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Gib die Schuld Lucifer

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Vorwort zu diesem Kapitel:
​Das hier ist also mein Speed-Beitrag zum Wettbewerb Arrangierte Ehe. Meine Interpretation des Themas ist sehr eigenwillig, aber ich habe mich damit auch sehr schwer getan, weil mir Alternative Universen noch immer nicht leicht fallen, und mir nichts einfallen wollte, um die Aufgabenstellung im Canon-Rahmen zu lösen (abgesehen von dem viel zu aufwändigen Entwurf, auf dem ich ein Jahr lang herumgekaut und den ich in letzter Minute über Bord geworfen habe).

Mögliche Trigger, sensible Themen & Hinweise:

John Winchesters A+ parenting – es gibt eine Schrei-Szene gegenüber/ in Gegenwart von Kindern und deutliche Hinweise auf Homophobie bzw. das Beharren auf Genderstereotypen.
Kindliche Ungerechtigkeit, Andeutungen von Mobbing, Trennungsschmerz. Komplett anzeigen

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Gib die Schuld Lucifer

Gabriel nahm die ganze Angelegenheit viel zu ernst. Aber das machte nichts! Ein gebrochenes Herz war ein gebrochenes Herz und tat verflucht weh, ganz egal, ob der Grund dafür Dad interessierte. Und Mrs. Harvelle konnte ihm noch so geduldig erklären, dass er sich bis in zwanzig, vielleicht dreißig Jahren sowieso noch oft verliebt haben würde und vielleicht sogar erst viel später heiratete, wenn überhaupt.

„Die Ehe ist auch nicht für jeden was“, sagte sie nämlich, und schenkte Gabriel heimlich ein Eis, als er mit verheulten Augen bei ihr und Cassie in der Küche saß, während die anderen Kinder mit Anna und Meg, den beiden Erzieherinnen, im Freien spielten.

Mrs. Harvelle bereitete gerade das Mittagessen für den Kindergarten vor. Gabriel und Castiel saßen mit baumelnden Beinen unter ihren wachsamen Augen am Küchentisch, von wo aus sie mit düsteren Minen aus dem Fenster in den Garten hinaus starren konnten. Draußen herrschte strahlender Sonnenschein, aber in Gabriels Bauch tobten mindestens Hagel, Blitz und Donner, so schlecht fühlte er sich. Da wollte selbst der Flutschfinger am Stiel nicht so richtig helfen, aber natürlich hatte er den trotzdem nicht abgelehnt.

 

„Lucifer ist eine Dumpfnase!“, sagte Cassie ernst und bekam für das schlimme Wort einen warnenden Blick von Mrs. Harvelle und für seine Solidarität hinter ihrem Rücken einen angelutschten Bissen Eis von Gabriel. Cassie war der einzige, der zu Gabriel hielt, seit Lucifer ihn verraten hatte, und er war auch der einzige, der Gabe niemals für seine Tränen und seinen Kummer auslachte.

 

Durchs Fenster konnten sie sehen, wie ein triumphierend grinsender Lucifer mit Prinzessin Sam im Schlepptau durch den Garten marschierte. Sie hielten sich an den Händen und das war fast noch schlimmer, als die Tatsache, dass Sam das lilafarbene Glitzerkleid aus der Kostümkiste trug, in das sich Gabriel nachmittags manchmal von Meg hineinhelfen ließ, wenn nicht mehr so viele Kinder da waren, die ihn auslachen konnten. Meg war ziemlich cool; man konnte sie um solche Dinge bitten, und allein bekam er die riesige Schleife an der Rückseite des Prinzessinnenkleids einfach nicht zu. Schleifebinden war schon schwer genug, wenn man die Bänder dabei vor der Nase hatte, und Dad hatte nicht die Geduld, ihm das endlich beizubringen, weshalb Gabe auch fast nur Schuhe mit Klettverschluss trug.

 

Prinzessin Sam war in Gabes Lieblingskleid sogar noch hübscher als Gabe ihn sowieso schon fand, auch, wenn der Rock Sam nur knapp über die Knie reichte und den ausgefransten Saum von Shorts und zerschrammte, mit Grasflecken übersäte Schienbeine offenbarte. Gabe fand übrigens auch, dass die Prinzessin ziemlich wütend aussah, aber so richtig konnte er das aus der Entfernung nicht erkennen. Der Anblick von seinem großen Bruder, der ihm die einzig wahre Liebe vor der Nase weg heiratete, war so oder so furchtbar.

 

Lucifer und die Prinzessin machten draußen gerade vor dem großen Weiden-Tipi halt, vor dem die Trauung stattfinden sollte. Fast alle Kinder hatten sich vor den geflochtenen Zweigen versammelt und Anna, die blöde Kuh, streute mit Hannah und Raphi sogar herzförmiges Konfetti, das sie den halben Vormittag aus rotem Bastelpapier gemeinsam ausgestanzt hatten.

 

Ein kalter, klebriger Tropfen, der über Gabes Handrücken lief, erinnerte ihn daran, dass er immer noch die Hälfte von seinem Eis in seiner geballten Faust am Stiel balancierte und mit tränenden Augen wandte er den Blick von der Kinderhochzeit ab, die ihm sein Eis, den Tag, den Kindergarten und überhaupt das ganze Leben versaute.

 

Ich und Sam wollten heiraten“, erklärte er Mrs. Harvelle zum wiederholten Mal mit weinerlicher Stimme.

„Das weiß ich doch, Gabriel“, seufzte Mrs. Harvelle und sah kurz von ihrer Arbeit ab, um ihm ein Papiertuch für seine klebrigen Finger zu reichen. Weil er mit dem Eis nur eine Hand frei hatte, ließ er es jedoch vor sich auf dem Tisch liegen, was vielleicht ganz gut war, denn so verdeckte es die Tropfen geschmolzenen Flutschfingers vor ihr, die er aus Versehen dort verschmiert hatte.

 

„Warum hat Sam sich eigentlich anders entschieden?“, fragte Cassie plötzlich. „Das war ganz schön gemein von ihm!“

 

„Nein!“, sagte Gabe sofort und konnte vor Aufregung kaum still sitzen. „Sammy kann nichts dafür! Das ist Lucys Schuld!“

 

So ganz stimmte das nicht, es war nicht die Schuld seines Bruders – oder zumindest nicht die Schuld dieses Bruders. Michael, der mit Sams Bruder Dean in die Hort-Betreuung im Kindergarten ging, hatte versprochen, Dean nicht länger nach der Schule zu verhauen, wenn Sammy nicht Gabriel, sondern stattdessen Lucifer heiratete. Und zwar als Prinzessin verkleidet, in Gabriels Lieblingskleid.

Zumindest hatte Lucifer behauptet, Michael wäre bereit zu einem solchen Deal, und als Gabriel Michael zu Hause danach gefragt hatte, hatte Michael nur laut gelacht und sich gar nicht wieder einkriegen wollen. Also musste es wohl stimmen – Sam war eine Abmachung mit Gabes älteren Brüdern eingegangen und jetzt hatte er seinen besten Freund verloren, weil der Lucifer heiraten musste.

 

Und das alles nur, weil Sammy Gabe heimlich geküsst hatte! Es war einfach so passiert, ein Kuss auf die Wange, an der vermutlich noch etwas Erdnussbutter geklebt hatte, aber Sam hatte es trotzdem getan. Sie hatten gedacht, sie wären allein gewesen, vor zwei Tagen nach dem Frühstück beim Händewaschen, andernfalls hätte Sam das mit dem Kuss vermutlich nie gewagt. Leider war Lucifer in dem Moment gerade auf dem Klo gewesen und die verräterische Toilettenspülung ging erst in dem Moment, nachdem Gabriel vielleicht eine Spur zu laut verkündet hatte: „Ich heirate dich auf jeden Fall!“

 

Es war Lucifer nicht nur innerhalb eines einzigen Nachmittags gelungen, die gesamte Kindergartengruppe gegen Gabriel aufzubringen („Ha ha, Gabe liebt Sam, Gabe lie-hiebt Sa-ham!“), nein, er hatte es tatsächlich auch noch geschafft, einen Deal aus Sammy herauszukitzeln: „Du musst ‚ja‘ sagen und mich heiraten und dann lässt mein Bruder deinen in Ruhe!“

 

Nur, wenn du dann auch Gabe in Ruhe lässt!“, hatte Sam gefordert und nachdem Lucifer eingewilligt hatte, schien der schlimmste Pakt aller Zeiten besiegelt.

Der Rest des Kindergartens, einschließlich der Erzieherinnen, hatte von der ganzen Geschichte nicht mehr mitbekommen, als dass eigentlich Gabriel Sam hatte heiraten wollen, der sich aber kurzfristig für Lucifer entschieden hatte.

Das tat weh und nachdem Dad ihm nicht hatte zuhören wollen, weil er mit dem Schreiben seines neusten Buchs zu beschäftigt war, hatte Gabe sich nicht mal getraut, seinem Cousin und einzigen Vertrauten Castiel die ganze Wahrheit über Lucifers Hochzeit zu erzählen.

 

„Es tut mir wirklich leid für dich“, sagte Mrs. Harvelle, die längst wieder mit ihrem Geschirr hantierte.

„Aber wenn Sam lieber Lucifer heiraten möchte, solltest du dich für ihn freuen. Auch, wenn dich das jetzt traurig macht.“

 

„Das ist doch sowieso nicht echt“, bemerkte Cassie außerdem. „Du weißt doch, dass die das alles nur spielen! Morgen kannst du bestimmt auch das Kleid wieder anziehen.“

 

Gabriel schob die Unterlippe vor. Dass auch noch Cassie ihm in den Rücken fiel! Jetzt, in dieser Sekunde, sagte Sam wahrscheinlich gerade ‚Ja!‘ zu Lucifer und er, Gabe, würde als Erwachsener einmal furchtbar einsam sein, sich jeden Tag von morgens bis abends nur mit Eis vollstopfen (Gut, den Plan hätte er auch gehabt, wenn Sam ihm das Ja-Wort gegeben hätte!) und Bücher schreiben, die niemand lesen wollte. Ein trauriges Leben, so wie das von Dad. So wollte er nicht enden.

 

„Gar nicht wahr! Wen man im Kindergarten heiratet, den muss man später auch als Erwachsener heiraten! Versprochen ist versprochen!“, ereiferte Gabe sich deshalb, als könnte er allein mit seiner Entrüstung Sam im Garten doch noch von der Eheschließung abhalten. Er wusste nicht so genau, ob er damit recht hatte, dass man seinen Kindergarten-Gatten wirklich auch in echt heiraten musste, aber es erschien ihm durchaus einleuchtend. Die Zukunft wurde aus seiner Sicht also am heutigen Tage besiegelt! Immerhin hatten Anna und Meg Lucifers Pläne so ernst genommen, dass es später zum Nachtisch Kuchen geben würde. „Zur Feier des Tages.“ Gabes Theorie musste einfach stimmen! Als er von der Sache mit dem Hochzeitskuchen gehört hatte, wäre er fast schon wieder in Tränen ausgebrochen. Jetzt machte ihm sein Bruder auch noch Kuchen mies! Gabriel würde jedenfalls nie wieder welchen essen – das nahm er sich ganz fest vor (auch, wenn er wusste, dass er den Vorsatz spätestens beim Nachtisch brechen würde).

 

Mrs. Harvelle lachte ein bisschen, aber sie schenkte ihm einen mitleidigen Blick, der sich schnell verfinsterte, als sie die Schweinerei auf der Tischplatte bemerkte, die Gabe zu verschulden hatte.

 

„Ihr zwei geht euch jetzt Hände waschen und dann holt ihr die anderen Kinder zum Mittagessen rein!“, befahl sie etwas ungehalten.

Gabe schlürfte den letzten Mund voll Eis vom Holzstiel, warf ihn mitsamt des durchweichten Papiertuchs in den Mülleimer, und er und Cassie trollten sich. Im Flur vor der Küche stießen sie fast mit dem Hausmeister, Robert Singer, zusammen.

 

„Was macht ihr denn in der Küche, Jungs?“, brummte er ihnen statt einer Begrüßung entgegen.

 

„Mrs. Harvelle hat Gabriel Eis geschenkt, aber wir sollen‘s nicht den anderen Kindern sagen“, antwortete Cassie wahrheitsgemäß, woraufhin Gabe ihn strafend in die Seite knuffte.

 

„Das soll keiner wissen!“, flüsterte Gabriel überlaut, bevor er mit flehentlichem Blick in das bärtige Gesicht unter der zerschlissenen Baseballmütze aufsah.

„Auch Anna und Meg nicht!“

 

„Ich weiß von nichts!“, sagte Robert achselzuckend und betrat hinter ihnen die Küche, nachdem auch er sie zum Händewaschen gescheucht hatte.

 

Es wurde noch einmal richtig schlimm. Cassie wurde noch während des Essens von Gabes äußerst wütenden Tante Amara abgeholt, die es furchtbar eilig hatte, und so blieb Gabriel für den Rest des Tages gezwungenermaßen sich selbst überlassen. Lucifer bestand nämlich darauf, dass Sam beim Mittagessen neben ihm saß und nicht, wie normalerweise, neben Gabriel. Auch schien Sam nicht mehr mit ihm sprechen zu wollen, denn als Gabe ihm sein Stück Kuchen vom Nachtisch schenken wollte („Weil du doch jetzt Lucy geheiratet hast!“), sah er ihn nur ganz merkwürdig an, bevor er sich von Gabriel wegdrehte und ihn von da an ignorierte. Außerdem, und das war vielleicht das Schlimmste, trug Sam immer noch das lilafarbene Glitzerkleid und Gabe hätte es heute wirklich gebraucht, sich im weit schwingenden Prinzessinnenrock in der Puppenecke vor der Welt und den anderen Kindern zu verstecken, die sich nach dem Essen wieder allesamt in den Garten verzogen hatten.

 

Als er sich bei Mrs. Harvelle verkriechen wollte, scheuchte er den Hausmeister auf, der an dem Platz saß, an dem Gabe nicht lange zuvor noch mit Flutschfinger-Eis herum gekleckert hatte. Mit verlegenem Brummeln sprang Robert auf, verabschiedete sich eilig von Mrs. Harvelle und weil Gabriel plötzlich nicht mehr danach zumute war, ihr Gesellschaft in der Küche zu leisten, folgte er dem Hausmeister in den Garten. Dort sah er, wie Dean, der soeben aus der Schule gekommen sein musste, leise, aber sichtlich wütend auf Sam einredete, der noch immer das Kleid trug. Sams Gesichtsausdruck wirkte dabei überaus trotzig und er hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Die kurzen Ärmel seines T-Shirts lugten zerknautscht und zur Hälfte aufgerollt unter den noch viel kürzeren, flatternden Ärmeln aus Glitzer-Tüll hervor. Ein bisschen sah es so aus, als würden ihm kleine Flügel aus den Schultern wachsen.

Gabe verstand nicht, worum es bei dem Streit ging, er war viel zu abgelenkt von Sams glänzenden Flügeln, die ihn an die einer Libelle erinnerten, aber er hörte ein paar Mal, dass Dean „Dad!“ sagte und je öfter er das Wort benutzte, desto eindringlicher und wütender wurde er dabei und umso verschlossener und bockiger wurde Sams Gesichtsausdruck. Bis plötzlich das Gartentor mit solcher Gewalt aufgerissen wurde, dass es gegen den Zaun knallte, davon abprallte, und mit Wucht wieder hinter dem Mann zuschlug, der zornentbrannt aufs Gelände gestürmt kam.

 

„Sam!“

Er rief nicht besonders laut, aber nach dem Zuschlagen des Tores klang es bedrohlich genug, um mit der einzigen Silbe auch das letzte Kind im Spiel innehalten zu lassen.

 

„Du ziehst das sofort aus! Mach schon!“

 

„Mister Winchester“, begann Anna, die sich dem wütenden Vater behutsam näherte, fast so, als wäre er ein bissiger Hund im Kampfring und nicht hier, um seine Kinder abzuholen.

„Mister Winchester, die Kinder haben heute gespie-“

 

„Ich lasse nicht zu, dass Sie meine Söhne so erziehen, Miss!“, unterbrach John mit solcher Abscheu in der Stimme, dass Gabe zusammenzuckte, als habe er ihn damit persönlich gemeint.

 

„Zieh diesen Fetzen aus, Sam! Zackig!“

 

Dean, neben Sam, wirkte mit einmal nahezu winzig mit seinem riesigen Schulranzen auf dem Rücken, und nachdem er ein paar Mal den Versuch gewagt hatte, seinen Vater zu beschwichtigen, indem er ihn die Hand auf den Unterarm legte, gab er es auf. Sein Vater riss sich jedes Mal von der Berührung los und begann damit, an dem lilafarbenen Kleid herumzuzerren, als Sam keine Anstalten machte, es von selbst auszuziehen.

 

„Halt, es geht kaputt!“, wollte Gabe rufen, und „Tu Sammy nicht weh!“, aber er brachte kein Wort heraus. Er konnte nur dabei zusehen, wie Sams Vater an ihm herumriss, bis es einen lauten Ratsch! gab und sich das Kleid in Fetzen von Sams Körper schälte.

 

John Winchester ließ die Überreste von Gabriels Traumkleid im Gras liegen, als er Sam am Handgelenk hinter sich her aus dem Garten schleifte. Sam ließ es widerstandslos geschehen, so dass Gabe die gemurmelte Entschuldigung von Dean in Annas Richtung noch hören konnte, bevor er seinem Bruder und Vater hinterher lief. Erst, als sie um die Ecke verschwunden waren, außer Sichtweite des Kindergartens, konnten sie Sams Wutschreie hören. Gabriel blieb nicht, um dem Streit zwischen Vater und Sohn zu lauschen. Er rannte nach drinnen, um sich im hintersten Winkel der Puppenecke zu verstecken.

 

Erstaunlicherweise hatte Lucifer bei seinem Deal nicht betrogen: Er hatte Sam geheiratet und seitdem ließ Michael Dean in Ruhe. Es blieb Michael sogar gar keine andere Wahl. Am nächsten Tag hieß es nämlich, dass Sam krank sei und auch Dean kam nachmittags nicht in den Hort. Voller Unruhe wartete Gabe auf die Rückkehr der Winchesters. Was spielte es für eine Rolle, dass Sam nun mit Lucy verheiratet war? Er vermisste Sammy trotzdem, auch, wenn der vielleicht nie wieder mit ihm sprechen wollte. Aber vielleicht würde es schon helfen, ihn einfach nur jeden Tag wieder im Kindergarten zu sehen? Zumindest würde Gabe ihn dann nicht mehr ganz so schrecklich vermissen. Aber Sam kam auch am übernächsten Tag und am Tag darauf nicht.

 

Als Gabe es nach einer Woche endlich wagte, Anna nach den Winchesters zu fragen, antwortete sie ihm mit traurigem Lächeln: „Oh, mein Süßer, Sam und Dean sind vorgestern umgezogen! Sie wohnen jetzt in einer anderen Stadt. Hat dir das keiner gesagt? Ich dachte, Sam und du wärt Freunde gewesen.“

Es brauchte an diesem Tag eine halbe Tüte Gummibärchen, zwei Glitzer-Einhorn-Sticker, Gabes heißgeliebtes Plüschschnabeltier und eine lange, lange Umarmung von Cassie, bevor er aufhören konnte zu weinen. Und draußen im Garten gab er Lucifer ohne Grund eins auf die Nase. Fest.

 

*

 

 

„ONKEL SAM!“, brüllt eine helle Kinderstimme direkt hinter Gabriel. Bis vor zwei Sekunden ist Emma noch um ihn herum scharwenzelt und hat ihn mit Fragen gelöchert – über Pflanzen und Gabes Arbeit und, zu seinem Leidwesen, insbesondere über die Schnecken, die sie eben aneinander klebend im Blumenbeet gefunden hat – doch jetzt rast sie schnell wie der Blitz an ihm vorbei, direkt in Richtung Gartentor.

Gabe setzt die Baumschere ab, mit der er bis eben gerade noch dem Weiden-Tipi zu Leibe gerückt ist. In den letzten Jahren konnte es ungehindert vor sich hin wuchern und ist inzwischen so groß geworden, dass sogar im Raum steht, es ganz vom Kindergartengelände zu entfernen. Gabriel hat allerdings versprochen, nichts unversucht zu lassen, um es wieder in Form zu bringen. Die Kinder lieben das alte Dinge, das schon zu Gabes eigener Kindergartenzeit hier gestanden hat.

 

„Wow, langsam, Emma!“, ruft Onkel Sam, der offenbar heute die Ehre hat, seine Nichte aus dem Kindergarten abzuholen. Gabe dreht sich eher zufällig in ihre Richtung, weil er eigentlich etwas Weidenschnitt in seine Schubkarre laden will, aber er kann nicht umhin zu sehen, wie Emma von einem sehr großen Mann aufgefangen und hochgehoben wird, in den sie gerade mit Anlauf hineingerannt ist. ‚Wow, hat Sam gesagt, und ja – wow. Beim Anblick des Riesen, der seine Nichte zur Begrüßung durch die Luft wirbelt, bevor er sie sicher auffängt und an sich drückt, wird Gabe ganz warm ums Herz.

 

Gabriel und Sam kennen sich von früher, aber das ist lange her. Erst mit der Anmeldung Emmas in ihrem alten Kindergarten sind sich Gabe und die Winchesters zufällig wieder begegnet; das erste Mal seit jenem verhängnisvolle Tag, als Lucifer und Sam ‚Hochzeit‘ vor eben diesem Tipi gespielt haben.

 

Emma ist ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, genau so sommersprossig und charismatisch, und vor allem wird sie von ihm offensichtlich wie eine Prinzessin behandelt. Passend dazu trägt sie auch heute wieder ein regenbogenfarbenes Tüllkleid über ihrer Latzhose, und ein kleines glitzerndes Plastikdiadem thront, kunstvoll in ihre erdbeerblonden Locken eingeflochten, auf ihrem Kopf.

Daddy kann toll flechten – besser als Onkel Sam, obwohl der doch von beiden die Rapunzelhaare hat!

So viel hat sie zumindest Gabe verraten, als er ihr einmal ein Kompliment über den Genau-wie-Eiskönigin-Elsa-Zopf gemacht hat.

 

Gabe weiß, dass Dean inzwischen alleinerziehender Vater ist, und er weiß auch, dass Sam gerade sein Rechtsreferendariat macht. Gabriels Traum ist eine eigene Pâtisserie, für die er seit ein paar Jahren mindestens zwei, wenn nicht noch mehr Jobs gleichzeitig zu stemmen versucht, und die Arbeit als Hausmeister in dem Kindergarten, in dem er Sam und dessen Bruder Dean vor mehr als zwei Jahrzehnten kennengelernt hat, ist einer davon.

 

Es hat nicht lange gedauert, bis sich die Männer nach dem unerwarteten Aufeinandertreffen erkannt haben. Nicht, dass das ihr Verhältnis von Anfang an zu einem besonders innigen oder gar vertrauten gemacht hätte. 25 Jahre sind eine lange Zeit und das einzige, was Gabriel noch mit dem Kind gemein hat, das er einmal gewesen ist, sind seine Vorliebe für Süßigkeiten, seine enge Freundschaft zu seinem Cousin, Castiel, und die Tatsache, dass er stereotype Farbzuordnungen anhand von Genderklischees lächerlich findet. Er mag Lila.

 

„Hi, Gabe!“, grüßt Sam über Emmas Schulter hinweg und erwidert Gabriels Lächeln, bevor er seine Nichte behutsam im Gras absetzt. Er geht vor ihr in die Hocke, so dass sie einander auf Augenhöhe sind.

 

„Geh deine Tasche holen, ja, Em?“, sagt er mit einem Blick, der zwar nicht ihm gilt, aber Gabe könnte trotzdem dahin schmelzen wie Eis am Stiel in der Sonne, als er ihn sieht.

 

„Gehen wir danach Kuchen essen?“, fragt Emma ihren Onkel unschuldig. Sie steht nun mit dem Rücken zu Gabriel, aber er kann trotzdem sehen, dass sie sich bedächtig eine ihrer Locken um den Zeigefinger wickelt. Er unterdrückt ein Lachen darüber, wie gut die Kleine wohl beide Männer in ihrem Leben im Griff hat, kann aber nicht ganz das mitleidige Seufzen zurückhalten, als er die Entschlossenheit in Sams Mine schon nach so wenig Aufwand seitens Emmas bröckeln sieht.

 

„Wenn du deinem Vater nichts erzählst ...“, sagt Sam gedehnt und hat den Satz kaum zu ende gesprochen, als Emma mit einem begeisterten Juchzen in Richtung Kindergarten rennt, um ihre Sachen für den Heimweg zu holen.

 

Sam sieht ihr nach, bis sie im Haus verschwunden ist, bevor er sich ebenfalls seufzend aufrichtet und sich mit einem verlegenen Grinsen an Gabe wendet.
 

„Das hat sie von ihrem Dad!“, meint er kopfschüttelnd. „Der kriegt von Kuchen auch einfach nicht genug ...“

 

Gabe verkneift sich einen spöttischen Kommentar darüber, dass ein bisschen mehr Standhaftigkeit bei der Erziehung vielleicht nicht schaden könnte, auch wenn Emma ‚nur‘ Sams Nichte ist.

 

„Wohin willst du sie denn für Kuchen entführen?“, fragt er stattdessen und hievt die Baumschere in die halb volle Schubkarre, bevor er sich die Arbeitshandschuhe von den Fingern streift.

 

„Ich dachte ans Pie Hole“, sagt Sam und sieht Gabe bei der Arbeit zu. Sein Blick wandert von der Schubkarre zum Tipi, das wirklich schon bessere Tage gesehen.

 

„Soll das alte Ding eigentlich weg?“, fragt er auf einmal mit einem Kopfnicken in Richtung des Weidengewächses. Gabriel sieht überrascht auf, folgt Sams Augen, bis er versteht, was der andere meint.

 

„Ich soll versuchen, es zu retten“, meint er achselzuckend und hebt die Schubkarre an. Er hat zwar noch keine Meisterleistungen an dem Tipi vollbracht, aber sein Magen knurrt hörbar und es ist Mittagszeit – also an der Zeit für eine Pause. Die Arbeit wird ihm nicht davon laufen; er muss nur dafür sorgen, dass er sein Werkzeug und die Abfälle sicher vor den Kindern im Geräteschuppen einschließt, bevor er seinen Arbeitsplatz unbeaufsichtigt zurücklässt.

 

Zu seiner Überraschung schnaubt Sam.

 

„Hätte nichts dagegen, wenn du es einfach platt machst“, meint er plötzlich und Gabe ist überrascht, wie bedrückt er nun beinahe klingt. Er zieht fragend eine Braue hoch, doch Sam winkt nur ab. Bevor ein ungemütliches Schweigen zwischen ihnen entstehen kann, kommt Emma glücklicherweise mit wehendem Tüllrock und hüpfenden Kinderrucksack zurück gerannt, aus dem heraus es rhythmisch im Takt zu ihren Sprüngen klappert – und natürlich lässt sie sich wieder von Sam auffangen.

 

„Ich bin fertig, Onkel Sam!“, ruft sie und strahlt so breit, dass man ihre Zahnlücke deutlich sehen kann. Atemlos sieht sie zwischen ihrem Onkel und dem Mann, den sie als Kindergartenhausmeister kennt, hin und her.

„Worüber habt ihr geredet?“

 

„Über Kuchen“, sagt Sam, was immerhin nicht ganz gelogen, aber auch nicht die halbe Wahrheit ist.

„Über das Tipi“, sagt Gabe zeitgleich, was ihm einen wenig begeisterten Blick von Sam einbringt.

 

„Was ist mit dem Tipi?“, fragt Emma neugierig und schlingt beide Arme um Sams Hals.

Sie weiß, dass Sam und Dean früher selbst Kinder in dieser Einrichtung gewesen sind – das hat sie Gabe selbst erzählt. Deshalb ist es für sie kein Schock, als Sam sich schließlich doch noch dazu entschließt, zu antworten: „Wir haben früher in dem Tipi gespielt, aber ich fand es immer blöd.“

 

„Oh.“

 

Emma nickt. Spielt, statt mit ihren eigenen Haaren, nun mit Sams dichten kastanienbraunen Strähnen herum. Gabe kommt sich für den Bruchteil einer Sekunde albern vor, als er plötzlich so etwas wie Neid auf Emma verspürt. Er würde selbst gern die Hände in dieser Mähne vergraben, aber das geht natürlich nicht.

 

„Ich spiel gern im Tipi“, erklärt sie schließlich, als keiner der Männer Anstalten macht, für sie näher ins Detail zu gehen.

 

„Du hast bestimmt auch bessere Freunde als wir früher“, kann es sich Gabe nicht verkneifen und nimmt wieder die Schubkarre auf. Es ist an der Zeit, sich endlich voneinander zu verabschieden, anstatt Sam weiter stumm über seine Nichte hinweg anzuschmachten. Kaum zu glauben, dass sich Gabriels Typ nach all der Zeit so wenig geändert haben soll. Obwohl Sam sich doch so sehr verändert zu haben scheint. Er nickt zum Abschied und schiebt die Karre an den beiden vorbei, hält auf ihrer Höhe aber noch einmal, um sich von Emma mit einem Handschlag zu verabschieden.

 

„Bis morgen, Eure Hoheit“, sagt er und zwinkert ihr zu und er hat noch nicht ganz ausgesprochen, als er das schelmische Blitzen in Emmas moosgrünen Augen sieht. Oh-oh. Hoffentlich hat ihr nächster Einfall nicht wieder etwas mit Schnecken zu tun.

 

 

*

 

 

Sie sitzen zu dritt im Pie Hole an einem der runden Kaffeetische. Emmas Geistesblitz war tatsächlich angenehm schneckenfrei und, anstelle von Fragen über die Fortpflanzung von Weichtieren, hat sie Gabe darum gebeten, sie zum Kuchenessen zu begleiten. Sam sah im ersten Moment verlegen, aber nicht gänzlich unbegeistert aus, als Gabe sich ihnen ohne viel Aufhebens einfach angeschlossen hat. Immerhin kann er seine Mittagspause verbringen, wo und mit wem er will und er hat kein Problem damit, sich in seiner Hausmeisteruniform in einem Café herumzutreiben. Wie es aussieht, hat auch Sam, entgegen seiner anfänglichen Unsicherheit, kein Problem damit.

 

Emma vernichtet gerade mit Begeisterung ihr inzwischen zweites Stück Apfelpastete und Gabe kann sich nicht daran satt sehen, wie niedlich Sam darüber die Stirn runzelt, die Augen verdreht und immer wieder halblaut „Genau wie Dean!“ vor sich in brummelt. Er hält sich die ganze Zeit über tapfer an einer Tasse Kaffee fest, während sich Gabe, nach seinem Erdbeermilchshake, einen Schokochino mit extra Sahnehäubchen bestellt hat. Er vermutet beinahe, dass sich der stolze Onkel Vorwürfe macht, wie er seine Nichte ernährt. Sam hat nicht die Statur von jemandem, der leichtfertig ‚Ja‘ zu Naschereien und unnötigen Kalorien sagt. Emmas Ernährung bleibt allerdings nicht lange Sams einzige Sorge, denn so, als würden sie ein Gespräch weiterführen, meldet sich das Kind plötzlich mit vollen Backen zu Wort.

 

„Was habt ihr denn früher im Tipi gespielt, was so schlimm war?“

Die Neugier, die unverhohlen in ihrer Frage mitschwingt, ist um einiges klarer als die Aussprache ihrer Worte, die sie zwischen einem Mund voll Apfelfüllung vorbei quetscht.

 

„Erst den Mund leer kauen und runter schlucken, Em“, sagt Sam in liebevollem Tadel. „Werd in dieser Hinsicht bitte nicht so wie dein Dad.“

 

Emma schüttelt den Kopf, empfindet die Aufforderung ganz offensichtlich als unter ihrer Würde, tut aber nichtsdestotrotz wie ihr geheißen und wiederholt nach gut einer halben Minute mit leerem Mund: „Was war das für ein doofes Spiel im Tipi, Onkel Sam?“

 

Gabe und Sam wechseln einen überraschten Blick über ihren Kopf hinweg. Sam räuspert sich unbehaglich.

 

„Hochzeit. Wir haben Hochzeit gespielt. Aber … es ist lange her. Und es war dumm.“

 

„Oh.“

 

Emma schaufelt sich abermals Pastete in den Mund, kaut bedächtig und scheint über die Information nachzudenken. Es überrascht Gabriel, dass sie das ganze so ernst nimmt. Es war nur eine belanglose Erwähnung ihres Onkels über dessen eigene Kindheit, eine Anekdote, für die ein Kind kaum viel Interesse haben dürfte. Jedenfalls nicht genug, um die Sache nicht über einem Stück warmer Apfelpaste zu vergessen. Aber in dieser Hinsicht haben sie Emma offenbar beide unterschätzt.
 

„Habt ihr zwei geheiratet?“, fragt sie nämlich und sieht mit schief gelegtem Kopf abwechselnd zwischen Sam und Gabe hin und her.

 

Sams Wangen beginnen derart zu glühen, dass Gabe sich ein selbstgefälliges Grinsen nicht so ganz verkneifen kann. Ob Sam sich etwa wegen dem schämt, was vor 25 Jahren passiert ist? Nicht, dass er damals nicht vollstes Verständnis für Sams Entscheidung gehabt hätte. Immerhin wollte der damit nicht nur seinen eigenen Bruder, sondern auch Gabe vor weiteren Hänseleien durch andere Kinder schützen. Andererseits gönnt Gabriel es dem Kind, das er einmal gewesen ist, durchaus, dass Sam sich ein bisschen dafür schämt, ihn sitzengelassen zu haben. Auch, wenn es dafür eigentlich viel zu spät ist und alles natürlich nur ein Spiel war.

 

„Nein, Em“, sagt Sam schließlich wahrheitsgemäß, trotz roten Gesichts, und lächelt ein bisschen bei der Erinnerung. Vielleicht sollte das Gabe verletzen. Aber er kann es irgendwie auch verstehen. Gute alte Zeit.

 

„Es war Gabriels Bruder. Lucifer. Er wollte, dass ich ihn heirate ...“

Sam taucht gedankenverloren den Löffel in seine Kaffeetasse und rührt darin herum. Gabriel beobachtet fasziniert seine langen Finger, wie sie Tasse und Löffel halten.

 

„Aber du wolltest das nicht“, stellt Emma in diesem Moment unerbittlich und mit eben der altklugen Weisheit fest, zu der nur Fünfjährige in der Lage sind. Gabriel fällt plötzlich auf, dass Sam weder Zucker noch Milch in seinen Kaffee getan hat. Trotzdem unterbricht er sein abwesendes Rühren nicht für eine Sekunde. Einerseits ja niedlich, aber andererseits wird es Gabe auch langsam zu blöd.

 

„Wir wollten eigentlich heiraten“, schaltet er sich deshalb erstmalig ein, nur um mit Genugtuung zu sehen, wie Sam noch eine Spur röter anläuft. Ihm gefällt der Gedanke, dass er – ob nun sein vergangenes oder gegenwärtiges Ich – dafür verantwortlich sein soll, Sam in Nervosität zu versetzen.

 

„Oh“, macht Emma erneut und nippt nachdenklich an ihrem Kakao. Als sie die Tasse absetzt, die so groß ist, dass sie sie mit beiden Händen halten muss, haftet ein schokobrauner Milchbart über ihrer Oberlippe. Sich dessen ganz genau bewusst, grinst sie mit entblößter Zahnlücke breit in Gabes Richtung. Sam bemerkt es in seiner anhaltenden Verlegenheit gar nicht. Andernfalls hätte er sie sicher dazu aufgefordert, sich den Mund an einer Papierserviette abzuwischen.

 

„Mein Bruder hat gesagt, dass er dafür sorgt, dass andere Kinder nicht länger geärgert werden, wenn Sam stattdessen ihn heiratet“, erklärt Gabriel bereitwillig und stupst Sam unter dem Tisch an. Allmählich wird seine Befangenheit um eine alte Geschichte aus Kindertagen wirklich lächerlich. Was soll schon dabei sein, seiner Nichte davon zu erzählen? Wenn jemand die Ausmaße von kindlicher Ungerechtigkeit nachvollziehen kann, dann doch wohl nur ein anderes Kind, oder?

 

Und wirklich – Emma nickt so verständnisvoll, als habe sie die Geschichte selbst erlebt.

 

„Hast du dich scheiden lassen?“, fragt sie nämlich in aller Ernsthaftigkeit und legt Sam eine sichtlich klebrige Hand auf den Unterarm.

 

Statt einer Antwort lacht Sam leise auf. Es klingt überraschend begeistert.

„Das hat sie von mir. Ich bin gerade in einer Kanzlei, die sich vor allem auf Scheidungen spezialisiert hat“, erklärt er Gabe mit unverhohlenem Stolz und einem warmen Lächeln in Emmas Richtung.

 

Seine Nichte ignoriert jedoch ihren stolzen Onkel und sagt stattdessen ungerührt: „Versteh ich nicht. Du weißt doch jetzt, wie Scheidungen funktionieren. Mach das endlich, damit ihr heiraten könnt!“

 

Sam und Gabe wechseln einen weiteren stummen Blick. Halb rechnet Gabe damit, dass jetzt eine verlegene Erklärung darüber erfolgt, dass man sich erst einmal kennen und lieben lernen muss, bevor man über die Ehe nachdenken sollte (zumindest ist das Gabes – und hoffentlich auch Sams – Verständnis von der Ehe). Und dass eine Freundschaft aus Kindertagen nicht ausreicht, um als Erwachsene an dem Punkt weiterzumachen, an dem das Leben einen dazu zwang, getrennte Wege zu gehen.

 

„Beide Ehepartner müssen ein Dokument unterschreiben, auf dem steht, dass sie nicht mehr verheiratet sein wollen“, erklärt Sam stattdessen. Gabe zieht spöttisch eine Braue hoch. Aha, der Herr Anwalt entscheidet sich also für den einfachen, sachlichen Weg, der nichts mit Gefühlen zu tun hat.

„Man einigt sich darauf, wer welche Sachen bekommt. Zum Beispiel Möbel, Autos. Und dann muss man eine Weile getrennt leben. Normalerweise ein Jahr.“

 

Emma nickt, so als habe sie das alles verstanden. Hat sie vermutlich auch. Das Kind ist blitzgescheit.

 

„Und wie lange ist es her, dass du Gabes Bruder nicht mehr gesehen hast?“, fragt sie in geschäftlichem Tonfall. Im Geiste sieht Gabe sie schon einen kleinen Hammer auspacken und als Richterin zur Tat schreiten.

 

Ich erkläre Sie hiermit für geschieden.‘ Ha! Ach, Emma.

 

„Hm, das werden bestimmt gut 25 Jahre gewesen sein“, sagt Sam stirnrunzelnd und sieht dabei Gabe von der Seite an. „Das ist fünfmal so viel, wie du alt bist. Es war … wirklich eine verdammt lange Zeit“, fügt er dann noch hinzu und Gabe erwidert seinen Blick, überrascht davon, wie warm seine Stimme mit einem Mal klingt. Warm und doch irgendwie traurig. Als wäre die Freude über ein unverhofftes Wiedersehen nicht genug, um den Kummer über die Ungerechtigkeit aus Kindertagen auszulöschen.

 

„Das zählt“, beschließt Emma mit einem Tonfall, der nicht den geringsten Widerspruch zulässt.

„Ihr seid schon so gut wie geschieden! Nur unterschreiben müsst ihr noch!“

 

Sam lacht gutmütig und tippt seiner Nichte mit dem Zeigefinger sacht auf die Nasenspitze. Ihren Kakaobart ignoriert er großzügig oder vielleicht fällt er ihm jetzt gerade auch gar nicht richtig auf.

„Hm, ja, das wird schwierig, Prinzessin. Bestimmt erinnert er sich heute nicht mehr daran ...“

 

„Lucy sitzt hinter Gittern“, unterbricht Gabe in aller Gelassenheit und nippt an seinem Schokochino. „Schon seit ein paar Monaten. So schnell kommt keiner an irgendeine Unterschrift von ihm. Außer dir vielleicht, Herr Anwalt.“

 

Sam wirft ihm einen warnenden Blick zu, mit dem er offenbar anzudeuten versucht, dass ein Bruder im Knast kein angemessenes Thema vor seiner fünfjährigen Nichte sei. Doch bevor er seine Bedenken auch verbal äußern kann, ereifert sich Emma: „Sei nicht so ein Spielverderber, Gabriel! Dann unterschreibst du eben für deinen Bruder!“

 

Sie lassen sich von Emma jeweils zu einer Unterschrift überreden – mit einem ihrer Buntstifte (Lila!) aus ihrem Rucksack auf zwei Papierservietten des Cafés. Es ist schwer, so fest aufzudrücken, dass man die Buchstaben überhaupt lesen kann, aber nicht so fest, dass die dünnen Lagen nicht unter der harten Mine des Stifts zerreißen.

Emma überwacht ihre Mühen mit strengem Blick, kontrolliert ihre Unterschriften, so als könne sie sie problemlos lesen. Es bedarf keiner weiteren Worte, dass sowohl Sam als auch Gabriel unaufgefordert ihre Handynummern unter ihre Namen setzen, bevor sie die Servietten über der Tischplatte austauschen und Emma nickt zufrieden, als habe sie genaustens verstanden, was soeben vor sich gegangen ist.

 

„Du bist jetzt geschieden, Onkel Sam“, stellt sie zufrieden fest und schaufelt den letzten Rest ihrer Apfelpaste in sich hinein. Einen kurzen Moment lang herrscht seeliges Schweigen. Gabe kann nicht aufhören zu grinsen und Sam, ihm gegenüber, scheint es ganz ähnlich zu ergehen.

 

„Müssen wir dich auch von jemandem scheiden?“, fragt Emma auf einmal mit vollem Mund und mustert Gabe misstrauisch.

 

Sam verschluckt sich an seinem Kaffee und beginnt zu husten.

 

„Nope“, antwortet Gabe leichthin und ignoriert Sams wildes Gefuchtel, das entweder ein Ringen mit dem Erstickungstod oder seine Entrüstung über Emmas mangelhafte Tischmanieren sein könnte.

 

„Der Richtige ist eben erst wieder frei geworden.“

 

Er zwinkert Emma verschwörerisch zu und tauscht mit ihr ein High-Five aus, während Sam den Rest seines Kaffees hinunterstürzt, um des Hustens wieder Herr zu werden.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  DragomirPrincess
2019-11-26T13:53:47+00:00 26.11.2019 14:53
Hallihallo Dino~

Hier kommt der Kommentar und damit auch die Auswertung des Wettbewerbs!
Hierzu herzlichen Glückwunsch!

Sprachlich war dein Werk definitiv am Besten. Da sie aber von der Interpretation des Themas ein wenig frei war, fand ich diese Auswertung angemessener.

Nun zum Inhalt:
Die ganze Geschichte war unglaublich niedlich! Ich wäre beinahe ein wenig geschmolzen beim lesen! <3
Ich finde, man hat durchaus gemerkt, dass du Erfahrungen mit Kindergärten hast. Random fact: Ich habe einen Moment gebraucht, bis mir klar wurde, dass die Erzieherin Ellen ist und nicht Jo :DD
Ganz besonders gut fand ich, wie du die Genderrollen aufgebrochen hast! Und Gabe, der das lila (lila *_*) Kleid tragen will, war einfach super niedlich.
Auch den Sprung in die Gegenwart fand ich sehr gelungen. Er war sehr klar formuliert und hat alle notwendigen Hintergrund-Fragen beantwortet, die notwendig waren.
Sowohl als Kinder als auch als Erwachsene waren sehr treffend charakterisiert, aber das wundert mich eigentlich gar nicht mehr inzwischen. (Unsere Babies <3) Auch die Interpretation des offiziellen Plots der Serie und Sam, der Ja zu Lucy sagt, waren genial! Und Gabe als Hausmeister! Hach, eigentlich war alles großartig!!!
Auch Emma (die ja so oft einfach verdrängt wird im Fandom) war super niedlich und ihre Art Sam und Lucy zu scheiden war einfach perfekt!
Formatierung und Aufbau waren sehr leserfreundlich und die Formulierungen waren sehr ansprechend! Über fehlerfreie Sprache muss ich bei dir ja gar nicht mehr unbedingt etwas sagen, ich denke, das weißt du auch.

Und dann erst der letzte Satz *schmelz*

Danke für diese wundervolle Geschichte und den Beitrag!
Noch einmal einen herzlichen Glückwunsch zum zweiten Platz!

Liebe Grüße!
SammyPrincess~
Von: irish_shamrock
2019-11-03T10:31:23+00:00 03.11.2019 11:31
Hallo Platypusaurus,

ich habe dein Werk bereits gestern schon einmal in Augenschein genommen.
Und da ich der Meinung bin, dass diese Geschichte einen Kommentar verdient, will ich mich mal an einen solchen versuchen :') ...

Die Darstellung der Charaktere, seien es die Kinder, oder die Erwachsenen, gefällt mir.
Die Kinder hast du niedlich und ... kindlich dargstellt. Da ich eh und sowieso einen Narren an Gabriel gefressen habe ♥, war es gewissermaßen unausweichlich, dass ich einen Blick auf deinen Beitrag werfe. Und Sammy, nun ja ... mir ging beim Lesen wirklich das Herz auf - auch wenn es, wie bei Gabriel, in regelmäßigen Abständen zerbrach.
Mrs. Harvelle, als Leiterin des KiGas, hast du gut getroffen. Und Anna, die blöde Kuh (ich stimme Gabby in allen Punkten zu - ich hasse sie!), ist dir ebenso gut gelungen, wie Meg, die wirklich irgendwie cool ist.

Du hast versucht, alles kindgerecht zu gestalten und auch ein paar brenzlige Themen eingebaut, wie Johns "vermeintliche" Homophobie und eine, nicht erwähnte, aber doch irgendwie deutlich gemachte Tendenz zur Gewalt? (Ob er Sammy, aufgrund allem was dort vorfiel, prügelt, ist nicht zu erlesen - oder ob er ihn davor (der mgl. Neigung) "bewahren" will, da die Jungs nicht mehr zur Schule oder in den Kindergarten kommen, bleibt wohl dein Geheimnis.)
Das Thema des Wettbewerbs ist gut umgesetzt, da Luzifer Sam (im Tausch, dass Michael Dean nicht mehr ärgert) zur Ehe zwingt, und er so schonungs- und rücksichtslos auf den Gefühlen Gabriels herumtrampelt, wie es nur Luzifer kann. Erst der Mann weg, dann das Kleid ... Weshalb Cassie allerdings als Einziger der Rasselband von Amara abgeholt wurde, ist ein wenig unverständlich, doch für die Darstellung des "Alleinseins" Gariels wohl nötig.

Es ist nett zu sehen, dass sich Dean als alleinerziehender Vater der kleinen Emma versucht, und dabei von Sam unterstützt wird. Lachen musste ich, als sie Sam für geschieden erklärt (ganz der Onkel) und natürlich Gabriel zum Kuchenessen einläd.

Alles in allem eine bunte, niedliche, wenn auch etwas beklemmende Mischung.
Ich wünsche dir viel Glück beim Wettbewerb.

Liebe Grüße,
irish C: ...


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