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The Monster inside my Veins

von

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Wer sind Sie?

Ich habe es wirklich bis zur letzten Stunde hinausgezögert…“, dachte Rye beklommen, während er auf dem Weg zum Büro des Bosses war. Als er eben im Fahrstuhl einen Blick auf sein Smartphone geworfen hatte, war es kurz vor 23:00 Uhr gewesen.

Gin hat ja gesagt ‚im Laufe des Tages‘, so gesehen ist noch eine Stunde Zeit.“, versuchte er sich zu ermutigen und zuckte mit den Schultern. Er blendete alle Unsicherheiten aus und konzentrierte sich voll und ganz auf das, was nach diesem Treffen mit dem Boss noch stattfinden würde: Ein heiß ersehntes Date mit Gin.

Nur das Rye der Einzige von beiden war, der wusste, dass es sich um ein Date handelte. Hätte er Gin das in seiner SMS verraten, würde dieser mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zum Treffpunkt kommen. Zwar hatte der Silberhaarige nicht auf die SMS geantwortet, aber Rye glaubte trotzdem fest daran, dass er erscheinen würde. Falls nicht, müsste er ihm zu Hause einen Besuch abstatten und ihn abholen. So oder so: Der Tag würde mit Sicherheit ein gutes Ende nehmen - wenn Rye davon ausging, dass er das Date nicht in den Sand setzte. Er durfte sich also nicht von dem kommenden Gespräch mit dem Boss unterkriegen lassen. Zudem vertraute er darauf, dass es Gin bereits gelungen war, diesen soweit zu überzeugen, dass er bleiben durfte.

Es gibt keinen Grund zur Sorge.“, versuchte sich Rye klarzumachen, als die Tür zum Büro in sein Blickfeld geriet. Auch diesmal waren davor wieder dieselben Männer postiert. Als diese ihn bemerkten, wichen sie umgehend zurück und zogen den Kopf ein. Äußerlich ignorierte Rye die beiden, lachte aber innerlich über ihre offensichtliche Angst vor ihm. Wirklich zwei nützliche Wachen.

Rye nahm eine entschlossene Haltung ein und drückte ohne anzuklopfen die Türklinke herunter, wobei er im Augenwinkel sah, wie den beiden Männern die Münder aufklappten.

Kaum hatte er den Raum betreten und die Tür hinter sich geschlossen, erblickte er den Boss mit überschlagenen Beinen an seinem Schreibtisch sitzen. Er telefonierte gerade mit jemandem und verdrehte beim Anblick des Schwarzhaarigen genervt die Augen.

„Ja, ich versteh schon. Am besten du kommst gleich vorbei, damit wir das vernünftig bereden können. Ich muss dringend auflegen, offensichtlich mangelt es einigen Leuten an guten Manieren.“, sagte der Boss zu seinem Gesprächspartner und verengte beim letzten Satz missmutig die Augen in Ryes Richtung. Diesem durchlief augenblicklich ein Schauer, bevor er schnell den Blick senkte.

Nach ein paar Sekunden Stille vernahm Rye, wie der Boss den Hörer auflegte. Erst dann wagte er es, wieder aufzusehen. Nur um daraufhin von dem übellaunigen Blick seines Gegenübers durchbohrt zu werden.

„Du kommst nicht nur ziemlich spät, sondern besitzt obendrein auch noch die Frechheit unangekündigt hereinzuplatzen. Beim nächsten Mal klopfst du gefälligst vorher an und wartest, bis ich dich hereinbitte. Und wenn ich das nicht tue, bleibst du draußen. Haben wir uns verstanden?“, wies der Boss ihn in herrischer Tonlage zurecht.

„Ja, Sir. Verzeihen Sie.“, erwiderte Rye monoton und hoffte heimlich, dass es kein nächstes Mal geben würde.

Der Boss stützte lächelnd den Kopf auf seiner Handfläche ab, dann meinte er belustigt: „Du scheinst dich sehr auf unser Wiedersehen gefreut zu haben.“

Rye erkannte die Ironie des Satzes und erwiderte daher: „Die Freude beruht wohl auf Gegenseitigkeit.“

„In der Tat.“ Das Lächeln des Bosses wurde breiter. „Du kannst ruhig näher kommen.“, fügte er hinzu, woraufhin Rye auffiel, dass er immer noch dicht an der Tür stand. Eigentlich würde er es auch bevorzugen dort stehenzubleiben, doch er hielt es für besser, den Worten Folge zu leisten. Er wollte den Boss nicht nochmal verärgern.

„Ich bin zugegebenermaßen etwas überrascht von dir. Wie ich gehört habe, hast du den Auftrag erfolgreich ausgeführt. Gin hat dich in den höchsten Tönen gelobt.“, sprach der Boss im belanglosem Tonfall, wobei Rye jedoch an dessen abfälligem Gesichtsausdruck erkannte, dass ihm das gar nicht gefiel.

„Hat er das?“, entwich es Rye erstaunt. So wirklich Glauben schenken konnte er der Aussage trotzdem nicht. Das würde nicht zu Gin passen.

Nach einem Nicken erwiderte der Boss: „Er wollte einfach nicht nachgeben, so etwas kenne ich überhaupt nicht von ihm. Aber seine Einschätzung ist mir eben sehr wichtig.“

Ryes Augen wurden groß. Offenbar war das die Wahrheit. Doch sobald sich die aufkeimende Hoffnung in seinem Gesicht zeigte, wurde sie vom Boss wieder zerstört, indem er fortfuhr: „Bedauerlicherweise weiß ich nicht, inwieweit seine Einschätzung glaubwürdig ist. Wahrscheinlich hast du ihn manipuliert, damit er für dich lügt.“

„Das würde ich niemals tun!“, stritt Rye umgehend ab. Dass er dabei laut wurde, konnte er nicht verhindern. Denn diese Behauptung hatte eine ungehaltene Menge Wut in ihm ausgelöst. Jedoch konnte er dem Boss nicht sagen, dass es ihn selbst unglücklich machen würde, wenn sein Verhältnis zu Gin nur auf Manipulation seinerseits beruhen würde. Ebenso wenig konnte er ihm verraten, dass sich Gin aus eigenem Willen für ihn eingesetzt hatte. Es dauerte deshalb einen Moment, bis Rye eine passende Erklärung einfiel.

„Ich habe mich auf eine ehrliche Weise bemüht, dass er mich… respektiert. Als Partner. Und so, wie ich gern in der Organisation bleiben würde, will er eben… weiterhin mit mir zusammen arbeiten… Er will, dass ich bleibe… hoffe ich.“ Vor Unsicherheit klang seine Stimme ganz leise. Obwohl Gins Unterstützung in den letzten Tagen eindeutig genug gewesen war, beschlich Rye nun das unangenehme Gefühl, etwas Falsches gesagt zu haben.

„Mit anderen Worten: Du willst mir weiß machen, dass er dich mag?“ Der Boss zog spottend die Augenbrauen nach oben. So ausgedrückt klang es tatsächlich noch unglaubwürdiger, weshalb sich Rye nicht traute die Frage zu bejahen. Jetzt wurde ihm erst richtig bewusst, wie sehr er solche Worte wie ‚Ich mag dich‘ oder ‚Du bist mir wichtig‘ aus Gins Mund hören wollte. Bevor das nicht geschah, konnte er sich nie zu hundert Prozent sicher sein.

„Sie können sich das womöglich nicht vorstellen, weil Sie mich so sehr verabscheuen.“, wich er der Frage einfach aus.

„Da liegst du richtig. Ich kann es mir nicht vorstellen.“, stimmte der Boss ihm zu. Auch wenn das klar auf der Hand gelegen hatte und Rye davon nicht überrascht sein sollte, so war diese Direktheit dennoch irgendwie verletzend.

„Aber das hat nicht nur etwas mit dir zu tun. Ich bin eher von Gin überrascht. Dass er jemanden mag, kommt so gut wie nie vor. Du musst dich wohl sehr bemüht haben.“ Es klang noch immer so, als würde der Boss ihm nicht glauben. Rye nickte trotzdem und erwiderte: „Das habe ich… Und ich will mich auch zukünftig bemühen. Für jeden Auftrag, den Sie mir erteilen. Ich möchte meine Fähigkeiten weiterhin für die Organisation einsetzen… wenn Sie es mir gestatten.“

Er war sich dessen bewusst, dass die förmliche Tonlage keinesfalls die Überzeugungskraft seiner Aussage unterstütze. Doch er hoffte, dass der Boss dennoch die Wahrheit in seinen Worten erkennen würde. Dieser schwieg nun und zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen. Seine Augen wurden schmal und es spiegelte sich leichtes Misstrauen in ihnen wider. Diesen Gesichtsausdruck hatte Rye schon so oft bei Gin gesehen.

„Ich bitte Sie… geben Sie mir diese eine Chance.“, fügte er noch flehend hinzu und ballte nebenher die Hände unbewusst zu Fäusten. Es war ihm egal, wie armselig er sich gerade bestimmt aufführte. Solange es half, den Boss vielleicht umzustimmen, würde er sich mit solchen Äußerungen nicht zurückhalten.

„Wenn du die haben willst, musst du ein paar Bedingungen erfüllen.“, antwortete der Ältere entgegen all seinen Erwartungen. Das klang immerhin schon nach einem halben Ja. Rye spürte, wie das angenehme Gefühl eines kleinen Erfolges durch seinen Körper strömte. Die Bedingungen würden hoffentlich mit Leichtigkeit zu erfüllen sein.

„Diese wären?“, wollte er wissen.

Die Hände des Bosses schoben sich ineinander und er sah dem Schwarzhaarigen fest in die Augen, als er begann zu sprechen: „Erstens: Du wirst keinem meiner Leute je wieder Schaden zufügen. Zweitens: Du wirst keinen meiner Befehle missachten. Und drittens: Du wirst anfangen dich zu beherrschen. Das meine ich insofern, dass ich nichts mehr in den Nachrichten hören oder lesen will, was mit dir in Verbindung steht. Verhalte dich dementsprechend unauffällig und beseitige deine Sauereien.“

Rye schwor sich, diese von nun an für ihn geltenden Regeln unter allen Umständen einzuhalten. Die ersten beiden nahm er für selbstverständlich und es würde wahrscheinlich kein Problem sein, sie nicht zu missachten. Eine Herausforderung stellte eher die Dritte dar. Denn nach seinen Taten war er nicht immer dazu in der Lage seine Spuren zu beseitigen. Meistens kehrte sein klarer Verstand erst Stunden später wieder zurück, wo es möglicherweise schon zu spät sein könnte. Zudem konnte er keinerlei Einfluss darauf nehmen wo und wann er seinen Verstand verlieren würde. Denn oft kam das Monster in ihm ohne eine Vorwarnung zum Vorschein. Er konnte nicht voraussagen, was genau seinen Jagdinstinkt wecken würde und wie viele Reize vonnöten waren, um seine Grenze zu überschreiten.

„Ich glaube du weißt sicherlich was passieren wird, wenn du dich nicht an diese Bedingungen hältst.“ In der drohenden Stimme des Bosses lag wieder diese gewisse Kälte, die Rye einen Schauer über den Rücken jagte. Natürlich wusste er es. Er wusste es nur zu gut. Der Boss hatte den Namen der Organisation wohl bewusst nicht ausgesprochen, zu welcher er ihn umgehend zurückschicken würde, sobald er auch nur eine der Regeln brach. Das durfte auf keinen Fall passieren. Rye glaubte nicht im Geringsten daran, seinem verheerenden Schicksal, welches ihn in Eclipse erwartete, noch ein zweites Mal entfliehen zu können.

„Ja, Sir. Das weiß ich.“, antwortete er tonlos, sodass nichts von der Angst mitschwang, die ihn bei seinen Gedanken bedrückte.

„Dann sind wir uns hoffentlich einig.“ Der Boss lehnte sich in seinem Sessel zurück, bevor er in scharfer Tonlage hinzufügte: „Eine Frage hab ich aber noch an dich.“

Rye spannte sich an. Was auch immer jetzt gleich kommen würde, war mit Sicherheit nicht leicht zu beantworten. Wenn nicht sogar unmöglich.

„Du läufst immerzu davon und versuchst dich an verschiedenen Orten zu verstecken und dort in Sicherheit zu wiegen. Aber das ist vollkommen zwecklos. Jeder Mensch, den du tötest, ist wie ein Schrei von dir, der Eclipse früher oder später erreichen wird. Auf Dauer kannst du nirgendwo bleiben, wenn du so weiter machst wie bisher. Ich frage mich, wie lange du diese Endlosschleife ertragen kannst. Hast du nie daran gedacht, dich deinem Schicksal zu stellen?“

„Ich bezweifle, dass ich dazu fähig bin.“, brachte Rye mühsam heraus, während er den Blick senkte. Niemals wieder wollte er etwas mit Eclipse zu tun haben, geschweige denn sich jemandem davon stellen.

„Aber ich werde nicht so weiter machen wie bisher. Ich werde mich an die Bedingungen halten. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.“, versprach er mit fester Stimme und blickte mit neuer Entschlossenheit auf. Daraufhin umspielte ein süffisantes Lächeln die Lippen des Bosses.

„Na gut, ich glaube dir. Du darfst unter Vorbehalt bleiben. Sollte sich jedoch herausstellen, dass du mich in irgendeiner Weise angelogen hast und dich nicht an deine Versprechen hältst, werde ich keine Gnade zeigen. Du solltest dir immer bewusst sein, dass ich keine zweiten Chancen gebe.“, meinte er warnend. Zwar genoss Rye somit nicht das vollste Vertrauen des Bosses, jedoch fiel ihm dennoch ein Stein vom Herzen. Er hatte sein Hauptziel erreicht und alles andere war in diesem Moment erst mal nicht von weiterer Bedeutung.

„Haben Sie vielen Dank.“, sagte er, während er sich verbeugte.

„Dank mir lieber nicht zu früh.“, entgegnete der Boss sarkastisch. Kurz darauf machte er eine unwirsche Handbewegung, um den Schwarzhaarigen fortzuscheuchen.

„Geh jetzt, ich erwarte noch jemanden.“

Rye war kurz davor, dem Folge zu leisten und drehte sich bereits von dem Älteren weg. Doch dann blieb er stehen. Er konnte diesen Raum noch nicht verlassen. Da gab es noch eine Sache, die er unbedingt in Erfahrung bringen wollte. Vorher würde er nicht gehen.

„Vorher habe ich aber auch noch eine Frage an Sie.“, begann er ernst und warf seinen Blick über die Schulter, um dem Boss eindringlich in die Augen zu schauen. Dessen Miene blieb leer und er forderte ihn tonlos auf: „Stell sie.“

Rye versuchte die Unsicherheit, die ihn so plötzlich beschlich, zu ignorieren. Eigentlich handelte es sich um eine ganz normale Frage, die fast jeder normale Mensch ohne zu zögern beantworten würde. Doch irgendwie bekam er das Gefühl, dass gerade diese Person vor seinen Augen das nicht so einfach tun würde. Trotzdem beschloss Rye, es wenigstens zu versuchen und sprach die folgenden drei Worte klar und deutlich aus: „Wer sind Sie?“

Stille. Lediglich ein breites Grinsen bildete sich im Gesicht des Bosses. Ryes Miene hingegen verfinsterte sich. Er hatte genug von dieser Geheimniskrämerei. Er wollte endlich die Wahrheit über diesen Mann erfahren, welcher Eclipse zu tiefst zu hassen schien und dennoch mit ihnen in Verbindung stand. Womöglich wusste er bei weitem mehr als das, was er bisher von sich gegeben hatte. Und dieses Wissen bezog sich nicht nur auf diese mysteriöse Organisation an sich, sondern auch auf deren Hintergründe.

Ich habe seinen Vornamen noch in Erinnerung. Renya. Aber ich kann ihn nirgends einordnen…“, dachte Rye nach.

„Warum sollte ich dir das verraten?“, fragte der Boss. Er klang so, als hätte er nicht vor, die Frage zu beantworten. Was zu erwarten gewesen war. Rye versuchte in Gedanken einen Grund zu finden, wie er die Antwort vielleicht doch noch erhalten könnte. Aber das war nicht all zu leicht.

„Weil…“, begann er zögernd und schloss dann seinen Mund jedoch wieder, da er nicht wusste, wie er den Satz beenden sollte.

„Dir fällt kein Grund ein, weil es keinen gibt. So einfach.“, redete der Boss dafür in kühler Tonlage weiter. So schnell wollte sich Rye nicht geschlagen geben.

„Und wie wäre es mit einer Gegenleistung?“, äußerte er deshalb den erstbesten Gedanken, der ihm in den Sinn kam.

„Eine Gegenleistung?“, hakte der Ältere daraufhin nach. Dessen Gesichtsausdruck wirkte nun wenigstens ein bisschen interessiert.

„Ja… Im Gegenzug für die Antwort auf meine Frage werde ich etwas tun, was auch immer Sie von mir verlangen.“ Bei dieser Erläuterung fiel Rye jedoch mittendrin auf, dass er dieses Angebot nicht ganz durchdacht hatte. Innerlich fluchend presste er die Lippen zusammen, als der Boss streng erwiderte: „Du wirst so oder so tun, was ich von dir verlange.“

Darauf wusste Rye keine Antwort, mit welcher er kontern könnte. Er hatte sich dem Boss unterworfen und musste ihm von nun an treu ergeben sein. Das war eine unbestreitbare Tatsache, die sich nicht mehr ändern ließ. Demzufolge gab es auch nichts, womit er den Boss dazu bringen könnte, ihm seine wahre Identität zu verraten.

Da unterbrach auf einmal ein Seufzen die Stille.

„Warum willst du das überhaupt wissen?“ Zumindest schien der Boss dazu bereit zu sein, sich den Grund für seine gestellte Frage anzuhören, was in Rye einen kleinen Hoffnungsschimmer weckte. Er zögerte nicht lang und sagte: „Weil ich mir nicht erklären kann, warum Sie so gut über Eclipse Bescheid wissen und anscheinend auch in direktem Kontakt zu ihnen stehen. Sie haben mir bei unserem letzten Gespräch vorgeworfen, dass ich immer noch für Eclipse arbeite und mir nicht geglaubt, dass ich keinerlei Erinnerungen an meine Zeit dort verfüge. Selbst wenn das eine Lüge gewesen wäre, wissen Sie doch trotzdem viel mehr als ich über diese Organisation. Ist es nicht so?“

Rye hoffte, so ein Gespräch ins Rollen bringen zu können, worauf sich der Ältere tatsächlich einzulassen schien. Nach einem verwirrten Stirnrunzeln offenbarte dieser: „Du interpretierst das offenbar falsch. Es stimmt, dass ich sowohl den Stützpunkt, als auch ein paar Personen von Eclipse kenne. Eine davon kennt mich sogar besser als mir lieb ist. Aber ich habe sonst nicht viel mit ihnen zu tun, was ich auch gar nicht will. Sie haben mir auch keine Informationen über ihre Projekte zukommen lassen. Das, was ich über deine Art weiß, habe ich von woanders entnommen.“

Überrascht legte Rye den Kopf leicht schräg. Das kam unerwartet. Bestand da wirklich keine tiefere Verbindung? Obwohl der Kontakt zu verschiedenen Personen aus Eclipse diesen Mann schon gefährlich genug machten. Einen von diesen Kontakten kannte der Schwarzhaarige bereits. Diesen Connor, den der Boss letztens abfällig erwähnt hatte.

Ob das auch die Person ist, die ihn besser kennt als ihm lieb ist?“ Rye fragte sich, welche Rolle dieser Connor wohl spielte. Aber es interessierte ihn momentan viel mehr, woher der Boss all die anderen Informationen sonst hatte. Da fiel ihm auf Anhieb bloß das Buch ein, welches Gin ausgeliehen hatte.

„Und von wo? Haben Sie etwa auch dieses Buch gelesen?“ Kaum hatte er die Frage ausgesprochen, beobachtete er verwundert, wie sich die Miene des Bosses schlagartig veränderte und sich Schock darin abzeichnete. Ein seltsamer Ausdruck, der gar nicht zu dem sonst so herben Gesicht passte.

„Welches Buch?“, fragte der Mann in einer gefährlich ernsten Tonlage, die Rye stutzig werden ließ. Allmählich kamen ihm Zweifel, ob sie beide wirklich an dasselbe Buch dachten. Er versuchte sich an den Titel zu erinnern.

„Ein Buch über alte Volksgruppen und deren Traditionen. Gin hat es in einer Bibliothek ausgeliehen. Dort drinnen befand sich unter anderem auch ein Artikel über Eclipse.“, meinte er, während er jede noch so kleine Reaktion seines Gegenübers mit den Augen verfolgte. Dieser schien sich plötzlich wieder zu entspannen, als wären seine Befürchtungen umsonst gewesen.

„Ach dieses Teil.“, entgegnete er spöttisch. „Der Artikel da drin wirkt lediglich wie eine billige Zusammenfassung aus den Schriften meines Urgroßvaters.“

Was?“ Die Aussage warf Rye völlig aus der Bahn. Jetzt verstand er gar nichts mehr.

Das kann er nicht ernst gemeint haben… oder?“, schoss es ihm vor Verwirrung durch den Kopf.

„Ihr… Urgroßvater? War er etwa ein Zeitzeuge?“, fragte er, auch wenn er das nicht im Geringsten glaubte. Dennoch nickte der Boss zu seinem Erstaunen, während er sagte: „In der Tat.“

Rye konnte sich gerade noch beherrschen, nicht energisch vor Unglauben den Kopf zu schütteln. Das konnte unmöglich stimmen. Die Zeit, in der Vampire auf Erden geweilt hatten, musste schon sehr lange zurückliegen. Frühestens bis zu den Anfängen der normalen Zeitrechnung. Um diese gewaltige Zeitspanne bis heute zu füllen, genügten vier Generationen bei weitem nicht. „Wie alt ist dieser Kerl dann bitte??“

Er hatte sich beim letzten Mal schon über das junge Aussehen des Bosses stark gewundert. Doch wenn dieser in Wirklichkeit mehrere hundert Jahre alt war, ging da etwas eindeutig nicht auf natürliche Weise vor sich…

„Aber das ist doch alles schon viel zu lange er, als das Ihr Urgroßvater…“ Rye sprach nicht weiter und verfiel wieder in seine Überlegungen, während er vom Boss vielsagend angelächelt wurde. Es schien ihn zu amüsieren, wie der Schwarzhaarige nach und nach mehr anfing, von selbst zu begreifen.

Rye besaß nicht genügend Wissen über Eclipse, welches er anwenden konnte, um mehrere Möglichkeiten durchzuspielen. Er konnte sich einzig und allein an den Artikel dieses seltsamen Buches klammern, welchen er gelesen hatte. Da fiel ihm jedoch eine ganz entscheidende Person ein, die damals bei der Vernichtung der Vampire eine wichtige Rolle gespielt hatte.

„Kann es sein, dass ihr Urgroßvater dieser Alchemist war, der versucht hat die Vampire mit allen Mitteln zu bekämpfen und die Menschen dazu aufforderte, sich gegen sie zu wehren?“

„Sieh an, du weißt es ja schon längst.“ Der Boss klatschte sarkastisch in die Hände, was durch den Stoff der weißen Handschuhe gedämpft wurde und deshalb kaum zu hören war.

„Dann ist es also wahr, dass er das Elixier des ewigen Lebens selbst bei sich angewendet hat? Lebt er etwa noch?“, entwich es Rye fassungslos. Er wusste nicht, was ihm mehr Sorgen bereiten sollte: Die Möglichkeit, dass dieser Alchemist, dem er besser nicht begegnen sollte, womöglich noch am Leben war oder die Tatsache, dass dessen Urenkel gerade leibhaftig vor ihm saß. Beides war so verrückt, dass es genauso gut auch ein Alptraum oder eine Wahnvorstellung sein könnte.

Allerdings schüttelte der Boss bedauernd den Kopf.

„Mein Urgroßvater, Nishizaka Karasuma, ist schon vor langer Zeit gestorben.“

Darüber war Rye gleichermaßen erleichtert wie verwirrt. „Wie…?“

„Das Elixier schenkt zwar ewiges Leben, aber es schützt nicht vor Dingen wie tödlichen Unfällen oder Krankheiten.“, erklärte der Boss tonlos, was sich Rye durch den Kopf gehen ließ. Die daraus folgende Stille nutzte der Ältere, um fortzufahren: „Leider ist das nur der Beweis dafür, dass das Elixier nicht für Menschen bestimmt ist. Man bleibt zwar für eine unendlich lange Zeit jung, doch irgendwann geht jeder Film des Lebens zu Ende, auch wenn er noch so lang sein mag. Soweit ich weiß ist mein Urgroßvater im 11. Jahrhundert der Pest zum Opfer gefallen. Und so ging das mit den Krankheiten von Generation zu Generation weiter. Wie ein Fluch, der mich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch bald treffen wird.“

Er redete, als sei es ihm gleichgültig. Doch Rye war von dieser Redseligkeit sehr überrascht, auch wenn er etwas Zeit benötigte, um das Gesagte zu verarbeiten. Nichtsdestotrotz waren die Informationen für ihn interessant und vielleicht auch brauchbar. Er überlegte, ob er Gin davon erzählen sollte und stellte sich vor, wie dieser darauf reagieren würde.

„Du hingegen bist gegen all das immun. Es gibt nichts in der Welt der Menschen, was dich töten könnte. Deshalb würdest du wirklich bis in alle Ewigkeit leben.“ Der Boss betrachtete ihn mit einem Funken Neid in den Augen. Als wäre ihm sein erreichtes Alter noch nicht genug. Rye hingegen verstand nicht, aus welchem banalen Grund man ewig leben wollen würde. Ab einem gewissen Zeitpunkt würde er das Leben einfach satt haben. Er konnte sein Dasein schon jetzt nicht mehr ertragen. Und vom Boss daran erinnert worden zu sein, dass es ihm nicht vergönnt war, zu sterben, frustrierte ihn nur zusätzlich. Doch plötzlich bemerkte er etwas, als er die Worte ein zweites Mal überdachte: Der Boss hatte im letzten Satz den Konjunktiv verwendet.

„Ich würde? Das heißt, dem ist nicht so und ich werde irgendwann sterben?“ Rye konnte die aufkeimende Hoffnung und Freude in seiner Stimme nicht verbergen. Er fühlte sich, als gäbe es endlich einen Lichtblick in dieser trostlosen, nie endenden Hölle seiner Existenz.

„Ja, das wirst du, weil du nicht vollkommen bist. Die Vampire sind vor Jahrhunderten ausgestorben, man hat ihre Existenz verdrängt und heute hält man sie für einen Mythos. Aber sie konnten nur aussterben, weil ihnen ihre Unsterblichkeit wortwörtlich ausgesaugt wurde. Daraus entstand das Elixier des ewigen Lebens, welches sich bis heute in der Gewalt meiner Familie befindet. Es ist die letzte fehlende Zutat, die Eclipse benötigt, um ihr Projekt zu vollenden.“, beantwortete der Boss seine Frage, wobei Rye nach dem ersten Satz nur noch mit halbem Ohr zuhörte. Er war einfach so unendlich glücklich darüber, dass seine Qual eines Tages ein Ende haben würde.

„Weiß Eclipse, dass Sie das Elixier haben?“, fragte er, um auf den vorletzten Satz einzugehen.

„Natürlich. Aber sie wissen nicht, an welchem Ort es sich befindet. Die letzten Jahre haben sie es mit sinnlosen Verhandlungen probiert, doch ich lasse mich nicht beschwatzen. Mit der Zeit wurde es wirklich nervig und sie haben leider noch immer nicht aufgegeben.“

„Versuchen sie es denn nicht mit… anderen Mitteln? Wie Erpressung oder Morddrohungen zum Beispiel?“ Rye war erstaunt über die herabwürdigende Art, wie der Boss über Eclipse sprach. Obwohl dieser der mysteriösen Organisation womöglich weitaus unterlegen zu sein schien, schwang nicht das kleinste Anzeichen von Angst oder gar Selbstzweifel in seinen Worten mit. Nach einem Schnauben erwiderte er: „Was würde ihnen das bringen? Wenn sie mich töten, werden sie nie herausfinden, wo sich das Elixier befindet. Erpressen lasse ich mich nicht. Denn die wichtigste Aufgabe in meinem Leben ist es, dafür zu sorgen, dass das Elixier niemals in die Hände von Eclipse fällt. Es gibt nichts, was von höherer Priorität ist. So war es in allen Generationen meiner Familie. Und wenn ich eines Tages nicht mehr da bin, wird Gin diese Aufgabe fortführen.“

Mit einem Schlag überkam Rye eine Welle des Schocks.

„G-Gin?“, wich es ihm mit erstickter Stimme über die Lippen. Er wollte es nicht wahrhaben.

„So ist es.“, bestätigte der Boss zufrieden.

„Weiß er das?“, fragte Rye, obwohl er sich sicher war, dass dem nicht so sein konnte.

„Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich ihn einweihen. Ich bin mir sicher, dass er es verstehen wird. Besonders jetzt, nachdem du aufgetaucht bist.“ Der letzte Satz klang voller Abscheu, woraufhin sich Ryes Miene verfinsterte. Ihm wurde klar, in was für einer Gefahr sich Gin befinden würde, sobald er den Posten des Bosses übernahm. Dann würde er ebenso in das Visier von Eclipse geraten und wahrscheinlich auch Unsterblichkeit erlangen.

Das lasse ich nicht zu.“, schwor sich Rye gedanklich, während er die Zähne zusammenbiss und sich seine Augen noch mehr verengten.

Kurz darauf setzte der Boss ein selbstgefälliges Grinsen auf und meinte belustigt: „Was soll denn dieser Gesichtsausdruck? Hast du etwa Angst, dass er dann keine Zeit mehr für dich findet oder gar so über dich denken wird wie ich?“

Nein.“, stieß Rye mit harter, tiefer Stimme hervor und ballte seine Hände zu Fäusten. Sein Körper bebte vor Zorn und er spürte ein tiefes Grollen in seiner eigenen Brust.

Plötzlich nahm die Stimme des Bosses einen warnenden Ton an: „Vorsicht. Du willst doch nicht, dass ich meine Meinung über deinen Aufenthalt in meiner Organisation wieder ändere, oder?“

Ryes Gesichtszüge entspannten sich umgehend, bevor er seine Fäuste wieder lockerte.

Beruhige dich...“, befahl er sich innerlich. Gerade befand er sich auf sehr dünnem Eis und durfte dieses nicht zum Einbrechen bringen.

Der Boss lächelte kurz siegessicher, doch dann schüttelte er einen Moment später verständnislos mit dem Kopf und sagte: „Du scheinst wirklich einen Narren an ihm gefressen zu haben.“

Rye wusste, wer gemeint war. Doch er schwieg. Dazu wollte er nichts sagen. Stattdessen versuchte er abzulenken: „Letztlich haben Sie mir meine Frage doch beantwortet. Sogar noch viel ausführlicher, als ich gedacht habe. Vielen Dank.“

„Ich habe dir kaum mehr verraten, als ohnehin schon in Eclipse bekannt ist. Den einzigen Nachteil, den ich daraus gezogen habe, ist meine vergeudete Zeit an dich.“

„Wie bedauerlich.“, erwiderte Rye ironisch, bevor der Boss ihn eindringlich musterte.

„Sei dir sicher, dass ich mir dafür noch etwas für dich ausdenke.“

Diese angekündigte Strafe ließ Rye erschaudern. „Natürlich.“

„Und der Inhalt dieses Gespräches wird diesen Raum nicht verlassen, hast du verstanden?“, stellte der Boss in strenger Tonlage klar.

Nachdem Rye darauf mit einem tonlosen „Ja, Sir.“ geantwortet hatte, verdeutlichte der Ältere: „Kein Wort zu niemandem. Auch nicht zu Gin.“

Rye hob ergeben die Hände in die Luft und versprach: „Ich schweige wie ein Grab.“

Er ließ sich nicht anmerken, dass es ihn schon etwas ärgerte Gin nicht von dem Gespräch erzählen zu dürfen. Vielleicht würde er das früher oder später doch heimlich tun.

„Das will ich dir auch raten. Und jetzt verschwinde endlich.“, scheuchte der Boss ihn nun schon zum zweiten Mal fort.

„Wie Sie wünschen.“ Diesmal würde sich Rye dem nicht widersetzen und sich nicht noch einmal umdrehen. Mit dem Gedanken „Nichts wie weg hier“ verließ er schnurstracks den Raum.

Erleichtert, dass das Gespräch endlich vorbei war, schloss er die Tür hinter sich. Zwar hatte er viele neue, interessante Informationen erhalten, doch er bezweifelte, dass er davon in Zukunft noch mehr bekommen würde. Zudem wollte er ein drittes Gespräch mit allen verfügbaren Mitteln vermeiden oder zumindest so weit wie möglich hinauszögern. Trotz der heutigen Güte – die zudem mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Ausnahme bleiben würde – war der Boss für Rye eine unerträgliche, arrogante, furchterregende Person. Dem Schwarzhaarigen fiel es auf Dauer immer schwerer, seine Wut im Zaun zu halten.

Während er den Gang entlang lief, bemerkte er plötzlich einen älteren Mann, welcher ihm entgegen kam. Rye senkte den Blick und versuchte den Fremden nicht anzusehen, als sie aneinander vorbei liefen. Dabei konnte er jedoch im Augenwinkel erkennen, dass der Fremde ihn sehr wohl unauffällig beäugte und sich dessen faltiges Gesicht vor Bestürzung verzog. Beinahe hätte Rye ihn angesprochen, aber er schwieg und ging einfach weiter. Als er glaubte den Fremden hinter sich gelassen zu haben, spürte er noch immer einen stechenden Blick in seinem Nacken, der eine Weile anhielt. Da beschloss Rye sich doch umzudrehen. Aber der alte Mann hatte seinen Blick längst abgewandt und war bereits dabei, das Büro des Bosses zu betreten. Misstrauisch verengte Rye die Augen und wartete, bis sich die Tür wieder schloss.

Ob das der Besuch war, den er erwartet hat?“, kam es ihm in den Sinn. Auf einmal interessierte es ihn brennend, was die beiden Männer wohl Wichtiges zu bereden hatten. Vor allem wollte er wissen, wer dieser Fremde war.

Sollte ich...“ Rye war drauf und dran das Gespräch zu belauschen. Nur so konnte er es herausfinden. Aber es ging nicht. Denn er realisierte plötzlich, dass ihm die Zeit allmählich knapp wurde. Er durfte auf keinen Fall zu spät zu seinem Date mit Gin kommen.

Außerdem geht es mich ja eigentlich nichts an…“, dachte er und versuchte seine letzten Bedenken, das Gespräch könnte etwas mit ihm zu tun haben, abzuschütteln.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Centranthusalba
2022-01-25T17:47:03+00:00 25.01.2022 18:47
Ups, noch gar nicht kommentiert…🙈
Da waren jetzt einige Aha-Momente drin. Interessante Zusammenhänge. Ich nehme an, dass da viel aus deiner Feder stammt, oder? Es macht alles Sinn und ist schlüssig, aber solch einen Hintergrund kann ich mir bei DC nicht vorstellen. Bin noch längst nicht soweit.
So, jetzt auf zum „Date“ 🤗


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