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The Monster inside my Veins

von

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Der Wert eines Lebens

„Das wurde auch mal langsam Zeit, 12.“

Rye ging in Angriffsstellung und bleckte die Zähne. Er musterte jeden der Typen genau und versuchte sie dabei alle gleichzeitig im Blick zu behalten. Leider versperrten sie ihm gerade die Sicht zu Gin. Wohl mit Absicht. So war es ihm nicht möglich, dessen Verletzungen richtig einzuschätzen. Auf dem Foto schien das Ausmaß dieser noch nicht so schlimm gewesen zu sein, doch das hatte sich in der Zwischenzeit offensichtlich geändert. Zwar sah Rye kein Blut, aber ein leichter Geruch der verführerischen Flüssigkeit hing bereits in der Luft. Diese Mistkerle mussten Gin an weniger auffälligen Stellen verletzt haben. Mindestens ein Knochen seines rechten Beins war jedenfalls schon gebrochen. Wenn er nur den Hauch einer Sekunde später gekommen wäre…

„Ganz ruhig. Wir können das hier durchaus friedlich miteinander klären.“, sprach einer. Rye konnte seine Wut kaum noch im Zaun halten. Doch er war auch innerlich erschüttert. Fast glaubte er, dass er sich gerade wieder mal in einem seiner Albträume befand. Er wollte einfach nicht wahrhaben, dass das hier wirklich die Realität war. Dass Eclipse ihn gefunden hatte und er gerade von seinesgleichen umgeben war.

Ich hätte es wissen sollen… von Anfang an war es so voraussichtlich gewesen, dass dieser Tag kommt… und nur weil ich die Möglichkeit, dass sie mich finden, stets verdrängt habe, konnte ich nicht rechtzeitig reagieren und habe Gin wieder einmal in Lebensgefahr gebracht… Wie soll ich uns beide nur heil wieder aus dieser Situation rausbringen? Was soll ich tun?“ Verzweifelt suchte Rye nach einer Lösung, während er äußerlich den Unnahbaren mimte und nur seine Wut offen zeigte.

„Dafür ist es zu spät.“, stieß er hervor. Das war es schon seit sie sich dazu entschlossen hatten, Gin zu benutzen, um ihn aus der Reserve zu locken. Niemals würde Rye ihnen das verzeihen. Er würde sie alle in Stücke reißen. Sie sollten brennen und elendig in der Hölle schmoren.

„Ach so? Sag nicht, du bist sauer wegen deiner süßen Prinzessin? Das kann dir doch eigentlich auch egal sein. Schließlich hast du-“

„Schnauze!“, unterbrach Rye den Kerl mit zornentbrannter Stimme. „Er hat nichts damit zu tun!“

Dieser sah ihn daraufhin nur unbeeindruckt an, bevor er erwiderte: „Damit liegst du nicht ganz richtig. Du konntest dir doch denken, dass dein kleiner Ausflug in die Freiheit nicht von langer Dauer sein wird. Trotzdem hast du dich ihm genähert und ihn in unser kleines Geheimnis eingeweiht. Indem du die ganze Zeit über bei ihm gewesen bist, hast du ihn automatisch der Gefahr ausgesetzt, dass wir euch eines Tages zusammen finden werden. Und natürlich machen wir uns deinen verwundbarsten Punkt zunutze. Alles andere wäre nicht sonderlich effektiv, um dir bewusst zu machen, was du angerichtet hast und was du dir vor allem selbst zuzuschreiben hast. Dein Verrat muss und wird entsprechend bestraft werden.“

Nach dieser Erklärung ließ er seinen Blick kurz zu Gin schweifen und fügte in amüsierter Tonlage hinzu: „Ich muss schon sagen, du hast wirklich einen sehr speziellen Männergeschmack.“

Rye wusste nicht, was er sagen oder wie er reagieren sollte. Schock und Entsetzen schlugen nahezu mit der Wucht einer Flutwelle über ihm zusammen. Er wollte den Worten widersprechen. Es abstreiten. Doch er konnte nicht. Denn sie waren wahr. All das Leid und die Schmerzen, die Gin hatte erfahren müssen, waren einzig und allein ihm verschuldet. Er war die Ursache aller Probleme.

Wenn ich mich damals von ihm ferngehalten hätte, wäre Eclipse niemals auf ihn aufmerksam geworden. Ich habe ihm immer nur Unglück gebracht. Und wenn das so weiter geht, werde ich ihn irgendwann noch ins Verderben stürzen…“

Sein totes Herz zerbrach bei dieser Erkenntnis. Plötzlich verloren seine gemeinsamen Erinnerungen mit Gin restlos an Bedeutung. Seine Liebe zu ihm verlor an Bedeutung. Es hätte niemals so sein dürfen…

Ich hab sein Leben ruiniert… ihn mehrmals fast getötet… ich verdiene es nicht länger an seiner Seite zu sein… nie wieder…“ Seine Lippen bebten stumm. Ihm wurde kalt. So unerträglich doll kalt. Er konnte sich kaum noch auf das Gespräch konzentrieren, welches der blonde Kerl nun von selbst fortführte.

„Um zurück zum eigentlichen Thema zu leiten… Ich frage dich geradeheraus: Bist du willig mit uns zurückzukommen, 12?“

Rye versuchte sich aus dem Dunst der Verzweiflung zu befreien und antwortete noch leicht abwesend: „Warum sollte ich?“

Es gab keinerlei Gründe, warum er zurückkehren sollte. Eclipse hatte ihm alles genommen. Sein Leben. Seine Persönlichkeit. Seine Erinnerungen. Sogar seinen Namen hatten sie ihm gestohlen und durch eine bedeutungslose Nummer ersetzt. Und jetzt wollten sie ihm auch noch den letzten Sinn seiner Existenz wegnehmen. Auf keinen Fall würde er nochmal einen Fuß in diese Organisation setzten. Wie auch immer das beim ersten Mal hatte passieren können.

„Weil du zu uns gehörst. Dein Platz ist in Eclipse. Das hast du dir selbst ausgesucht.“, antwortete der Mann tonlos. Rye glaubte ihm nicht und schüttelte den Kopf. Das war gelogen. Kompletter Unsinn. Niemals hätte er das selbst so für sich entschieden.

„Hab ich nicht…“, bestritt er leise.

„Natürlich hast du das. Der Boss ist sicherlich bereit dazu, über deinen Verrat hinwegzusehen, wenn du ihn aufrichtig um Vergebung bittest und ihm von Neuem deine Loyalität schwörst. Ich gebe das nur ungern zu, doch du scheinst dir offenbar nicht darüber im Klaren zu sein, wie kostbar du für uns bist. Du bist eine Sensation. Der erste Erfolg von jahrzehntelangen Forschungen. Dieses Privileg steht sonst niemandem außer dir zu. Du solltest es wertschätzen.“

„Wertschätzen?“ Rye wurde umgehend erneut von einer Wutwelle erfasst. „Ihr habt ein Monster aus mir gemacht!“

Der Kerl schien nicht nachvollziehen zu können, wie er das gemeint hatte und legte verwirrt den Kopf schräg.

„Monster? Nein. Wir haben aus dir ein übergeordnetes Wesen gemacht, welches dem Menschen mit all seinen Fähigkeiten um Längen voraus ist. Das ist der Höhepunkt der Evolution, 12. Der Anfang einer neuen, besseren Welt. Das Tier mit dem Namen Mensch wird nicht länger an der Spitze der Nahrungskette existieren. Komm mit uns zurück und erlebe, wie diese Welt in all ihren Farben aufblühen wird.“

Rye hörte dem Gerede aufmerksam zu, wobei der Zorn in seinem Inneren immer größer wurde und er sich kaum noch beherrschen konnte, ruhig zu bleiben. Nie würde er das, was er war, aus dem gleichen Blickwinkel betrachten, wie diese Kerle es scheinbar taten. Eine Welt voll von Vampiren war für ihn keine neue, bessere Welt. Es war eine Schreckensvision, die unter keinen Umständen wahr werden durfte. Er würde das mit allen Mitteln zu verhindern suchen.

„Ich scheiß auf diese neue Welt! Ich komme nicht mit euch zurück, niemals, verstanden?! Und ich werde euren Boss auch nicht um Vergebung bitten!“, sprudelte es unkontrolliert aus ihm heraus. Seine Grenze war überschritten. Er wollte das hier einfach nur noch beenden und die Existenz dieser elendigen Biester restlos auslöschen, bevor er mit Gin von diesem Ort verschwinden würde.

Die Atmosphäre im Gang schien sich mit seinem letzten Wort schlagartig zu verändern. Eine Weile herrschte eine drückende, angespannte Stille. Die Gesichter seiner Gegner wurden ernster. Er konnte den Hass auf sich deutlich in ihren kalten Augen spüren. Den Willen, ihn ebenso zu zerstören. Schließlich sprach der Blonde im bedauernden Tonfall: „Verstehe, wenn das so ist… müssen wir dich leider beseitigen.“

In der nächsten Sekunde gingen sie auf Rye los. Sie waren schnell. So viel schneller als Menschen. Doch er konnte jede ihrer Bewegungen haargenau abschätzen. Jeden ihrer Schritte mit den Augen verfolgen. Und so auch rechtzeitig reagieren und einen von ihnen mitten im Sprung rammen, bevor er den Kerl packte und zur Seite warf, sodass er aus dem Kreis ausbrechen konnte und den Rücken wieder frei hatte.

Kaum stand er wieder, griffen sie ihn erneut an. Rye versuchte auszuweichen, jedoch schnitt ihm jemand den Weg ab und trat mit voller Wucht gegen seinen Rücken. Er verlor den Halt und rollte über den Boden, bis er an eine Glastür am anderen Ende des Flurs knallte. Blitzschnell richtete er sich auf. Allerdings nicht schnell genug. Einer der Kerle schaffte es, seinen Hals zu ergreifen und ihn mehrmals mit dem Kopf gegen die Tür zu schlagen, wobei er das knackende Geräusch von Glas hinter sich vernehmen konnte. Zwar fühlte er keinen Schmerz, bemerkte jedoch, dass sein Kopf immer mehr nach oben gedrückt wurde, als würde man diesen von seinem Hals trennen wollen.

Rye spreizte seinen Mittel- und Zeigefinger zu einer Schere und versuchte seinem Gegenüber die Augen auszustechen. Dieser kniff rechtzeitig die Augen zu, war aber von dem Angriff ausreichend abgelenkt, dass Rye ihn von sich wegstoßen konnte. Nur um daraufhin von zwei anderen den Weg versperrt zu bekommen. Doch es waren insgesamt nur drei. Es müssten vier sein. Er hatte den Vierten aus den Augen verloren.

Rye versuchte die Wegsperre zu durchbrechen, woraufhin er erschrocken feststellen musste, dass der vierte Kerl mit den schwarzen Haaren noch am gegenüberliegenden Ende des Gangs war. Bei Gin. Kurz davor, ihn zu…

„Nein!!“, brüllte Rye, während er durch den Gang stürmte und dem Kerl von hinten in die Schultern krallte, um ihn anschließend von Gin wegzuschleudern. Gerade noch im richtigen Moment. Er bemerkte, dass das derselbe Mann war, der seinen Geliebten schon bei seiner Ankunft gequält hatte. Plötzlich fixierte sich Ryes Wut nur noch auf genau diesen Mann. Er blendete alles um sich herum aus und griff ihn an. Packte seinen Hals und ließ seinen Körper auf den Boden krachen. Er wollte ihn zuerst töten. Aber wie? Konnten sich Vampire überhaupt gegenseitig töten oder würde sich dieser erbitterte Kampf für immer ohne Ergebnis fortsetzen?

Ich muss es versuchen… irgendwie wird es möglich sein…“, beschloss Rye. Doch bevor er diesen Entschluss in die Tat umsetzen konnte, wurde er von jemandem brutal in die Seite getreten und er flog gegen die Wand, welche von dem starken Aufprall einige Risse bekam. Es war einfach zu mühselig, sich auf vier Gegner gleichzeitig zu konzentrieren. Zudem schienen sie allmählich zu begreifen, dass er leichter abzulenken war, wenn sie Gin in die Sache mit einbezogen. Gerade täuschte wieder jemand einen Angriff auf seinen Geliebten vor. Und weil sich Rye nicht sicher sein konnte, ob es wirklich nur eine Täuschung war, musste er es so schnell wie möglich verhindern. So konnte das nicht weitergehen. Auf diese Weise wäre er immer im Nachteil und Gin in dauerhafter Lebensgefahr. Was, wenn er wirklich mal zu langsam reagierte und sie es schafften, den Silberhaarigen tödlich zu verletzen?

Vielleicht wäre es klüger, ihn erst mal von hier wegzubringen und zu fliehen… später, wenn ich ihn in Sicherheit gebracht habe, kann ich mich diesen Typen immer noch stellen…“, überlegte Rye im Bruchteil einer Sekunde. Das wäre womöglich die beste Entscheidung. Aber dafür musste er die Gelegenheit für eine Flucht zuerst bekommen. Im Moment sah es schlecht aus. Seinen Gegnern gelang es immer wieder, Lücken in seiner Verteidigung zu finden und ihn zu Fall zu bringen.

 

Gin beobachtete stillschweigend und mit anhaltenden Sorgen, wie Rye und die anderen vier Vampire miteinander kämpften. Zumindest versuchte er es. Denn das meiste konnte er nicht sehen, weil die Bewegungen viel zu schnell für das menschliche Auge waren.

Etwas anderes, als an der verschlossenen Tür zu lehnen und sein gebrochenes Bein mit beiden Händen zu umklammern, blieb ihm leider nicht übrig. Sich in den Kampf einzumischen wäre Selbstmord und in seinem Zustand konnte er ohnehin nichts ausrichten. Dabei wollte er Rye so gern irgendwie helfen, welcher sich die ganze Zeit schon im Nachteil befand. Allein schon, weil die Kerle in der Überzahl waren.

Wenn ich nicht hier wäre, hätte er es mit Sicherheit leichter… so muss er ständig auf mich achten…“ Einerseits fühlte sich Gin hilflos und wie eine Last für Rye, doch andererseits würde er es nicht ertragen können, unwissend an einem anderen Ort zu sein, während seinem Geliebten in jeder Sekunde etwas zustoßen könnte.

Aber… können sie sich wirklich gegenseitig umbringen?“ Diese Frage hatte er sich in den vergangenen Minuten immer wieder gestellt. Auch wenn er währenddessen mehrere Male um Ryes Leben gefürchtet hatte, war bisher noch niemand zu Schaden gekommen. Egal, wie unerbittlich und heftig der Kampf an manchen Stellen gewesen war. Ein wenig erinnerte es Gin an eine Art Tanz. Wie ein erbarmungsloses Ballett. Sie bewegten sich rasend schnell und elegant, doch zugleich waren einige Angriffe so brutal, dass es so wirkte, als würden wilde Raubtiere miteinander kämpfen.

Und jedes Mal aufs Neue wurde Gin von einem gewaltigen Schauer der Angst übermannt, sobald eines dieser Raubtiere ihm zu nah kam. Wenn auch nur mit der Absicht, Rye aus dem Konzept zu bringen. Dessen Konzentration hatte aus diesem Grund immer mehr nachgelassen, sodass es Pierre gelang, ihn von hinten in den Schwitzkasten zu nehmen und seinen Kopf gewaltsam nach hinten zu reißen. Beinahe glaubte Gin, soeben ein hartes Knacken gehört zu haben. So, als würde Gestein zerbrechen. Sofort stieg eine neue Angst vor Verlust in ihm auf.

Rye versuchte sich mitsamt seiner Kraft aus der Mangel zu befreien. Doch er schaffte es einfach nicht. Die Kerle hielten ihn fest.

Von Panik übernommen sah sich Gin hastig im Flur um. Irgendwas musste er tun. Irgendwas, um die anderen Vampire abzulenken. Sein Blick blieb an seiner Beretta hängen, welche ein paar Meter vor ihm auf dem Boden lag. Ohne weiter nachzudenken, beugte sich Gin nach vorn und kroch möglichst schnell und geräuschlos zu seiner Waffe. Dabei versuchte er zwar, sein Körpergewicht nicht auf seine gebrochenen Knochen zu lagern, allerdings durchfluteten ihn dennoch dutzend stechende Schmerzen, die er irgendwie ignorieren musste. Er setzte sich vorsichtig hin, zog sein gebrochenes Bein nach vorn und nahm die Waffe in die Hand, bevor er sie auf Pierre richtete und schoss.

Natürlich durchbohrte die Kugel nicht dessen Kopf, sondern prallte lediglich an seiner steinharten Haut ab. Doch danach verharrten alle wie Statuen. Gin hielt den Atem an. Sein Herz begann zu hämmern, als würde es die Aufmerksamkeit der Kerle nur zusätzlich auf sich lenken wollen. Er ließ langsam seine Hand sinken und steckte die Waffe weg, sobald sie ihre Blicke auf ihn gerichtet hatten. Aber das war Gin jetzt auch egal. Denn im folgenden Moment geschah genau das, was er hatte bezwecken wollen: Pierre ließ Rye los, um stattdessen in seine Richtung zu sausen.

Gin kniff automatisch die Augen zu und bereitete sich innerlich in den letzten Bruchteilen der Sekunde auf den gnadenlosen Biss dieser scharfen Fangzähne vor, die ihn unweigerlich ins Jenseits befördern würden.

Doch es verging mehr als eine Sekunde. Zwei. Drei. Vier.

Lediglich ein tiefes Knurren war zu hören, welches sich mit einem anderen vermischte. Dann das Quietschen des Bodens. Das zerbröckelnde Geräusch der Wände. Und plötzlich zerbrach etwas mit einem entsetzlichen, metallischen Krachen.

Gin öffnete die Augen und weitete diese vor Schock, als er den schweren weißen Klumpen erblickte, welchen Rye an schwarzen Haaren in seiner Hand festhielt. Pierres Kopf. Getrennt von seinem Körper. Rye schien es selbst kaum wahrhaben zu können, was er soeben getan hatte. Die anderen wirkten wie versteinert, während sie ihn entsetzt anstarrten. Mehrere Sekunden vergingen in Stille, bis Rye auf einmal anfing, laut zu lachen.

„Verstehe…“, sagte er erheitert. „So einfach war das also die ganze Zeit…“

Doch seine Tonlage klang nicht so, als sei er darüber erfreut, dem Leben von einem anderen Vampir ein Ende bereitet zu haben. Sondern eher darüber, dass er herausgefunden hatte, wie er seinem eigenen Leben ein Ende bereiten konnte. Die Sehnsucht nach dem Tod war in seiner Stimme nicht zu überhören.

„Du bist tot, 12! Du bist verdammt nochmal so gut wie tot!“, brüllte einer der Blondhaarigen mit hasserfüllter Stimme. „Das wirst du bereuen!!!“

Doch Rye lachte weiter. Er schmiss ihnen den Kopf achtlos vor die Füße.

„Ich bitte darum.“, erwiderte er, während er die Arme ausstreckte und die Augen schloss. „Bereitet meinem Dasein endlich ein Ende.“

Dieses plötzlich veränderte Verhalten brachte die restlichen drei Kerle zum Zögern. Gin hingegen wurde erfüllt von panischer Bestürzung und einem tiefen Herzschmerz. Das war ernst gemeint gewesen. Rye wollte sterben. Er wollte nichts mehr als das.

Nein…“, hörte Gin seine fassungslose Stimme in Gedanken. Am liebsten würde er schreien, doch es wich kein einziges Wort über seine Lippen. Wollte Rye ihn wirklich auf diese Weise verlassen? Hatte er damals etwa gelogen, als er sagte, er würde für immer bei ihm bleiben? Wie konnte er…

Gin blieb keine Zeit, die Situation vollständig zu verarbeiten. Ehe er überhaupt nach Antworten auf die Fragen in seinem Kopf suchen konnte, waren die Kerle längst losgestürmt. Es geschah alles so unbeschreiblich schnell. Er sah sie nicht mehr. Nur Rye konnte er noch sehen. Wie dieser sehnlichst auf sie wartete und sie mit offenen Armen empfing.

Doch kaum einen Augenblick später war auch er verschwunden. Das Krachen der Decke verriet Gin, dass sein Geliebter womöglich hoch in die Luft gesprungen war, bevor seine Feinde ihn hatten erreichen können.

Fast zeitgleich flogen drei verschwommene Kreaturen nacheinander weit durch den Gang. Den ersten hatte Rye vermutlich sogar noch im Sprung weggetreten. So genau hatte es Gin nicht erkennen können. Noch bevor die Szene vor seinen Augen wieder scharf wurde, stand Rye urplötzlich vor ihm. Gin blickte erschrocken in sein gekränktes Gesicht.

„Es tut mir so leid…“, flüsterte er mit gebrochener Stimme, die dem Silberhaarigen ein Stich durchs Herz jagte. Rye schob einen Arm unter Gins Beine und hob ihn vorsichtig hoch. „Alles wird wieder gut, ich versprech‘s…“

Gin klammerte sich so fest an ihn, wie er konnte und wie es seine Schmerzen erlaubten. Es war so ein erleichterndes Gefühl, endlich wieder so nah bei Rye zu sein. Er glaubte dessen Worten und fühlte sich umgehend sicherer. Nie wieder wollte er ihn loslassen. Egal, wohin sie jetzt gehen würden. Egal, was danach alles passieren würde. Solange sie zusammen waren, nahm Gin jedes kommende Ereignis in Kauf. Denn gemeinsam konnten sie alles überwinden. Es gab immer Wege. Auswege, die in die Freiheit führten. In ein Leben mit einem guten Ende. Keinesfalls so einem wie diesem hier. Heute war nicht der richtige Tag, um zu sterben. Und schon gar nicht wegen Eclipse. Das hoffte Gin zumindest in diesem winzig kleinen Moment, in welchem Rye ihn durch den Flur nach draußen tragen wollte.

Doch bis dahin kamen sie nicht mehr.

„Ihr wollt uns doch nicht etwa schon verlassen?“, hörte Gin eine Stimme, von der er nicht wusste, woher genau sie kam. Ihm konnte die Bedeutung dieser Frage erst gar nicht bewusst werden. Dass sie zu langsam gewesen waren. Es verging nicht mal eine Sekunde, bis Gin spürte, wie sie seitlich von etwas mit sehr hoher Geschwindigkeit gerammt wurden und Rye anschließend plötzlich in eine andere Richtung rannte.

Nein. Falsch. Rye rannte nicht mehr. Sie flogen.

Sie flogen durch das große Fenster, welches klirrend zerbrach. Die Scherben regneten zu Boden, auf dem sie unmittelbar darauf landeten. Gin konnte nichts von all dem verarbeiten. Da war nur die Kälte von Ryes Körper. Und Schmerz. So viel Schmerz, dass der Silberhaarige auch den letzten Rest seiner Wahrnehmung verlor. Er spürte wie sich Glassplitter in seine Haut bohrten. Eine warme Nässe breitete sich in seinem Haar aus und lief an seinem Kopf hinab. Die Sicht eines seiner Augen wurde rot und fing an zu brennen. Abwesend wischte er sich mit der Hand das Blut aus dem Gesicht, während sein anderes Auge gerade noch so erkennen konnte, wie Rye scheinbar von hinten angegriffen wurde. Seinem Geliebten gelang es aber im letzten Moment den Angriff abzuwehren. Dann war er verschwunden.

Gin versuchte sich zu bewegen, bemerkte dabei allerdings, dass die in seinem Körper steckenden Glasscherben seine Schmerzen mit jeder Bewegung um ein Vielfaches verschlimmerten. Er rollte sich auf dem Bauch und ließ seine Hand zitternd zu seinem rechten Oberarm wandern. In dem Vorhaben, eine Scherbe herauszuziehen. Doch er schaffte es nicht. Seine Gliedmaßen erschlafften nahezu wie von selbst, sodass er völlig reglos auf dem Boden verweilte. Nicht wissend, was um ihn herum geschah und ob mit Rye noch alles in Ordnung war.

Gin fielen die Augen zu. In seinen Ohren rauschte es. Alles drehte sich. War nicht länger ein Teil der Realität, sondern viel mehr von einer Welt, die sich irgendwo im Hintergrund seiner Wahrnehmung abspielte und in diesem Moment unerreichbar für ihn war. Er fühlte sich wortwörtlich tot. Und er zweifelte nicht im geringsten daran, dass er das auch bald sein würde. Irgendwie musste er gegen dieses Gefühl ankämpfen. Er durfte sich nicht von der einkehrenden Bewusstlosigkeit mitreißen lassen. Noch waren seine letzten Sekunden nicht gezählt. Noch hatten sie vielleicht eine Chance. Rye konnte es schaffen. Er war stark genug, um die restlichen Kerle zu besiegen. Eclipse würde ihn niemals in die Knie zwingen.

Gin blinzelte benommen und hob vorsichtig den Kopf. Seine Sicht war noch immer rot-verschwommen. In den kurzen Zeitspannen, in denen er auf einem seiner Augen klar sehen konnte, registrierte er, dass sich der Kampf unerbittlich fortsetzte. Wer am gewinnen oder verlieren war, wusste Gin nicht. Er hörte lediglich ab und zu ein hartes Knacken oder Krachen, immer dann, wenn einer von ihnen einen Fehler zu machen schien. Doch solange der Kampf nicht unterbrach, handelte es sich wohl bloß um kleine Fehler.

Gerade als es Gin gelang, sich wenigstens ein bisschen auf die Bewegungen der Vampire zu konzentrieren, erregte auf einmal ein anderes Geräusch seine Aufmerksamkeit. Schritte. Langsame Schritte. Die Glasscherben knacksten unter den Fußsohlen der unbekannten Person, die immer näher auf ihn zu kam.

Gin wollte den Kopf zur Seite drehen, doch da stand die Person bereits vor ihm. Ein paar Meter entfernt konnte er ein schwarzes Paar Schuhe erkennen. Es gehörte einem Mann. Gins Blick wanderte nach oben.

Wer ist das…?“, schwirrte es ihm durch den Kopf. Ungefähr Anfang 50. Autoritärer Kleidungsstil. Weiße, nach hinten gekämmte, kurze Haare. Betonte Wangenknochen. Blaue, von Kälte gezeichnete Augen. Gin hatte diesen Mann noch nie zuvor gesehen. Doch ihm fiel nach und nach auf, dass dessen Aussehen keinesfalls dem eines Vampirs glich, sondern…

Das ist ein Mensch…“, wurde ihm überrascht bewusst. Sofort setzte sein Verstand wieder ein und er ignorierte alle Beschwerden seines Körpers, um nach seiner Waffe zu greifen und diese auf den Fremden zu richten.

„Oh je. Sie haben dich ja ganz schön zugerichtet… dabei habe ich Ihnen extra gesagt, sie sollen nicht so streng mit dir umgehen. Aber was soll man machen… diesen Wesen mangelt es leider noch ein wenig an Beherrschung. Wie ich sehe, nimmst du mir ihr grobes Verhalten sehr übel.“, sprach der Mann in einer rauen, beschwichtigenden Tonlage, von der sich Gin jedoch nicht täuschen ließ. Er warf dem Mann einen abschätzigen Blick zu und senkte seine Waffe weiter nach unten, als dieser sich zu ihm herunterbeugte.

„Die Umstände tun mir wirklich leid. Du musst wissen, es war nie meine Absicht, dass du verletzt wirst.“

Gin ignorierte das Geschwafel. Er hatte bereits eine Vermutung, wer diese Person war. Und trotzdem wollte er es nicht wahrhaben. Nie hätte er gedacht hier wirklich auf diese Person zu treffen.

„Wer sind Sie?“ Er würde es erst glauben, wenn der Mann es mit eigenen Worten selbst bestätigte. Doch das passierte nicht sofort.

„Nimm zuerst das Ding runter, dann können wir uns unterhalten.“, wich er vorerst aus. Gin hörte nicht auf ihn, was dazu führte, dass sein Arm irgendwann anfing zu zittern, weil seine Muskelkraft ihn nach und nach verließ. Das schien auch der Mann zu bemerken und er legte seine Hand auf den Lauf der Pistole, bevor er sie langsam herunterführte. Warum Gin das einfach so zuließ, konnte er sich nicht erklären. Es war, als wäre sein Finger am Abzug schlichtweg gelähmt.

„Das überanstrengt dich doch nur.“, kommentierte der Mann die Geste mit besorgter Stimme. Eine Weile konnte Gin ihn nur schweigend anstarren, wobei er jetzt wieder hörte, wie Rye und die anderen nach wie vor im Hintergrund kämpften. Und obwohl dies eigentlich seine vollständige Aufmerksamkeit erfordern sollte, konnte er sich einzig und allein bloß noch auf den Mann vor ihm fixieren, welcher ihn nun anlächelte und begann, sich vorzustellen: „Mein Name ist Geffrey Connor. Ich leite seit einigen Jahren jene Organisation, die du unter dem Namen Eclipse kennst. Es freut mich außerordentlich, dich endlich persönlich kennenzulernen, mein lieber Jin Kurosawa.“

Die Worte ließen irgendwas in Gin gefrieren. Dieser Mann war tatsächlich der Anführer von Eclipse. Aber woher wusste auch er seinen Namen?

„Diese Freude kann ich leider nicht teilen.“, antwortete Gin mit schwacher Stimme. Sogar das Sprechen strengte ihn zu sehr an. Dem Boss entwich ein leises Lachen.

„Wie schade.“ Er nahm Gins Gesicht in seine Hände und musterte ihn für mehrere Sekunden mit wachsendem Interesse in den Augen. „Wirklich verblüffend, wie ähnlich du ihm siehst…“

Der Silberhaarige wollte sich den fremden Händen entreißen, doch er war zu schwach und die Schmerzen hielten ihn davon ab. Je mehr Versuche er startete, umso weiter verließen ihn auch seine letzten Kräfte. Schon nach kurzer Zeit waren die Hände des Bosses eher zu einer Stütze für seinen Kopf geworden, da er ihn sonst nicht mehr aufrecht halten könnte.

Erst nachdem er aufgegeben hatte, fiel Gin auf, dass sich der Boss dem Geschehen hinter ihnen gewidmet hatte. Doch es war plötzlich so still geworden, was den Silberhaarigen stutzig werden ließ. Ging es Rye gut? War er verletzt? Oder vielleicht etwa…

„Das wurde auch mal langsam Zeit.“, sagte der Boss zufrieden. Als Gin ihn lediglich fragend anschaute, lächelte Connor ihn im Augenwinkel an und fuhr fort: „Die Nummer 12 besitzt in der Tat eine sehr beeindruckende Stärke. Aber diese Stärke reicht bedauerlicherweise nicht aus… Schau selbst.“

Er lenkte Gins Kopf vorsichtig in Ryes Richtung. Dieser kniete auf dem Boden, während seine Arme und Beine von zwei Kerlen festgehalten wurden. Der Dritte hatte die Hände um seinen Kopf gelegt. Jeder Zeit bereit, ihn zu enthaupten…

Gin fing an zu zittern. Er traute seinen Augen nicht. Das konnte unmöglich passiert sein. Wie? Wie nur? Wie war es ihnen gelungen, Rye in solch eine ausweglose Situation zu bringen? Sie würden ihn töten. Seine Existenz auslöschen. Gin würde ihn für immer verlieren. Der Schock dieser erschütternden Erkenntnis war weitaus größer als alle Schmerzen, die seinen Körper quälten.

„Was für eine Verschwendung. Doch wenn er sich uns nicht anschließen will, muss er eben die Konsequenzen tragen.“

„N-Nein…“, brachte Gin über die Lippen. Allerdings wurde seiner Stimme keine Beachtung geschenkt. Stattdessen nickte der Boss seinen Untergebenen zu, woraufhin der dritte Kerl anfing, Ryes Kopf gewaltsam nach hinten zu reißen.

Gins Atem setzte auf der Stelle aus. Seine Augen weiteten sich so sehr, dass er glaubte, sie würden ihm herausfallen. Er wollte aufstehen und die Kerle aufhalten. Doch seine Hände und Füße scharrten lediglich kraftlos über den Boden und wollten ihm einfach nicht gehorchen.

Hilflos musste Gin mit ansehen, was seinem Geliebten angetan wurde und wie dessen Hals nach und nach Risse bekam, welche sich immer weiter über die steinerne Haut zogen…

„Nein, nein, bitte nicht, hört auf!!“, flehte er. Seine Stimme schallte durch die Stille. Niemand reagierte. Ryes Hände verkrampften sich und er zitterte am ganzen Leib, während die Risse bereits sein Kinn erreichten.

Gin bekam das Gefühl sich zu verlieren. „AUFHÖREN!!“, krächzte er. Tränen wichen ihm aus den Augen. Er konnte nicht mehr. Am liebsten würde er sein Leben einfach gegen das von Rye tauschen. In einer Welt ohne ihn hätte sowieso rein gar nichts mehr einen Sinn…

Da hob der Boss auf einmal die Hand, woraufhin seine Untergebenen zum Glück verharrten und der Griff um Ryes Kopf etwas gelockert wurde. Gin fiel umgehend ein Stein vom Herzen.

Mit einem Lächeln auf den Lippen wandte sich der Boss ihm zu und fragte: „Du liebst ihn wirklich sehr, nicht wahr?“ Diese Tatsache schien ihn zu amüsieren. „So sehr, dass du alles dafür tun würdest, damit sein Leben verschont bleibt?“

Gin nickte vorsichtig, ahnte aber innerlich, dass Connor diese Reaktion von Anfang hatte bezwecken wollen, um eines seiner eigentlichen Motive in die Tat umsetzen zu können. Der vorgetäuschte Anruf. Das Treffen. Ryes Gefangennahme und dessen vermeintliche Hinrichtung. All das war Teil eines Plans gewesen. Und Gin blieb nichts anderes übrig, als sich an diesen Plan zu halten. Denn tat er das nicht, würde Rye unweigerlich mit seinem Leben dafür bezahlen.

„Wirklich alles?“

Gin nickte ein zweites Mal, was allerdings nicht zu genügen schien.

„Sag es mir.“, verlangte der Boss mit einem bedrohlichen Klang in der Stimme, der den Silberhaarigen erschaudern ließ.

„Ich tue alles… nur bitte… lasst ihn in Ruhe…“, wimmerte er.

„Ein Leben erfordert ein gleichwertiges Tauschangebot, verstehst du?“

Noch immer war es Gin ein Rätsel, was um alles in der Welt Eclipse von ihm wollte oder was er ihnen geben könnte. Er besaß nichts, was wertvoller als Ryes Leben war. Das glaubte er zumindest. Denn wenn der Boss derselben Ansicht wäre, hätte er Rye längst umbringen lassen.

„Was wollt ihr im Gegenzug für sein Leben?“, fragte Gin. Seine Bereitwilligkeit brachte Connors Augen vor Freude zum Leuchten. Seine Finger strichen liebevoll Gins Wangen entlang, bevor er im geheimnisvollen Tonfall erwiderte: „Es gibt da tatsächlich etwas, was du uns geben kannst…“

„Das wäre?“, hakte Gin nach. Der darauffolgende Moment, wie sich der Boss weiter zu ihm herunterbeugte und ihm dabei tief in die Augen blickte, zog sich für den Silberhaarigen beinahe wie eine Ewigkeit in die Länge.

„Ich möchte von dir…“, begann Connor schließlich. „Das Elixier des ewigen Lebens. Die letzte fehlende Zutat für die Vervollständigung unserer Rasse.“

Verwirrung breitete sich in Gin aus. Mit dieser Forderung konnte er nichts anfangen. Das ewige Leben? Wie? Woher?

„Das… geht nicht… so etwas hab ich nicht!“, gestand er. Bis jetzt hatte er sogar bezweifelt, dass es dieses Elixier überhaupt noch gab. Wie konnte der Boss ausgerechnet das von ihm wollen? Er hatte doch gar nichts damit zu tun.

„Du vielleicht nicht. Aber dein törichter Vater hat es.“

Gin erstarrte. Sein Verstand setzte urplötzlich aus. Vater? Er hatte keinen Vater. Er hatte noch nie einen Vater gehabt. Da gab es nur…

Nein… das… kann unmöglich sein…“ Auf keinen Fall hatte der Boss damit diese Person gemeint…

„Was denn? Hat er dir etwa nicht erzählt, dass er dein leiblicher Vater ist und er deine Mutter damals in den Selbstmord getrieben hat?“, fragte dieser nun verwundert. Gin konnte nicht fassen, was er da hörte. Das war eine Lüge. Irgendein Trick, um ihn in die Irre zu führen. Dieser Kerl konnte seine Eltern doch gar nicht kennen. Woher sollte er also irgendwas über sie wissen? Renya Karasuma war mit Sicherheit nicht sein leiblicher Vater. Warum hätte dieser ihn all die Jahre lang anlügen sollen?

Wenn er wirklich mein Vater wäre, dann hätte er mich nie so herablassend behandelt, oder…? Und warum hätte er meine Mutter…“ Gin betete in Gedanken so fest er konnte, dass das alles nicht der Wahrheit entsprach. Doch umso länger er über seine Kindheit, seine Jugend und weitere Abschnitte seines Lebens nachdachte, desto mehr fing er aus unerklärlichen Gründen an, dem Boss von Eclipse Glauben zu schenken. Es fühlte sich so verletzend an. Eigentlich hatte sich die eiskalte, abweisende Art von Renya Karasuma schon immer verletzend angefühlt. Wie oft war er seinetwegen als Kind am Boden zerstört gewesen? Hatte geweint. Sich Vorwürfe gemacht. Die Fehler bei sich selbst gesucht.

All das nur wegen eines vermeintlich fremden Mannes, der ihn lediglich aus reiner Gutmütigkeit bei sich aufgenommen hatte. Doch wenn genau dieser Mann tatsächlich sein Vater war, bekamen sämtliche Konflikte und Demütigungen eine vollkommen andere Bedeutung. Insbesondere der Hass, den Renya Karasuma anfangs gegenüber ihm empfunden hatte. Dann wäre Gin nicht von einem Fremden gehasst worden, sondern von seinem eigenen Vater…

Sein entsetztes Schweigen beantwortete die Frage des Bosses, die er mittlerweile fast vergessen hatte, scheinbar von selbst.

„Dachte ich mir. Das passt zu ihm.“, meinte Connor, bevor er wieder zum eigentlichen Thema überleitete: „Jedenfalls möchte ich, dass du uns das Elixier von ihm besorgst. Da du ihm so nah stehst, sollte dir das doch bestimmt nicht schwerfallen, oder?“

„Ich steh ihm nicht nah…“, entgegnete Gin tonlos. Er hatte sich noch nie zuvor weiter entfernt von diesem Mann gefühlt.

„Und dennoch wird es dir nicht schwerfallen, korrekt?“ Die strengere Tonlage des Bosses ließ den Silberhaarigen plötzlich wieder bewusst werden, worum es gerade eigentlich ging. Was auf dem Spiel stand und was er in jedem Moment verlieren könnte…

„Nein, Gin! Du darfst es ihm nicht geben! Niemals, hast du verstanden?!“, schrie Rye im Hintergrund. Damit lag er richtig. Eclipse durfte das Elixier des ewigen Lebens nicht in die Hände bekommen. Doch als Ryes Kopf erneut ruckartig nach hinten gerissen wurde, erinnerte sich Gin schnell daran, dass dies im Augenblick keine Rolle spielte. Sein Geliebter war wichtiger als irgendein dummes Elixier.

„Hör nicht auf ihn.“, riet der Boss ihm. „Du willst doch, dass er am Leben bleibt, nicht wahr?“

Natürlich. Es gab nichts, was Gin mehr wollte. Er beantwortete die Frage mit einem stillen Nicken, woraufhin sein Gegenüber vorschlug: „Dann lass uns zusammen eine Abmachung treffen. Ich verspreche, dass ich das Leben der Nummer 12 verschonen werde, wenn du mir im Austausch dafür das Elixier des ewigen Lebens gibst. Einverstanden?“

Gin zögerte. Zwar hörte sich das nach einem relativ fairen Tausch an, doch bei Leuten von Eclipse konnte man wohl nie vorsichtig genug sein. An der Abmachung gab es bestimmt irgendeinen Haken oder mehrere Interpretationsmöglichkeiten.

„Glaub mir, ich bin ein Mensch, der seine Versprechen hält. Ich habe noch nie ein Versprechen gebrochen.“, fügte der Boss mit Nachdruck in der Stimme hinzu. Vielleicht sagte er die Wahrheit. Vielleicht schätzte Gin ihn trotz seiner abartigen Ansichten und Motive völlig falsch ein. Doch das würde er nie zu hundert Prozent wissen können. Nur leider blieb ihm keine andere Wahl. Er konnte die Bedienungen der Abmachung höchstens etwas präzisieren.

„Er bleibt bei mir.“, stellte Gin klar, um sichergehen zu können, dass sie Rye nicht trotzdem von ihm trennen würden.

„Das lässt sich einrichten.“ Die Antwort des Bosses wirkte so, als hätte er bereits Pläne, was ihre zukünftige Zweisamkeit betraf. Aber es schien ihm nichts auszumachen, diese Pläne ein wenig zu ändern. Auch wenn Gin das nur sehr ungern tat und er eine Falle witterte, beschloss er, auf die Worte zu vertrauen.

„Dann… ja…“, willigte er schließlich ein.

„Was ja?“

„Ich verspreche es…“

„Sehr gut. Dann ist es endgültig.“

Somit gab es kein Zurück mehr. Das Versprechen war in Stein gemeißelt und galt von nun an solange, bis einer von ihnen den Stein zerbrach, um die Bedienungen darauf zu vernichten. Oder bis andere, äußere Faktoren diesen Stein zerbrechen würden.

So wie Rye es jetzt tat, indem es ihm wie durch ein Wunder gelang, sich aus den festen Griffen der drei Kerle zu befreien. Einen riss er noch im gleichen Moment zuerst die Hände und kurz darauf den Kopf ab, bevor mit den restlichen beiden ein neuer Kampf entflammte.

Doch der Boss blieb trotz dieser überraschenden Wendung ruhig und beobachtete schweigend, wie Rye begann die zwei Untergebenen über das Schulgelände zu jagen. Etwas schien ihm neuen Ansporn gegeben zu haben. Er bewegte sich viel geschickter und ließ den anderen gar keine Möglichkeit mehr, ihn noch anzugreifen.

„Das habe ich nicht erwartet...“, kommentierte Connor das unübersichtliche Geschehen in verblüffter Tonlage, jedoch nach wie vor gelassen. Selbst als Rye den einen Kerl erwischte, verzog er keine einzige Miene. Stattdessen pfiff er seinen letzten Untergebenen zu sich und meinte dann zu diesem: „Lassen wir es gut sein. 12 ist viel stärker als vermutet. Aber das macht nichts. Da ich nun ein Bild von ihm habe, kann ich beim nächsten Mal die nötigen Vorkehrungen treffen.“

Gin konnte das Gesagte nicht ganz realisieren. Wollten sie sich wirklich zurückziehen? Hatte Rye es geschafft? Völlig überwältigt von Erleichterung, verdrängte Gin bewusst, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit wirklich ein nächstes Mal geben würde. Doch dann wären hoffentlich auch Rye und er besser vorbereitet, um es mit Eclipse aufnehmen zu können. Noch einmal würden sie gewiss nicht auf ihr falsches Spiel hereinfallen.

„Für heute muss ich mich leider verabschieden. Aber wir sehen uns bestimmt bald wieder, Jin Kurosawa. Ich werde unser Versprechen in Erinnerung behalten.“

Noch bevor die Worte vollständig ausgesprochen waren, ließ der Boss von Gin ab und richtete sich wieder auf, sodass der Silberhaarige durch den plötzlich fehlenden Halt endgültig zusammenbrach. Sein Kopf landete begleitet von einem dumpfen Schmerz auf das harte Gestein und seine Sicht verschwamm.

Zwischen dem dröhnenden Pochen in seinem Kopf hörte Gin, wie sich etwas in hoher Geschwindigkeit von ihm entfernte. Dann kam etwas in der gleichen Geschwindigkeit auf ihn zu und blieb ruckartig neben ihm stehen.

Gin spürte, wie er von einer vertrauten Aura eingehüllt wurde. Er drehte den Kopf leicht nach oben und glaubte über sich Ryes verschwommene Gestalt zu erkennen. In einer derart angespannten Haltung, die verriet, dass er innerlich mit sich selbst um eine Entscheidung rang. Wahrscheinlich fragte er sich gerade: Verfolgen oder hierbleiben?

Gin wollte ihm die Entscheidung abnehmen. Er streckte langsam eine Hand aus und krallte sie mit letzter Kraft in Ryes Hosenbein.

„Geh nicht…“, flüsterte er, bevor die Bewusstlosigkeit ihn schließlich einholte.



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