr in Wirklichkeit glaubte. Trotzdem warf ich ihr vor: „Du lügst.“

Dabei war es eher mein egoistischer Wille, der sich wünschte, sie würde lügen. Tränen fingen an über ihre Wangen zu laufen.

Bitte sag sowas nicht…“, flehte sie mit gebrochener Stimme. Es tat mir weh, sie so zu sehen. Aber mir blieb keine andere Wahl, wenn ich ihre reine Seele nicht beschmutzen wollte. Sie war ohne mich besser dran.

Wieso? Denkst du, ich falle darauf rein? Bestimmt war das von Anfang an dein Plan gewesen.“, behauptete ich.

Plan…?“ Sie wusste nicht, wovon ich sprach. Natürlich nicht. Denn es gab immerhin keinen Plan. Nur den Plan, der gerade in meinem Kopf Gestalt annahm.

Erst machst du dich an mich ran, drängst dich mir förmlich auf und jetzt willst du mir auch noch ein Kind aufhalsen, damit ich dich gar nicht mehr loswerde und mir bloß die Wahl bleibt, ob ich dir jeden Monat Geld überweise oder dich gleich bei mir einziehen lasse? Das kannst du dir sofort wieder aus dem Kopf streichen. Diese Masche ist mir zuwider.“

Nach meinen Worten war sie wie erwartet völlig erschüttert. Ihr ganzer Körper zitterte. Ihr Gesicht war von Schock gezeichnet und versteinert, während ihr weiterhin Tränen aus den Augen wichen.

Nein, das… stimmt nicht… wie kannst du so etwas behaupten…“, war alles, was sie dazu sagen konnte.

Wenn es nicht wegen meines Geldes war, warum solltest du dann die ganze Zeit über nie von meiner Seite gewichen sein und am Ende mit mir geschlafen haben? Du willst mir nicht erzählen, dass du so jemanden wie mich-“

Dass ich so jemanden wie dich lieben könnte?! Doch, genau das tue ich!“, fiel sie mir schluchzend ins Wort. Ich erstarrte.

Verstehst du denn nicht? Ich will nicht dein Geld, sondern dich! Mir ist dein Vermögen vollkommen egal!“, schrie sie hastig, während sie die Arme um mich legte und sich an meinen Rücken schmiegte. „Ich will doch nur… für immer bei dir sein… und eine Familie mit dir…“

Ich stellte mir dieses Szenario unweigerlich vor. Ihre Worte berührten mich so sehr, dass ich kurz davor war, einfach nachzugeben. Doch tief im Inneren wusste ich, dass das, was sie sich vom ganzen Herzen wünschte, niemals möglich sein würde. Ich könnte sie nie vollends glücklich machen. Wäre sowohl ein miserabler Vater als auch Ehemann. Sie sollte so jemanden wie mich nicht lieben. Sie brauchte mich nicht und konnte ohne mich ein viel sichereres Leben führen. Ein Leben, das irgendwann vorbei wäre, noch bevor ich überhaupt einen Fuß in den Sarg gesetzt hätte. Sie und das Kind würden älter werden. Ich dagegen nicht. Schon allein aus diesem Grund würde es niemals funktionieren.

Und so beschloss ich, dass es das Beste für alle wäre, wenn ich sie endgültig abwies.

Ich empfinde… gar nichts für dich. Nicht das Geringste.“, sprach ich.

Daraufhin glitten ihre Arme von meinem Körper. Ein zittriger Atemzug entwich ihr. Ich konnte förmlich sehen, wie ihr Herz in Tausende Scherben zerbrach und sie folglich fast den Halt unter den Füßen verlor.

Das ist nicht wahr…“, erwiderte sie und schüttelte energisch den Kopf.

Doch, ist es.“, beharrte ich. „Ich will dich nicht in meinem Leben haben.“

Es vergingen ein paar Sekunden in Stille, in der sie verzweifelt versuchte, meine Worte zu verarbeiten.

Verstehe…“ Sie zwang sich ein Lächeln voller Schmerz auf. „Letztlich wäre ich wohl nie gut genug für dich gewesen, was?“

Korrekt.“, bestätigte ich. Das war das, was sie meinetwegen glauben sollte. Ich schaute sie eine Weile schweigend an. Beobachtete, wie die Tränen unaufhörlich über ihre Wangen strömten und fragte mich, was um aller Welt ich angerichtet hatte. Ich glaubte, dass sogar ein Mord nichts im Vergleich zu dem war, was mein Verhalten und meine Worte soeben in ihr ausgelöst hatten. Sie sollte mich am besten so schnell wie möglich vergessen.

Geh jetzt. Und komm nie wieder her.“, riet ich ihr und ließ es wie einen Befehl klingen.

Okay…“, antwortete sie heiser. Ihre Miene war vollkommen leer, als sie sich von mir wegdrehte und bis zur Tür ging. Dort angekommen sagte sie zu mir: „Mir war seit unserer ersten Begegnung klar gewesen, dass du ein besonderer, vielleicht auch etwas komplizierter Mensch bist… und ich daher deinen Ansprüchen niemals gerecht werden könnte, egal wie sehr ich mich bemüht hätte. Ich habe gewusst, dass ich mich besser nicht in dich verlieben sollte. Dass du mich ablehnen würdest, weil du schon immer eine kaltherzige Seite an dir hattest, mit der ich manchmal nicht zurechtgekommen bin… Aber ich hatte Hoffnung. Hoffnung, dass du meine Liebe vielleicht doch erwidern würdest. Und auch wenn du das jetzt noch nicht kannst, wünsche ich mir dennoch, dass dieser Tag kommen wird und du anfängst du begreifen, wie wichtig du mir wirklich warst. Leb wohl…“

Danach ging sie fort. Das war das letzte Mal, dass ich sie lebend gesehen habe. Und hätte ich das in diesem Moment gewusst, hätte ich sie womöglich aufgehalten. Monatelang hörte ich nichts von ihr. Lebte mein Leben, als hätte es sie nie gegeben, während ich zugleich hoffte, dass sie dasselbe tat. Ich ahnte nicht, wie sehr ich mich diesbezüglich irrte und dass die bittere Strafe für meine Entscheidung schon so gut wie in meiner Tür stand. Wortwörtlich.

Denn als ich eines Morgens nach draußen gehen wollte, stand vor meinen Füßen plötzlich ein geflochtener Korb, versehen mit ihrem roten Schal und drinnen befand sich ein schlafender Säugling. Ich traute meinen eigenen Augen nicht.

Den beigelegten Brief las ich erst gar nicht, sondern stellte den Korb vorerst in den Flur und machte mich sofort auf dem Weg zu ihrer Wohnung. Aber ich kam zu spät.

Von Weitem sah ich, dass direkt vor ihrem Wohnblock eine größere Menschenmasse versammelt war und jeder von ihnen auf dieselbe Stelle zu starren schien. Stutzig näherte ich mich dem Geschehen, wobei ich schockierte Worte wie: „Sie ist tot!“ und „Ist sie etwa von da oben runtergesprungen? Wie schrecklich!“ erhaschte. Mir wurde schwindelig. Ich hielt das Ganze für einen Albtraum. Bahnte mir einen Weg durch die Menschenmasse, bis ich sie schließlich liegend auf dem Bürgersteig erblickte. Zweifellos tot. Ihre silbernen Haare waren blutgetränkt. Sie trug eines ihrer Lieblingskleider, welches längst zu groß für ihren abgemagerten Körper wirkte. Das war nicht mehr die Alice, die ich gekannt hatte. Erst da realisierte ich vollständig, wie sehr ich ihr wirklich weh getan hatte. Dass das vor meinen Augen nur meinetwegen passiert war. Und dass ich es hätte verhindern können, wenn ich rechtzeitig den Weg zu ihr zurück gesucht oder sie gar nicht erst abgewiesen hätte.

Mein Mund öffnete sich. Ich wollte schreien. Aber mir entwich kein einziger Ton. Ich stand nur reglos am Fleck, während ich innerlich darauf wartete, dass das Bild vor meinen Augen verschwand und ich aufwachte. Doch nichts änderte sich.

Kennen Sie diese Frau?“, fragte mich jemand. Die fremde Stimme holte mich langsam wieder zurück in die Realität. Ich entspannte meine Haltung und antwortete tonlos mit einem „Nein.“, bevor ich mich umdrehte und ging.

Zuhause angekommen stellte ich fest, dass der Säugling aufgewacht war und schrie, als würde er es bereits wissen. Ich stand mindestens eine Stunde reglos im Flur und suchte in Gedanken nach einer Lösung, was ich mit diesem Kind anstellen sollte. Auf dem beigelegten Brief stand unter anderem, dass es den Namen Jin trug. Mir kam als Erstes in den Sinn, dass ich es einfach in ein Waisenhaus oder an einen ähnlichen Ort bringen könnte. Doch da drängte sich der idiotische Gedanke in meinen Kopf, dass ich Alice somit auch im Jenseits noch ein zweites Mal das Herz brechen würde. Offensichtlich hatte sie gewollt, dass das Kind bei mir blieb. Und daher beschloss ich, ihr zumindest diesen letzten Willen zu erfüllen. Auch wenn ich dieses Kind nicht wollte und es in gewissermaßen als eine Strafe betrachtete, mit der ich nun im Leben zurechtkommen musste, weil ich Alices Leben auf dem Gewissen hatte.

Umso älter das Kind wurde, desto mehr realisierte ich, wie sehr ich es wirklich nicht wollte. Ich konnte ihm nicht mal in die Augen schauen. Weil es meine eigenen Augen waren, die mich jedes Mal wieder hilflos angeschaut und sich nach meiner Aufmerksamkeit gesehnt hatten. Egal, wie oft ich ihm erzählt habe, dass seine echten Eltern tot sind, redete er mich dennoch ständig mit ‚Vater‘ an, wofür ich ihn immer wieder anschrie und zum Weinen brachte.

Sogar einen anderen Nachnamen habe ich ihm gegeben, um zu verhindern, dass er später Nachforschungen über seine Herkunft anstellen könnte. Die Erziehung habe ich weitestgehend einer alten Bekannten von mir überlassen. Sharon Vineyard, eine sehr berühmte Schauspielerin, die ihre Karriere nur sehr ungern wegen eines fremden Kindes unterbrochen hatte. Sie tat es nur aus dem Grund, weil ich ihr im Gegenzug einen kleinen Teil des ewigen Lebens versprochen hatte, damit sie ihre verlorenen Jahre wieder aufholen könnte. In Wirklichkeit gab ich ihr nur eine Billigkopie aus meinem Labor, welches den Körper lediglich einmal verjüngert und den Fluss der Zeit nicht vollständig anhält. Aber das hat sie nie herausfinden können, da sie schließlich erst vor Kurzem das Zeitliche segnete.

Dank ihrer Hilfe war es mir möglich, mich die meiste Zeit über von dem Kind fernzuhalten, auch wenn das nicht immer funktionierte und es ab und zu danach verlangte, mich zu sehen. Abgesehen davon machte Sharon ihre Aufgabe sehr gut. Schon nach kurzer Zeit liebte sie Jin wie einen eigenen Sohn.

Doch je älter er wurde, desto mehr wuchs diese Liebe weit über die einer normalen Mutter-Sohn-Beziehung hinaus. Ich habe es ignoriert, da Jin sie nie wirklich als seine Mutter betrachtet hatte. Er hat sie nicht einmal mit ‚Mutter‘ angesprochen und sich meist mit ihr gestritten, wodurch ich recht schnell mitbekam, dass er sie eigentlich überhaupt nicht ausstehen konnte. Das änderte sich auch nicht, als Sharon ihre Identität auswechselte und als ihre „Tochter“ namens Chris zurückkam, nachdem ich ihr wie versprochen die Billigkopie des Elixiers gegeben hatte.

In der Schule war Jin größtenteils allein. Ich kann mich zumindest nicht daran erinnern, dass er jemals einen Freund oder eine Freundin mitgebracht hat. Auch Sharon hat mir nie so etwas erzählt. Sie beschwerte sich nur oft über sein stures Verhalten und meinte einmal zu mir, dass er weitaus weniger anstrengend wäre, wenn ich mehr Zeit mit ihm verbringen würde. Aber das nahm ich mir anfangs nicht zu Herzen, sondern fing erst sehr viel später mit kurzen Gesprächen an, um mich langsam an ihn zu gewöhnen. Ich habe stets darauf geachtet, nie eine enge Beziehung zu ihm aufzubauen. Das wollte ich nicht. Er sollte nie die Wahrheit erfahren. Doch letztlich konnte ich es nicht ewig vor ihm geheim halten. Sharon hatte damals wohl recht gehabt, als sie einst zu mir sagte: „Du kannst es zwar weiterhin leugnen, doch er spürt es trotzdem. Er spürt diese ganz persönliche Bindung zu dir. Eine Bindung, die nur Vater und Sohn zueinander haben können. Glaub mir, er wird es eines Tages herausfinden und es gibt nichts, was du dagegen tun kannst.“

 

Nach diesen Worten verstummte Renya Karasuma. Rye schwieg ebenso noch für eine Weile, während er das Erzählte auf sich wirken ließ und den Boss nachdenklich betrachtete. Nie hätte er gedacht, dass er in einer kurzen Zeit je so viel über ihn erfahren würde. Und das als Einziger.

Zwar war Rye über dieses Privileg erfreut, doch die Geschichte an sich löste eher gemischte Gefühle in ihm aus. Ein wenig konnte er das Verhalten und die Entscheidung des Mannes nachvollziehen. Aber da gab es auch einiges, was er nicht verstand oder einfach für unverzeihlich hielt. Er fühlte einen Schmerz in der Brust, wenn er an Gins Mutter zurückdachte, welche so ein Ende niemals verdient hatte. Sie war noch so jung gewesen, als sie ihrer Liebe zu diesem kaltherzigen Menschen zum Opfer gefallen war. Hatte nie miterleben können, wie ihr eigener Sohn heranwuchs und was letzten Endes aus ihm wurde. Wobei sich Rye sicher war, dass Gin nicht derselbe wäre wie jetzt, wenn seine Mutter ihn nicht allein gelassen hätte. Gewiss war das nicht ihre Absicht gewesen. Wahrscheinlich war es so, wie der Boss gesagt hatte: Sie hatte sich wohl einfach überfordert gefühlt. Ein Kind allein großzuziehen und das ohne ausreichendes Einkommen war schon eine Herausforderung, die nicht jeder allein bewältigen konnte. Noch dazu hatte der Liebeskummer vielleicht dazu beigetragen, dass es ihrer Psyche noch schlimmer ergangen war. Rye würde es deswegen keinesfalls wagen, sie für irgendwas zu verurteilen.

Diese Frau namens Sharon allerdings schon, bei welcher es sich zweifellos um Vermouth handeln musste. Das würde auch erklären, warum sie damals so seltsam reagiert hatte, als Rye in Erfahrung bringen wollte, ob sie und Gin Kindheitsfreunde seien. Sie hatte den Silberhaarigen offensichtlich nicht deshalb so gut gekannt, sondern weil sie so etwas wie seine Ersatzmutter gewesen war. Allerdings schien Gin keinen blassen Schimmer zu haben, dass es sich bei Vermouth und Sharon um dieselbe Person handelte. Wahrscheinlich ging er davon aus, dass Vermouth die Tochter von Sharon war und den Namen Chris trug. Denn würde er es wissen, hätte er damals nie mit ihr geschlafen. Inzwischen kam Rye die Vorstellung noch widerlicher vor und plötzlich wünschte er sich, diese Frau noch ein zweites Mal umbringen zu können. Auf eine noch brutalere Weise, wie sie es für ihre Tat verdient hätte.

Seinen Ärger ließ sich Rye vor dem Boss nicht anmerken. Gedanklich versuchte er sich passende Worte zurechtzulegen, doch es gelang ihm nicht.

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll…“, begann er schließlich. Der Ältere warf ihm ein ironisches Lächeln zu.

„Es ist egal, was du sagst. Es ändert nichts mehr.“, antwortete er kalt, wobei Rye ihm nicht zustimmte. Für manche Dinge war es noch nicht zu spät, etwas zu ändern. Besonders, was das Verhältnis zwischen dem Boss und Gin betraf.

Sobald Gin nicht mehr in der Organisation ist, wird sich ihr Verhältnis ohnehin verändern. Dann kann der Alte ihm theoretisch keine Befehle mehr erteilen, weil Gin dann nicht mehr für ihn arbeitet. Vielleicht könnten sie wenigstens versuchen, wie Vater und Sohn zueinander zu stehen. Aber die Chance, dass das passiert, ist wohl sehr gering… dieser sture, alte Mann würde das nie wollen…“, verfiel Rye in Überlegungen. Doch auch wenn die Chancen schlecht standen, wollte er zumindest versuchen, den Boss zu überzeugen.

„Sie sollten Gin im Krankenhaus besuchen. Er braucht jemanden an seiner Seite, wenn er wieder bei Bewusstsein ist.“, schlug er vor, woraufhin sein Gegenüber ihn zuerst ungläubig ansah, bevor er mit einem gequälten Gesichtsausdruck auf seine Hände schaute.

„Ich glaube nicht, dass er mich noch sehen will.“

„Sie sind sein Vater.“, erinnerte der Schwarzhaarige ihn. Aber es war zwecklos.

„Kinder können ihre Väter auch hassen. Und er hat allen Grund dazu.“

„Deswegen sollten Sie mit ihm reden.“

Stille. Rye bekam keine Antwort mehr darauf. Er konnte auch nicht erkennen, ob der Boss es wirklich tun würde oder nicht. Letztlich lag die Entscheidung bei ihm. Und auch bei Gin, ob er seinem Vater wirklich verzeihen würde, wenn dieser ihn darum bat. Vermutlich würde weder das eine noch das andere passieren. Nichtsdestotrotz war es langsam an der Zeit, das Thema zu wechseln.

„Im Übrigen gibt es da noch etwas, was Sie wissen sollten.“, sagte Rye. Der Boss hob seinen Blick wieder.

„Das wäre?“

„Eclipse wollte von Gin dieses Elixier des ewigen Lebens. Ich weiß nicht, ob…“ Rye ließ den Satz in der Luft hängen. Die Forderung von diesem Connor bereitete ihm große Sorgen. Zwar hoffte er, dass Eclipse Gin in Ruhe lassen würde, wenn er ihn verließ, aber eine Garantie gab es dafür nicht. Und bevor er die nicht hatte, konnte er seinen Geliebten nicht sich selbst überlassen und somit riskieren, dass ihm erneut etwas zustieß.

„Warum von ihm?“, hakte der Boss skeptisch nach.

„Dieser Connor hat gesagt, Gin könnte es von Ihnen besorgen. Weil ihr euch doch so nah steht.“ Der Sarkasmus in Ryes Stimme war nicht zu überhören, was der Boss mit einem abfälligen Lächeln erwiderte.

„Dieser Schuft. Ihm fällt auch immer wieder irgendwas Neues ein.“

„Ich habe Angst, dass sie Gin diesbezüglich nochmal belästigen werden…“, äußerte Rye seine Befürchtung. Scheinbar war dieser Connor sehr kreativ, wenn es darum ging, das Elixier des ewigen Lebens in seine Hände zu bekommen. Zum Glück war alles bisher erfolglos gewesen.

„Das brauchst du nicht. Ich kümmere mich zeitnah darum.“, meinte der Boss beschwichtigend, womit er Ryes Zweifel nicht komplett vertreiben konnte.

„Sind Sie sich sicher? Was, wenn Eclipse ihn als Druckmittel verwenden wird?“, fragte er, auch wenn er bereits ahnte, dass eine solche Methode dem Boss nichts ausmachen würde. Das bestätigte vor allem dessen Antwort.

„Connor geht davon aus, dass das Elixier für mich oberste Priorität hat. Außerdem habe ich dir doch bereits gesagt, dass ich mich nicht erpressen lasse.“

„Aber-“

„Ich weiß deine Sorgen zu schätzen. Doch du kannst das ruhig mir überlassen. Gin passiert schon nichts mehr.“, versprach er. Wie er dieses Versprechen allerdings plante umzusetzen, war Rye ein Rätsel.

„Ich würde mir auch keine Sorgen machen, wenn sie nicht dazu in der Lage wären, genügend andere Kreaturen wie mich zu erschaffen… Zwar habe ich fast alle, die mir in die Quere gekommen sind, vernichtet… doch was hält sie davon ab, nicht noch mehr zu erschaffen?“ Die Antwort war in seinen Augen ganz einfach: Nichts. Rein gar nichts würde Eclipse davon abhalten. Wenn sie wollten, könnten sie in wenigen Tagen eine ganze Invasion von Vampiren auf die Menschheit loslassen. Doch der Boss schien sich über solch ein Szenario keinerlei Gedanken zu machen. Er wirkte noch immer vollkommen gelassen.

„Das ist nicht ihr Ziel. Sie wollen vollkommene, unsterbliche Vampire. Und um die zu erschaffen, brauchen sie das Elixier. Wahrscheinlich haben sie das Gift nur an andere Mitglieder getestet, um genügend Leute zu haben, die es mit dir aufnehmen können. Genau aus diesem Grund solltest du dich in Zukunft lieber im Hintergrund halten und nichts tun, was ihre Aufmerksamkeit erneut auf dich ziehen könnte. Es ist wichtig, dass du dich auf keinen Fall nochmal von ihnen finden lässt, geschweige denn ihnen einen Hinweis auf deinen Aufenthaltsort gibst. Verstehst du das?“, erklärte er mit einem warnenden Unterton in der Stimme, was für Rye zwar halbwegs einleuchtend klang, jedoch dessen Sorgen nicht fortspülte.

„Ich kann mein Bestes versuchen. Dennoch ist diese Organisation eine zu große Bedrohung, um sie weiterhin bestehen zu lassen. Sie sollten vernichtet werden, zusammen mit allen Aufzeichnungen, die über dieses seltsame Gift existieren.“, schlug er vor. Doch wer wäre dazu imstande? Wahrscheinlich niemand. Auch nicht Renya Karasuma, denn sonst wäre das wohl schon längst geschehen.

„Du könntest es tun.“, meinte dieser plötzlich. Das konnte unmöglich sein Ernst sein. So sehr Rye Eclipse auch auslöschen wollte, wäre er dazu schlichtweg nicht in der Lage. Er hatte schon mit vier Vampiren Probleme gehabt. Mehr wären definitiv zu viel für ihn. Zumal er nicht einschätzen konnte, welche Art von Waffen Eclipse noch besitzen könnte. Vielleicht waren sie noch furchterregender, als es sich Rye in seinen Albträumen je vorgestellt hatte.

„Dafür bin ich wirklich nicht stark genug…“, gestand er. Für den Boss schien das eine billige Ausrede zu sein.

„Das kannst du sagen, nachdem du gescheitert bist.“

Die Worte sollten Rye womöglich Mut zusprechen, allerdings brachten sie ihn eher auf den Gedanken, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit gar nichts mehr sagen könnte, wenn er scheiterte. Da er dann wahrscheinlich nicht mehr existieren würde.

„Ich weiß nicht mal, wo sich ihr Stützpunkt befindet.“, fiel ihm zudem ein. Zwar waren ihn einige Räumlichkeiten von der Einrichtung bekannt, aber deswegen wusste er noch lange nicht, wie er überhaupt zu Eclipse gelangen sollte. Und ein Gefühl verriet ihm, dass er das auch vor seinem Gedächtnisverlust nicht gewusst hatte.

Ich war… verloren…“

Ein Grinsen erschien im Gesicht des Bosses, bevor er entgegnete: „Es ist auch nahezu unmöglich, diese Insel zu finden. Sie ist in keiner Karte eingezeichnet und besitzt nicht einmal Koordinaten. Faktisch gesehen könnte man davon ausgehen, dass sie gar nicht erst existiert. Und selbst wenn du es schaffen würdest, in die Nähe zu gelangen, würden sie dein Fortbewegungsmittel innerhalb weniger Sekunden auslöschen.“

„Und wenn ich-“

„Auch ohne würden sie dich sehr schnell bemerken.“, fiel er Rye ins Wort und machte somit dessen Idee zunichte, bevor er sie überhaupt hatte aussprechen können. Er runzelte verwirrt die Stirn.

„Und wie soll ich es dann je mit ihnen aufnehmen können?“, wollte er wissen. Wenn er sie nicht finden konnte, sondern zuerst von ihnen gefunden werden musste, wäre wirklich alles vollkommen hoffnungslos und zu spät.

„Indem du dich klüger anstellst und dir eine andere Möglichkeit ausdenkst, auf diese Insel zu kommen.“, schoss der Boss in strenger Tonlage zurück. Rye schwieg eine Weile und ließ sich das Ganze durch den Kopf gehen. Klüger? Wie? Und welche anderen Möglichkeiten gab es? Während er nach Antworten suchte, wurde ihm schon nach kurzer Zeit klar, dass es keine Rolle spielte. Denn selbst wenn er eine Möglichkeit fand, würde er sie niemals umsetzen, weil…

„Aber das willst du nicht, hab ich recht? Du läufst lieber davon. Weil du Angst vor dem hast, was vor deinem Gedächtnisverlust passiert ist. Du hast Angst vor den Fehlern, die du gemacht haben könntest.“

Ein eiskalter Schauer kroch über Ryes Rücken. Es war die Wahrheit. Er hatte eine furchtbare Angst vor dem, was vor seinem Gedächtnisverlust passiert war. Bestimmt hatte er viele Menschen im Stich gelassen. Er musste an die beiden Gestalten aus seinem letzten Traum denken, die wahrscheinlich noch immer in Eclipse gefangen oder längst tot waren. Ein Teil in ihm wollte diese Menschen retten, doch ein anderer Teil weigerte sich auch nur einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden. Denn da hatte es nicht nur Menschen gegeben, die ihm wichtig gewesen waren. Sondern auch Menschen, die ihm Schaden zugefügt hatten. Folter. Schikane. Intrige. Seine Albträume hatten ihm genug Hinweise darauf geliefert, was er schon alles hatte durchleiden müssen. Tagtäglich. So vieles war verboten gewesen. So viele Regeln hatte er gebrochen. So viele Strafen hatte er ertragen müssen. Ryes Kopf fing an, schmerzhaft zu pochen.

„Ich… werde niemals dorthin zurückkehren können…“, sagte er leise und fasste sich an die Stirn. Es war besser, wenn er die Erinnerungen nicht weiter heraufbeschwor. Sie sollten für immer in ferner Dunkelheit in Vergessenheit bleiben.

„Deine Entscheidung.“, antwortete der Boss schulterzuckend. Dessen Gleichgültigkeit verstand Rye nicht. Vielleicht war er es inzwischen nicht anders gewohnt und hatte gelernt, mit Eclipses Machtaufstieg zu leben. Doch warum schaute er nur zu?

„Und was ist mit Ihnen? Können Sie nichts tun?“, fragte Rye.

„Mein Labor ist nicht in die Richtung ausgestattet, irgendwelche Mittel zu entwickeln, die Menschen in übernatürliche Wesen verwandeln. Ich habe das bewusst immer abgelehnt, weil ich Eclipses Ideologie zutiefst verabscheue. Selbst als Menschen sind die Leute, die dort arbeiten, nicht zu unterschätzen.“ Die Stimme des Bosses war voller Abscheu. Doch das Gesagte weckte neues Interesse in Rye.

„Was für Leute denn?“, hakte er nach.

„Unterschiedlich. Die meisten klugen Köpfe haben sie sich mit hohen Geldsummen erkauft. Bei ihren Wissenschaftlern handelt es sich oftmals um Menschen, die von ihrer Forschungsgesellschaft ausgegrenzt und verspottet wurden. Finanziert wird das Ganze größtenteils von einflussreichen Personen, die ebenfalls von ihrer Ideologie überzeugt sind und ihre Projekte dementsprechend unterstützen wollen. In der Öffentlichkeit selbstverständlich unter einem anderen Vorwand.“, erklärte der Boss, wobei Ryes Augen vor Erstaunen groß wurden. Das waren tatsächlich interessante Informationen. Scheinbar steckte noch viel mehr dahinter, als er gedacht hatte.

„In der Öffentlichkeit? Eclipse ist doch soweit ich weiß nur in der Unterwelt bekannt.“ Zumindest hatte Rye sonst noch nie etwas außerhalb der Unterwelt von Eclipse gehört. Der Boss nickte ihm zu und erwiderte tonlos: „Das stimmt. Die Öffentlichkeit kennt Eclipse jedoch unter dem Namen Liva Jaula. Ein Hilfswerk, welches es sich zur Aufgabe gemacht hat, Waisenkindern und Obdachlosen ein Zuhause zu geben und sie nach langer Vorbereitung wieder in die Arbeitswelt einzugliedern.“

Unmittelbar darauf durchfuhr Rye ein Stich und seine Kopfschmerzen verschlimmerten sich. Irgendwie war ihm auf einmal so, als hätte er diese Information nicht zum ersten Mal gehört.

Liva Jaula… schützender Käfig… es war… wie ein Gefängnis…“, kreisten seine Gedanken. Er kniff die Augen zusammen.

„Schätze, du hast wohl zu einer der beiden Gruppen gehört. Diese in ihren Augen minderwertigen Menschen benutzen sie für ihre Forschungsprojekte. Wie genau das aber abläuft, weiß ich nicht.“, fuhr der Boss fort. Rye versuchte die Worte auszublenden. Er durfte nicht weiter nachhaken. Noch mehr und die Erinnerungen würden womöglich auf ihn einstürzen.

„Verstehe. Trotzdem danke für die Informationen.“

„Würdest du dich erinnern, wären diese Informationen nicht neu für dich.“

„Vermutlich…“, stimmte Rye dem Älteren zu. „Aber ich werde mich nicht erinnern. Nie mehr.“

Sein Leben in Eclipse war Geschichte. Eine Geschichte, dessen Buch zu Ende geschrieben war und dessen Seiten er verbrannt hatte. Er sollte nicht weiter in der verbliebenen Asche wühlen.

„Bevor ich das auch noch vergesse… könnten Sie das hier Gin bitte zurückgeben, wenn Sie ihn im Krankenhaus besuchen?“ Er trat an den Schreibtisch des Bosses und überreichte ihm Gins beschädigtes Smartphone. Eigentlich hätte Rye es ihm selbst zurückgeben können, aber dann würde der alte Mann keinen Grund haben, dem Silberhaarigen einen Besuch abzustatten.

Der Boss musterte das Gerät ein paar Sekunden, bevor er nachdenklich die Augen verengte und es beiseitelegte. „Vielleicht.“

Rye lächelte ihn schelmisch an. Er war gespannt, ob sein Gegenüber Gin wirklich besuchen und mit ihm reden würde. Vielleicht würde er das noch erfahren, bevor er ging.

„Ich schätze, das ist dann wohl das letzte Mal gewesen, dass wir uns sehen.“, meinte er im gespielt bedauerlichen Tonfall. Der Boss warf ihm ebenfalls ein kurzes Lächeln zu und antwortete: „Und das ist auch gut so.“

„Finde ich auch.“ Wahrscheinlich würden sie einander niemals vermissen. Aber dennoch wollte Rye mit seinem Abschied noch etwas Wichtiges loswerden: „Leben Sie wohl, Renya Karasuma. Ich möchte Ihnen für alles danken, was Sie trotz Ihrer Abneigung gegen Vampire für mich getan haben. Ich werde die Zeit in Ihrer Organisation für den Rest meines Daseins in guter Erinnerung behalten.“

Das war vollkommen ehrlich gemeint. Er würde seine Erlebnisse in dieser Organisation niemals vergessen. Vor allem würde er Gin niemals vergessen. Seine Liebe zu ihm würde bis zu seinem endgültigen Todestag bestehen. Egal, wie weit sie voneinander entfernt wären.

„Es ist ein bisschen zu spät für solche Schmeicheleien, meinst du nicht?“, erwiderte der Boss zwar im ironischen Ton, doch Rye sah ihm an, dass er den Worten Glauben schenkte.

„Schon, aber besser spät als nie.“ Rye entfernte sich vom Schreibtisch und ging zur Tür. Dort angekommen, drehte er sich ein letztes Mal um und fügte hinzu: „Bitte halten Sie Ihr Versprechen ein.“

„Natürlich.“, schwor der Boss, bevor auch er sich verabschiedete: „Leb wohl, Rye. Ich bin gespannt, wo dein neuer Weg dich hinführen wird.“

„Ich auch…“, flüsterte Rye kaum hörbar, während er die Klinke herunterdrückte und das Büro von Renya Karasuma für immer verließ.



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