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The Monster inside my Veins

von

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Das Gefühl von Liebe

[ Bitte triff mich um 23:30 Uhr vor dem Tokyo Tower. - Rye ]

 

Gin verengte die Augen und starrte die SMS von Rye skeptisch an, welche er bereits mittags von ihm erhalten hatte. Bis vor kurzem wusste er nicht, was er von diesem Treffen halten sollte, weshalb er auch nichts zurückgeschrieben hatte. Sogar jetzt war es für Gin nicht mal halbwegs nachvollziehbar, was Rye ausgerechnet hier von ihm wollen könnte.

Bestimmt plant er wieder irgendwas, wenn er mich extra an solch einen Ort bestellt…“, vermutete der Silberhaarige, wobei es ihm kalt den Rücken herunterlief. Rye hätte in seiner SMS wenigstens einen Hinweis zum Anlass des Treffens hinterlassen können, sodass sich Gin mental hätte darauf vorbereiten können. Doch nun verweilte er unwissend – aber dafür mit schlimmen Vorahnungen – auf einer der Bänke östlich vom zweitgrößten Bauwerk Tokios. Noch nie hatte er den Tokyo Tower aus unmittelbarer Nähe betrachtet. Vor allem nicht am Abend, wenn dieser in rot-gelblichen Farben leuchtete. Sonst hatte ihn der Turm auch nicht sonderlich interessiert. Für die meisten Menschen, die in Tokio aufgewachsen waren, gehörte er einfach zum Alltag mit dazu. Es war eben eher eine Touristenattraktion, die dafür aber allseits bewundert wurde. Dennoch bezweifelte Gin, dass der Tower für Rye eine Rolle spielte. Denn vor gut einer halben Stunde sollten auch die letzten Besucher mit dem Personal verschwunden sein. Für gewöhnlich schloss der Tower ungefähr um 23:00 Uhr. Inzwischen war es schon 32 Minuten nach und in der Umgebung ging es dementsprechend ruhiger zu. Zwar war der Verkehr von weitem noch zu hören, doch sonst liefen kaum noch Menschen an ihm vorbei.

Gin lehnte sich zurück und ließ den Blick wandern. Da von Rye nach wie vor nichts zu sehen war, beschloss er, sich eine Zigarette anzuzünden. Jedoch würde er es auch bei dieser einen belassen und wieder gehen, wenn sein Partner bis dahin nicht aufgetaucht war. Ewig warten wollte er hier nicht.

Kaum hatte er allerdings einen Zug von seiner Zigarette genommen, ließ er diese vor Schreck wieder fallen, als plötzlich eine sanfte, vertraute Stimme hinter ihm sprach: „Entschuldige die kleine Verspätung.“

Kurz darauf spürte Gin einen leichten Luftzug über sich. Verdutzt fasste er sich an den Kopf und musste feststellen, dass sein Hut verschwunden war.

„Rye!“, beschwerte er sich, während er sich umdrehte, um die gestohlene Kopfbedeckung zurückzuholen. Doch er griff ins Leere. Hinter ihm befand sich niemand.

„Ich hatte schon die Befürchtung, du kommst nicht.“, hörte er Ryes Stimme nun von der anderen Seite. Gin schenkte dem Gesagten keinerlei Beachtung. Er drehte sich erneut um und verlangte stattdessen: „Gib mir sofort meinen Hut zurück!“

Diesen bekam er jedoch wieder nicht zu fassen, da Rye blitzschnell zurückgewichen war, bevor er ihn erwischen konnte.

„Den brauchst du heute nicht.“, meinte der Schwarzhaarige beschwichtigend, während er ein verspieltes Lächeln aufsetzte und den Hut auf seinem Zeigefinger drehte. „Außerdem gefällst du mir ohne viel besser.“

Gin verzog gereizt das Gesicht. Er hatte jetzt schon genug von diesem Treffen.

„Mir doch egal!“, fauchte er. Warum sollte es ihn kümmern, was Rye von seinem Aussehen hielt? Zumal er nicht verstand, was dieser damit meinte, er würde den Hut heute nicht brauchen. Das war ohne Zweifel ein Anzeichen dafür, dass ihm nichts Gutes bevorstand.

Ich hätte zu Hause bleiben sollen.“, bereute er seine Entscheidung gedanklich. Aber was hatte er eigentlich anderes von Rye erwartet?

Wenigstens schien dieser in bester Laune zu sein, was schon mal darauf hinwies, dass das Gespräch mit dem Boss nicht all zu schlimm ausgefallen sein konnte. Da waren die Mühe und das Betteln immerhin nicht umsonst gewesen. Dieses blamable Auftreten vor Vater würde sich Gin niemals selbst verzeihen. Das alles nur, damit Rye in der Organisation bleiben durfte. Und dieser klaute ihm obendrein zum Dank jetzt auch noch den Hut.

„Was wird das hier überhaupt? Du kannst mich auch einfach anrufen, wenn du was von mir willst.“ Gin beobachtete, wie das Lächeln nach und nach aus Ryes Gesicht verschwand und sich leichtes Unbehagen darin ausbreitete.

„Diesmal ging das nicht.“, brachte er in verlegener Tonlage heraus, die Gin misstrauisch werden ließ. Er wartete, bis Rye ihm von selbst endlich den Grund für dieses bizarre Treffen verraten würde. Aber das geschah nicht. Sein Partner schwieg und versuchte offenbar seinem Blick auszuweichen.

„Weshalb nicht?“, bohrte Gin deshalb zielgerichtet nach.

Daraufhin schienen sich Ryes Schultern anzuspannen. Dessen Gesichtsausdruck konnte Gin nur schwer deuten. Eine Mischung aus Angst und Scham. Doch Angst wovor? Als er glaubte, keine Antwort mehr zu erhalten, verformten sich Ryes Lippen plötzlich zu einem Schmunzeln. Jetzt sah der Schwarzhaarige ihn auch wieder an, sodass Gin die Entschlossenheit in dessen Augen erkennen konnte.

„Nun ja… das ist… ein Date.“, verriet Rye zögernd und bei dem letzten Wort klang seine Stimme nur noch ganz leise. Obwohl Gin das Wort trotzdem verstand, begriff er den Sinn dahinter nicht.

Ein Date? Mit wem?“ Sein Blick huschte unauffällig durch die Umgebung, wobei er nach jemandem suchte, den Rye gemeint haben könnte. Doch er entdeckte niemanden. Vielleicht war die Person noch nicht hier und würde erst später kommen.

„Und was soll ich dann hier?“, äußerte Gin seinen Gedanken laut, während er Rye verwirrt ansah. Dieser lachte kaum merklich und erwiderte: „Ohne dich geht das doch nicht…“

„Wieso?“, hakte Gin nach, auch wenn ihn nebenher eine böse Vorahnung beschlich. In der Nähe war keine weitere Person die in Frage käme. Zudem hatte Rye nicht sonderlich viele Bekanntschaften, falls es da überhaupt welche gab, die man an einer Hand abzählen konnte. Als Gin das realisierte, wuchs das unangenehme Gefühl in ihm. In Anbetracht von Ryes verdächtigem Verhalten und dessen Aussage, dass es ohne ihn nicht ging, konnte er nur eine einzige Möglichkeit in Betracht ziehen. Aber diese Möglichkeit verdrängte Gin bewusst. Sie war viel zu absurd und vollkommen ausgeschlossen. Niemals hätte Rye ihn hierher bestellt, um ihm mitzuteilen, dass…

„Na weil… du mein Date bist.“

Gin erstarrte. Es dauerte eine Weile, bis er begriff und den Schrecken und das Entsetzen in sein Gesicht ließ. Das hatte Rye nicht wirklich gerade gesagt. Doch dessen Mund war noch immer leicht geöffnet. Der Rest seiner Miene voller Erwartung auf eine Antwort. Aber auf diese konnte er lange warten.

Gin wusste nicht, was er erwidern sollte. Oder wie er generell reagieren sollte. Es war, als hätte er seine Stimme mitsamt seiner Reaktionsfähigkeit verloren.

„Gin, was hast du?“ Auch wenn Rye versuchte den Schmerz nicht in sein Gesicht zu lassen, so war dieser trotzdem aus seiner Tonlage herauszuhören. Offensichtlich deutete er die fehlende Reaktion als Ablehnung.

„Das fragst du noch…“, murmelte Gin, bevor seine Stimme versagte. Als er bemerkte, dass Rye ihm näherkommen wollte, setzte er schnell ein paar Schritte nach hinten. Jedoch spürte er gleich darauf die Bank an seinen Kniekehlen.

„Ja, das muss ich wohl, wenn du mich anstarrst, als hätte ich vor, dich mit Haut und Haaren zu fressen.“, meinte Rye, während er unmittelbar vor Gin trat. In seiner ernsten Stimme schwang nicht mal mehr die kleinste Spur von seinem zuvor empfundenen Schmerz mit. Der Silberhaarige wandte den Blick ab, um seinem Partner nicht in die Augen schauen zu müssen. Zwar war dessen Aussage ein Scherz gewesen, doch die Vorstellung dahinter schlich sich dennoch unweigerlich in seinen Kopf und ließ ihn erschaudern.

„Vielleicht hängt das eine mit dem anderen zusammen.“ Gin fiel es schwer möglichst tonlos zu antworten. Er sprach zu schnell und vor allem viel zu leise. Wie er es hasste, wenn Rye ihm in solchen Momenten zu nah war. Um wieder etwas Abstand zu gewinnen, versuchte Gin den Schwarzhaarigen von sich wegzuschieben und sich zumindest so weit zu entfernen, dass sich die Bank nicht mehr hinter ihm befand. Doch genau auf dieser fand er sich urplötzlich wieder, nachdem er zwei feste Griffe an seinen Schultern verspürt hatte. Kaum eine Sekunde später stützten sich links und rechts neben ihm am Bankrücken zwei Hände ab und Rye beugte sich zu ihm herunter. Gins Blick ging zwischen dessen beiden Armen hin und her, bevor er ihn wütend ansah.

„Ein wirklich faszinierender Gedanke… aber nein, so soll dieser Abend nicht enden.“, raunte Rye amüsiert, was Gin nicht wirklich beruhigte. Womöglich gab es noch reichlich schlimmere Enden für diesen Abend.

„Und wie dann?“, fragte er, doch Rye schien es ihm nicht verraten zu wollen und lächelte lediglich geheimnisvoll.

„Das wirst du dann schon sehen.“, sagte er anschließend. Gins Augen wurden schmal. Nein, das wollte er ganz bestimmt nicht sehen. Warum war Rye überhaupt auf die Idee gekommen, er würde mit ihm ein Date haben wollen? So etwas Albernes taten für gewöhnlich nur Liebende miteinander.

„Ach so? Ich kann mich nicht erinnern, mich auf ein Date mit dir eingelassen zu haben. Du hast mich nicht mal gefragt.“, entgegnete er bissig und zog das Wort ‚Date‘ mit Absicht abgeneigt in die Länge. Nicht, dass es etwas ändern würde, wenn Rye vorher gefragt hätte, aber so hätte Gin wenigstens vorher ablehnen können. Jetzt war es so gut wie unmöglich aus der Nummer wieder herauszukommen. Immerhin hielt Rye ihn im wahrsten Sinne des Wortes gefangen.

Die Augen des Schwarzhaarigen weiteten sich verwundert und er schwieg für eine kleine Weile, in welcher er nachzudenken schien.

„Okay.“, begann er dann monoton. „Willst du mit mir auf ein Date gehen?“

„Nein!“, wich es Gin umgehend über die Lippen, ohne dass er über die Antwort hatte nachdenken müssen. Doch Rye schien das nichts auszumachen. Seine Miene blieb unverändert, als hätte er nichts anderes erwartet.

„Wie schade für dich, dass ich kein Nein mehr akzeptiere.“, kam es hochmütig von ihm und Gin erkannte an dem Ausdruck seiner Augen, dass er sich nicht mehr von dem Entschluss abbringen lassen würde, den er anscheinend gerade gefasst hatte.

„Dann willst du mich jetzt etwa zu meinem Glück zwingen?“, fragte Gin ironisch, woraufhin Rye ein selbstgefälliges Grinsen aufsetzte.

„Vielleicht.“, tat er weiterhin geheimnisvoll, doch das felsenfeste Ja hinter dieser Antwort war nicht schwer zu überhören. Gin stieß ein Seufzen aus. Zu viele Fragen und Unklarheiten schossen ihm durch den Kopf. Aber er ließ alle davon unausgesprochen. Aus welchem Grund wollte Rye ein Date mit ihm haben? Warum wollte er das mit ihm tun, was sonst nur Liebende miteinander taten? Die Vorstellung, dass Rye so für ihn empfand, brachte sein Herz zum rasen. Er vergaß fast zu atmen.

Das schien auch sein Gegenüber zu bemerken, welcher begann den kleinen Moment vorsichtig für sich auszunutzen. Langsam und unauffällig ließ Rye seine linke Hand zu Gins Wange wandern, um diese zu streicheln. Die sanft-kalte Berührung ließ den Silberhaarigen jedoch wieder aufmerksam werden. Sein Blick schoss umgehend herum, als Rye ihm verführerisch ins linke Ohr flüsterte: „Komm schon. Niemand wird es erfahren.“

Gins Hände krallten sich um eine der Bankleisten unter ihm. Dieser Kerl wusste genau, wie man jemanden gezielt aus der Fassung bringen konnte. Und da ihm das bisher fast immer erfolgreich gelungen war, wollte sich Gin diesmal nicht so leicht breitschlagen lassen. Mit heimlichen Hintergedanken tat er zuerst so, als würde er sich auf das Angebot einlassen und legte seine Hand über die von Rye. Mit der anderen fuhr er über dessen Brustbein, während er vortäuschte, ihm ebenso etwas ins Ohr flüstern zu wollen. Es dauerte nicht lang, bis Rye auf den Trick hereinfiel.

Mit einem Ruck stieß Gin den Schwarzhaarigen von sich weg und riss dabei dessen Hand von seiner Wange weg, sodass er endlich von dieser elendigen Bank aufstehen konnte.

„Das hat damit nichts zu tun. Ich will einfach nicht, kapier es. Wir beide werden heute definitiv kein Date haben.“, meinte er mit einem scharfen Unterton in der Stimme und entfernte sich nebenher mit zügigen Schritten von Rye. Allerdings schnitt dieser ihm bereits im nächsten Moment wieder den Weg ab.

„Wetten doch?“, entgegnete er provozierend.

„Selbst wenn, der Tower hat sowieso längst geschlossen.“ Gin verdrehte die Augen, während er achtlos an Rye vorbeigehen wollte.

„Nicht für uns.“

Auf einmal schlangen sich zwei starke Arme um Gins Körper und ehe er sich versah, hatte Rye ihn schwungvoll über seine Schulter geworfen. Als wäre er nichts weiter als ein Sack voll mit Federn, der kaum etwas wog. Ungläubig starrte Gin auf den Boden und auf seine langen Haare, welche diesen fast berührten. Er versuchte sich vergeblich wieder aus der Schlinge zu befreien.

„Tickst du noch ganz richtig?! Lass mich sofort wieder runter!!“, schrie er aufgebracht, was Rye jedoch gekonnt ignorierte. Egal, wie sehr Gin zappelte oder an Ryes Klamotten zerrte – es half kein bisschen. Selbst als er dem Vampir mehrmals gegen Brust und Bauch trat, blieb dieser ganz gelassen.

„Wenn du nicht so viel Aufmerksamkeit erregen willst, solltest du dich lieber beruhigen. Das hast du dir jetzt selbst zuzuschreiben. Ich hab es auf die sanfte Tour probiert, doch du hast es geschafft, auch den letzten Rest meiner Geduld zu verbrauchen.“, hörte Gin Ryes strenge, kontrollierte Stimme, die ihn dazu brachte, automatisch zu verharren. Das Blut stieg ihm allmählich in den Kopf und als er eins und eins zusammenzählte, wurde ihm angst und bange. Der Tokyo Tower war eigentlich längst geschlossen. Auf normalem Wege würde man also nicht mehr auf den Turm gelangen. Aber Rye hatte nie vorgehabt den normalen Weg zu benutzen. Er wollte…

„Es wäre besser für dich, wenn du die Augen schließt.“, sagte Rye trocken und bestätigte somit indirekt Gins Befürchtung. Ihm stockte der Atem.

„Nein, nein, nein! Rye, warte, bitte ni-“ Der Rest seines Satzes ging wegen der abrupten, ruckartigen Bewegung unter. Er musste schlucken und sich die Hand vor dem Mund pressen, um zu verhindern, dass ihm das Abendessen wieder hochkam.

Je mehr Rye das Tempo erhöhte, desto stärker drückte sich dessen Schulter in seinen Bauch. Der Boden unter seinem Kopf verschwamm nach und nach immer mehr. Schließlich kam eine rötliche Farbe hinzu und das Ganze vermischte sich vor seinen Augen zu einem farblichen Durcheinander. Als er realisierte, dass der Höhenunterschied zum Boden immer größer wurde, rebellierte sein Magen noch stärker. Hinzu kam plötzlich eintretender Schwindel. Gin kniff die Augen zusammen und krallte seine Hände so fest er konnte in Ryes Jacke. Er versuchte vergebens seine Atmung wieder zu normalisieren und sich lediglich auf das schnelle Rauschen des Windes zu konzentrieren. Zwischenzeitlich vernahm er das ein oder andere gedämpfte Knallen des Stahlgerüstes, an welchem Rye gerade hochzuklettern schien.

Der Silberhaarige betete in Gedanken immer wieder, dass Rye ihn nicht fallen lassen würde. Zum ersten Mal seit langem war ihm wirklich nach schreien zumute. Aber da es ohnehin nichts bringen würde, versuchte er es mit aller Mühe zurückzuhalten. Letztlich war er dazu gezwungen seine hilflose Lage zu akzeptieren. Und er würde Rye mit Sicherheit für diese Aktion büßen lassen, wenn sie oben angekommen waren und er das überlebt hatte.

Da überkam Gin erneut eine Welle der Übelkeit, als Rye plötzlich Schwung holte und in die Höhe zu springen zu schien. Der unmittelbar darauffolgende Fall dauerte nur halb so lang an. Gin holte tief Luft. Er spürte nichts mehr. Befanden sie sich etwa wieder auf festem Boden? Er wagte es nicht seine Augen wieder zu öffnen.

„Du kannst jetzt loslassen.“, teilte Rye ihm mit ruhiger Stimme mit. Die Entwarnung ließ Gin erleichtert aufatmen. Ein Stein fiel ihm vom Herzen. Es war vorbei. Zumindest fürs Erste. An den Rückweg dachte er bewusst noch nicht und schob es erst mal nach hinten.

Zögernd öffnete Gin die Augen und erblickte daraufhin den roten Stahlboden des Tokyo Towers. Womöglich befanden sie sich auf dem Dach der obersten Aussichtsplattform. Aber so genau wollte Gin das lieber nicht wissen. Seine Hände lösten sich zitternd von Ryes Jacke. Kurz darauf wurde er von ihm vorsichtig heruntergelassen. Der Boden fühlte sich auf eine merkwürdige Weise fremd an. Seine Beine waren plötzlich so weich wie Pudding und Gin sackte geführt von Ryes Händen zusammen.

„Geht es?“, erkundigte sich der Schwarzhaarige besorgt. Doch Gin hörte es kaum. Ihm war so furchtbar schwindelig. Sein Kopf dröhnte und mit jedem Pochen spürte er förmlich, wie das Blut nach und nach wieder abstieg. Er blinzelte ein paar Mal benommen, während er die Hände in seinen Haaren vergrub.

„Das wird gleich wieder.“, versuchte Rye ihn zu beschwichtigen. Gin wurde noch übler. Vor Wut.

„Ich bring dich um.“, schwor er mit schwacher Stimme.

„Wirst du nicht.“ Rye schien es nicht ernstzunehmen und behielt seine sanfte Tonlage bei. Zugegebenermaßen war die Drohung nur leer, weil der Schwarzhaarige kein Mensch war. Ansonsten wäre Gin längst dabei ihn mit bloßen Händen zu erwürgen. Aber vorher würde er noch ein paar schmerzhafte Schläge kassieren. Wenigstens trug die Vorstellung etwas zu Gins Befriedigung bei und entlockte ihm ein leichtes Schmunzeln.

„Soll ich dir aufhelfen?“, bot Rye ihm an. Und schon war der winzige Moment der Freude wieder dahin.

„Fick dich.“, erwiderte Gin abweisend und hoffte, dass Rye ihn endlich in Ruhe lassen würde. Gerade hatte dieser ihn noch gegen seinen Willen auf dem zweitgrößten Turm der Stadt geschleppt und jetzt mimte er einen auf hilfsbereiten Partner. Sollte dieser blöde Blutsauger doch zur Hölle fahren.

„Tut mir leid, ich konnte nicht wissen, dass du Höhenangst hast.“, entschuldigte sich Rye, woraufhin Gin entrüstet den Kopf hob und sich ihre Blicke trafen.

„Höhenangst?“, wiederholte er abfällig. „Du hast mich gerade auf eine über 200 Meter hohe Aussichtsplattform getragen! Das hat rein gar nichts mit Höhenangst zu tun!“

„Du hast mir keine Wahl gelassen.“, erklärte Rye. Was für eine banale Ausrede. Gin musste sich beherrschen, nicht doch noch auf ihn einzuschlagen. Sein Vorhaben, den Schwarzhaarigen anzuschreien, verwarf er jedoch augenblicklich, als Rye sein Gesicht zu einer traurigen, gekränkten Miene verzog. Gin hasste diesen Gesichtsausdruck zu tiefst, welcher ihn jetzt wieder daran erinnerte, dass er Ryes Gefühle in Wirklichkeit gar nicht mehr verletzten wollte. Nie wieder. Doch warum wurde er sich dessen erst jetzt bewusst? Wo es bereits zu spät war?

„Ich kann verstehen, dass du sauer bist, du hast allen Grund dafür… Aber kannst du auch mal versuchen mich zu verstehen? Ich weiß manchmal einfach nicht, wie ich mit dir umgehen soll… Du bist so stur und gefühlskalt. So anders als die Menschen, denen ich vor dir begegnet bin. Da war alles so leicht, doch bei dir… ist es viel komplizierter. Und dennoch will ich…“ Rye verstummte und zog die Augenbrauen zusammen. Der Schmerz in seiner Stimme war fast greifbar. Er sorgte dafür, dass jegliche Wut in Gin verflog und ihn stattdessen ein Gefühl von Schuld beschlich. Das Schlimme daran war, dass Rye recht hatte. Gin glaubte ihm. Womöglich war er sehr stur und komplizierter als so manch anderer Mensch. Aber trotzdem schien Rye noch nicht aufgegeben zu haben. Oder doch?

„Mir war dieses Treffen heute sehr wichtig. Aber jetzt weiß ich nicht mehr, ob es die richtige Entscheidung war. Ich war wohl zu vorschnell und hab dich überfordert. Entschuldige.“, fügte er gequält hinzu. Überfordert traf das Ganze wohl auf den Punkt. Gin beobachtete schweigend, wie sich Rye erhob und ihm den Rücken zukehrte. Kurz glaubte er, sein Partner wollte gehen und ihn allein hier zurücklassen. Doch glücklicherweise lehnte sich Rye nur an die Brüstung und starrte in die Ferne. Ein paar seiner schwarzen Strähnen flogen durch den Wind nach vorn und verdeckten teils sein betrübt wirkendes Gesicht.

Gin senkte beschämt den Blick und seufzte. Irgendwie wollte er aufstehen und sich zu Rye gesellen. Dann auch wieder nicht. Sein nach wie vor bestehendes Schuldgefühl hinderte ihn daran. Zudem war ihm immer noch leicht übel und er wusste nicht, ob er nicht sofort nach dem Aufstehen wieder umkippen würde. Also entschied er sich dazu, einfach dort sitzenzubleiben.

Und so breitete sich Schweigen aus. Rye schenkte dem Silberhaarigen keine Beachtung mehr und schien in Gedanken versunken zu sein. Er lehnte die ganze Zeit über regungslos wie eine Statue an der Brüstung. Den Blick dabei unentwegt nach vorn gerichtet. Einzig und allein ein paar leichte Windstöße bewegten hin und wieder einige seiner schwarzen Strähnen. Gin kam der Gedanke, dass sein Partner sich absichtlich so geknickt und ignorant verhielt, um ihm ein schlechtes Gewissen zu bereiten. Falls das wirklich stimmte, hatte Rye damit jedenfalls Erfolg. Aber das durfte er auf keinen Fall mitbekommen.

Gin rollte mit den die Augen und drehte sich ein wenig von dem Schwarzhaarigen weg, bevor er in seiner Manteltasche nach Feuerzeug und Zigarettenschachtel wühlte. Zum Glück wurde er fündig. Allerdings verzog er mürrisch sein Gesicht, als er feststellen musste, dass die Schachtel leer war. Das vorhin war seine letzte Zigarette gewesen, die obendrein noch wegen Rye draufgegangen war. Gin stöhnte genervt und zerdrückte die Schachtel in der Hand, bevor er sie mit dem Feuerzeug wieder in die Manteltasche steckte. Er ließ seinen Blick unauffällig zu Rye schweifen und erwischte diesen dabei, wie er ihn beobachtete und dabei amüsiert schmunzelte. Kaum einen Moment später legte er sich die Hand vor dem Mund, um ein Lachen zu unterdrücken und drehte sich anschließend wieder weg.

Jetzt reicht es…“, dachte Gin gereizt, bevor er mühselig versuchte sich wieder aufzurappeln. Er war noch etwas wackelig auf den Beinen. Aber laufen ging zum Glück wieder, auch wenn es etwas erbärmlich aussah. Er stützte sich neben Rye auf der Brüstung ab, woraufhin dieser überrascht den Blick zu ihm lenkte. Gerade, als Gin ihm die Meinung sagen wollte, kam der Schwarzhaarige ihm jedoch zuvor.

„Hast du dich wieder beruhigt?“, fragte er neckend. Gin setzte zu einer bissigen Antwort an, doch verwarf diese wieder und starrte schweigend nach unten.

Von hier oben sah die Stadt wirklich unendlich riesig aus. Nahezu ein Meer aus bunten Lichtern. Ein Gebäude größer als das andere, unterbrochen durch gelblich leuchtende Wege und Straßen. Und obwohl dort unten Hektik und Chaos zu herrschen schien, hörte man hier oben nichts davon.

„Eine wirklich atemberaubende Aussicht, nicht wahr?“, unterbrach Ryes sanfte Stimme die Stille. Im Augenwinkel bemerkte Gin den sehnsüchtigen Ausdruck in dessen Gesicht. Er fragte sich, ob Rye wirklich nur die Aussicht gefiel oder ihn eher der Gedanke reizte, sich von hier oben in die Tiefe zu stürzen. Seine Miene sprach eher für das Letztere. Schließlich hatte er in der Vergangenheit schon des Öfteren versucht zu sterben. Er hatte gesagt, dass er jede Möglichkeit durchgegangen war. Darunter höchstwahrscheinlich auch Sprünge von hohen Gebäuden. Gin schluckte.

„Du warst schon öfters hier, oder?“, erkundigte er sich. Rye sah ihn verblüfft an und fragte: „Ja, schon… Woher weißt du das?“

„Hast du dich auch von hier runter gestürzt?“

Rye legte den Kopf schräg. Seine Mundwinkel zuckten, als hätte er vor zu lächeln. Doch er tat es nicht und wandte den Blick wieder ab.

„Nein.“, erwiderte er mit ernster Stimme. „Nicht von hier.“

Kurz glitt Entsetzen über Gins Gesicht. Seine Hände schlossen sich automatisch fester um die Brüstung, was Rye nicht entging.

„Ich denke, das wäre etwas zu auffällig, wenn sich jemand von solch einem zentralen Ort stürzt und überlebt.“, fügte er ironisch hinzu.

Gin schwieg. Er wollte nichts Falsches sagen. Er konnte nur hoffen, dass Rye es ernst gemeint hatte, dass er vorerst nicht vorhatte, zu versuchen sich das Leben zu nehmen.

„Ich kann nicht genau sagen warum, aber dieser Ort hat etwas Verlockendes an sich. Man hat alles im Überblick, ohne selbst dran beteiligt zu sein. Als wäre man abgetrennt von der Welt da unten. Ich bin einfach gern hier. Und heute wollte ich eben gern mit dir hier sein.“, redete Rye verträumt weiter und lächelte anschließend zufrieden. Gin biss sich auf die Unterlippe. Er spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss. Dieser Kerl machte ihn wahnsinnig mit seinen liebevollen Worten. Doch irgendwie bekam er das Gefühl, dass es noch einen anderen Grund gab, weshalb Rye ihn hier hoch gebracht hatte. Der wahre Grund für dieses Treffen.

Gin holte tief Luft. Er wollte nicht nachfragen. Er konnte es nicht. Er fühlte sich nicht dazu in der Lage, das Gespräch in diese Richtung fortzuführen. Womöglich wäre es das Beste, auf ein anderes Thema einzulenken.

„Verstehe…“, meinte er, um Ryes Aussage nicht komplett unerwidert zu lassen.

„Wie ist eigentlich das Gespräch gelaufen?“ Irgendwie hatte er dieses total vergessen, obwohl er Rye das eigentlich gleich am Anfang hatte fragen wollen. Dieser blinzelte ihn kurz verwirrt an, danach schien er zu begreifen.

„Ganz okay.“, entgegnete er seufzend. „Der Boss und ich werden einander wohl nie mögen, aber zum Glück lässt er mich bleiben. Vorausgesetzt, ich halte mich an die Regeln, die er aufgestellt hat.“

„Es ist immerhin ein kleiner Fortschritt.“, versuchte Gin ihn aufzuheitern, bevor er nachhakte: „Sonst noch etwas?“

„Nein.“, antwortete Rye kühl, während er starr geradeaus blickte. Gin runzelte misstrauisch die Stirn. Er überlegte, ob er weiter bohren sollte oder nicht. Doch Rye nahm ihm die Entscheidung ab, indem er von selbst fortfuhr: „Danke übrigens, dass du dich für mich eingesetzt hast. Ohne dich wäre das Gespräch wahrscheinlich ganz anders ausgefallen. Aber du solltest aufpassen. Er glaubt, ich manipuliere dich.“

Über die Warnung war Gin etwas überrascht, obwohl er das übervorsichtige Verhalten seines Bosses so langsam gewöhnt sein müsste. Anscheinend gab es niemanden auf dieser Welt, der dessen vollständiges, uneingeschränktes Vertrauen genoss. Oder er hasste Rye einfach so sehr, dass er ihm alles zutrauen würde und sogar vertraute Kontakte zu seinen Feinden zählen würde, wenn sie mit Rye in Verbindung standen. Manchmal konnte Vater wirklich ein empfindlicher Trotz sein. Aber darüber wollte sich Gin keine weiteren Gedanken machen. Rye durfte in der Organisation bleiben. Alles andere war erst mal nicht wichtig und konnte später noch geklärt werden. Momentan wollte er nur auf das dankbare Lächeln des Schwarzhaarigen achten, welches ein warmes Gefühl in Gin auslöste und ihm ebenso ein Lächeln entlockte.

„Wer weiß, vielleicht tust du das auf eine gewisse Weise schon.“, scherzte er. Falls Rye ihn wirklich manipulierte, hätte er das mit Sicherheit bereits gemerkt. Denn es hatte andere Gründe gehabt, dass er sich für ihn eingesetzt hatte.

Außerdem scheint er großen Wert darauf zu legen, ein ehrliches Verhältnis zu mir aufzubauen. Er gibt sich solche Mühe… und ich…“

„Ich dachte du willst einfach, dass ich bei dir bleibe?“, fragte Rye plötzlich, woraufhin Gin ihn aufgelöst anstarrte. Obwohl er das so nie direkt gesagt oder gedacht hatte, fühlte er sich ertappt. Abgesehen von den ganzen Schwierigkeiten in die Rye ihn gebracht hatte, wäre sein Leben ohne ihn irgendwie leer. So eintönig und langweilig. Wie vorher. Aber das konnte er nicht zugeben.

„A-Also wenn du das so ausdrückst…“, stammelte er, bis seine Stimme letztlich versagte. Er spürte, wie er erneut rot anlief.

„Ist es wahr?“ Ryes Augen fixierten ihn eindringlich. Sie brannten förmlich vor Hoffnung. Gin konnte diesem Blick nicht lange standhalten und senkte beschämt den Kopf.

 

Im nächsten Moment kam eine Windböe auf, welche ein paar von Gins langen, silbernen Strähnen ergriff und zu Rye wehte. Dessen Augen weiteten sich fasziniert, als somit auch der süße, verführerische Geruch des Silberhaarigen zu ihm getragen wurde. Der Duft stieg in seine Nase, entflammte seine Kehle und lähmte seinen Verstand. Rye schluckte und hielt den Atem an. Sein Blick war ununterbrochen an Gins errötetes Gesicht geheftet, welches den Scham und die Unentschlossenheit seines Partners so offen widerspiegelte. Dieser Anblick ließ ihn auch das letzte bisschen seiner Beherrschung verlieren. Er hatte sich heute schon viel zu lange zurückgehalten. Jetzt war es genug. Gin würde ihm ohnehin nicht ehrlich antworten, also musste er ihn wohl oder übel zu der Antwort zwingen, die er hören wollte.

Rye ließ sich voll und ganz von seinem Verlangen leiten und packte Gins Handgelenke. Noch bevor der Silberhaarige reagieren konnte, versiegelte Rye ihre Lippen miteinander. Sofort spürte er, wie sich Gin versteifte und versuchte sich den festen Handgriffen zu entreißen. Doch Rye ließ es nicht zu. So schnell wollte er nicht aufgeben. Er hielt ein paar Sekunden inne, versuchte sich zu konzentrieren und öffnete leicht seine Augen. Die vor Schock und Entsetzen geweiteten Augen seines Partners, die er daraufhin erblickte, brachten ihn jedoch zum Zögern. Warum erwiderte Gin seinen Kuss nicht? Letztes Mal hatte er sich doch auch sofort darauf eingelassen. Was war jetzt anders? War er etwa immer noch sauer oder lag es an der Atmosphäre? Nein, das konnte nicht sein. Wahrscheinlich hatte er ihn einfach überrumpelt.

Sollte ich lieber aufhören…?“, kam es ihm in den Sinn. Doch was dann? Sich entschuldigen und irgendeine billige Erklärung aus dem Ärmel schütteln? Das kam nicht in Frage. Wenigstens sorgten seine Zweifel dafür, dass sein Verlangen etwas nachließ. Er konnte sich wieder einigermaßen auf seine nächsten Handlungen konzentrieren. Aus diesem Grund beschloss er, es noch einmal langsam anzugehen.

Rye erkundete und liebkoste sanft jeden Zentimeter von Gins Lippen, bevor er mit seiner Zunge leicht über diese strich. Er zog den Silberhaarigen näher zu sich und war erleichtert, dass dieser das widerstandslos zuließ. Als er glaubte, Gin würde sich allmählich entspannen, intensivierte er den Kuss ein wenig. Sein Verlangen wurde wieder stärker, während sein Körper anfing zu beben. Gins Lippen waren so weich und warm. Er spürte das Blut in ihnen prickeln. Wie sie sich leicht öffneten und sich endlich auf den Kuss einließen.

Rye ignorierte das unentwegte Brennen in seiner Kehle, ließ vorsichtig Gins Handgelenke los und schlang dafür seine Arme um dessen Brust, um ihn noch enger an sich zu drücken. Dabei entwich Gin ein Keuchen, doch er unterbrach den Kuss nicht und sog stattdessen noch begieriger an Ryes Lippen. Dieser nahm kaum wahr, wie er alles um sich herum vergaß. Für eine Weile schien die Erde aufzuhören sich zu drehen und alles was Rye spürte, spüren wollte, war Gin. Seinen Duft. Seine Körperwärme. Seinen heißen Atem an seinen kalten Lippen. All das und noch viel mehr. Rye musste selbst ein Stöhnen unterdrücken. Was war das für ein unbeschreiblich schönes, berauschendes Gefühl, welches ihn gerade einhüllte? Es schien fast stärker als sein Verlangen zu sein. Aber nur fast. Er musste auf der Stelle aufhören. Er musste seine Gier nach diesem Mann niederzwingen und sich von ihm lösen. Bevor er von Gin noch mehr wollen würde, als lediglich einen intensiven Kuss.

Rye stieß Gin ruckartig von sich weg und wich so weit zurück, bis er die Brüstung hinter sich spürte, welche bei seinem Aufprall ein lautes Knallen von sich gab. Kurz darauf ließ er sich benommen auf die Knie sinken. Sein Körper vibrierte. Alles drehte sich. Sein Kopf brannte und die Flammen in seiner Kehle wollten einfach nicht erlöschen. Doch auch wenn es unerträglich weh tat, kümmerte es ihn nicht weiter. Ihm war vorher bewusst gewesen, dass der Kuss wie auch beim ersten Mal, seinen Preis haben würde. Er bereute es jetzt ebenso wenig wie damals. Sein Zustand würde sich wahrscheinlich gleich bessern.

Allerdings durfte sich die Situation diesmal nicht so entwickeln, wie bei ihrem ersten Kuss: Kein peinliches Schweigen, kein Unbehagen in der Luft, kein beschämtes Ausweichen der Blicke. Rye würde gewiss nicht wieder so tun, als hätte der Kuss nie stattgefunden.

Er ließ seinen Blick unauffällig zu Gin schweifen, welcher ihn wie erwartet nicht ansah und zu Boden starrte. Sein Atem ging sehr hastig und sein nach wie vor errötetes Gesicht war erfüllt von vielerlei Gefühlen wie Scham, Entsetzen, aber auch Lust und Enttäuschung. Er wirkte so beklommen, als würde er sich selbst nicht mehr verstehen. Doch da war er nicht allein. Auch Rye konnte sich sein spontanes Verhalten nicht wirklich erklären. Und das war schon sehr oft in Gins Nähe der Fall gewesen. Nicht nur heute. Er würde sich nie eingestehen wollen, dass er einzig und allein so vorging, weil es einem Teil von ihm nach Gins Blut verlangte. Das war unmöglich der einzige Grund. Es gab noch einen anderen, welcher nichts mit seinem Verlangen zu tun hatte und eher mit dem unbeschreiblichen Gefühl von vorhin zusammenhing. Rye wünschte sich so sehr, dieses Gefühl benennen zu können. Es existierte schon seit seiner ersten Begegnung mit Gin und doch fühlte es sich immer noch so fremd an. Es ließ ihn beinahe verrückt werden.

Begleitet von einem verzweifelten Seufzen stand Rye langsam wieder auf. Sein Körper hatte sich allmählich beruhigt und die Flammen waren endlich halbwegs erloschen.

Als er ein paar Schritte in Gins Richtung setzte, schoss dessen Blick sofort zu ihm.

„Tut mir leid, ich weiß, dass ich nicht sonderlich gut darin bin. Aber mit etwas Übung…“, meinte er entschuldigend, doch ließ den Satz mitten in der Luft hängen. Da sagte Gin plötzlich im schroffen Ton: „Hör auf damit…“

Rye blieb einen Meter vor ihm stehen. Seine Schultern spannten sich an und er ballte die Hände zu Fäusten. Auch wenn die Worte sich auf nichts spezifizierten, taten sie weh. Gin hatte vor, ihn abzuweisen. Wieder einmal.

„Mit was?“, fragte Rye dennoch vorsichtig. Vielleicht irrte er sich und Gin meinte etwas anderes. Jedoch standen die Chancen dazu sehr gering.

„Du weißt genau, was ich meine. Ich will das nicht.“, erwiderte der Silberhaarige kalt. Das. Er sprach es nicht einmal aus. Als hätten sie etwas Verbotenes getan. Rye hingegen hielt sich nicht zurück und versicherte sich: „Du willst nicht, dass ich dich küsse?“

Er vernahm, wie Gins Herz bei dem letzten Wort kurz aussetzte, nur um danach viel schneller zu schlagen. Er nickte zaghaft. Ryes Augenbrauen zogen sich zusammen. Anhand von Gins körperlichen Reaktionen begann er die Wahrheit in den Worten seines Partners anzuzweifeln. Gin konnte ihm nichts vormachen.

„Das glaube ich dir nicht.“, sagte Rye mit fester Stimme.

„So ist es aber!“, beharrte Gin jedoch und wollte zurückweichen. Aber bereits nach dem ersten Rückwärtsschritt fing Rye sein Handgelenk ein, um ihn daran zu hindern.

„Fass mich nicht an!“, stieß der Silberhaarige daraufhin wütend hervor und wollte sich dem festen Griff wieder entreißen, was ihm auch nach mehreren Versuchen nicht gelang. Rye fühlte sich dabei zunehmend unwohler, doch er ließ es sich nicht anmerken und fragte eindringlich: „Willst du das etwa auch nicht?“

Gin hielt inne und starrte ihn mit großen Augen an.

Ryes Miene verfinsterte sich, während er wartete, dass Gin seine Frage bejahen würde. Dass er vor dem, was er wirklich wollte, die Augen verschloss und ihn wieder anlog. Doch er sagte vorerst nichts dazu, weshalb Rye die Gelegenheit nutzte, um etwas hinzuzufügen: „Warum belügst du dich selbst? Denkst du, ich merke nicht, wie du mir entgegen kommst und meine Küsse erwiderst? Du willst es.“

Er ließ Gin erst gar nicht darauf reagieren, sondern packte ihn an den Oberarmen und zog ihn zu sich heran, um erneut einen Kuss zu beginnen. Er wollte es ihm zeigen. Ihm beweisen, dass dieses Verlangen auf Gegenseitigkeit beruhte. Anfangs versuchte sich Gin noch zu wehren und Rye von sich wegzudrücken, doch dieser Widerstand ließ schon nach wenigen Sekunden nach. Seine Arme wurden schlaff und als er wie erhofft begann den Kuss zu erwidern, löste sich Rye sofort von ihm, wobei dem Silberhaarigen ein Stöhnen entwich. Triumphierend beobachtete Rye, wie sich offensichtliche Enttäuschung in Gins Gesicht abzeichnete. Doch kurz darauf kam auch ein seltsamer, melancholischer Ausdruck hinzu. Als hätte er aufgegeben sich gegen die Reaktionen seines Körpers zu wehren.

„Okay… du hast gewonnen…“, brachte er schweren Atems hervor, woraufhin Ryes Augenlider ungläubig flatterten. Hatte sich Gin gerade wirklich seine Niederlage eingestanden und sprach ihm nun den Sieg zu? Warum? Das passte überhaupt nicht zu dem kaltblütigen Mörder. Und gerade weil es nicht passte, wollte Rye diese Aussage nicht so einfach hinnehmen.

„Hierbei gibt es doch nichts zu gewinnen. Ich möchte nur, dass du ehrlich bist. Zu mir. Aber vor allem auch dir selbst gegenüber.“, wandte er ein. Er hatte das hier nie als eine Art Wettkampf betrachtet und er verstand nicht, wieso es für Gin so etwas zu sein schien. Doch dieser musterte ihn nun mit neu aufkommender Wut, obwohl Ryes Worte eigentlich das Gegenteil erreichen sollten.

„Als ob! Es geht dir doch immer nur um dich! Hör auf mit diesem verdammten Aufwand! Es ist doch eh nur mein Blut was du willst! Das ist das Einzige an mir, was dich anzieht!“, warf Gin ihm vor, woraufhin Rye eine Welle des Schocks durchfuhr. Die Worte trafen ihn wie Messer im Bauch. Nur mit dem Unterschied, dass sie ihn wirklich verletzten. Zu tiefst. Warum dachte Gin so über ihn? Wann hatte er je angedeutet, dass es ihm nur um sein Blut ging? Also vertraute Gin ihm doch nicht und er sah in ihm letztlich auch nur ein Monster? Ryes Hände begannen zu zittern. Er holte tief Luft und schrie mit erstickter Stimme: „Nein, du liegst falsch! Das ist es nicht!“

In Gins Gesicht deuteten keinerlei Anzeichen auf Überzeugung hin.

„Was dann? Erklär es mir doch!“, verlangte er.

Rye konnte noch nicht antworten. Er brauchte eine Weile, um den Schmerz in seinem Inneren abklingen zu lassen. Auch wenn er vermutete, dass er sowieso noch mehr Messer in Form von verletzenden Worten in den Bauch gerammt bekommen würde. Eines schmerzhafter als das andere. Er wusste sich nicht zu helfen. Er hatte Angst, dass jegliche Erklärungen Gin nicht genügen würden. Er wollte ihn nicht noch misstrauischer werden lassen als ohnehin schon. Gerade schienen alle Worte so sinnlos. Aber irgendwelche richtigen Worte musste es doch geben. Es konnten nicht alle falsch sein. Irgendwas musste er doch sagen können, um Gins Zweifel ein für alle Mal zu vertreiben.

Wie soll ich ihm bloß erklären, warum ich all das tue, wenn ich es doch selbst nicht so genau weiß…“, dachte er, während er die Ungeduld in Gins Augen erkannte.

„Ich…“, begann er, um ihn nicht länger hinzuhalten. Doch er verstummte wieder. Es klang zu unsicher. Gedanklich ließ er die letzten Wochen im Schnelldurchlauf Revue passieren. Irgendetwas musste da doch sein, um sich eine passende Erklärung zurechtzulegen. Einen Hinweis darauf, wie er sein Handeln endlich verstehen konnte. Ihm schossen zu viele Bilder durch den Kopf. Zu viele Worte, die Personen zu ihm gesagt hatten und zu viele Antworten, die er darauf gegeben hatte. Doch dann nahm plötzlich eine ganz bestimmte Szene vor seinem inneren Auge Gestalt an. Er sah die blonde Frau, die er so sehr verabscheute, wie sie ihn fragte: Du hast dich doch nicht etwa nach so kurzer Zeit schon verliebt?“

Im folgenden Moment traf es ihn wie ein Blitz. Damals hatte er nicht kapiert, was die Frau damit gemeint hatte. Doch jetzt fing alles an einen Sinn zu ergeben. Dieses fremde Gefühl, welches er nie hatte deuten können, war… Liebe. Und dann wurde es Rye klar. Er musste Gin nichts erklären. Sondern ihm etwas gestehen.

Er nahm eine selbstsichere Haltung an und setzte ein zufriedenes Lächeln auf. Es fühlte sich so gut an, den wahren Grund endlich zu wissen. Zu verstehen, warum er Gin so sehr begehrte und für immer an dessen Seite bleiben wollte.

„Es gibt keine Erklärung dafür... Nur ein Geständnis, das ich bereits viel zu lange vor mir herschiebe.“, sagte Rye entschlossen.

Misstrauen lag in Gins Blick, jedoch ließ sich Rye davon nicht beirren und atmete tief durch, bevor er die drei Worte aussprach: „Ich liebe dich.“

Zuerst zeigte Gin keine Reaktion. Er stand wie versteinert da und musterte ihn mit schockgeweiteten Augen. Sogar den Atem hatte er für einen kurzen Moment angehalten. Dem Anschein nach konnte er die Worte nicht erfassen.

Ich frage mich, ob er sie gerade zum ersten Mal gehört hat…“ Rye konnte sich nicht vorstellen, wie jemand Gin jemals seine Liebe gestanden hatte. Selbst wenn, hatte der Silberhaarige zu hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit ausnahmslos jedes Geständnis abgelehnt. Er wirkte ganz wie ein Mensch, der sich nicht lieben lassen würde. Von niemandem auf der Welt. Und genau das war es, was in Rye eine unbeschreiblich große Angst auslöste. Er biss die Zähne zusammen und versuchte zu vermeiden, dass auch nur die kleinsten Anzeichen dieser Angst nach Außen gelangten.

„Du… liebst mich…“, brachte Gin auf einmal atemlos hervor. Womöglich wiederholte er die Worte für sich selbst, um sie besser auf sich wirken lassen zu können. Um es ihm vielleicht etwas leichter zu machen, verdeutlichte Rye: „Ja. Ich liebe dich, schon seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe.“

Wer hätte gedacht, dass er je an so was wie Liebe auf den ersten Blick festhalten würde? Jedoch beschlich ihn das unsichere Gefühl, dass diese Liebe nur von einer Seite ausgegangen war.

Gin stutzte, dann trat ein nachdenklicher Ausdruck in sein Gesicht, welchen Rye nicht deuten konnte. Es vergingen einige Sekunden in Schweigen, bis der Silberhaarige mit leerem Blick den Kopf schüttelte, was Rye noch mehr verwirrte. Lehnte Gin sein Geständnis etwa ab? Er weigerte sich, diese Geste so zu deuten und wartete auf Gins nachfolgende Worte.

„Du sagtest letztens, ich sei dein Problem, seit du mich zum ersten Mal gesehen hast. Erinnerst du dich? Also ist deine Liebe zu mir ein Problem für dich?“, wollte er wissen. Rye war etwas bestürzt über diese recht eigenwillige Schlussfolgerung. Auch wenn er zugegeben selbst Schuld daran trug. Er hätte damals nicht so ausrasten dürfen und das ein oder andere lieber für sich behalten sollen.

„Nein, das stimmt so nicht.“, sagte er. Als Gin den Mund öffnete, um zu widersprechen, redete er schnell weiter: „Als ich dir das gesagt habe, war mir noch nicht bewusst gewesen, dass ich dich liebe… Ich habe vieles unbedacht ausgesprochen, weil ich so wütend gewesen war. Nicht nur auf dich, sondern auch auf mich, weil ich mich selbst nicht verstanden habe. Ich habe dir vorgeworfen, dass du gefühlskalt seist… Dabei verstehe ich viele Gefühle ebenso wenig. Also ich fühle schon etwas, doch ich kann es meistens nicht einordnen.“

Rye unterbrach sich, um Gin antworten zu lassen. Doch dieser schien nicht zu wissen, was er dazu sagen sollte. Selbst seine Miene blieb ausdruckslos, sodass Rye nichts aus dieser ablesen konnte.

„Es ist okay für mich, wenn du nicht genauso empfindest. Aber das ändert nichts an meinen Gefühlen. Bedaure, aber selbst wenn du es mir ausdrücklich befehlen würdest, könnte ich dir niemals fern bleiben. Du müsstest mich ertragen. Und ich weiß nicht, ob ich mich immer zurückhalten könnte. Es tut mir leid.“

Der erste Satz war natürlich gelogen. Es wäre auf keinen Fall okay. Aber er würde so tun, als wäre es das. Jedoch würde das wahrscheinlich nicht immer funktionieren.

Jetzt umzuckte Gins Lippen ein leichtes Lächeln, welches in Rye einen Hoffnungsschimmer weckte.

„Du formulierst das so, als bliebe mir keine andere Wahl.“, meinte er. Es klang etwas belustigt. Rye senkte beschämt den Blick, dann murmelte er: „Deswegen hab ich mich entschuldigt…“

„Es ist lächerlich sich dafür zu entschuldigen, dass man jemanden liebt. Wenn ich dich nicht ertragen könnte, hätte ich nicht versucht dafür zu sorgen, dass du bleiben darfst.“, erwiderte Gin, woraufhin Rye sofort wieder aufblickte. Zwar heiterten ihn diese Worte ein bisschen auf, doch sie vertrieben sein Schuldgefühl nicht gänzlich.

„Es ist etwas anderes, wenn ein Mensch sich dir aufhalst, oder ein blutsaugendes Monster, das nicht in der Lage ist, sich zu kontrollieren. Vielleicht hast du recht, dass es mir immer nur um mich geht. Denn dich dauerhaft so einer Gefahr auszusetzen, nur weil ich dich so sehr begehre, ist womöglich das Egoistischste, was ich je tun werde.“, sagte Rye in einer verzweifelten Tonlage, bevor er die Verlegenheit in Gins Gesicht bemerkte. Obwohl er diese Reaktion nicht ganz nachvollziehen konnte, breitete sich ein wohliger Schauer in seinem Körper aus.

„Es ist zwar lästig, dass du stärker bist als ich… und es stört mich, dass ich dir keine reinhauen kann, wenn du mir auf die Nerven gehst… aber deswegen halte ich dich nicht für ein Monster. Du kannst nichts für deinen Zustand.“, gab Gin zu. Während der kleinen Sprechpausen konnte Rye ein amüsiertes Lächeln auf den Lippen des Silberhaarigen erkennen, bevor dessen Miene bei den letzten zwei Sätzen wieder ernst wurde. Rye überkam eine große Welle der Erleichterung. Einerseits war es schlecht, dass sich Gin der Gefahr nicht bewusst war, die von Rye ausging, aber andererseits war dieser froh, dass Gin in ihm doch kein Monster sah.

„Nein, natürlich nicht. Aber ich kann auch nicht sonderlich gut damit umgehen… Ich töte Menschen und richte Chaos an, wohin ich auch gehe... Ich hasse mich. Ich hasse mich so sehr, dass ich nichts lieber will, als endlich zu sterben. Jedenfalls dachte ich so, bis ich dich getroffen hab. Von da an hab ich mich so sehr auf dich konzentriert, dass ich fast alles um mich herum vergessen habe. Ich glaube… nein, ich bin mir sicher, dass ich mit dir an meiner Seite meinen Hass auf mich selbst überwinden kann. Wenn ich dich lieben dürfte, und du mich auch lieben würdest… dann würde ich endlich wieder glücklich sein können. Es ginge mir besser und ich könnte mein Dasein ertragen…“ Rye sprach einfach aus, was ihm gerade durch den Kopf ging. Er wollte nichts mehr vor Gin verbergen. Der Silberhaarige sollte wissen, wie genau er empfand, was diese Liebe in ihm auslöste und warum es ihm so wichtig war, dass seine Gefühle erwidert werden würden. Er sollte wissen, dass er sich nach einer romantischen Beziehung sehnte. Und vor allem sollte er wissen, dass es nichts auf der Welt gab, was er lieber wollte als ihn. Auch nicht den Tod.

Jedoch beobachtete Rye mit wachsender Nervosität, wie Gin die Hände in seinen Mantel krallte und die Lippen zusammenpresste. Sein Gesicht hatte wieder genau denselben entsetzten Ausdruck, als sie vorhin über die Selbstmordmethode gesprochen hatten, sich von einem hohen Gebäude zu stürzen.

Er mag es nicht, wenn ich so über meinen Tod spreche…“, wurde Rye klar. Doch Gin schien dazu nichts sagen zu wollen, sondern ging stattdessen auf den anderen Teil der Aussage ein.

„Und wie glaubst du, soll diese Liebe funktionieren?“, fragte er. Die Tonlage seiner Stimme verriet jedoch, dass er bezweifelte, dass diese Liebe funktionieren würde. Doch Rye war fest dazu entschlossen, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.

„Ich weiß es ehrlich gesagt selbst nicht so genau. Aber wir werden es nie herausfinden, wenn wir es nicht probieren.“ Zugegebenermaßen war er selbst etwas gespannt in welche Richtung sich eine solche Beziehung entwickeln würde. Er wusste nicht, ob es gut gehen würde und er hatte Angst, es zu vermasseln. Zwei Männer, die beide nicht sonderlich viel Erfahrung in der Liebe hatten. Noch dazu nicht von derselben Spezies. Das konnte nur in einer Katastrophe enden. Und dennoch war Rye bereit dazu, alles dafür zu tun, um es eben nicht so enden zu lassen. Er würde sich gegen sämtliche Strapazen auflehnen und sich gegen alle Gesetze der Natur wehren. Es spielte keine Rolle, ob Vampire die Fressfeinde der Menschen waren. Gin sollte sein Geliebter werden. Dieser schwieg allerdings nach wie vor.

„Möchtest du es probieren?“, fragte Rye, um ihm doch noch eine Antwort zu entlocken. Er verdrängte dabei bewusst, dass das Wort Nein existierte und hoffte inständig auf ein Ja. Doch er bekam weder noch als Antwort.

„Also ich… ich weiß es nicht…“, brachte Gin verunsichert über die Lippen. Wenigstens lehnte er nicht sofort ab, ohne vorher darüber nachzudenken.

„Du weißt es nicht?“, hakte Rye nach. Gin nickte befangen.

„Ich weiß nicht, ob ich dir das geben könnte, was du willst… Ich habe noch nie jemanden… geliebt.“, erklärte er leise. Diesen Satz kannte Rye. Auch Gin sprach das letzte Wort so aus, als sein es ihm fremd.

„Ich auch nicht. Du bist meine erste Liebe.“, offenbarte Rye mit fester Stimme, woraufhin Gin seine Augen kurz weitete und rot anlief.

„Lass mich auch deine erste Liebe sein.“ Wie von selbst hoben sich Ryes Hände, um mit den Fingern über diese verführerische Röte der Wangen zu streichen, welche daraufhin noch intensiver wurde.

„Aber was, wenn ich das nicht kann…“, sagte Gin währenddessen benommen.

„Versuch es. Versuch, mich zu lieben.“, versuchte Rye ihn zu ermutigen. Doch die Unsicherheit wollte nicht aus Gins Miene verschwinden, weshalb sich Rye langsam vorbeugte und ihm einen federleichten Kuss auf die Lippen hauchte. Anschließend lächelte er Gin verständnisvoll an und fügte hinzu: „Ich weiß doch auch nicht, wie man einen Menschen richtig liebt. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass wir beide einen Weg finden werden. Gemeinsam.“

Gin senkte für einen kurzen Moment nachdenklich den Blick, bevor er beschämt murmelte: „Wenn du das sagst… vertraue ich dir.“

Kaum waren die Worte ausgesprochen, begann Rye vor freudiger Erregung zu strahlen. Er konnte sich gerade noch davon abhalten, Gin um den Hals zu fallen. Stattdessen ergriff er aus dem Impuls heraus die Hände des Silberhaarigen, drückte sie fest und ließ sich auf die Knie sinken. Dieser verfolgte die schnelle Bewegung mit schreckgeweiteten Augen.

„Möchtest du von nun an mein Geliebter sein?“, fragte Rye aus vollem Herzen. Er wollte sich absolut sicher sein, dass Gin von heute an ihm gehören würde. Diesen Moment würde er sich für immer bis auf jedes letzte Detail einprägen.

„J-Ja, meinetwegen!“, zwang sich Gin verdattert über die Lippen. „Und jetzt steh gefälligst wieder auf! Das ist doch kein Heiratsantrag!“ Er versuchte Rye an den Händen wieder hochzuziehen, welcher begann zu lachen und sich wieder aufrichtete.

„Das nicht, aber es ist für mich von genau so hoher Bedeutung.“, meinte er neckend, während er seine Arme um Gins Taille legte und ihn zu sich ran zog, um seine Nase in den silbernen Strähnen zu vergraben. Rye atmete den süßen Duft seines Geliebten ein und fuhr mit seinen Lippen ganz leicht über dessen Hals, was ihm ein wohliges Seufzen entlockte.

„Ich liebe dich.“, flüsterte Rye Gin ins Ohr und spürte kurz darauf, wie dieser erschauderte. Rye konnte sich nicht glücklich genug schätzen. Lange hatte er versucht Gin auf die verschiedensten Weisen näherzukommen, und nun hatte sich endlich erwiesen, dass diese Mühe nicht umsonst gewesen war. Er konnte Gin ganz für sich allein beanspruchen und ihm so viel von seiner Liebe schenken, wie er wollte. Im Moment schien alles perfekt. Und er würde alles dafür tun, dass das auch so blieb.

 

 

 

 

 

 

Zur selben Zeit irgendwo in Tokio, an einer Telefonzelle

 

Der ältere Mann lockerte seinen Kragen und atmete tief durch, als er in die schlichte Telefonzelle trat und die Tür hinter sich schloss.

Ein. Aus. Ein. Aus. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, warf ein 100 Yen Stück durch den Schlitz und griff mit zitternder Hand zum Hörer. Er wählte die Nummer, die sie ihm gegeben hatten. Ein langgezogenes Tuten ertönte. Dann erfolgte ein kürzeres in regelmäßigen Abständen. Draußen tropften derweil die ersten Regentropfen an die Scheiben. Der Verkehr war zu laut. Alles ging so schnell. Viel zu schnell. Ihm blieb keine Zeit. Das Tuten hörte nicht auf. Sein Blick schoss nervös in alle Richtungen. Wurde er beobachtet? Dieses Gefühl konnte er seit Wochen nicht abschütteln. Irgendeiner von ihnen war immer da. Sie waren mächtig. Zu mächtig.

Endlich nahm jemand ab. Er wartete, bis sich die Person zuerst meldete. Die Stimme klang relativ jung und autoritär. Sie kam ihm bekannt vor.

Nach einem weiteren zittrigen Atemzug begann er zu berichten: „Ich bin‘s. Ich glaube, ich habe den Mann gefunden, den ihr sucht.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Centranthusalba
2022-01-25T17:58:49+00:00 25.01.2022 18:58
Ayyy, das war lang..😮‍💨
Mein persönliches Highlight: „das ist ein Date“ - „mit wem? Und was mache ich hier?“
😂😂😂😂😂😂😂😂😂😂😂😂😂
Wenn du gestattest, werde ich das irgendwann bei mir auch einbauen… so gut!
Tja, die beiden Kindsköppe. Das war ne schwere Geburt….
Ich muss ehrlich sagen, da waren mir diesmal zu viele Gedankengänge zwischen dem Gesprochenen. Und generell sehr viele Schleifen in dem Dialog. Natürlich ist da gerade viel durcheinander und die Barrieren fallen nur zögerlich. Aber nach dem ersten Kuss und mindestens 2x nebeneinander im Bett, hätte ich vermutet, dass das etwas schneller bzw. stürmischer von statten geht. Bei den vielen Gedanken, die sie sich beide bereits in den letzten Kapiteln gemacht hatten, dachte ich diese Phase des Bewusstwerdens wären sie nun hinaus.
Na gut. Das ist jetzt eher so eine Abmachung mit kühlem Kopf. Da bin ich ja mal gespannt, was nun kommt.😊😊😊
Antwort von:  ginakai
25.01.2022 19:14
Die beiden sind zugegebenermaßen etwas schwierig zu schreiben, insbesondere weil Gin ja eigentlich "der gefühlslose Mörder" ist - und das schon von klein auf 🤔 und Ryes Charakter ist wegen seines psychischen Zustands und seinem Gedächtnisverlust noch eine andere Herausforderung
Manchmal komm ich da selbst ein wenig durcheinander, weil ich mir zu viele Gedanken mache und nicht alles so "rushen" will 😂 ich schreibe ziemlich viel und detailliert, was in manchen Situationen wahrscheinlich unangebracht ist. Leider kann ich das schwer einschätzen. Ich hoffe bloß, dass es bei den nächsten Kapiteln nicht so schlimm wirkt 👀


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