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The Monster inside my Veins

von

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Wie viel du mir bedeutest

Rye streifte ewig ziellos durch die Straßen. Unaufhörlich in einem gedanklichen Konflikt mit sich selbst. Sein rational denkender Teil versuchte ihn noch verzweifelt von seinem Vorhaben abzuhalten. Der Drang, Gin umgehend für sich zu beanspruchen, war einfach zu groß. Doch es war nicht richtig. Er durfte das nicht tun. Aber was kümmerte ihn die Moral? Schließlich war Gin doch selbst Schuld. Er hätte ihn nun mal nicht abweisen dürfen. Er hätte diese ganzen Fragen nicht stellen dürfen und lieber die angepassten Lügen akzeptieren sollen.

„Nein, das stimmt nicht… es ist meine Schuld…“, wies sich Rye kopfschüttelnd zurecht. Zwecklos. Es spielte keine Rolle wer die Schuld trug. Früher oder später hätte er sowieso zu diesen Maßnahmen greifen müssen. Denn Gin konnte niemanden respektieren, mögen oder lieben. So lauteten Vermouths Worte. Rye hatte sie nicht vergessen. Auf die schmerzfreie, normale Weise hätte er Gin nie bekommen können. Ihm blieb also nichts anderes übrig.

Plötzlich blieb Rye abrupt stehen und sah sich um. Die Gegend kam ihm bekannt vor. Er hatte die ganze Zeit über nicht darauf geachtet, wo genau er lang gelaufen war. Doch jetzt realisierte er, in welche Richtung sein innerer Drang ihn getrieben hatte. Er war in Meguro, was er an den dicht beieinanderstehenden Kirschbäumen neben sich am Flussufer erkannte. Gins Wohnung war nicht mehr weit von hier entfernt.

„Scheiße… wann hab ich…“ Seufzend lehnte er sich mit dem Rücken an ein Geländer. Jetzt konnte er es ohnehin nicht mehr ändern. Und er wusste, wenn er weglief, würde er irgendwann wieder hierher zurück finden. So war es jeden Abend. Zu seiner Überraschung waren heute weniger Menschen unterwegs. Es musste wirklich schon sehr spät sein.

Letztlich gab Rye es auf, seinem Vorhaben zu widerstehen und schlug zielgerichtet den Weg ins Wohnviertel ein. Jedoch beeilte er sich nicht, da noch ein kleiner Teil in ihm hoffte, dass er doch noch von irgendwas aufgehalten werden würde. In seinem Kopf spielte er währenddessen ein paar Szenarien durch, die passieren könnten, wenn er Gin erfolgreich entführt hatte. Dabei fragte er sich, ob er dem Silberhaarigen dann endlich die Wahrheit über alles erzählen konnte. Schließlich würde er Gin keine Sekunde mehr aus den Augen lassen, sodass dieser gar nicht die Möglichkeit dazu hätte, es jemandem zu verraten. Und wenn Rye ihn eingesperrt ließ, konnte er auch nicht mehr in Gefahr geraten.

„Abgesehen davon, dass ich die eigentliche Gefahr sein werde...“ Betrübt senkte Rye den Kopf und blieb stehen.

„Das ist krank...“, gestand er sich ein. Auch wenn es keinen Unterschied machte. Alles, was er tat, war auf verschiedene Arten krank. Aber er hatte keine Wahl. Er war eben so. Ein Monster, das töten musste, um weiterzuexistieren. Das geschaffen wurde, um Menschen zu vernichten. Brutal, rücksichtslos und unbesiegbar. Es gab keine Alternative. Umso mehr er an das Töten dachte, desto bemerkbarer machte sich sein Durst nach Blut, den er bis jetzt versucht hatte zu unterdrücken. Er hatte sich wohl getäuscht, dass drei Menschen ihm für heute genügen würden.

„Ich sollte es nicht übertreiben...“ Mit zusammengebissenen Zähnen hob er den Kopf, woraufhin eine einzelne Person in sein Blickfeld geriet. Sonst war der Weg komplett leer. Es würde keinem auffallen. Unsicher sah er sich um, bevor er doch beschloss, auf die rothaarige Frau zuzugehen, welche einen Koffer bei sich hatte und auf einer Bank offensichtlich auf jemanden wartete. Sie sah noch sehr jung aus. Vielleicht war sie Studentin. Sie schaute abwechselnd nach links und rechts auf die Straße und warf anschließend ungeduldig einen Blick auf ihre Armbanduhr.

Rye hörte, wie eine innere Stimme ihm immer wieder zuschrie, es nicht zu tun und einfach umzudrehen. Doch er hörte nicht auf sie und ging weiter. Die Frau behielt er fest im Visier. Erst als er direkt neben ihr stand, bemerkte sie ihn und sah mit verwundertem Blick zu ihm auf. Ihre Miene wirkte so unschuldig. Rye glaubte auch einen traurigen Schatten in ihren blauen Augen erkennen zu können.

„Ist was?“, fragte die Frau mit angespannter Stimme und riss Rye aus seiner Starre. Schnell suchte er nach einer plausiblen Antwort.

„Denken Sie nicht, es ist gefährlich so spät hier allein zu sitzen? Sie wissen schon, wegen der vielen Morde...“ Beinahe hätte er selbst über den schwarzen Humor in seiner Antwort gelacht. Die Frau setzte ein gequältes Lächeln auf und erklärte: „Es geht nicht anders. Ich muss dringend nach Chiba. Meine Schwester ist gestorben.“

Rye zog überrascht die Augenbrauen nach oben. Mit so was hatte er nicht gerechnet. Vielleicht kam es ihr deshalb nicht verdächtig vor, dass ein Fremder einfach so auf sie zuging. Ihr Kopf war wohl mit anderen Dingen gefüllt.

„Oh… das tut mir leid.“, erwiderte er. Das Lächeln der Frau veränderte sich.

„Muss es nicht, Sie kennen mich doch gar nicht.“, sagte sie daraufhin. Rye fiel auf, dass es ihm wirklich leid tat. Das Gefühl, einen wichtigen Menschen zu verlieren, kam ihm bekannt vor. Doch er hielt es für besser, diesem Gefühl nicht weiter auf den Grund zu gehen. Menschen, die er früher vielleicht mal gekannt hatte, waren jetzt nicht mehr wichtig.

„Trotzdem… das muss sich furchtbar anfühlen.“ Wie ferngesteuert gesellte er sich zu ihr auf die Bank und starrte auf seine Oberschenkel. Erleichtert spürte er, wie allmählich Ruhe in ihn einkehrte.

„Schon. Es ist seltsam… Ich hatte mich nie besonders gut mit ihr verstanden. Aber erst wenn ein Mensch plötzlich nicht mehr da ist, realisiert man, oft zu spät, wie gern man ihn eigentlich hatte. Jetzt bereue ich viele schlimme Dinge, die ich mal zu ihr gesagt habe.“, sprach die Frau neben ihm nachdenklich vor sich hin. Rye war über ihre Redseligkeit überrascht. Besonders gegenüber einem Fremden. Ihr schien es wirklich schlecht zu gehen. Wie ihm.

„Das kommt mir irgendwie bekannt vor.“, verriet er und dachte dabei an den Streit mit Gin. Da verflog die innere Ruhe wieder und er begann sich erneut über den Silberhaarigen Gedanken zu machen: „Ob er heil zu Hause angekommen ist? Schläft er sogar vielleicht schon?“

„Haben Sie etwa auch jemanden verloren?“, fragte die Frau nun vorsichtig und beugte sich leicht vor, sodass ihre roten Haare über ihre rechte Schulter fielen. Gedanklich beantwortete Rye die Frage mit Ja. Je nach dem, wie man verlieren interpretierte.

„Naja, sozusagen. Aber er ist nicht gestorben.“, meinte er, ohne Gins Namen zu erwähnen. Gerade konnte er das nicht. Zumal die Frau den kaltblütigen Mörder ohnehin nicht kannte, was wahrscheinlich auch besser so war.

„Was dann?“, erkundigte sie sich.

„Ein Streit.“

„Verstehe. Und ist das-… oh, ich… Entschuldigen Sie. Das geht mich ja gar nichts an.“

Rye drehte verwundert den Kopf zu ihr und sah, wie sie sich beschämt die Hand vor den Mund hielt. Ihre offene Art war zumindest etwas aufheiternd. Jedenfalls lenkte es den Schwarzhaarigen von seinen eigentlichen Absichten ab, von denen er inzwischen absah. Er hatte nicht mehr vor, sie zu töten.

„Schon in Ordnung. Fragen Sie ruhig.“, meinte er, um ihr zu vermitteln, dass er das Gespräch gern weiterführen würde.

„Also… wie lange ist es denn her?“, wollte sie wissen.

„Ungefähr eine Stunde...“ So genau wusste Rye nicht, wie lange er bereits durch die Straßen geirrt war. Er wusste ebenso wenig, um welche Uhrzeit Gin das Restaurant verlassen hatte. Immer, wenn er bei ihm war, vergaß er die Zeit völlig. Besonders, da er wollte, dass sich jede Sekunde wie eine Ewigkeit anfühlte.

„Doch noch ganz frisch… Sind Sie deshalb allein unterwegs? Weil sie den Kopf frei bekommen wollten?“, fragte die Frau in einer bemitleidenden Tonlage. Rye lächelte ironisch.

„Ihr fehlt es jedenfalls nicht an Empathie.“, dachte er, bevor er entgegnete: „Gut geraten.“

Er lehnte sich zurück und starrte hinauf in den Himmel. Erst jetzt bemerkte er, wie sternenklar dieser war. Sonst hatte er den Himmel oft bei Nacht beobachtet. Hohe Gebäude waren dafür besonders gut geeignet, da man auf den Dachterrassen nicht mehr viel von der Welt der Menschen mitbekam. Nur das Rauschen des Windes zu hören war immer sehr entspannend gewesen. Doch jetzt hörte er ihn nicht. Es war vollkommen still. Auch die Frau sagte kein Wort mehr. Als Rye den Blick zu ihr zurück schweifen ließ, sah er, wie sie ebenso gedankenversunken in den Himmel starrte.

„Es wäre vielleicht besser, wenn Sie die Sache schnell klären...“, riet sie ihm plötzlich. „Ich kenn‘ das gut. Ein Streit kann manchmal sehr lang anhalten und letztlich fühlen sich beide Seiten mies. Wollen Sie mir vielleicht erzählen, worum es bei dem Streit ging? Manchmal hilft es, sich einem Außenstehenden anzuvertrauen.“

Ihre Stimme klang fürsorglich. Sonst ging dem Schwarzhaarigen schnell jemand auf die Nerven. Aber momentan war es aus unerklärlichen Gründen nicht so. Er empfand es einfach als beruhigend sich mit ihr zu unterhalten. Auch wenn er nicht mal ihren Namen kannte. Und das war vielleicht auch nicht nötig. Denn irgendwann würde einer von ihnen zuerst aufstehen und gehen. Danach würden sie sich nie mehr über den Weg laufen. Ohne, dass er weiter darüber nachdachte, schwappten seine Sorgen einfach aus ihm heraus: „Ich weiß nicht… also ich… Ich weiß einfach nicht weiter. Es ist meine Schuld. Und ich denke nicht, dass er sich auch mies fühlt. Im Gegenteil.“

„Wahrscheinlich hat er mich… schon immer gehasst…“, fügte er gedanklich hinzu und verzog dabei sein Gesicht zu einer melancholischen Miene. Obwohl dieser Gedanke nur logisch war. Wenn sogar er selbst sich hasste, warum sollte es dann jemanden geben, der ihn mochte?

„Warum sollte es Ihre Schuld sein?“, fragte die Frau verwundert. Rye nahm sie kaum noch wahr. Er war umgeben von unendlicher Leere und fühlte sich, als würde er allein auf dieser Bank sitzen. Als würde er mit sich selbst reden.

„Es ist eben, wie Sie sagten. Man sagt die falschen Worte. Es artet jedes Mal aus… dabei will ich doch bloß in seiner Nähe sein. Aber er scheint mich zu hassen. Das hat er von Anfang an… Ich bin wohl einfach nur furchtbar.“, meinte er mit gebrochener Stimme. Er legte den Kopf in die Hände und schloss die Augen.

„Sie sind bestimmt nicht so furchtbar, wie Sie denken. Zwar kenne ich Sie nicht, aber Sie machen einen gutherzigen Eindruck auf mich.“, versuchte die Frau ihn aufzumuntern und legte ihre warme Hand auf seinen Rücken. Eigentlich konnte Rye es nicht leiden, wenn ein Mensch ihn berührte. Doch die Wärme fühlte sich überraschend angenehm an, weshalb er die Hand nicht wegschlug.

„Das hilft nicht wirklich.“, erwiderte er im kühlen Ton, woraufhin er ein leises Lachen vernahm.

„Mag sein. Aber ich weiß, was vielleicht helfen könnte.“

Neugierig hob Rye den Kopf und erblickte ein warmherziges Lächeln. So hatte ihn schon ewig niemand mehr angelächelt. Und ihm wurde in diesem Moment bewusst, wie sehr er so ein Lächeln vermisst hatte. Ob Gin ihn vielleicht jemals so anlächeln könnte? Rye verspottete seinen Gedanken an das Unmögliche.

„Und was?“, hakte er nach.

„Sie müssen mit ihm sprechen. Wenn Sie wirklich glauben, dass es ihre Schuld ist, sollten Sie sich entschuldigen, bevor es vielleicht zu spät ist. So wie in meinem Fall...“, riet die Frau ihm und senkte anschließend betrübt den Kopf. Rye entwich ein Seufzen. Diese Option hatte er bereits verworfen. Es gab keinen Grund, weshalb Gin eine Entschuldigung annehmen sollte. Er würde ihm diese wahrscheinlich nicht mal mehr abkaufen. So oft, wie der Silberhaarige ihn schon als Lügner betitelt hatte. Und damit hatte er immer recht gehabt.

„Er hat gesagt, er will mich nicht mehr sehen.“, sagte Rye wahrheitsgemäß. Es so offen auszusprechen jagte ihm einen unwohlen Schauer über den Rücken.

Auf einmal packte die Frau ihn an den Schultern und entgegnete im energischen Tonfall: „Und das akzeptieren Sie einfach? So schnell gibt man doch nicht auf!“

Rye starrte die junge Frau erschrocken an, bevor sie peinlich berührt ihre Hände wegnahm.

„Oh, tut mir leid. Ich reagiere manchmal etwas überstürzt.“, entschuldigte sie sich, was Rye ignorierte.

„Ich hab nicht aufgegeben… aber ihn zu zwingen ist die einzige Möglichkeit, die von Erfolg geprägt sein könnte. Und ich bin die ganzen Versuche leid von ihm als Partner respektiert zu werden… obwohl das auch nicht das ist, was ich will. In Wirklichkeit will ich-“

Das Hupen eines Autos riss Rye plötzlich aus seinen Gedanken. Aufgelöst schaute er zu dem gelben Taxi, welches vor ihnen hielt.

„Mein Fahrer ist da. Es war schön mit Ihnen reden zu können.“, gab die Frau Bescheid, griff nach den Händen des Schwarzhaarigen und drückte sie fest.

„Ich wünsche Ihnen noch viel Glück mit Ihrem Freund. Hoffentlich vertragen Sie beide sich wieder.“, fügte sie lächelnd hinzu, bevor sie mit einem Ruck aufstand.

Nachdem Rye die unvorhergesehene Geste verarbeitet hatte, entgegnete er freundlich: „Danke. Ich glaube, Sie haben mir etwas neuen Mut gegeben.“

Er wusste allerdings nicht, für was genau er jetzt diesen neuen Mut besaß. Es lag wohl allein in seinen Händen, was er jetzt als nächstes tun würde.

„Das freut mich.“

Nach diesen Worten wurde das Gepäck der Frau von dem Taxifahrer im Kofferraum verstaut. Wortlos winkte sie Rye ein letztes Mal zu, was dieser mit einem netten Lächeln erwiderte. Danach stieg sie in den Wagen und fuhr davon.
 

Rye erhob sich erst von der Bank, als das Taxi nicht mehr zu sehen war. Unsicher starrte er zu Boden, während er seinen vorherigen Entschluss nochmal überdachte.

„Vielleicht sollte ich ein paar Tage warten… dann hat er sich bestimmt wieder beruhigt.“ Ein Gedanke, den er jedoch für unwahrscheinlich hielt. Wenn Gin ihn wirklich nie wieder sehen wollte, half auch keine Auszeit von wenigen Tagen. Womöglich würde er nur erneut abgewiesen werden, was sich dann noch unerträglicher anfühlen würde als beim ersten Mal.

Rye nahm sein Smartphone aus der Jackentasche, um die Uhrzeit zu überprüfen. Es war jetzt 00:13 Uhr. Kurz nach Mitternacht. Um diese Zeit schlief Gin für gewöhnlich schon. Das wusste er, weil er sonst immer schon bei ihm war. Damals, als er Gin zum ersten Mal begegnet war, war er ihm noch am selben Abend unauffällig bis zu seiner Wohnung gefolgt. Warum er das getan hatte, konnte er sich zu diesem Zeitpunkt nicht erklären. Dieser Mann hatte einfach etwas an sich gehabt, wovon sich Rye magisch angezogen gefühlt hatte. Etwas Mysteriöses, aber auch Außergewöhnliches. Alles an Gin wirkte nahezu verlockend. Seine angenehme, raue Stimme. Sein bildschönes Aussehen. Besonders sein unwiderstehlicher Geruch. Rye vermisste jedes dieser Dinge, die er schon lange zu sehr begehrte. Er wollte Gin sehen. Bei ihm sein. Ihn beanspruchen. Sofort.

Widerstandslos ließ sich Rye von seinem inneren Verlangen kontrollieren. Einem Verlangen, welches seinen Verstand vernebelte. Ohne es sich bewusst vorgenommen zu haben, lief er in rasender Geschwindigkeit zu einem gewissen 5-stöckigen Wohnblock, welcher niemandem weiter auffallen würde. Er sah genau so schlicht und langweilig wie die anderen Wohngebäude aus. Nur mit dem entscheidenden Unterschied, dass sich Gins Wohnung im letzten Stock befand.

Mit einem erfreuten Lächeln konnte Rye von unten erkennen, dass auch diesmal die Balkontür offen stand. Ein Glücksfall, welcher ihm jede Nacht vergönnt war. Zwar wusste er nicht, aus welchem Grund Gin die Balkontür nicht schloss, doch solange sich der Schwarzhaarige das zu Nutze machen konnte, hatte er gewiss nichts dagegen. Es wirkte fast schon wie eine Einladung.

Rye musste nicht sonderlich viel Mühe aufbringen, um die einzelnen Balkons hochzuklettern und sich an den Metallgeländern hochzuziehen. Mit wenigen, geräuschlosen Bewegungen war das schnell erledigt.

Vorsichtig setzte Rye einen Fuß nach dem Anderen auf den steinernen Balkonboden. Im Wohnzimmer war es dunkel. Es herrschte Stille. Abgesehen von leisen, gleichmäßigen Atemzügen konnte der Schwarzhaarige nichts hören. Mit einer behutsamen Geste schob er die weißen Gardinen beiseite und betrat den Raum. Sein Blick wanderte sofort zum Sofa, auf welchem Gin friedlich zu schlafen schien. Nur noch im weißen Hemd und langer Jogginghose. Die Beine leicht angewinkelt und eine Hand auf der Stirn abgelegt, sodass seine Augen dadurch etwas verdeckt wurden. Rye spürte, wie sich sein Körper automatisch bei diesem himmlischen Anblick anspannte. Er ging mit langsamen Schritten auf den schlafenden Mann zu, wobei er feststellte, dass er zunehmend nervöser wurde. Sonst war er das eigentlich nie gewesen. Außer in den ersten paar Nächten, die er hier verbracht hatte. Da hatte er noch befürchtet, dass Gin vielleicht aus irgendwelchen Gründen aufwachen könnte oder einen leichten Schlaf hätte. Aber zu seiner Überraschung schlief Gin immer sehr tief und egal, wie nah er ihm bisher gekommen war: Er hatte ihn nie aufgeweckt. Meistens hatte Rye jedoch nur zugesehen. Den Silberhaarigen beim Schlafen zu beobachten, beruhigte ihn einfach. So war er wenigstens beschäftigt und konnte sicherstellen, dass er nirgendwo in der Stadt umher irrte, wo er für viele Menschen eine Gefahr wäre. Nicht, dass er für Gin keine Gefahr war, doch bei ihm achtete er stets darauf nicht die Kontrolle zu verlieren und besaß zudem den Willen sich zu beherrschen. Zu Anfang war ihm das noch sehr schwer gefallen, aber mittlerweile war es auszuhalten. Dachte er zumindest. Denn von Sekunde zu Sekunde wurde ihm klarer, dass allein der schöne Anblick ihm heute nicht genügen würde. Er wollte mehr. So viel mehr. Von Gin. Er konnte an nichts anderes mehr denken.

„Wenn ich das tue, gibt es kein Zurück mehr… und ich muss mit den Konsequenzen leben…“, warnte sich Rye gedanklich, während er sich zu Gin herabbeugte und eine Hand nach ihm ausstreckte. Dabei fragte er sich, ob er damit zurechtkommen würde, dass Gin sich ihm niemals unterwerfen würde. Womöglich würde der Kerl bis zum bitteren Ende stur bleiben und mit Hass auf ihn herabblicken. Selbst dann noch, wenn Rye ihn demütigen würde. Doch konnte er das? War eine solche feindselige Beziehung wirklich das, was er wollte?
 

„Rye…“
 

Der Schwarzhaarige hielt inne. Mit geweiteten Augen starrte er auf Gins weiche Lippen, die sich gerade tatsächlich bewegt hatten. Doch bei genauerem Hinsehen erkannte er, dass Gin immer noch schlief. Er hatte im Schlaf geredet.

„Meinen Namen gesagt…“ Rye konnte es nicht glauben. Warum sollte Gin im Schlaf seinen Namen aussprechen? Träumte er etwa? Von ihm?

Ein leichtes Lächeln zierte Ryes Gesicht. Irgendwie machte ihn das glücklich. Er beschloss fürs Erste, sein eigentliches Vorhaben nicht in die Tat umzusetzen. Heute war noch nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Vielleicht hatte er doch noch eine Chance. Allmählich baute sich wieder neue Hoffnung in ihm auf.

„Du könntest mir doch verzeihen, wenn ich dich darum bitte, oder?“, stellte er Gin gedanklich eine Frage, auf die er am liebsten sofort eine Antwort erhalten würde.

„Du ahnst gar nicht, wie viel du mir bedeutest...“ Rye stützte vorsichtig seine Hände links und rechts neben dem Silberhaarigen ab und beugte sich über ihn.

„Und ich selbst kann mir nicht einmal den Grund dafür erklären…“, dachte er verzweifelt, während er Gins süßlichen Duft einatmete. Dieser Mann war wie eine Droge. Eine Droge, die nur ihm allein gehörte. Er würde sie mit niemandem teilen. Und wer es dennoch wagte, sie ihm wegzunehmen, sollte sterben.

Als Rye mit einer Hand über Gins muskulöse Brust fahren wollte, stutzte er allerdings. Seine Finger ertasteten keine warme Brust, sondern einen kalten, ledrigen Buchumschlag. Verwirrt runzelte er die Stirn und nahm das Buch, welches bereits aufgeschlagen war, in die Hand. Nach einem kurzen Blick auf die aufgeschlagene Seite erstarrte er jedoch. Trotz der Dunkelheit konnte er klar und deutlich erkennen, was ganz oben in der Ecke für ein dick gedrucktes Wort stand: Eclipse

„Hat er etwa...“, begann er gedanklich, doch plötzlich durchbebte ihn der nächste Schock. Gin, der bis eben noch friedlich geschlafen hatte, schreckte mit einem Ruck auf und war wach. Im Bruchteil einer Sekunde legte Rye das Buch wieder hin und wich zurück.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Centranthusalba
2021-10-25T13:08:56+00:00 25.10.2021 15:08
😱ah 😱 ah 😱ahhhh….. Sch***
Was wird Gin sagen, wenn er sich Rye gegenüber sieht.
Wird Rye wieder lügen?
Was hat Gin gelesen? Und was weiß Rye, was in dem Buch stehen könnte?
😱😱😱😱😱😱😱

Ich war übrigens kurz davor, mal zu winken, nach dem du ein WE ausgesetzt hast 😉
Ich freue mich aufs nächste!
Antwort von:  ginakai
25.10.2021 19:29
Das, was Gin gelesen hat, wird im nächsten Kapitel enthüllt 😉 aber mehr verrate ich nicht xD

Ja ich musste ausnahmsweise mal aussetzen, weil ich mich furchtbar erkältet hatte und deshalb nicht schreiben konnte 😂 denke aber mal das wird so schnell nicht wieder passieren ^^
Antwort von:  Centranthusalba
25.10.2021 19:36
Kein Problem, hoffe es geht dir wieder besser 🙏🏻
Antwort von:  ginakai
26.10.2021 21:42
Alles wieder gut, danke 😉


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