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Rivals' Reunion

von

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Lichtermeer


 

XIV: Lichtermeer

When lonely days turn to lonely nights

You take a trip to the city lights

And take the long way home.

You never see what you want to see

Forever playing to the gallery

You take the long way home.

And when you're up on the stage

It's so unbelievable

Oh unforgettable

How they adore you.

Does it feel that your life's become a catastrophe?

Oh, it has to be

For you to grow, boy

When you look through the years and see what you could have been

Oh, what you might have been

If you'd had more time.

So, when the day comes to settle down

Who's to blame if you're not around?

You took the long way home.

(Supertramp)

Interview mit den Fans
 

„Uuuund willkommen zurück bei „Domino (To)Day“, ihrem lokalen Nachrichtenmagazin. „Rivals‘ Reunion“, die Reality-Show, die vor zwei Tagen in die Startlöcher gegangen ist, erobert die Stadt im Sturm. Auf den Straßen gibt es kaum ein anderes Gesprächsthema und in Kneipen und Diskotheken werden Public Viewing Events organisiert. Was unsere Zuschauenden von den Kandidaten und Kandidatinnen halten, wer ihr Liebling ist und welche Momente sie besonders berührt haben, das haben wir für Sie auf den Straßen von Domino herausgefunden!“ (Einspieler zeigt einen belebten Platz in Domino)
 

Fan 1: Also, mein All-Time-Favorite ist Seto Kaiba! Ich bin übrigens die Vorsitzende des Seto Kaiba-Fanclubs. Ich bin so happy, ihn endlich mal wieder mehr in den Medien zu sehen! In den letzten Jahren war es ja so still um ihn! Er ist so eiskalt und tough! Und diese Augen! Einfach der Hammer! Er hat so viel aus eigener Kraft erreicht, er braucht diesen König der Spiele nicht! Seto, ICH LIEBE DICH!!!
 

Fanclub: (grölt und kreischt im Hintergrund und hält Plakate hoch)
 

Fan 2: Ich liebe menschliche Abgründe! Die Show ist jeden Tag mein Highlight! Ich find’s unschlagbar, wenn irgendwann alle Hüllen fallen und die Personen mehr und mehr von sich preisgeben und zeigen, wie sie wirklich sind. Ich hoffe, bei Limono passiert das noch, er ist auf einem guten Weg dahin.
 

Fan 3: Ich finds meeega, dass sie zwei getrennte Pärchen in die Show genommen haben. Das ist total spannend. Ich persönlich bin für Limono und Umko! Die beiden sind so süß! Sie müssen einfach wieder zusammenkommen!
 

Fan 4: Ich finde, die haben gar nichts gemeinsam. Yami und Seto sind so ein Traumpaar. Ich bin gespannt, wann sie das endlich selbst erkennen. Ich glaube, ich weiß, worüber ich meine nächste Fanfiktion schreibe!
 

Fan 5: Naja, ich find Umko total süß! Er ist so ein Lieber, Limono hat ihn gar nicht verdient. Ich hoffe, er findet bald jemand Anständiges.
 

Fan 6: Mein Favorit ist Joey! Er ist so ein Sympathieträger und hat so ein gutes Herz. Mir tuts total leid, was ihm alles passiert ist, und dass er sich trotzdem wieder auf die Beine gekämpft hat, find ich ganz große Klasse! Das zeugt echt von nem starken Charakter! Jeder macht Fehler, aber nicht jeder arbeitet daran, sie wiedergutzumachen! Toller Typ!
 

Fans 7-10: Hi! Wir sind Limonos Clique aus dem Black Rainbow! Wir sind natürlich auch jeden Abend dabei und schauen zusammen im Club jede Folge! Limono, wir stehen hinter dir! Dein Club steht noch, mach dir keine Sorgen! Wir freuen uns aber auch, wenn du wieder zurück bist! Hier ist es echt ziemlich öde ohne dich! Keine Action!
 

Fanblock: (ohrenbetäubendes Geschrei) Wir sind toooootale „Green Leviathan“-Fans! Wir gehen auf jedes Konzert! Ja, auf JEDES! Wir lieben Limono, er ist so cool! Sein Style, seine Attitude, er ist einfach ein fertiger Star! Und er singt so hammer! Wir wünschen uns, dass Riku auch in der Show ist! Die beiden sind füreinander bestimmt! (Glucksen und Kichern)
 

Fan 11: Also, ich find ja diesen Bakura heiß. Er ist ja mal mega-mysteriös. Wie er da so gegen die Wand gelehnt stand – geiler Act!
 

Fan 12: Malik!!!! Ich will mehr von diesem sexy Tattoo sehen! Ich kaufe ab jetzt Eis nur noch bei „Icy Ishtar“!
 

Fans 13-17: Hi! We’re Tea’s friends from New York! We’re here to support our girl! We love her! She’s such a tough and beautiful young woman who’s making her own way in the world! And a real faithful friend! Go get them, girl! We believe in you, honey!
 

Fans 18-22: Hello out there! We were asked to send a video message from the USA! We are Yamis biggest fans! We adore him and he’s an absolute role model for us! We love his tutorials and shopping diaries on his channel and we never miss a single one of his shows! We don’t speak Japanese, but we watch this show anyway! We wish Yami the best of luck! (blowing kisses)
 

Fan 23: Also ich persönlich finde Mokuba total knuffig! Er ist richtig gutaussehend, charmant und sogar noch clever und erfolgreich! Sogar meine Mutter sagt, so jemanden wie den wünscht sie sich als Schwiegersohn. Sie sagt immer, sie könne es gar nicht glauben, dass die Kaibabrüder verwandt sind. Da hat sie schon ein bisschen Recht.
 

„Und damit zurück ins Studio und zu den Lokalnachrichten …“
 

~*~
 

Mit Sigi hatte Yami eine wirklich gute Zeit. Sie verstanden sich wortlos, sie konnten sogar trotz ihrer engen persönlichen Beziehung problemlos zusammenarbeiten, und wenn sie sich stritten, hatten sie hinterher das Gefühl, Vertrauen gewonnen zu haben und einander besser zu verstehen. Mit Sigi konnte sich Yami so ziemlich alles vorstellen – abgesehen von einer Ehe.
 

Vielleicht war es ein Fehler gewesen, sich zu sehr von diesem aufregenden Leben eines Medienstars absorbieren zu lassen. Vielleicht hatte sich Yami zu sehr daran gewöhnt, nie alleine zu sein. Er war immer jemand gewesen, der viel Zeit für sich selbst brauchte, aber in seinem jetzigen Job war es für ihn eine Gewohnheit geworden, sich diese Zeit im Beisein anderer nehmen zu müssen. Er musste es tolerieren, dass ihn oft Menschen umringten, und mit der Zeit brauchte er diese oberflächliche Gesellschaft, erschien es ihm ohne all das seltsam still.
 

Auf diese Weise hatte es mit Sigi begonnen. Yami schätzte seinen Manager, was seine geschäftlichen Entscheidungen betraf. Im Grunde war er immer der Meinung gewesen, er könne selbst für seine Belange eintreten und darüber entscheiden, wie er sich vermarktete, und jemand anderen hätte er womöglich sofort wieder abserviert. Aber schließlich hatte er Sigi als Manager einer befreundeten Youtuberin kennengelernt und feststellen müssen, dass dieser verstand, was Yami auf seinem Karriereweg wollte. Dass er ihm dabei helfen konnte, es in seinem Sinne umzusetzen. So verbrachten sie viel Zeit miteinander und lernten einander unweigerlich kennen. Sigi war ein Aufreißer, der gerne flirtete, und Yami hatte ihn bei Premieren und High Society Events mit vielen verschiedenen Dates an seiner Seite erlebt. Es störte ihn nicht, denn er kannte Sigi nicht anders und sah diesen als einen Geschäftspartner und mittlerweile als guten Freund.
 

Aber irgendwann änderte sich etwas, ohne dass Yami es bewusst wahrnahm. Er begann, immer größere Teile seiner Freizeit mit Sigi zu verbringen. Er konnte nicht sagen, wann er zum ersten Mal realisierte, dass Sigi aufgehört hatte, andere Frauen und Männer zu treffen. Schließlich kam der Abend, an dem sie in Sigis Loft das ein oder andere Glas Wein zu viel tranken und Yami nicht nach Hause ging. Keinen Monat später war er bei Sigi eingezogen. Und alles war plötzlich mehr als aufregend.
 

Sigi war aufmerksam und attraktiv und nie langweilig und Yami genoss es, glücklich verliebt zu sein. Das war es jedenfalls, was die Medien über die beiden berichteten. Alles in seinem Leben war wie ein farbenfroher Trip, alles war ineinandergeblendet. Seine Arbeit, sein Privatleben, seine Beziehung. Nicht ein einziges Mal hatte er innegehalten und über seine Entscheidungen in den letzten Monaten nachgedacht. Hätte er das getan, hätte er womöglich kommen sehen, was schließlich geschehen sollte.
 

Drei Jahre waren Yami und Sigi ein Paar. Sie arbeiteten gemeinsam, sie wohnten gemeinsam und ihre Leben verliefen so synchron, dass Sigis Anwesenheit für Yami eine Selbstverständlichkeit geworden war. Er war sein erster Ansprechpartner, sein engster Vertrauter geworden. Er hatte nie einen Gedanken an die Frage verschwendet, ob sie ein gemeinsames Leben führten oder nebeneinander her lebten. Hatte sich nie gefragt, ob Sigi für ihn der Partner war, den er sich wünschte, ob er ihm das Gefühl gab, angekommen zu sein. Vielmehr hatte er den Eindruck, sie waren beide weit davon entfernt irgendwo anzukommen und genossen diesen Zustand. Er hatte ihn auch nie mit Seto verglichen. Wozu auch? All das lag weit hinter ihm.
 

Er hätte die ersten Zeichen sehen müssen, als sie eines Samstagnachmittags im Wohnzimmer auf der Couch saßen. Sigi beantwortete Mails und Yami arbeitete an einem Skript für eines seiner Videos. Yami hatte Sigi eine beiläufige Frage gestellt und Sigi hatte ihm, wie so oft, einen treffsicheren Tipp für die Gestaltung seines Konzepts gegeben. „Ja, ich mag das! Danke dir!“, sagte Yami und hauchte Sigi einen Kuss auf die Wange. Sigi sah von seinem Computer auf und Yami spürte, dass sein Blick auf ihm ruhte. Er hob den Kopf und ließ den Gedanken, den er gerade weitergesponnen hatte, gehen. „Was ist?“ fragte er sanft. „Nichts, nur … bist du eigentlich glücklich?“, wollte Sigi wissen. Yami lächelte etwas verständnislos. „Ich denke schon, ja. Momentan läuft alles ziemlich gut.“ Sigi fasste ihn um die Taille und zog ihn näher zu sich heran. „Ja, das finde ich auch. Ich bin auch echt glücklich momentan.“ Er küsste Yami.
 

Yami hatte nicht gelogen. Aber wenn er sich heute etwas vorwarf, dann war es, dass er so mit Blindheit geschlagen war, dass er nicht vorher begriffen hatte, wohin ihn all das führen sollte. Dass er so egoistisch gewesen war und sich nicht mit seinen eigenen Gefühlen und Bedürfnissen auseinandergesetzt hatte. Auch wenn das paradox klang. Er hatte er vermieden, weil es leichter gewesen war. Er hatte sich treiben lassen vom Strom dieses sorglosen Lebens.
 

Die Augen gingen ihm erst auf, als er keine zwei Wochen später einen Livestream auf seinem Kanal ausstrahlte. Es war kurz vor Weihnachten und Yami hatte dazu aufgerufen, dass Follower ihm lustige Geschenke zusandten und er diese vor der Kamera öffnete. „Okay, dieses riesige selbstaufblasbare Gummi-Kuriboh mit dem glitzernden Horn findet sicherlich noch einen geeigneten Platz in unserem Apartment! Vielen Dank für diese geniale Idee. Und nun kommen wir zu unserem letzten Präsent. Wow, ich bin gespannt, was drin ist. Es sieht total winzig aus.“ Yami zog ein kleines schwarzes Päckchen mit goldener Schleife darauf zu sich heran und zog am Geschenkband. Die Box fühlte sich schwer an, fast wie ein Schmuckkästchen. Sein erster Eindruck täuschte ihn nicht. Zum Vorschein kam ein kleines Kästchen zum Aufklappen, das von einem Juwelier zu stammen schien. Noch immer hatte Yami nicht den geringsten Verdacht geschöpft, bis zu dem Moment, als sich der Deckel hob und der Ring zum Vorschein kam.
 

Yami wurde abwechselnd heiß und kalt. Seine Gesichtszüge entgleisten und ihm war plötzlich speiübel. Mit einem Mal durchdrang er plötzlich alles. Im Bruchteil von Sekunden sah er sich von oben und ließ die letzten Jahre in seinem Kopf revuepassieren. Und ihm war klar, dass alles, was er gesagt und getan hatte, zu diesem Augenblick geführt hatte. Vor seinem inneren Auge spielte sich jeglicher kitschige Kinostreifen, den er jemals gesehen hatte, im Zeitraffer ab und er kam sich vor wie inmitten von einem von ihnen. Er stand mit dem Rücken zur Wand und sah keinen Ausweg. Und während Sigi plötzlich neben ihm saß und ihm die Frage stellte, die er mit Furcht erwartet hatte, und er Millionen von virtuellen Augen auf sich gerichtet spürte, nahm das Dröhnen in seinen Ohren weiter und weiter zu. „Ich … was?“, keuchte er mit dünner Stimme. „Yami, was ist mit dir? Sag schon was!“, raunte Sigi ihm, halb besorgt, halb panisch, zu. „Ich … kann das jetzt nicht entscheiden!“, stieß Yami atemlos hervor. „Es tut mir leid, Sigi.“
 

Somit kam dieses Kapitel in seinem Leben zu einem Ende. Das Schicksal dieser Beziehung war besiegelt. Sigi, der seit langer Zeit in seinem Leben erstmals bereit gewesen war, eine langfristige Bindung einzugehen, war tief verletzt und hatte lange an diesen Wunden zu lecken. Yami hatte seine Hoffnungen gnadenlos zerschmettert und auch wenn er ihm keine Absage erteilt hatte, so hatte Sigi sich doch eine andere Reaktion erhofft. Sie hatten es am Ende beide gespürt: Dass sie nicht dasselbe wollten. Dass Yami nicht bereit war, diese Verbindung zu vertiefen.
 

Natürlich konnte Sigi langfristig unmöglich weiterhin Yamis Manager bleiben. Und urplötzlich war Yami wieder alleine mit sich. Die Stille drang schmerzhaft und kalt in ihn und viele Wochen wühlte er in seinen Gedanken. Zum ersten Mal seit langem war er gezwungen, sich selbst neu auszurichten und Dinge über sich zu lernen, die er nicht wusste, sich selbst wieder neu kennenzulernen. Irgendwo auf diesem beschwerlichen Weg zu sich selbst begann er sich zu fragen, ob Sigi sich jetzt in etwa so fühlte, wie er selbst damals, als Enttäuschung über Setos fehlende Bereitschaft, Zugeständnisse zu machen, an ihm genagt und ihn mit finsteren Gedanken gefüllt hatte. Irgendwo musste er sich eingestehen, dass er selbstsüchtig und willkürlich gehandelt hatte und dadurch jemanden unglücklich gemacht hatte. Als einen solchen Menschen hatte er sich zuvor nie gesehen.
 

Es war wie eine Trunkenheit, die langsam abflaute, und sein Leben schien den glitzernden Schimmer zu verlieren und sich mehr und mehr zu normalisieren. Und nach drei Jahren, in denen bis auf einige knappe Nachrichten Funkstille geherrscht hatte, nahm er schließlich das Telefon in die Hand und wählte Yugis Nummer. Sie redeten lange und behielten es so bei. Es war der erste Funke seines alten Lebens, der sich in seine Gegenwart schlich.
 

Dann schließlich kamen die Erinnerungen. Jahrelang waren sie ferngeblieben. Nun überkamen sie ihn fast jede Nacht als Träume und manchmal sogar tagsüber. Eine nach der anderen spülten sie gnadenlos über ihn hinweg und jede von ihnen traf ihn wie ein harter Schlag gegen die Stirn, als wollten sie ihn auf die unbequemste Art und Weise daran erinnern, wer er gewesen war. An eine Identität, die noch immer ein Teil von ihm sein wollte, so sehr er sie auch hatte abschütteln wollen. In diesem Zustand besuchte er schließlich eines Tages eine Gaming-Convention, für die er als der aktuell erfolgreichste Game Show Host gebucht war, und traf unerwartet auf Seto Kaiba.
 

*
 

Seto hatte sich nicht großartig über die Veranstaltung informiert, für die er als Gast gebucht war. So hatte er nichts von Yamis Anwesenheit gewusst. Vor einem Monat hatte er in den USA ein neues VR-Spiel herausgebracht, das dort zu einem riesigen Erfolg geworden war. So musste er wohl oder übel dieser leidigen Ansammlung von Geeks beiwohnen und ihnen Rede und Antwort stehen.
 

„Hey, ist lange her“, sagte Yami zu ihm, als sie unerwartet in einem Diskussionspanel nebeneinandersaßen. „Ja, das ist es wohl“, antwortete Seto steif. „Ich hab gehört, dein Spiel ist durch die Decke gegangen. Glückwunsch!“ Yami war nie um Smalltalk verlegen und Seto fragte sich, ob er sich diese Fähigkeit in den letzten Jahren als Influencer angeeignet hatte. Der König der Spiele lächelte ihn leicht verlegen an, aber selbstbewusst genug, um ihm zuzuzwinkern und zu fragen: „Hast du Lust, nachher was zusammen zu trinken und mir zu erzählen, was es bei dir Neues gibt?“
 

*
 

Das kühle Getränk rann Setos Kehle herunter und er hoffte, dass es dafür sorgen würde, dass Worte den Weg aus seinem Mund fanden. Um ehrlich zu sein wusste er nicht, was er Yami sagen sollte. Er war alles andere als vorbereitet, konnte mit der Situation nicht umgehen. Aber Yami machte es ihm leicht, denn er ließ keine Stille zwischen ihnen aufkommen und irgendwann gelang es Seto, sich in den natürlichen Fluss des Gesprächs einzuklinken und einfach mit dem Strom zu schwimmen. Dennoch war nur die Hälfte seines Verstandes bei der Sache, die andere Hälfte konnte nicht damit aufhören, sich zu fragen, ob Yamis Worte nur leere Floskeln waren oder ob er tatsächlich so offen mit ihm umgehen konnte nach der Enttäuschung, die er durch ihn erfahren hatte. Hatte Yami all das mittlerweile ganz einfach vergessen und abgehakt? Erschien ihm das vielleicht nichtig nach seinem aufregenden Leben und seiner jahrelangen Beziehung mit diesem geschniegelten Vorzeige-Typen? War er, Seto, ihm sogar so egal geworden, dass er jetzt nicht mehr für ihn übrighatte als seichte, leere Worte?
 

In den letzten Jahren hatte er regelmäßig Yamis Social-Media-Kanäle verfolgt und sich fortwährend gefragt, ob die Person, die er dort vorgab zu sein, ein neuer Yami war oder lediglich eine Rolle, die er spielte. Ob der Yami, den er kannte, noch irgendwie hinter seinem Smartphone und all den Hashtags und Filtern existierte. Er musste es einfach wissen. Musste dahinterkommen, ob Yami noch derselbe war, der er gewesen war. Der ihn damals unerwartet in seinen faszinierenden Bann gezogen und zu dem er diese mystische und doch so unkompliziert-ehrliche Verbindung verspürt hatte.
 

Eine Reporterin hatte sie gerade erspäht, wie die dastanden, jeder mit seinem Glas Champagner in der Hand, und kam nun lächelnd auf sie zu. „Hey, das ist doch mal eine unerwartete Reunion. Der Weltmeister und der König der Spiele wieder vereint! Darf ich ein Foto von euch machen?“ „Klar doch!“, Yamis Lächeln wurde breiter und er zog Seto an seine Seite. Mit einem gequälten Grinsen ließ Seto die Vorführung über sich ergehen.
 

„Hey, wie wär‘s mit einem Foto für meinen Instagram-Kanal? Was meinst du?“, fragte Yami und sah Seto mit leuchtenden Augen an, denen dieser kaum widerstehen konnte. „Okay … wenn es unbedingt sein muss. Lass es uns hinter uns bringen“, murmelte er halbherzig. Yami zückte sein Handy und schoss ein Foto von ihnen, und wenige Sekunden später sah Seto ihm zu, wie er routiniert die Bildunterschrift tippte, bevor er das Bild postete: „Unerwartetes Wiedersehen mit einem alten Freund. #unexpectedmeeting #supriseoftheday #duelmonsterswillneverdie #duelists #someonewhoalsolikesgames #favoritechallanger #butalwaysonlysecondbest #stillkingofgames #bondsbeyondtime #gamescon #specialguests #hadlotsoffuntoday”.
 

Seto wurde das Gefühl nicht los, dass Yami ihr Treffen zu seinem Vorteil nutzte, dass er daraus eine Show machte. Er wünschte sich, dass dieser mehr im Moment bleiben und ihm zeigen würde, dass er sich tatsächlich für ihn interessierte und nicht nur für ihr gemeinsames mediales Potential. Aber auf der anderen Seite sah Yami so bestechend aus, er schien förmlich vor Energie und Tatendrang zu leuchten. Er hatte eine erhabene Leichtigkeit und ein gesundes Selbstwertgefühl entwickelt, das ihm gut anstand, und Seto fühlte sich in seine Welt gezogen. Und auch wenn er es sich ungern eingestand, hatte Yami ihn sofort am Haken mit seinem Lachen und seiner offenen, aber nicht aufdringlichen Art, die er seit jeher an ihm geschätzt hatte. Eine Art, in der man spürte, dass er seine eigenen Probleme mit Rücksicht auf andere zurückstellte und aufmerksam war nicht nur für die Worte anderer, sondern auch für andere Signale, die auf ihr Befinden hindeuteten.
 

„Seto, was sagst du dazu?“, fragte Yami leise und riss den Firmenchef aus seiner neugierigen Faszination. „Oh, entschuldige bitte. Was hast du gerade gemeint?“, beeilte er sich zu antworten. „Ich wollte wissen, ob du vielleicht Lust hast, ein bisschen an der Küste entlang zu spazieren. Ich habe noch gar nichts von der Stadt gesehen und ich fänd's ganz schön, noch ein bisschen rauszukommen, bevor ich wieder im Flugzeug sitze. Du nicht auch?“
 

Seto hatte zugestimmt. Nun schlenderten sie nebeneinander her über eine große Brücke. Die Sonne brannte auf sie herunter und alles roch nach Sommer und Entschleunigung. Dieses Gefühl schwappte auf Seto über und das und die beiden Gläser Champagner, die sie zuvor getrunken hatten, trugen dazu bei, dass er sich mehr in die Situation fallen ließ, als er es normalerweise tat.
 

„Erzähl doch mal, wie geht es Mokuba? Ist er schon in die Firma eingestiegen?“ Seto schmunzelte, bevor er antwortete: „Er war ein rebellischerer Teen als ich es war, so viel steht fest. Aber jetzt ist er sehr fleißig und studiert. Und er mischt auch schon in der Firma mit. Ich habe also nichts zu meckern.“ Yami kicherte. „Das ist schön!“ Mehr und mehr hatte Seto den Eindruck, dass Yami nun die Bühne seiner Social Media-Persona hinter sich ließ und ganz die Augen der Öffentlichkeit abstreifte. Sein Smartphone steckte unbeachtet in seiner Hosentasche.
 

Schließlich brachte Seto den Mut auf, Yami auf etwas anzusprechen, das ihm nicht leichtfiel: „Hey … ich habe von deiner Trennung von deinem Manager gelesen. Das tut mir echt leid.“ Es war Seto wichtig, dass Yami wusste, dass er es ihm gegönnt hatte, dass er scheinbar glücklich war. Auch wenn er selbst nicht daran beteiligt war. Seine Eifersucht auf diesen aufgeblasenen Showbiz-Guru, den Yami gedatet hatte, und die Frage, was er mit so jemandem anfangen wollte, hatte mit diesem ehrlichen Wunsch nicht das Geringste zu tun. Yami lächelte ein müdes Lächeln. Vielleicht wäre es ihm lieber gewesen, wenn Seto dieses Thema hätte linksliegenlassen, aber er antwortete ihm keineswegs unhöflich oder weniger offen als zuvor: „Ach das … danke, das ist lieb von dir. Aber es ist okay, wie es gekommen ist. Es hat einfach nicht funktioniert.“ Seto wusste zwar nicht, wie genau Yamis kryptische Aussage zu verstehen war, aber sein Herz schlug dennoch etwas höher bei dieser Diskreditierung der Verbindung und er versuchte sich selbst zu Raison zu rufen.
 

Auf der anderen Seite der Brücke ragte ein Riesenrad über die Häuser empor und als sie näherkamen, wurde nach und nach ein kleiner Rummel sichtbar. „Super!“, stieß Yami begeistert aus, „das ist ja perfekt!“ Seto verzog das Gesicht und sah wenig überzeugt aus. „Ich weiß nicht. Muss das denn sein? Hier ist es doch auch ganz schön.“ Ihm gefielen die Stille und ihre dahinplätschernde Unterhaltung hier am Ufer. Yami sah ihn kurz nachdenklich an, dann nahm er Setos Hand und zog ihn in Richtung des bunten Treibens. „Ach, komm schon. Das wird schön, ich versprech's dir! Wie kannst du nur selbst so viele Freizeitparks besitzen und nie dort mal Feldforschung betreiben? Lass uns wenigstens ein bisschen die Buden anschauen!“
 

Seto hatte eingewilligt. Er konnte es Yami einfach nicht abschlagen. Aus dem Anschauen der Buden wurden fünf Fahrten mit diversen Fahrgeschäften, die ein Ziehen durch Setos Magen jagten. Aber er musste zugeben, dass es ihm tatsächlich auch etwas Spaß machte. Keuchend hielt Yami sich nach der dritten Fahrt mit einem Fahrgeschäft, bei dem sich auf einer nach rechts und links kippenden Scheibe Sündenböcke mit Sitzen darin wild in beide Richtungen drehten, an Setos Schulter fest. „Ich kann nicht mehr“, lachte er keuchend, „ich glaube, für heute bin ich erst mal bedient.“ „Na Gott sei Dank“, grinste Seto zurück. Den Rest des Abends schlenderten sie an den Ständen vorbei, plauderten ausgelassen und Yami kaufte das ein oder andere Gewürz und Süßigkeiten. Setos Kopf hatte sich irgendwie ausgeschaltet, etwas, das ihm auch früher in Yamis Gegenwart oft passiert war.
 

„Hey, sieh mal! Ein Schokoladenstand!“, Yami fasste Seto behutsam am Arm und lenkte seine Aufmerksamkeit auf das, worauf er seinen Blick geheftet hatte. Links von ihnen war ein niedlicher, kleiner Stand mit einem Schild mit altrosa Rahmen aufgetaucht, in dessen Mitte in verschnörkelter goldener Schrift „Schokoladenspezialitäten“ prangte. In der Auslage tummelten sich Pralinen und alle erdenklichen anderen Formen, die Schokolade annehmen kann, beschildert mit den exotischsten und interessantesten Namen und Füllungen. Von würziger Schokolade mit Anis und Ingwer über weihnachtliche Kreationen mit Zimt und Gewürznelken bis hin zu sommerlich-fruchtigen Varianten – es fehlte an nichts, was das Herz begehrte. „Das ist doch genau das Richtige für dich!“, sagte Yami und lächelte Seto begeistert an. Seto sah zu Boden. Natürlich war Yami während der Zeit, in der sie sich nähergekommen waren, seine Vorliebe für die süße Versuchung nicht entgangen. Dass er diese Leidenschaft, die Seto nicht gerne publik machte, nun erwähnte, ließ den Moment seltsam intim anmuten. Seto kam es vor, als tastete Yami nach dem tiefsten Grund seines Wesens, und dieses Gefühl war zugleich unangenehm und schön.
 

„Komm schon, lass uns doch mal schauen, was es so alles gibt“, ermutigte ihn der König der Spiele. Wie von selbst kam er ins Gespräch mit dem Verkäufer hinter dem Stand und so bekamen sie die ein oder andere Kostprobe und kauften letztlich zwei Tüten voll mit diversen Sorten. „Vielleicht mache ich ein Video darüber, welche am besten schmeckt“, überlegte Yami, die Arme voll mit seinen Einkäufen. Zum Abschluss gönnten sie sich noch jeweils einen großen Spieß mit Früchten im Schokoladenmantel. Sie waren nun im Zentrum des Rummelplatzes angelangt und das große Riesenrad reckte sich vor ihnen die die Höhe. Die Sonne war mittlerweile fast untergegangen und hinterließ nur noch einen schmalen Lichtstreif am Horizont, der wie Feuer glühte. Yami sah Seto an, aber er musste nichts sagen. „Also, los, komm, eine Fahrt zum Abschluss eines gelungenen Abends“, hörte sich Seto zu seiner Überraschung selbst sagen.
 

Der Rummel unter ihnen wurde kleiner und kleiner und bald blickten sie auf ein großes Lichtermeer hinab. Die bunten Dächer der Buden und Fahrgeschäfte gaben ein malerisches Bild ab. Sie sprachen nicht, sondern genossen die Stille in der Kabine und den unbeschreiblichen Ausblick. Vielleicht hing Yami seinen eigenen Gedanken nach, während er aus dem Fenster sah, vielleicht schweifte sein Blick weiter als bis zu dem bunten Chaos unter ihnen. Aber vielleicht war er auch ganz in diesem Augenblick verhaftet und genoss, was sich dort unten und hier oben zwischen ihnen entfaltete. Seto konnte ihn nicht lesen. Als sie zum zweiten Mal auf dem höchsten Punkt des Riesenrads angelangt waren, drehte er sich zu Seto um. Seto wollte es nicht, doch er fiel in Yamis große, mysteriöse violette Augen. Er wünschte, sie würden ihm mehr über Yamis Inneres verraten, aber zugleich reizte ihn auch die Ungewissheit, in die er fiel, wenn er sich in ihnen verlor.
 

„Wow, es ist schon echt spät. Ich sollte danach wirklich zurück zu meinem Hotel. Ich muss morgen wieder ins Studio.“ „Ich hoffe, ich habe dich nicht zu lange aufgehalten“, sagte Seto, der einen Stich der Enttäuschung in seinem Magen wahrnahm. Yami schüttelte energisch den Kopf. „Nein, gar nicht! Ich bin froh, dass ich die Zeit so vergessen konnte. Ich hatte eine echt gute Zeit heute. Das war richtig erfrischend! Ich hoffe, du hattest auch wenigstens ein bisschen Spaß.“ Seto lächelte matt. Wenn er nicht so ein Idiot gewesen wäre, dann hätte Yami diese Worte vielleicht bereits vor vielen Jahren zu ihm gesagt. Dann hätten sie so viele dieser Tage zusammen verbringen können, in denen sie sich vom Geist des Augenblicks hätten davontragen lassen. Dann hätte er damals bereits dieses Leuchten in seinen Augen hervorbringen können.
 

Doch bevor düstere Gedanken das leichte Gefühl in seinem Inneren überschatten konnten, riss ihn Yami ins Hier und Jetzt zurück: „Hey, was hältst du von einem letzten Foto? Als kleine Erinnerung an heute?“ Er hob fragend sein Handy in die Höhe.
 

Das Foto zeigte sie beide lächelnd, im Hintergrund die Skyline der Stadt und deren zahllose nächtliche Lichter. Es tauchte nie auf Yamis Instagram-Kanal auf, Seto hatte das gründlich geprüft. Bedeutete das, dass es zu privat war, um es mit der Welt zu teilen? Eine Erinnerung, von der er wollte, dass sie nur ihm allein gehörte? Oder hatte er es schlicht und ergreifend aus Müdigkeit vergessen zu posten?
 

Dieser Tag hatte so vieles in Seto angestoßen, so viele aufgeriebene Stellen berührt, von denen er geglaubt hatte, dass sie längst verheilt waren. In seinem Kopf war vieles durcheinandergewirbelt und es dauerte einige Tage, bis er sich selbst wieder strukturiert hatte. Dennoch blieb in ihm der Wunsch, all die aufgeworfenen Fragen zu beantworten. Auch wenn er wusste, dass es zwischen Yami und ihm nie mehr so sein konnte wie früher, wollte er doch herausfinden, wer dieser heute war. Wollte wissen, ob sie das unbeschwerte Gefühl dieses Abends noch einmal wiederfinden konnten. An einem anderen Ort. In der Realität fern von der fantastischen Surrealität des Rummelplatzes. Ob es Yami etwas bedeutet hatte. Da war eine Hoffnung in ihm, die er versuchte niederzukämpfen, aber als schließlich die Einladung zur Teilnahme an der Rivals‘ Reunion-Show in seinem Briefkasten steckte, kratzten all diese Begehren und schlafraubenden Fragen in ihm an der Oberfläche, keimten und schlugen aus. Er ließ sich selbst keine Wahl mehr. Und er musste sichergehen, dass Yami ebenfalls teilnehmen würde. Und wenn er es nur tat, um seine Herausforderung zu einer Revanche nicht auszuschlagen.



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